Wie wir uns trafen und ich die Liebe fand - Madita Muhs - E-Book

Wie wir uns trafen und ich die Liebe fand E-Book

Madita Muhs

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Beschreibung

Meine Begegnungen sind wie eine Briefmarkensammlung, die ich, als die Welt 2020 zum Stillstand kam, wieder herausgekramt habe. Viel zu lange habe ich mich vor den Erlebnissen als Au-Pair verschlossen, grenzüberschreitende Finger eines Mannes heruntergespielt oder mich in ein Ideal verliebt, das nur eine Illusion war. Diese Geschichte ist meine eigene. So nah, so echt und vielleicht auch mal unverständlich. Wenn Paul liest, wie ich unsere Freundschaft wahrgenommen habe, wird ihn das vermutlich verwundern. Von Bene könnte ich eine Erklärung bekommen und Jakob würde mich nochmal küssen wollen, heimlich zwischen Apfelkisten und Weinflaschen. Lars würde sich geehrt fühlen, dass er für mich zum Paradebeispiel wurde und Malte würde vielleicht seine Socken zurückverlangen. Ich war noch nie so ehrlich zu anderen und zu mir selbst. Und so weh es tut, so unangenehm es ist, so befreiend wirkt es im Nachgang. Finde heraus, welche deiner Begegnungen noch an dir zehren oder welche noch immer ein so warmes Gefühl in deinem Bauch auslösen..

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Seitenzahl: 357

Veröffentlichungsjahr: 2022

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für Opa

Inhaltsverzeichnis

Mein Mehrwert

Gesäte Samen

„Ich bin schon lange mit mir selbst zusammen“

Zu wenig von allem, aber davon zu viel

Gefühle sind zum Fühlen da

Meine drei Musketiere

Thorben

Bernd

Axel

Das Pflaster, das nie abreißt

David

Missglückte Gefühle

Benjamin

Jan

Julian

Liebeswandel

„Wir sind jetzt eine WG“

Mit dem Moped über Landstraßen

Kopf, Bauch und Herz

Die wenigen Tage der Spontanität

Alex

In der S-Bahn nachts um halb vier

Wenn Intuition und Schicksal Geschwister wären

Unerfüllbare Erwartungen

Übers Nein sagen

Tanzende Füße und verschwommene Nächte

Literweise Bier bei zu wenig Sonnenschein

Hannover

Wingwoman

Jakob

Tapetenwechsel

Home is where your heart is

Die Illusion eines Ideals

Deals of America

Wechselnde Beifahrer

Die ständige Frage nach der Suche

Johannes

Tom

Wie man die Angst umarmt

Kinderaugen, die noch an das Gute glauben

Mein Dopamin

Von der Unmöglichkeit nicht zu verlieren

Wenn der Tod neben dir Platz nimmt

Wird es irgendwann besser?

17 Jahre Felix

Vom Plan sich nicht zu verlieben

Ein Oxymoron

Warum ich mich nicht entscheiden muss

Fynn

Was willst du werden, wenn du groß bist?

Die zwei Seiten des Egoismus

Bene

Mindesthaltbarkeit

Sekundenglück

Akzeptanz

Ankommen und Weitergehen

Nachwort

Mein Mehrwert

Meine Gedanken sind einfacher zu verstehen, wenn ich sie nehme, in Worte formuliere und sie einen Platz auf Papier erhalten. Auf einem Regalbrett über meinem Bett stapeln sich meine Tagebücher der letzten Jahre. Auf Festplatten, in Handy-Notizen oder Kalendern befinden sich Fetzen an Texten, lose Gedanken oder Worte aus dem Halbschlaf. Ich schreibe schon immer viel. All das, was in meinem Kopf ist, hat da schlichtweg nicht genug Platz. Aufgeschrieben kann ich sie besser benutzen, kann mit ihnen arbeiten. Schauen welche Gewichtung ich ihnen schenken sollte.

Aber je lauter mein Leben wurde, je mehr ich erlebte, desto weniger nahm ich mir für das Schreiben Zeit. Ich ließ meine Gedanken im Kopf, mit der leisen Hoffnung irgendwann würde ich schon Zeit finden, sie zu Wort kommen zu lassen. Wirklich frei war mein Kopf schon seit langem nicht mehr.

Dabei sind Gedanken nicht bloß Gedanken. Sie sind Gefühle. Manche Gedanken sind Ängste und Träume. Mal sind die Gedanken sauer, laut und schreien umher. Mal sind sie leise, flüstern mir in Form von Zweifeln stolpernde Fetzen zu. Ein anderes Mal sind sie traurig, verzweifelt, fühlen sich allein, miss- oder unverstanden. Dann wieder sind sie so unsicher, dass sie sich kaum trauen, mit mir zu reden. Manchmal sind sie aber auch energisch, voller Tatendrang, mit einer neuen Idee und versuchen mich zu überzeugen, die Pläne direkt umzusetzen. Und manchmal sind sie einfach Liebe.

Als ich vor ein paar Jahren einen Kurs in der Uni belegte, in dem man viel Input zum Schreiben bekam und der mit der Teilnehme bei einem Poetry Slam in Münster endete, verunsicherte mich all das sehr. All die erstklassigen Texte der anderen. Die politischen Botschaften. Die Liebeserklärungen in höchster Poesie ausgedrückt. Ich verglich mich und schnitt nicht besonders gut ab, in meinem eigens erstellten Ranking. Dabei hatte mir die Zeit gelehrt, wie gut sich schreiben anfühlt und wie sehr ich das vergessen hatte. Ich fragte mich, was für mich der Mehrwert wäre, wenn ich auftreten würde. Warum sollte ich meine geschriebenen Worte jemandem zeigen, der sie bewertete? Sie in Konkurrenz stellen mit denen von anderen. Für mich fühlte sich das immer falsch an. Ich erkannte keinen Mehrwert anderen meine Gedanken vorzutragen. Bis ich meine Worte an meine Großeltern gerichtet habe:

Es ist der 80. Geburtstag von meinem Opa. Zeit für etwas Besonderes, denke ich. Ich will ihm zeigen, wie viel er mir bedeutet. Vor mir liegt mein blaugeflecktes Poesiebuch, in das ich ständig meine kleinen Gedankenfetzen oder fertigen Gedichte schreibe, seitdem ich es vor ein paar Monaten in Barcelona gekauft habe. Wort für Wort landet auf den Seiten. Buchstaben fliegen nur so in der Luft herum, mal kann ich sie nicht zu einem Wort ordnen, dann entsteht ganz von allein ein vollständiger Satz und dann ein Text, einfach so.

Es ist so weit. Die Diashow mit Fotos und Erinnerungen aus seinem und unserem Leben ist fast vorbei, da spüre ich schon, wie mein Puls in die Höhe schießt. Mit zitternden Händen, die das Sektglas fast herunterfallen lassen, blicke ich in erstaunte Gesichter. Fast niemand weiß, was jetzt kommt. Niemand weiß, welche Überwindung mich das hier gerade kostet. Mein aufgeregtes Ich versucht die Worte der beschriebenen Seiten auszusprechen. Doch ich lege die Blätter immer wieder ab, weil die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen. Nehm‘ sie dann wieder, weil der Tisch für meine Augen doch ziemlich weit weg ist.

>>Na komm schon<<, höre ich entfernt jemanden rufen. Fühle mich als befände ich mich in einem anderen Raum. Ich versuche meine Aufregung mit einem Witz zu überspielen, zumindest meine Stimme steht hinter mir. Aber den ersten Satz, das erste Wort und alles was mit ihm folgt, erscheint mir gerade unmöglich. Vor mir eine Menge an Menschen, die ich liebe. Menschen, deren Meinungen mir wichtig sind. Gefühle zu formulieren, fällt mir leicht. In geschriebener Form. Aber sie über zwischen meinen Lippen hindurch in die Freiheit zu schieben, nicht. Doch dann fang ich einfach an und alles was danach kommt ist nur beflügelnd.

Die hier gedruckten Worte sind ein Auszug aus dem ganzen Text, den ich an diesem Tag vorlas. Worte, die mir viel bedeuten und die ich dir gerne zeigen will.

Man sagt Whiskey und Wein werden erst so richtig genussvoll mit der Zeit,

also fühl dich keineswegs alt.

Denn auch Zigarren und Musikinstrumente gewinnen mit ihren Jahren immer mehr an Wert, dabei hast du uns von Beginn an schon so viel gelehrt.

Einiges wird zwar besser mit den Jahren, dennoch kann ich dir jetzt schon ganz gewiss sagen, die Zeit, in der wir dich alle nun kennen, reicht um dich als den wohl besten Mann, Bruder, Vater, Onkel und Opa zu benennen.

Aber auch wenn heute dein Tag ist, vergesst bitte alle nicht, was wäre Opa ohne Oma, wie wäre wohl Kaffee ohne Aroma. Ihr seid ein Team, bestens aufeinander abgestimmt, ihr wisst, wer den Abwasch macht und bei wem die Zigarette glimmt.

Ja, wenn ich könnte, dann würde ich das hier einfrieren, so wie Oma das Essen für Opa, alles gut einpacken und in einem Gurkenglas konservieren. Ich würde es ganz festhalten, das Glas an den schönsten Ort überhaupt stellen, um diese Tage in Erinnerung zu behalten.

Wie viel Zeit durfte ich bei euch verbringen, mit Omas Fahrrad und Tabea sich auf den Gepäckträger schwingend, durch die Feldmark fahren, die Sonne untergehen sehen, erkennen, wie glücklich wir waren. Dank euch konnten wir Rehe als Haustiere haben, mit Wachteln spielen und ein Hängebauchschwein herumtragen.

Wir spielten Verstecken in den Tannen, bauten uns Buden, fuhren Schlitten und verbannten, die nicht so schönen Dinge.

Genau deswegen stehe ich jetzt hier und beginne.

Fange endlich an von ganzem Herzen Danke zu sagen, weil ihr glücklich seid, wenn wir es sind, ohne euch jemals zu beklagen, über all die Kämpfe, die hinter euch liegen, wollt doch nur ein kleines bisschen Frieden.

Bei euch gibt es noch immer diese heile Welt, wir essen Hähnchen, schauen Sportschau, machen das was uns gefällt, auch wenn das heißt, dass wir Sprite zum Frühstück trinken, wir in matschige Gräben springen und darin versinken. Kein anderer Bauch außer deiner, würde wohl so zum Kuscheln einladen und nirgendwo anders seh‘ ich jemanden Tauben den Kopf abschlagen.

Manchmal, da wär ich gern wieder klein, schlaf mit Tabea in dem Kämmerlein, streiten uns darum, wer diesmal auf dem Bett liegt, und wer nachts die Kassette umdreht.

Bei euch kann ich immer wieder Kind sein, muss mich nicht verstellen, passe einfach hier rein.

Oma, niemand sonst lacht so herzlich und tränenreich wie du, dir kann ich alles erzählen, dabei hör ich dir am liebsten zu. Du bist die, die alle zusammenhält, die immer weiß, dass alles gut wird, und für die nichts mehr zählt, auf dieser Welt, als die Familie.

Du Opa bist natürlich furchtlos, so wie es sich für einen echten Mann gehört, nur wenn Oma Hilfe beim Abtrocknen braucht, bist du verwirrt, beim letzten Mal, hattest du es mal wieder nicht richtig gemacht, aber du weißt, wie es klappt, ein paar Sprüche und sie lacht, das ist der Grund, weswegen ihr so gut zueinander passt.

Ihr seid für mich unvergänglich, meine Liebe für euch ist unendlich, ihr habt mir gezeigt, dass im Leben auch Geben zweckt, und in Leben auch Lieben steckt, keine besseren Großeltern könnte es für mich geben, ja ich wünschte, wir könnten auf ewig zusammen leben.

Deswegen bitte ich euch jetzt, alle gemeinsam mit mir unsere Gläser zu heben, um auf euch beide anzustoßen, auf eine wunderbare Zeit, und einen großen stetig weiterwachsenden Berg voller Liebe, Glück und Zusammenhalt.

Es ist still, als ich die letzten Silben ausspreche. In einem kleinen Gefühlsausbruch stürme ich zu meinen Großeltern und falle ihnen, mit Tränen über die Wangen laufend, in die Arme. >>Ihr dürft ruhig reden<<, sage ich in den Raum, weil mir die Stille unangenehm erscheint. Aber der Rest um uns herum bleibt lautlos. Erst nach einer Weile hört man leises Gemurmel, Stimmen werden lauter, tauchen ein in ihre eigenen Erinnerungen, beginnen von ihnen zu erzählen. Sei es als Neffe oder Nichte, die die Ferien bei meinen Großeltern verbracht hatten. Als Nachbar, der genau wusste, von was ich eben gesprochen hatte. Als Kind, Schwiegersohn oder Enkelkind, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, dort aufwuchsen, an ihre Kindheit erinnert wurden oder an ihre eigenen Großeltern dachten. Manche dachten an die Zeit mit ihren Enkelkindern oder wünschten sich genauso eine Beziehung zu ihnen. Alle können sich mit irgendwelchen Worten identifizieren. Alle sind berührt. Ich stapfe danach zielstrebig und auch, weil mir die noch auf mir liegenden Augen zu viel sind, zum Kuchenbuffet. Aber immer wieder kommen Menschen zu mir und bedanken sich, sprechen mir Mut zu, öfter mein Geschriebenes zu zeigen oder überschütten mich mit Komplimenten.

Auch mein Opa kommt wenig später in einer ruhigen Minute zu mir und sagt: >>Das da eben, ist wohl das schönste Geburtstagsgeschenk, was ich jemals bekommen habe. Da kann ich richtig stolz drauf sein.<< Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals so bewusst, so aus ganzem Herzen zu mir gesprochen hat. Davor nicht und danach nicht. Man muss wissen, mein Opa ist der witzigste Mensch, den ich kenne. Wäre er in einer anderen Welt geboren, wäre er wahrscheinlich Stand-Up Comedian oder Schauspieler geworden. So bringt er uns und besonders unsere Oma ständig zum Lachen. Aber mein Opa ist kein Mensch der emotionalen oder gar gefühlsduseligen Worte. Umso mehr bedeuten mir diese Worte von damals.

Noch wochen- wenn nicht sogar monatelang hat mir meine Oma erzählt, wie die Leute im Dorf nicht aufhörten von diesem Tag und meinem Text sprachen. Solch eine Erfahrung hatte ich zuvor noch nie gemacht. Wenn ich einzelnen Menschen in Tonaufnahmen meine Texte vorlas, bekam ich zwar Rückmeldungen, dachte mir aber, wenn sie mich mit lieben Worten bewarfen, dass sie nun mal keinen Vergleich hatten. Dass sie einfach nicht wussten, was es sonst noch gab an tollen Texten. Dabei lag genau dort mein Denkfehler. Es geht nicht darum, meinen Text zu vergleichen. Es geht darum, ob ihnen mein Text gefallen, sie berührt hat. Diese Erkenntnis gewann ich auf dem Geburtstag meines Opas.

Seitdem weiß ich, was mein Mehrwert ist. Ich kann anderen Menschen etwas schenken. Die Menschen müssen nicht dieselbe Geschichte erlebt, nicht dieselben Orte besucht und nicht dieselben Menschen geliebt haben. Sie können sich mit dem Gefühl identifizieren, das meine Worte in ihnen auslöst. Aber nur zu wissen, was der eigene Mehrwert ist, reicht nicht. Es reicht nicht für das hier. Es ist nur die Gewissheit, das Richtige zu tun.

Aber es brauchte den Moment des Innehaltens. Wie bei einem guten Lied, bei dem man auf Pause drückt, nur um wahrzunehmen, was dieses Lied gerade in einem auslöst. So ging es mir, wenn auch eher ungewollt. Mir ging es gut. Ich hatte aufregende Pläne und wollte noch mehr erleben als zuvor. Doch mit dem Eintreten der Pandemie, verfrachtete ich mich selbst in mein Heimatdorf und in die Stille. Der Stillstand in der Welt, wurde zu einem Stillstand in meinem Leben. Und diese Ruhe nutzte ich, um all die lauten wilden Momente Revue passieren zu lassen.

Umso mehr erfüllt es mich mit Glück und Stolz, dass du dieses Stück von mir jetzt in deinen Händen hältst. In diesem Buch habe ich meine tanzenden Endorphine, meine zerbrechlichen Ängste, meine unüberwindbaren Tränen und mein lautes Lachen aufgeschrieben. Und mit all dem, den Menschen einen Platz gegeben, die zu einem Teil dazu beigetragen haben.

Aber es ist mir sehr wichtig zu sagen, dass es immer zwei Seiten gibt. Ich erzähle hier eine Geschichte. Meine Geschichte und mit ihr meine Gefühle, meine Wahrnehmung und meine Perspektive. Es geht mir in diesem Buch nicht darum, mit jemandem abzurechnen oder jemanden vorzuführen. Ich spreche weniger von Fakten und viel mehr von Gefühlen. Ich habe entweder das Einverständnis die Originalnamen zu verwenden oder die Namen geändert. Auch wenn all die Geschichten von mir persönlich erlebt wurden, verschwimmen hin und wieder die Grenzen zwischen Fantasie und Realität. Es kann also sein, dass wenn Menschen dieses Buch lesen, sich in Figuren wiederentdecken, stutzen, weil sie unsere Begegnungen ganz anders wahrgenommen haben. Davon gehe ich aus. Aber in erster Linie geht es hier um mich. Ich versuche herauszufinden, was all das, was ich erlebt habe, mit mir gemacht hat. Was Menschen in mir verändert haben, inwiefern sie Teil meines heutigen Ichs sind. Wer ich bin.

Gesäte Samen

Wie viel Einfluss können Menschen auf uns nehmen? Wie viel von dem, was in unserer Kindheit und Jugend gesät wird, beeinflusst uns in unserer Zukunft, im erwachsenen Alter?

Da ist die Mama, die sich im Spiegel begutachtet. Sich mit ihren und nicht mit den Augen ihres Kindes sieht. Sie bemängelt, kritisiert, sie ist sich nicht bewusst was für ein Wunderwerk ihr Körper ist. Ihrem Kind sagt sie nicht, dass der Bauch zu rund oder die Beine zu wabbelig sind. Aber das Kind sieht der Mama zu und beginnt so ganz langsam eine eigene Definition von schön, hässlich, dick und dünn zu entwickeln.

>>Bin ich dick?<<, schaut mich ein 6-jähriges Mädchen vor einigen Jahren mit großen tiefblauen Augen an. Sie ist klein und zierlich für ihr Alter, die meisten anderen Kinder überragen sie. Ich bin kurz verwundert über die Frage. Verstehe aber in dem Moment eine Sache: Kinder bewerten ihre und andere Körper nicht. Zumindest so lange, bis sie bemerken, wie andere dies tun. Dabei reicht es schon, wenn die Mama ihren eigenen Körper bewertet. Anhand dieser Aussagen kreiert das Kind eine eigene Vorstellung von einem schönen und gutem Körper. Und demnach das Verständnis für den eigenen.

Ich traue mir oft wenig zu, frage mich woher das kommt. Dabei hatte ich eigentlich schon immer den Eindruck, meine Familie würde mich unterstützen und an mich glauben. Als ich meiner Mutter davon erzähle und auch, dass ich mich von meinem bereits verstorbenen Großvater nach der Geburt meiner Schwester Tabea oft ‚abgeschoben‘ gefühlt habe, bestätigt sie mir das. Ich bin verblüfft als sie sagt, dass mein Großvater und mein Großonkel meine Schwester und mich verglichen und oft Dinge sagten wie:

„Madita, traust du dich schon wieder nicht? Schau doch mal, Tabea ist viel mutiger als du. Du bist ein Angsthase.“

Ohne, dass ich jemanden für mein inneres Gefühl beschuldigen will, ist es laut der Psychologin, Therapeutin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl bewiesen, dass solche Worte besonders in der Kindheit eine Auswirkung auf unser Unterbewusstsein haben können. In ihrem Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ dokumentiert sie die Entwicklung des inneren Kindes. Unser Selbstwertgefühl bilde sich in den ersten Lebensjahren und mit ihm auch das Vertrauen, das wir anderen Menschen entgegenbringen. Die ersten Lebensjahre eines Menschen seien deshalb so wichtig, weil „sich in dieser Zeit seine Gehirnstruktur mit ihren ganzen neuronalen Netzen und Verschaltungen herausbildet.“ Obwohl ich mich nicht mehr an die Kommentare der Beiden erinnere, spürte ich in meinem Unterbewusstsein genau diese wertende Haltung. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Momente aus meiner frühen Kindheit vollkommen dafür verantwortlich sind, wie ich mir heute Dinge zutraue oder wie ich mich wahrnehme. Doch soll das als Beispiel dafür dienen, welche große Macht Worte haben können. Wie nachwirkend Situationen aus der Vergangenheit uns verletzen können, besonders im Kindesalter. Auch wenn es Kinder sind, gerade weil es Kinder sind, sollten wir vorsichtig sein, gewissenhaft mit unseren Worten umgehen.

Als ich die Schule wechselte, gab es dort einen Jungen, dessen Namen ich in der 7. Klasse auf die Rückseite meines Collegeblocks schrieb. Umrandet mit einem Herz und tausend weiteren Kritzeleien. Während einer Pause wanderte dieser Block in den Händen dreier Mädchen aus meiner Klasse zu ihm. Ich stand auf der anderen Seite des Schulhofes und musste zusehen, wie sie anfingen zu lachen. Ich kann mich auch noch heute ziemlich genau an diesen Tag erinnern. Vielleicht weil, sich das Gefühl des Schams und der Entblößung so in mir eingebrannt hat. Und weil der Junge mich natürlich nicht toll fand. Nach den Sommerferien hatten es die meisten schon wieder vergessen. Nur ich nicht.

Wir schreiben den paar gemeinen Worten, die wir im Vorbeigehen sagen, dem schiefen Blick oder den unerwiderten Gefühlen keine große Bedeutung zu, wenn wir noch klein sind. Dabei bleibt jedes Gefühl ein Gefühl, auch wenn wir es in einem jungen Alter erfahren. Das ändert sich nicht mit dem Älterwerden. Wir sollten uns selbst und einander Raum geben für unsere Gefühle. Respekt schenken für ihren Wert. Selbst wenn wir uns nicht immer an den direkten Ursprung eines Gesprächs, Streits oder Liebeskummers erinnern, kann sich unser Unterbewusstsein dieses Gefühl wie eine Narbe auf der Haut merken. Gesäte Samen tragen Früchte, das ist eine logische Folge. Nur wird oft vergessen, dass es nicht nur saftig leckere Früchte gibt.

Meine Erfahrung ist, dass Gefühle einander oft abgesprochen werden, wenn sie nicht selbst empfunden werden. Habe ich empathische und reflektierte Menschen in meinem Umfeld, schaffen sie es trotzdem meinen Gefühlen ihren angemessenen Respekt zu schenken. Ich erwische mich aber oft selbst dabei, wie ich die Gefühle meines Gegenübers, weil es ja nicht mein Gefühl ist, herunterrede. Oftmals weil ich es für „übertrieben“ halte. Ich mag diese Seite, diese Spur von Eigenschaft nicht an mir. Aber ich finde mich nicht damit ab, dass ich „eben so bin“. Ich arbeite daran.

Wenn ich mit Kindern arbeite, fällt mir genau dies mittlerweile leichter. Vielleicht weil ich daran denke, wie hilflos Kinder oftmals sind und dass ich einen Einfluss auf ihre spätere Wahrnehmung habe. Denn nur weil ich nicht verstehe, warum ein Kind traurig über die weggegessene Melone, die verlorene Muschel oder vergessene Kette ist, heißt es nicht, dass ich die Gefühle des Kindes nicht ernst nehmen kann. Im Gegenteil: Ich sollte es tun. Ich sollte jeden Menschen, auch wenn es ein Kind ist, in seinen Gefühlen respektieren. Fällt also beispielsweise Jannik hin und ich sehe anhand seiner Mimik und Reaktion, dass er sich wirklich wehgetan hat, sage ich nicht mehr: „Ach, so schlimm war das doch nicht, ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Abgesehen davon, dass ich diese Aussage für stereotypisch und längst nicht mehr zeitgemäß halte, warum kann ich den Schmerz des Kindes nicht würdigen. Schmerz ist subjektiv. Also versuche ich mittlerweile mehr für das Kind da zu sein und zu fragen, ob es in den Arm genommen werden möchte, oder kurz eine Pause braucht. Ich schenke dem Schmerz und im selben Zuge auch dem Kind also seinen angemessenen Respekt und meist schicken wir dann gemeinsam den Schmerz in die Wolken. Pusten ihn von uns weg und freuen uns, wenn nun die Wolken ihn haben und er mit ihnen davonfliegt. Davonfliegen oder wiederkommen, wie ein Boomerang. Gefühle sind so selten kontrollierbar, dass wir sie selbst oft genug nicht verstehen.

„Ich bin schon lange mit mir selbst zusammen“

An jedem Tag

Ich bin mein Ursprung,

ich bin mein Glück,

ich lern mich kennen, an jedem Tag ein weiteres Stück.

Für mein Leben und was ich daraus mach, bin ich verantwortlich,

das klingt vielleicht einfach und ist es ziemlich oft nicht,

denn meine Art zu leben sie bricht, mit Erwartungen anderer,

die auch mal meine eigenen waren.

Doch glaub ich daran, wie gut es ist sich zu wagen,

neue Kleidung, Einstellungen und Ansichten hinauszutragen.

Mal wieder andere Wege zu gehen,

sich nicht für andere zu verdrehen,

das Leben durch die eigenen Augen sehen.

So habe ich das vor ein paar Jahren mal auf einer Geburtstagsparty erklärt. Jeder hat erzählt, wie lang er schon mit seinem Partner zusammen ist. Ich grinste, als ich sagte, dass ich wohl die längste Beziehung von allen führte. Mit mir allein. Dieses Jahr seit acht Jahren. Alle mussten lachen, dabei sagte ich das nicht nur als Witz. Ganz genau so empfand ich die letzten Jahre. Eine Beziehung mit mir selbst. Eine Beziehung, die anfangs komisch war. Die sich manchmal nach jemand anderem sehnte, aber doch nur mit mir selbst glücklich werden konnte. Niemand kann es schaffen, mich glücklicher zu machen als ich es selbst tue. Als ich letztens mit Freunden darüber spreche, dass ich glaube, dass es passende Menschen für bestimmte Lebensabschnitte gibt, bringt ein Satz von einer Freundin genau das auf dem Punkt, was ich damals auf dem Geburtstag noch nicht formulieren konnte.

>>Vielleicht bist du ja für deinen momentanen Lebensabschnitt die perfekte Partnerin. Vielleicht sollst du einfach gerade jetzt eine Beziehung mit dir selbst führen.<<

Die nächsten Seiten erzählen also keine Liebesgeschichte, wie wir sie aus Nicholas Sparks Büchern und Rosamunde Pilcher Filmen kennen. Sie erzählen kleine und große Begegnungen mit Menschen, meistens von den Männern und mir. Aber auch von so vielen Anderen. Sie lassen dich an Orte reisen, Gefühle ja vielleicht sogar selbst fühlen, aber vor allem tauchen sie dich ein, in einen tiefen Topf gefüllt mit allem, was das Leben zu bieten hat. Ich wünsche mir, dass du die Liebe siehst, mit der all diese Zeilen verfasst worden sind. Die Liebe, die ich gefühlt habe.

Vor ein paar Jahren, während meines ersten großen Liebeskummers, fing ich an offener zu werden. Nicht mehr in jedem Kuss eine neue Liebe zu erspähen. Wollte aber trotzdem all diese kleine Liebesmomente festhalten und begann eine Liste zu schreiben. Eine Liste, auf der Namen stehen. Menschen, die mich begleiteten für kurz oder lang. Ich entschloss mich also hier Geschichten dieser Liste zu erzählen, die mir besonders wichtig geworden waren. Eine Liste, die für viele nur eine Inspiration ist, einen Namen für ihren ungeborenen Sohn zu finden, aber für mich, als Erinnerung an Menschen steht.

Wenn ich die Liste von einem Tagebuch ins nächste übertrage oder einen neuen Namen hinzufüge, über die restlichen Namen stolpernd, erinnere ich mich. Erinnere mich, wie ich es sonst sicher nicht tun würde. An Momente, warme Sommer und kühle Nächte. An nassen Rasen, klaren Sternenhimmel, laute Bässe in meinen Ohren oder leise Töne aus meiner Musikbox. An Bier am Kanal, Worte auf Papier, verschickt aus tausenden Kilometern Entfernung. Die Liste ist Wahrheit, Schmerz, Liebe. Viele heiße Küsse, und viele verloren geglaubte Erinnerungen. Sie lässt mich zurückspringen nach Cambridge, London, Barcelona, Hannover oder in mein kleines Dorf in Südniedersachsen. Dank ihr bin ich wieder in Clubs, Straßenbahnen, auf Wiesen oder in Fotoautomaten. Die Liste ist nicht nur eine Anreihung von wilden Knutschereien oder verschwommenen Partybekanntschaften. Die Liste steht für Postkarten, Kaffees, Gespräche, Kuscheln, Lächeln im Gesicht, Face Time Calls oder Kochabende. Ganz viele Menschen, die ich kennenlernen durfte und durch die ich mich besser und immer wieder neu kennenlernte.

Unzählige Male habe ich bedauert Single zu sein, keinen Partner zu haben. Aber allein war ich nie. Auch wenn ich seit langem keine offizielle Beziehung mit einem Mann führe, war ich doch nie allein. Einige Männer haben mich monatelang begleitet, andere über viele Jahre, mal intensiver, mal weniger. Manche sah ich etliche Male, andere eine Nacht. Von manchen weiß ich nicht mal den richtigen Namen und mit anderen habe ich Freundschaften und hin und wieder tolle Gespräche. Mit ihnen hatte ich meine ersten Male. Ich weiß, was ihnen Angst macht oder wie ihr Hund heißt. Von manchen weiß ich nichts und von anderen alles. Es mag für viele in der Gesellschaft unorthodox scheinen, aber die letzten Jahre waren genau richtig für mich. Denn auch wenn schon lange niemand mehr als potenzieller Vater meiner Kinder in Frage kam, haben sie mich doch alle berührt, auf ihre eigene Art und Weise. Als mir meine Freundin Lisa letztens erklärte, dass sie gerade sehr glücklich ist und erst wieder eine Beziehung eingehen würde, wenn sie in dieser Beziehung noch glücklicher wäre, fand ich das sehr schlüssig. Wir sollten Glück nicht von jemand anderem abhängig machen. Abgesehen davon, dass Glück ja irgendwie eh nichts Permanentes ist. Sind es doch eher einzelne Momente, Gefühle, Erlebnisse oder Menschen, die uns für einen Moment glücklich sein lassen. Ich verstehe, was sie meint und stimme ihr komplett zu.

Ich bin also mit mir zusammen. Eine Beziehung die immer enger wurde in den letzten Jahren. Besonders, weil wir so viel Zeit mit- und füreinander hatten. Ich bin mein Ursprung, meine Energie reicht, um mich zum Leben zu erwecken. Es wäre aber auch gelogen zu sagen, dass ich mich nicht hin und wieder nach jemandem sehne. Nach einer schützenden Umarmung, einem Kuss auf die Stirn, einer warmen Hand in meiner oder einem anderem Atem außer meinem beim Einschlafen. Vielleicht, weil ich nicht weiß, ob es „für immer“ gibt, bin ich deswegen so überaus dankbar für die Menschen, die ich bisher treffen durfte. Jene, die kurz oder länger meinen Weg kreuzten und doch viele Farben auf meiner Leinwand hinterließen und jene, die kamen und blieben.

Zu wenig von allem, aber davon zu viel

Über viele Jahre hatte ich das Gefühl, ich müsste mich dauerhaft beweisen. Beweisen wie großartig, witzig, schön, schlau, kreativ und besonders ich war. Beweisen, dass ich gut genug für die Rolle, den Platz im Team, die Position der Klassen-oder Schulsprecherin bin. Aber nicht zu großartig, dann wäre ich eingebildet. Und auch nicht zu schlau, dann wäre ich eine Streberin. Nicht zu schön, dann sind alle neidisch. Nicht zu selbstbewusst, zu engagiert, zu ehrgeizig, denn dann mag mich niemand.

Ich hatte zu wenig von allem, aber davon zu viel. In jeglicher Hinsicht wurde mir genau das lange vorgelebt. Beim Sport war ich zu pummelig. Bei den Jungs zu kindisch. In der Schule zu vorlaut. In der Freizeit zu direkt, zu emotional, zu viel. Nicht cool genug, um auf Partys eingeladen zu werden. Nicht weiblich genug, um von Jungs angeschaut zu werden. Ich war kindisch, weil ich auf Kinderfreizeiten mitfuhr und mir all das Spaß machte. Aber nicht witzig oder besonders genug, um in der evangelischen Jugend beliebt zu sein. Mir fällt es noch heute schwer mich mit Gruppen zu identifizieren. Wo passe ich rein, wo gehöre ich dazu. Dazugehören, wer will das nicht. Sich ausgeschlossen fühlen hingegen, darum bitten die wenigsten. Ich zumindest nicht. Doch meine Art eckte an. Ich wurde missverstanden, es wurden falsche Dinge erzählt, es wurde sich auf meine Kosten lustig gemacht und ich wurde unsicher. Ich verlor meinen Radar für wahr und gelogen. Obwohl ich so früh gelernt hatte, was sich richtig und falsch anfühlt, vergaß ich auf einmal wer ehrlich mit mir war.

So wurde ich misstrauisch, hinterfragte ständig jede nette Geste. Wollten sich meine Freunde wirklich noch mit mir treffen? Letztes Mal hatten sie mich schließlich nicht gefragt. Mag er mich wirklich? Er schrieb mir seit Tagen nicht. Sollte ich das Geräteturnen weiterverfolgen? War ich gut darin? Oftmals konnte ich die Nacht vor einem Wettkampf kaum schlafen, bekam, währenddessen Magenprobleme, nahm Baldriantabletten und versaute trotzdem jede Übung. Ich trug nicht die neuesten Klamotten, hatte nie das tollste Handy, bekam mit 14 Jahren meinen ersten BH, erst mit 15 Periode und mit 16 wurde auch ich mal geküsst. Vom Sex ganz zu schweigen. Ich konnte nicht mitreden, wenn alle von ihrem ersten Kuss erzählten und wurde nie gefragt, wenn sich heimlich zum Alkohol trinken getroffen wurde. Ich fühlte mich oft nicht gewollt. Nur geduldet. Das färbte sich auf mein Selbstbild ab. Denn oft hatte ich das Gefühl, es niemandem Recht machen zu können und mir selbst schon gar nicht. Wenn ich etwas machte, tat ich es aus Leidenschaft, aber trotzdem war ich immer nur gut. Gut ist nicht schlecht, das ist mir klar. Aber gut ist auch nicht herausragend, nicht ausgezeichnet. Gut ist eben gut, schon eher befriedigend und eben Mittelmaß. Vielleicht bin ich Mittelmaß. Vielleicht werde ich nie etwas besonders gut machen, etwas finden, was ich mehr als gut kann. Denn was ist, wenn gut nicht genug ist? Ich struggle noch oft mit diesem Gefühl. Ich weiß nur mittlerweile, dass es solche und solche Tage gibt. Ich weiß, dass ich mich an manchen als genug empfinde und an anderen, mir nicht selbst ein gutes Selbstwertgefühl vermitteln kann. Ich habe mich verändert, aber ich konnte bisher nicht alle Unsicherheiten hinter mir lassen.

Gefühle sind zum Fühlen da

Gefühle sind zum Fühlen da,

Gefühle sind für mich stets wahr.

Sie zeigen mir, was zählt, was mich bewegt,

wofür mein Herzschlag höher schlägt.

Gefühle liegen manchmal wie fettige Pizza, schwer im Magen,sie lassen dich weinen, bitten und fragen.

Gefühle sind tückisch und haben es in sich,

aber stellst du dich ihnen, spiegeln sie dir dein Gesicht.

Wenn ich fühle, musst du nicht so fühlen,

und meist kannst du es auch nicht verstehen,

aber versuch doch, sie mit anderen Augen zu sehen,

deinem Gegenüber zugestehen.

Lass uns Gefühle an die Hand nehmen,

anstatt sie versuchen zu zähmen,

sie stattdessen ausleben, fortbewegen,

sie nicht mehr zügeln, sondern fühlen.

Gefühlen, die ich empfand, gab ich kaum ein Ventil. Aber das machte sie nicht weniger intensiv. Ich fühlte mich oft ungerecht behandelt, reagierte bockig, impulsiv und laut. Das Gefühl ungerecht behandelt zu werden, empfand ich über viele Jahre hinweg in einer mir sehr wichtigen Beziehung, ja noch heute manchmal. Ich versuchte es zu kommunizieren. Denn wenn ich eines früh gelernt hatte, dann, dass niemand wissen konnte, wie ich mich fühlte, wenn ich es nicht aussprach. Außerdem ging es mir nie darum Vorwürfe auszusprechen, sondern vielmehr zu sagen, wie ich Dinge, Worte wahrnehme. Doch meist bekam ich nur ein: „Das stimmt doch gar nicht“, „Nein, ich stelle mich auf keine Seite“, „Du bildest dir das ein“ entgegengebracht. Dabei ging es gar nicht um richtig oder falsch, um die Wahrheit oder um Schuldzuweisungen. Es ging darum, wie ich mich fühlte. Es schmerzte mir also noch viel mehr, dass ich nicht ernst genommen wurde, dass gar nicht erst versucht wurde, sich in meine Lage hineinzuversetzen. Wenn Gefühle nicht gehört, nicht respektiert werden, wird es irgendwann immer schwerer sie rauszulassen. Ich wusste oft nicht, wie ich mit meinen Gefühlen umgehen sollte. Ich war überfordert. Oft brach ich nach einem Streit zusammen, erschöpft von der Masse an Gefühlen, die in meinem Körper kurz zuvor explodiert waren. Besonders mit der Wut konnte ich nicht umgehen.

Ich war als Teenager überfordert mit meinen Gefühlen, vor allem aber mit meiner Wut. Was mir dann oft entgegengebracht wurde, war nicht Verständnis, sondern auch Wut. Wenn Wut mit Wut reflektiert wird, gleicht sich das nicht aus. Dann entsteht noch mehr. Ganz viel böse Worte, verletzte Gefühle und eine schwierige Beziehung. Distanz. Als ich 12/13 Jahre alt war hatte ich oft Wutanfälle. Ich hatte meine Wut einfach nicht unter Kontrolle. Da half auch kein Boxsack. Ich wollte oftmals gar nicht wütend oder gemein sein. Ich konnte mich nur oft nicht anders ausdrücken, konnte mein Handeln und Verhalten nicht kontrollieren. Manchmal war die Wut einfach da. Ohne wirklichen Grund. Oder besser gesagt ohne einen für mich erkennbaren Grund. Natürlich sind Gefühle zum Fühlen da. In einem angemessenen und respektvollen Rahmen. Aber in diesem Rahmen sollte ich alle Gefühle ausleben können. Und wenn ich mir eines wünschen könnte, dann, dass jeder Menschen in seinem Leben hat, die uns unsere Gefühle ausleben lassen, mit denen wir sie gemeinsam ausleben können.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Freundin Sofia zurück. Wir sitzen auf einem weichen Sofa im Herr Sonnenschein. Die letzten Wochen hatte sich eine Distanz zwischen uns eingeschlichen, die ich so nicht nachvollziehen konnte. Die so intensive Freundschaft, die sich zwischen uns so rapide entwickelt hatte, hatte sich in den letzten Wochen geschmälert. Nicht meine Liebe zu ihr, sondern eher die Nähe, die ich auf einmal nicht mehr spürte. In jedem Gespräch das Gefühl egal was ich sagen würde, es wäre falsch. Ihr zu nahe zu kommen und so eigentlich nur weiter von ihr weg zu rücken. Also sprach ich sie darauf an. Nicht, weil ich so heiß auf eine Konfrontation war, vielmehr mied ich solche Gespräche zu gern. Nein, weil sie mir einfach wichtiger war, als es in dem Moment mein Ego und meine Komfortzone waren.

Sie bestätigt mir, dass ich mehrfach Dinge gesagt habe, die sie verletzt hatten. Ich konnte, das, was mein Verhalten in ihr ausgelöst hatte, nicht nachvollziehen. Konnte ihre Wahrnehmung nicht nachempfinden. Natürlich nicht, denn ich war nicht sie. Aber ich nahm mir ihre Worte zu Herzen, ich respektierte ihre Gefühle. Vielmehr tat es mir weh, ihr solch ein Gefühl gegeben zu haben. Ich wollte doch unter keinen Umständen, dass sie sich wegen mir so fühlte. Also fragte ich sie, wie ich das ändern könnte. Ich wechselte die Perspektive. Ich fühlte mich nicht angegriffen, im Gegenteil ich sah ihre Offenheit als Chance unsere Freundschaft auch in Zukunft ehrlich und sogar noch besser weiterzuführen. Auch ich hatte etwas auf dem Herzen, und so sehr es mir schwer fällt Kritik zu äußern, wusste ich, dass ich meine Gedanken mit ihr teilen musste. Das, was ich mir bezüglich meines Ungerechtigkeitsgefühls auch gewünscht hätte, hatte ich in diesem Gespräch versucht umzusetzen.

Jetzt, mehr als ein Jahr später frage ich mich und später auch sie, ob nur ich aus diesem Gespräch so viel ziehen konnte. Ob sie möglicherweise dieses Gespräch ganz anders wahrgenommen hat. Aber im Gegenteil, sie sagt mir:

„Für mich selbst ist es danach noch enger geworden. Es hat unsere Freundschaft auf ein anderes Niveau gebracht. Darum geht es doch auch in Freundschaften, oder? Die Ecken und Kanten sehen und erkennen. Ich glaube ich hatte noch nie ein angenehmeres Streit- bzw. Klärungsgespräch. Man führt solche Gespräche auch schließlich nur, wenn der Mensch, wenn die Freundschaft einem wichtig genug ist, um in Konfrontation zu gehen. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war und wie schlecht ich einschätzen konnte, wie das Gespräch verlaufen würde. Dass es so konstruktiv und produktiv wird, das hätte ich nicht gedacht.“

Wir sind einer Meinung, wenn wir rückblickend sagen können, dass wir beide offen für die Worte des anderen waren. Wir haben unsere eigenen Positionen erläutern aber auch verlassen können. Wir haben uns unsere Wahrnehmungen zu Herzen genommen und reflektiert, ohne dabei in eine Verteidigungshaltung zu gehen.

Meine drei Musketiere

Es kam bisher einige Male vor, dass ich Männer1 kennenlernte, die immer deutlich älter waren als ich, mit denen ich aber jeweils eine besondere Verbindung aufbaute. Wir teilten denselben Humor, konnten uns necken, Witze machen, ohne dem anderen dabei zu nahe zu kommen, verstanden uns aber oft einfach durch Gestik und Mimik. Gleichzeitig hatte ich mit diesen Männern immer Gespräche, die mich auf lange Zeit beschäftigten, die mich ermutigten oder mich zum Umdenken bewegten. Ich nenne sie meine Musketiere.

Mit meiner Freundin Julia durch die Straßen Veronas laufend, denke ich erneut über diese Bekanntschaften nach und warum mir besonders Männer einfallen, die mich so geprägt haben. Eine leise Ahnung schleicht sich in meine Gedanken. Ohne, dass ich wertend sein will, spreche ich sie aus und Julia sagt, sie hätte es nicht besser formulieren können.

Meine Eltern zu kritisieren oder die Beziehung zu ihnen infrage zu stellen, besonders weil wir eine gute Beziehung führen, fällt mir unsagbar schwer. Aber warum idealisieren wir diese Menschen viel mehr als andere. Wieso darf ich nicht auch in Frage stellen, ob unsere Beziehung eine Intakte ist, die Erziehung in manchen Bereichen aus meiner persönlichen Sicht ihre Fehler hatte (wie sie ganz sicher jede Erziehung hat). Ich fühlte mich schon schlecht nur den Gedanken aufkommen zu lassen, weil ich weder meine Mutter noch meinen Vater verletzen, bloßstellen und auch nicht unsere Beziehung riskieren wollte. Aber ich merke, dass ich mich, mein Verhalten und meine zwischenmenschlichen Beziehungen viel besser verstehen kann und sie führe, seitdem ich anfange mich mit die Beziehung zu meinen Eltern näher zu beschäftigen. Schließlich sind die Beziehungen zu ihnen meine ersten, die ich überhaupt geführt habe.

So teile ich meine Gedanken mit Julia, warum gerade ältere Männer so präsente Rollen in meinem Leben einnehmen. Mein Vater wurde für mich mit den Jahren immer mehr zu einem Freund, einem Menschen, dem ich auf Augenhöhe begegnete. Das will ich grundsätzlich nicht kritisieren. Allerdings muss ich mir eingestehen, dass einige Diskussionen, Gespräche, meine Meinung über ihn auf unterschiedlicher Höhe stattfinden. Weil ich mich, ohne ihn respektlos behandeln zu wollen, über ihn stelle. Ich glaube dieser Wandel unseres Verhältnisses kam die Rückkehr aus dem Ausland und meinen erneuten Einzug zuhause. Ich adaptierte die Rolle der Hausfrau, hatte hin und wieder Nebenjobs, bis mein Studium begann und übernahm so gut wie alle Aufgaben, die früher unsere Mutter übernommen hatte. Ich war diejenige, mit der mein Vater über seine Probleme sprach. Mit der er abends nach der Arbeit redete, auf dem Sofa saß oder die er fragte, wie lange meine kleine Schwester sich verabreden durfte.

Ich will ihm keinen Vorwurf machen, ich erkenne nur, dass wir die Abfahrt nahmen, weg von der Straße, auf der ich ihn um seine Meinung bat, er mir Ratschläge gab oder seine stärkenden Arme um mich legte. Stattdessen entwickelten wir eine ganz eigene Form der Vater-Tochter Beziehung. Es mag sein, dass er genau deswegen der Mensch ist, zu dem ich am ehrlichsten bin. Ich sage alles, was ich denke. Und er erzählt mir alles, was ihn belastet, solange wie eine neue Partnerin in sein Leben tritt. Er öffnet sich mir in einer so schönen Art und Weise, durch die ich erst zu schätzen gelernt habe, wie wichtig es ist Gefühle zu zeigen. Das Vertrauen zwischen uns wurde immer mal wieder auf die Probe gestellt, und doch weiß ich, ich kann mich immer auf ihn verlassen.

Das, was mir fehlte, fand ich stattdessen bei den folgenden Menschen. Sie nahmen für kurz oder länger gewisse Vorbildfunktionen ein. Sie lehrten mich. Sie motivierten und unterstützten mich. Sie bestärkten mich. Sahen in mir mehr, als ich sah. Diese drei Männer, die ich kennenlernen durfte, sind für mich wahre Schätze der Begegnung und haben mich in vier unterschiedlichen Lebensbereichen geprägt. Vielleicht sieht mein Vater diese Dinge auch. Aber er sagt sie nicht. Vor ein paar Jahren erzählte er mir, wie er vor anderen manchmal sagte, wie stolz er auf mich sei. „Warum sagst du das nie zu mir?“ fragte ich ihn daraufhin. Er wusste es nicht. Mittlerweile hat sich das ein wenig geändert. Manchmal sehe ich seine Bemühungen, seine Liebe. Manchmal fällt es mir schwer, ihn zu verstehen, weil ich seine Prioritäten infrage stelle. Aber ich bin dankbar, für die anderen Momente. In denen er mir wieder nah ist, in denen er mir nicht mehr fremd vorkommt. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen und lerne die Beziehung, die wir mittlerweile haben, so anzunehmen, wie sie ist.

1Ich benutze bewusst die Bezeichnung Männer, weil die platonische Beziehung zwischen unterschiedlichen Geschlechtern in meinen Augen noch immer kritisch beäugt wird. Erst recht, wenn der Altersabstand größer ist. Ich glaube allerdings, dass wenn beide dasselbe Geschlecht hätten, keine Vermutungen oder Spekulationen entstehen würden. Mir ist es wichtig diesbezüglich zu sensibilisieren. Egal welches Geschlecht, egal welches Alter, ich glaube, dass zwischen manchen Menschen die Chemie stimmen kann, es klickt, der Humor derselbe ist.

Thorben

Thorben ist das erste meiner Musketiere. Er lernt mich kennen, als ich noch ein Kind bin und begleitet mich ein ganzes Jahrzehnt. Er ist einer meiner ehemaligen Lehrer. Ich glaub wir verstanden uns so gut, weil wir beide ein Stück weit rebellisch waren. Er verhalf mir zwar zu besseren Noten, als ich sie in Mathe verdient hätte, aber gerade, weil er mich mochte, wollte er nicht einsehen, dass ich kein Mathe konnte. Auch wenn dadurch in meiner Klasse immer wieder Diskussionen hochkamen, dass ich Vorteile hätte oder mich einschleimen würde.

Komischerweise konnte ich darüberstehen, obwohl mir das sonst so schwerfiel. Vielleicht weil ich zu 100% wusste, dass er mich einfach mochte und, dass ich nichts dafürkonnte, dass er mir bessere Noten gab, als ich verdiente, als ich forderte. Da wir uns auch privat kannten blieb er über die Schulzeit hinaus ein Teil meines Lebens. Auch wenn er in 9/10 Fällen mich mit seinen Worten zum Lachen brachte oder sich über meinen frisch geschnittenen Pony lustig machte, war es genau der 10. Fall, in dem er mir so wichtige Dinge mitgab. Wir kommunizierten, wie ich es nie mit anderen Lehrern hatte. Er gab kaum was auf Noten, geplanten Unterricht oder Pünktlichkeit und noch immer sehe ich ihn zehn Minuten zu spät mit seiner türkisfarbenen Vespa in seiner Jogginghose und seinem Hoodie vom letzten Skikurs auf das Schulgelände fahren. Er wurde in den vielen Jahren zu einer Art „Onkel“, mit dem ich eine fast freundschaftliche Beziehung führte. Für viele mag das skurril klingen, für mich war er in vielen unsicheren Phasen da und an Tagen, die für mich damals so wichtig waren.

Es ist der Tag des Abiballs. Wir Mädels in gewollt pompösen Kleidern und hochgesteckten Haaren, die manch eine unerkennbar machten. Die Jungs in Sakko und manche in Sneakers. Es ist eine feierliche Stimmung. Es ist vielleicht das letzte Mal, dass wir hier gemeinsam sind. Als Jahrgang. Ich weiß gar nicht mehr genau wann, aber er versprach mir zu Beginn des Abends einen Tanz. Wollte mir seine tänzerischen Fähigkeiten zeigen, die ich eher belächelt hatte. Als ich im Laufe des Abends an seinem Tisch lande, wehrt er nur ab.

>>Ach ihr macht das schon ganz gut da, auf der Tanzfläche.<< Meine Überredungskünste bleiben erfolglos. Als Wiedergutmachung bietet er mir an diesem Abend das Du an. Nicht, dass es mir nicht schon das ein oder andere Mal herausgerutscht war, aber jetzt so ganz offiziell nicht mehr die Schülerin zu

sein und als erwachsene, ihm gleichgestellte Person angesehen zu werden, schmeichelt mir.

>>Wenn ich euch so sehe, dann sehe ich echte Freundschaft.

Ich bin mir sicher: Das hält ewig.<<

Er zeigt mit dem Kopf zu meinen Freundinnen, die er auch kennt und mit denen ich bis gerade eben noch wild herumgesprungen bin. Ich werde für einen Moment sentimental.

>>Ja, das glaube ich auch. Es ist schon jetzt so viel Zeit, und immer noch nicht genug.<< Es sind meine drei längsten und engsten Freundinnen, von denen wir sprechen.