Winterzauber an der Seine - Mandy Baggot - E-Book
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Winterzauber an der Seine E-Book

Mandy Baggot

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Beschreibung

Zarte Schneeflocken tanzen um den festlich beleuchteten Eiffelturm, und zwei Herzen finden zueinander ...

Kurz vor Weihnachten erhält Keeley eine unerwartete Einladung nach Paris. Winterspaziergänge an der Seine, köstliche Schokoladensoufflés und der glitzernde Eiffelturm bei Nacht – Keeley, die einen tragischen Unfall noch nicht überwunden hat, ist froh über die Ablenkung und reist in die französische Hauptstadt. Dort stößt sie vor dem Hotel zufällig mit Ethan Bouchard zusammen. Der sympathische Franzose hat ein gebrochenes Herz und ist im Begriff, seine Hotelkette zu verlieren. Für eine neue Liebe ist er nicht bereit. Doch dann führt das Schicksal Keeley und Ethan immer wieder in den charmanten, lichterfüllten Gässchen an der Seine zusammen …

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Buch

Kurz vor Weihnachten erhält Keeley Andrews eine unerwartete Einladung nach Paris. Sie zögert zunächst, denn vor einem Jahr hatte sie einen tragischen Unfall, den sie noch nicht überwunden hat. Doch Winterspaziergänge an der Seine, köstliche Schokoladensoufflés und der glitzernde Eiffelturm bei Nacht klingen einfach verlockend, und ein wenig Ablenkung kann nicht schaden. Also reist Keeley zusammen mit ihrer besten Freundin Rach in die französische Hauptstadt. Dort stößt sie vor dem Hotel zufällig mit Ethan Bouchard zusammen. Der sympathische Franzose hat ein gebrochenes Herz und ist im Begriff, seine Hotelkette zu verlieren. Für eine neue Liebe ist er nicht bereit. Doch dann führt das Schicksal Keeley und Ethan immer wieder in den charmanten, lichterfüllten Gässchen an der Seine zusammen …

Weitere Informationen zu Mandy Baggotsowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Mandy Baggot

Winterzauber an der Seine

Roman

Aus dem Englischenvon Sylvia Strasser

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »A Perfect Paris Christmas« bei Aria, an imprint of Head of Zeus Ltd, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung September 2021

Copyright © Mandy Baggot, 2020

Published by Arrangement with HELLAS PRODUCTIONS

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®München; Alamy/Tobias Gaube

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-28330-8V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Haustiere, die ich so sehr vermisse …

Schlaft gut, Truffle, Stripey und Kravitz.

KAPITELEINS

Kensington, London

November

»Nicht wieder diese grässliche Discokugel von deiner Mutter, Duncan! Ich flehe dich an! Letztes Jahr hat Lydia Mumford schreckliche Migräne davon bekommen, und ich konnte nicht mal mehr die Häppchen von Waitrose servieren.«

Lizzie Andrews funkelte ihren Ehemann böse an, der gerade die große, sich drehende Silberkugel am Haken über der Kücheninsel aufhängen wollte und dabei ganz oben auf der Trittleiter balancierte, während auf dem Herd darunter ein Topf mit Cranberrys vor sich hin köchelte.

Keeley senkte den Kopf, schaute angestrengt in den Becher mit dampfend heißem, extrastarkem Kaffee und versuchte verzweifelt, nicht zu lachen. Die Unterhaltung ihrer Eltern über die von der lange verstorbenen Großmutter geerbte Festtagsdekoration verlief stets nach dem gleichen Schema. Ihre Mum behauptete mittlerweile sogar, sie hätte ihnen die Sachen nur hinterlassen, weil sie ihrer Schwiegertochter eins auswischen wollte.

Joan hat mich gehasst. Gehasst, Duncan! Vom ersten Augenblick an. Seit ich das erste Mal zu euch gekommen bin und sie die wunderschönen Pfingstrosen, die ich ihr mitgebracht hatte, in eine leere Konservendose gestellt hat.

Keeley mochte den Adventsschmuck, auch wenn auf den ersten Blick nichts zusammenzupassen schien: Leuchtendes Lila fand sich neben Smaragdgrün, Spielzeugroboter im Stil der Achtzigerjahre hingen an bewimpelten Schnüren, und die chinesischen Papierlaternen hätten wahrscheinlich schon vor langer Zeit in Flammen aufgehen sollen. Aber irgendwie ergänzte sich der bunte Mischmasch zu einem kunstvollen Ganzen. Auch Bea, ihre Schwester, hatte die Weihnachtsdekoration geliebt. Nachdem sie genau ausgetüftelt hatte, wie die Silberkugel am besten hing, damit sie sich so symmetrisch drehte, wie es Lizzies Ordnungssinn erforderte, hatte sie stets durchgesetzt, dass sie auf die Leiter stieg und nicht ihr Dad. So war Bea nun mal gewesen: Egal, was sie in Angriff nahm, sie tat es immer voller Begeisterung, aber nie, ohne sich vorher gründlich zu informieren.

Bei dem Gedanken an ihre kleine Schwester wurde es Keeley eng in der Brust. Sie nippte schnell an ihrem Kaffee, bevor der Toaster den großen Crumpet ausspuckte.

Ihre Mum drehte den Kopf, sodass ihre braunen Locken flogen, und schnupperte mit in die Luft gereckter Nase wie ein preisgekrönter Parfümeur. Sie ließ die Kiefernzapfen, die sie mit Farbe besprühte, auf die mit alten Zeitungen bedeckte Arbeitsfläche fallen und fragte: »Was riecht denn hier so?«

»Ist das einer von diesen riesigen Crumpets, die ich gestern gekauft habe?« Duncan, immer noch auf der Leiter und die verspiegelte Kugel in beiden Händen, schaute grinsend auf sie hinunter.

»Ja, genau«, antwortete Keeley, während sie verzweifelt versuchte, den Pfannkuchen in einem Stück aus dem Toasterschlitz zu ziehen. Sie hatte ihn ohne Probleme hineinbekommen, aber jetzt war er irgendwo eingeklemmt.

»Keeley!«, rief Lizzie entsetzt. »Ein Crumpet?«

»Möchtest du auch einen, Mum?« Der Pfannkuchen steckte erbarmungslos fest, und mit jedem Befreiungsversuch riss Keeley ein Stück Kruste ab, sodass er immer kleiner wurde.

»Was willst du denn draufschmieren?«, fragte Duncan. Er hielt den Blick unverwandt auf den Haken an der Decke geheftet und hatte vor lauter Konzentration die Zungenspitze herausgestreckt. »Erdnussbutter? Oder wie wär’s mit ein bisschen Blaubeermarmelade? Die schmeckt wirklich gut.«

»Duncan!« Lizzie sah ihn vorwurfsvoll an. »Die Blaubeermarmelade war für das Teegebäck zum Adventstee mit den Forresters gedacht! Hast du sie etwa aufgemacht!«

»Entschuldige«, sagte Duncan. »Vielleicht solltest du Zettel auf die Sachen kleben, die von gewöhnlichen Sterblichen nicht angerührt werden dürfen.«

»Na, das hättest du dir doch denken können, dass sie nicht für dich ist«, erwiderte Lizzie genervt. »Wann habe ich jemals Blaubeermarmelade für dich gekauft?«

»Öfter mal was Neues, sagt man nicht so?«, konterte Duncan. »So wie du mit deinem Yoga und diesem … Crap Gaga.«

Dieses Mal lachte Keeley laut heraus. Sie öffnete eine Schublade und griff nach einer Gabel. Wenn sich dieses Mistding von Pfannkuchen nicht mit den Fingern herausziehen ließ, würde sie schwerere Geschütze auffahren müssen. »Das heißt Krav Maga, Dad.«

»Das weiß er doch!« Ihre Mum nahm die Brille ab und massierte sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger, als würde sie Kopfschmerzen bekommen. »Ich habe ihm gesagt, er soll mitkommen, aber er spielt ja lieber Darts, statt etwas für seine Fitness zu tun.«

»Kommt jetzt wieder die Leier, dass Darts eigentlich kein richtiger Sport sei?« Duncan balancierte mittlerweile auf einem Fuß, damit er sich noch ein bisschen weiter strecken konnte. »Falls ja, zeige ich dir gleich diesen Artikel aus dem Telegraph.«

Die Gabel in Keeleys Hand senkte sich Richtung Toaster. Ihre Mum stieß einen gellenden Schrei aus und rannte los, als würde schon wieder jemand versuchen, sich über ihre wertvolle Blaubeermarmelade herzumachen. Bevor Keeley auch nur ein weiteres Mal Atem holen konnte, stand ihre Mum schon neben ihr und riss ihr die Gabel aus den Fingern.

»Was tust du denn da? Keeley! Um Himmels willen!«

»Was?« Keeleys Herz klopfte heftig, und sie legte sich mechanisch eine Hand auf die Brust für den Fall, dass es heraussprang und sie es wieder hineinstopfen müsste. »Was hab ich denn gemacht?«

Ihre Mum fuchtelte mit der Gabel herum wie mit einem Laserschwert. »Weißt du eigentlich, wie viele Menschen jedes Jahr durch Unfälle mit dem Toaster sterben?«

»Äh, nein«, antwortete Keeley, hatte aber das unbestimmte Gefühl, dass ihre Mum es ihr gleich sagen würde.

»Siebenhundert! Siebenhundert Idioten, die es besser wissen müssten. Du müsstest es besser wissen!«

Keeley sah, dass ihre Mum aufgeregt war, nicht so, wie wenn sie Weihnachtssterne für ihre Kaffeekränzchen, Weihnachtsmärkte und Fundraising-Partys bastelte, nein, das hier war etwas anderes. Sie wirkte fast so aufgewühlt, wie wenn sie über Bea sprach.

»Entschuldige«, sagte sie.

Ihre Mum knallte die Gabel auf die Arbeitsfläche, ging an Keeley vorbei und nahm sich den Toaster vor. »Wieso toastest du überhaupt das Ding da? Es ist zuckerarmes Müsli da, und frisches Obst haben wir auch – Clementinen und eine Galiamelone oder …«

»Blaubeermarmelade«, warf Duncan ein. »Jetzt, wo das Glas schon auf ist, kannst du sie den Forresters sowieso nicht mehr anbieten.« Er grunzte hörbar, als er die Kugel endlich aufgehängt hatte. »Geschafft! Perfekt!«

Keeley beobachtete, wie ihre Mutter geschickt den Crumpet aus dem Toaster zog. Er war dunkelbraun und an den Rändern ein klein wenig verkohlt, genau wie sie es mochte. Sie konnte es fast schon schmecken. Dick mit Butter bestrichen, die schmolz und in das lockere Innere sickerte …

»Den können die Vögel haben«, sagte ihre Mum und trug den Pfannkuchen zu der Tür auf die kleine Terrasse hinaus, an die sich ein Stück Rasen mit dem Gartenhaus anschloss, in dem Duncan sein Dartboard und seine Bierbrausets aufbewahrte.

»Was? Halt, warte!«, rief Keeley. »Das ist mein Frühstück!«

Ihre Mum blieb stehen, den Pfannkuchen zwischen Daumen und Zeigefinger, als handelte es sich um eine Mine, die sie gerade ausgegraben hatte und jetzt ganz vorsichtig, damit sie nicht explodierte, hinausbefördern musste. »Ich bitte dich, Keeley, mach es doch nicht so kompliziert, Schatz!«

Kompliziert? Keeley drückte die Zunge an den Gaumen, so fest sie konnte. Sie wusste genau, wohin das führte. Es begann mit Sorge, und dann wären sie ganz schnell bei der Liste für überfürsorglich Behütete, die es Punkt für Punkt abzuarbeiten galt, bis es schließlich damit endete, dass Keeley ein unglaublich schlechtes Gewissen hatte.

»Lizzie, Liebes …« Duncan kletterte langsam von der Leiter. Dank der Kugel über seinem Kopf glich die Küche jetzt einer Art Showbühne. So gleichmäßig, wie wenn Bea sie aufgehängt hätte, rotierte sie allerdings nicht, fand Keeley.

»Nein, Duncan, misch dich jetzt nicht ein! Sonst hältst du dich ja auch lieber raus. Immer muss ich die Böse sein, während du dich hinter mir versteckst und unsere Tochter ermutigst, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen.« Den Crumpet immer noch in den Fingern verzog Keeleys Mum das Gesicht. »›Eine Pizza dann und wann schadet doch nicht, solange du den gefüllten Rand weglässt.‹ ›Du bist, was du isst, und wer will schon eine Guave sein!‹ Das ist nicht lustig! Das ist überhaupt nicht lustig! Ich habe schon eine Tochter verloren, ich will nicht noch eine verlieren!«

Der Crumpet fing an zu krümeln, und im nächsten Moment klappte Keeleys Mum zusammen wie ein schlecht gefalteter Origami-Schwan.

»Mum!« Keeley eilte zu ihr, legte die Arme um die zierliche Gestalt ihrer Mutter und zog sie an sich. »Alles okay, Mum, mir geht’s gut.«

»Dir geht es eben nicht gut«, stieß sie mit tränenerstickter Stimme hervor. Das Gesicht hatte sie an den leuchtend roten Weihnachtspullover ihrer Tochter gepresst. »Und Crumpets mit Marmelade voller Zucker machen es nur noch schlimmer.«

»Hat die Marmelade denn wirklich so viel Zucker?«, fragte Duncan. »Ich glaube, dann sollte Tommy Forrester lieber darauf verzichten. Er hat mit dem Squashspielen aufgehört, weißt du. Irgendwas wegen einer Zerrung im Bein.« Er legte sich den Zeigefinger an die Schläfe. »Oder gab es Eisbein zum Abendessen? Ich bin mir ehrlich gesagt nicht mehr sicher.«

»Mum«, sagte Keeley sanft, »ich achte wirklich auf das, was ich esse. Immer.« Sie fing einen Blick ihres Vaters auf und verbesserte sich: »Fast immer.« Sie seufzte. »Meistens. Aber es ist doch Weihnachten!«

»Es ist November.« Ihre Mum hob den Kopf. »Leute, die unmittelbar nach Halloween sagen ›es ist Weihnachten‹, sollte man an einem Stuhl festbinden und zwingen, Piers Morgan zuzuhören.«

»Lizzie!«, rief Duncan.

»Ist doch wahr! Wir reden hier über Leben und Tod. Keeley steckt einfach ein Stück Stahl in den Toaster und isst Sachen, die ihre Arterien verstopfen werden, Zeug wie … wie …«

»Wenn du noch einmal so über Piers Morgan sprichst, werde ich es deinem Vater sagen«, drohte Duncan. »Er hat ein gerahmtes Foto von ihm in seinem Arbeitszimmer.«

»Wie …«, fuhr sie unbeirrt fort.

»Wie der Schokokuchen, den Bea immer gemacht hat«, beendete Keeley den Satz mit Tränen in den Augen.

Jemand musste den Namen ihrer Schwester doch aussprechen. Sie konnten nicht andauernd um den heißen Brei herumreden, so als ob das Wort Bea mit einem Fluch belegt wäre und ihnen für den Rest des Jahrzehnts Unglück bringen würde. Auch ein gutes Jahr nach dem schrecklichen Verkehrsunfall, der Bea aus dem Leben gerissen hatte, saß der Schmerz noch tief. Das würde das zweite Weihnachtsfest ohne sie werden. Im letzten Jahr waren alle noch völlig traumatisiert, und Keeley hatte die Feiertage im Krankenhaus verbracht.

In der Küche war es plötzlich still geworden. Keeley kullerte eine Träne übers Gesicht. Sie wischte sie hastig mit dem Handrücken weg. Sie konnte es nicht riskieren, dass ihre frisch gefärbten Haare mit Feuchtigkeit in Berührung kamen. Rach, ihre beste Freundin, behauptete zwar, das »Hellbraun mit Kupferreflexen« stamme von einer Firma, die zu L’Oréal gehöre, aber Keeley vermutete eher, dass sie die Farbe palettenweise bei Adie in dem Billigladen gekauft hatte. Sie dürfe frühestens morgen wieder unter die Dusche, hatte Rach ihr eingeschärft.

»Dieser Kuchen«, sagte Duncan und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Der war wirklich gut. Wir sollten ihn mal wieder backen. Wir alle zusammen.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Das würde Bea bestimmt gefallen.«

»Es wäre nicht das Gleiche«, wandte Keeleys Mum ein.

»Das wissen wir doch nicht, solange wir es nicht versuchen«, erwiderte Duncan.

»Könnte vielleicht ganz nett werden«, meinte Keeley. »Meine Niere und ich versprechen auch, dass wir nichts davon essen werden.«

Ihre Mum zog durch gespitzte Lippen scharf den Atem ein. »Ja, ja, mach dich nur lustig über mich!«

»Nein, Mum, so war das nicht gemeint, ich …« Doch Lizzie hatte sich bereits umgewandt und stapfte mit flatternder Yogahose aus der Küche.

Duncan schnupperte und fragte: »Riecht’s hier nicht verbrannt?«

»Dad, ich rieche doch praktisch nichts mehr.«

Duncan stürzte zum Herd und riss den Topf vom Kochfeld. Keeley guckte ihm über die Schulter. Die Cranberrys sahen nicht mehr wie rote Beeren aus, sondern ähnelten schwarzen Hasenkötteln. Die Flüssigkeit war zu einer teerähnlichen Substanz eingekocht.

»Oje«, murmelte Duncan. »Das wird deiner Mutter aber gar nicht gefallen. Eigentlich hätte das eine Cranberry-Jalapeño-Salsa als Dip für das Knabberzeug werden sollen, das sie heute Nachmittag ihrem Buchclub hinstellen will.«

Er zog den Topf von der heißen Platte herunter.

»Sag mal, Dad, geht es Mum gut?«

Duncan strich sich nachdenklich über seinen kurz getrimmten grauen Bart. »Richtig gut geht es ihr eigentlich nie«, antwortete er langsam. »Sie schwankt zwischen ›Sargträger‹ und ›Elton John in seinen besten Zeiten‹ – dazwischen gibt es nichts.«

Keeley nickte. »Ich weiß, aber momentan tendiert sie stark zum ›Sargträger‹, nicht wahr?«

»Na ja, es liegt an dieser besonderen Zeit. Beas Todestag … und die Erinnerung daran, wie du im Krankenhaus gelegen hast … und … Weihnachten steht vor der Tür und …«

»Und?«, drängte Keeley behutsam. Ihr Dad verheimlichte ihr etwas. Sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Womöglich lag das aber auch an den angebrannten Cranberrys und dem giftig riechenden Goldspray, mit dem ihre Mutter die Kiefernzapfen besprüht hatte.

»Na ja«, sagte Duncan noch einmal, »ich habe den Eindruck, dass sie mit diesen Kaffeekränzchen und Nachbarschaftszusammenkünften nur die Leere füllen will.« Er sah Keeley direkt an. »Wenn du meine Meinung hören willst – die deine Mutter ja selten interessiert, wie sie mir unmissverständlich zu verstehen gibt: Sie sucht ständig nach einer Beschäftigung, damit sie nicht nachdenken muss.«

Keeley nickte. Sie wusste ganz genau, was ihr Dad meinte. Seit Beas Tod hatte ihre Mutter mehr Hobbys, als in Ich bin ein Star – holt mich hier raus! Maden verspeist wurden. Wenn es nicht Krav Maga war, war es Yoga. Wenn es nicht Yoga war, war es Fundraising. Wenn es nicht Fundraising war, war es ein Abendessen oder eine Teegesellschaft mit Leuten, die mit den Andrews im Grunde nichts zu tun hatten, bis Lizzie sie brauchte, um eine Lücke in ihrem Terminkalender zu füllen.

»Hör zu«, sagte Duncan und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nicht du musst dir deswegen Sorgen machen, sondern ich. Als ihr Ehemann, der Mensch, der sie am besten kennen sollte, werde ich ein wachsames Auge auf sie haben und …«

»Dich, sooft es nur geht, in deinem Hobbyraum verstecken?«

»Nein.« Duncan schüttelte den Kopf. »Ich hoffe einfach, dass irgendwann alles wieder seinen gewohnten Gang nimmt. Es ist ja noch nicht lange her, und es kann nicht ewig so weitergehen.«

»Du weißt doch – wenn sich Mum etwas in den Kopf gesetzt hat … Es könnte tatsächlich ewig dauern.« Zumal niemand vorhersagen konnte, wie lange das war – ewig.

»Iss ruhig einen Crumpet«, flüsterte Duncan. »Aber nimm ein wenig Obst dazu. Ich seh mal nach deiner Mutter. Und überbringe ihr die schlechte Nachricht, dass die Cranberrys nicht mehr zu gebrauchen sind.« Er lächelte. »Wünsch mir Glück.« Er fuhr sich vielsagend mit der Hand quer über den Hals.

Glück. Ja, das brauchte jeder im Leben.

KAPITELZWEI

House 2 Home, Kensington

»Nun, Brandon, was kann Ihre Lieblingsmaklerin heute für Sie tun?«

Rach saß bereits am Schreibtisch, als Keeley das Immobilienbüro betrat, für das sie arbeitete. Ihre Freundin hatte die Füße auf dem Tisch und sich so weit zurückgelehnt, wie es der Stuhl mitmachte. Auf dem welligen blonden Haar trug sie eine Weihnachtsmannmütze samt Glöckchen, und ihr grünes Kleid hätte direkt aus der Weihnachtsmannwerkstatt stammen können. Sie hatte sich das Telefon unters Kinn geklemmt, und als sie Keeley erblickte, hielt sie ihren Kaffeebecher hoch und formte lautlos die Worte: »Heute ist ein Zwei-Stück-Zucker-Morgen!«

»Wie bitte?«, rief Rach. Aber ihr Gesichtsausdruck wollte nicht so recht zu ihrem empörten Tonfall passen, und ihre Augen funkelten. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie mich nach dem ehemaligen Kutscherhaus mit den drei Schlafzimmern fragen, und nicht so etwas! Der Weihnachtsmann würde Sie ganz oben auf seine Liste der unartigen Jungs setzen, wenn er das gehört hätte.«

Sie kicherte anzüglich. Keeley nahm ihr den Becher ab und ging durch das Büro in die Küche im hinteren Bereich.

Rach war Immobilienmaklerin. Keeley nicht. Keeley war gar nichts. Nach jener Nacht, in der das Taxi verunglückt war, war alles auseinandergefallen, wie in Zeitlupe, wie eine körnige, albtraumhafte Filmszene. In der einen Minute stand sie vor einem neuen Abschnitt ihres Lebens – im Begriff, ihren Job als Assistentin eines Innenarchitekten zu kündigen und sich als Raumausstatterin selbstständig zu machen –, und in der nächsten fand sie sich im OP wieder, wo sie um ihr Leben kämpfte, während ihre Schwester diesen Kampf tragischerweise bereits verloren hatte. Diese Nacht hatte alles verändert. Alles. Bea war tot. Ihre eigene Karriere war vorbei, noch bevor sie begonnen hatte. Sie wohnte wieder bei ihren Eltern und arbeitete als »Hausdoktor« für House 2 Home. Es war nicht unbedingt das, was sie sich vorgestellt hatte. Lieber würde sie ihre Kreativität zum Beispiel dafür einsetzen, eine Tapete zu entwerfen, statt sich Gedanken darüber zu machen, welcher Kaktus am besten in welches Ikea-Regal passte. Aber es war ein Job, der anständig bezahlt wurde, und der kurze Weg zur Arbeit war durchaus angenehm. Hinzu kam, dass das Geschäft einem Freund der Familie, Roland Krantz, gehörte, was ein wichtiger Pluspunkt für ihre Mutter war, denn falls Keeley Fieber oder Kopfweh haben oder angeschlagen wirken sollte, würde sie es bis spätestens Mittag erfahren.

Keeley setzte Wasser auf, lehnte sich an die Arbeitsfläche und betrachtete den Adventskalender, der seit mindestens zwei Wochen dort hing. Erst November, und schon waren einige Türchen geöffnet worden. Das brachte bestimmt Unglück. Sie seufzte. Glück, Unglück – was war das heute nur mit diesen Wörtern?

Rach kam in die Küche. »Noch nicht mal halb neun, und dieser verdammte Brandon ist schon scharf wie eine Rasierklinge.« Sie schaute auf die Uhr. »Noch nicht mal halb neun. Was machst du denn schon hier?«

»Meine Mum hat mir vorgeworfen, ich würde zu leichtsinnig mit meinem Leben umgehen, als ich versucht habe, einen Crumpet mit einer Gabel aus dem Toaster zu ziehen«, antwortete Keeley. »Dann hab ich den Crumpet auch noch mit Blaubeermarmelade, die gar nicht für Dad und mich bestimmt war, gegessen. Und bevor ich gegangen bin, hat sie meinem Dad ein Mehrkornbaguette auf den Kopf gehauen, weil die Cranberrys angebrannt waren.«

»So ein Mist. Und da beklag ich mich, weil mich einer noch vor meinem zweiten Kaffee fragt, ob ich mit ihm in die Kiste steigen will.«

»Tja, siehst du, wenn jemand die zwei Stück Zucker im Kaffee nötig hat, dann bin ich das«, sagte Keeley schmunzelnd.

»Wart’s ab. Vielleicht brauchst du sogar drei, wenn du erfährst, was Roland heute mit dir vorhat.« Rach zupfte am Saum ihres ultrakurzen Rocks.

»O Gott!« Keeley stöhnte und schloss die Augen. Dann atmete sie tief durch und machte die Augen wieder auf, gerade als Rach ein weiteres Türchen am Adventskalender aufriss. »Es hat doch hoffentlich nichts mit dem Rundfunksender zu tun, oder?«

Letztes Jahr hatte Roland sie hingeschickt, um einen Jingle für die neue Weihnachtswerbekampagne für House 2 Home aufzunehmen. Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass sie mit den Arbeitskollegen gesungen hatte. Ein einziger Refrain von »It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas«, und Roland hatte sich in eine Art Jurymitglied verwandelt und gemeint, sie hätte »die nächste Runde erreicht«. Ihr war damals nicht im Geringsten nach Weihnachten zumute gewesen, und sie war erst eine Woche vor dem Termin bei Kensington FM zum Team gestoßen. Da hatte sie noch höllische Unterleibsschmerzen gehabt, wenn sie bloß ein bisschen heftiger lachte. Aber Rolands Wahlspruch lautete: Was dich nicht umbringt, macht dich erfolgreich. Den hatte er, laut Rach, sogar auf Postkarten und Tragetaschen drucken lassen.

»Nein, nein«, antwortete Rach lachend. Sie schob sich eine Praline in den Mund und öffnete noch ein Türchen.

»Ist es die Schule? Als ich das letzte Mal dort war, ist eins der Mädchen mit einer Bibel und drei Klebestiften auf mich losgegangen.«

»Soll ich dich erlösen?«

»Ja, bitte. Ich werde meiner Mutter auch nicht verraten, dass ich es von dir weiß.«

»Mr Petersons Haus steht wieder zum Verkauf. Roland will, dass du dir die Inneneinrichtung vornimmst.«

Keeley hielt die Luft an. Sie spürte, wie alles immer enger wurde. Ihr Rockbund. Die Socken in ihren Stiefeln, die im Trockner definitiv eingelaufen waren. Ihr Herz …

»Nein«, brachte sie schließlich hervor. »Nein, du willst mich nur ärgern. Vor sechs Monaten hat Roland gesagt, dass Mr Peterson nie wieder als Kunde infrage kommt – nicht einmal dann, wenn er es fertigbringen würde, jede einzelne Flasche Scotch aus Schottland für ihn aufzutreiben.«

»Na ja«, sagte Rach gedehnt, während ihre Brauen den Rand ihrer Weihnachtsmannmütze berührten, »drücken wir es mal so aus: Es könnte ein verdammt trockenes Weihnachten in den schottischen Highlands werden.«

»Nein!« Keeley fasste sich mit beiden Händen in die Haare. »Nein, nein, nein! Ausgeschlossen! Das kann ich einfach nicht!«

Sie konnte es wirklich nicht. Die Erinnerung war noch zu frisch. Sie wollte nicht einmal daran denken, wieder einen Fuß über die Schwelle von Mr Petersons Haus zu setzen. Das Reihenhaus mit den zwei Schlafzimmern lag an einer bekannten Straße im Herzen von Chelsea – und war vom Keller bis zum Dachboden voll mit präparierten Tieren, die Mr Peterson persönlich ausgestopft hatte, in einem düsteren, fensterlosen Kellerraum, der eher einer Folterkammer glich als dem »Familienzimmer mit Ausbaupotenzial«, wie Roland es in seinem Exposé formuliert hatte. Als er Keeley vor sechs Monaten gebeten hatte, die Inneneinrichtung umzugestalten, sodass Besichtigungen durchgeführt werden konnten, hatte sie darauf bestanden, dass alle Tierpräparate sowie ein Teil der altmodischen (und blutfleckigen) Möbel entfernt wurden. Das Haus wurde professionell gereinigt und mit gemieteten Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Doch bei der zweiten Besichtigung mit einem Paar und seinen dreijährigen Zwillingen waren aus dem Schrank im Elternschlafzimmer zwei knopfäugige Fasane und ein Maulwurf herausgefallen und hatten alle zu Tode erschreckt. Anscheinend ging Mr Petersons Bereitschaft, den Verkauf seines Anwesens zu fördern, nicht so weit, dass er sich für einige Wochen von seinen toten Geschöpfen trennen konnte. Er gehörte zu jenen dickköpfigen Kunden, die, wie Keeley aus Erfahrung wusste, unbelehrbar waren.

»Ich weiß nicht, ob du eine andere Wahl hast, wenn du deinen Weihnachtsbonus möchtest«, sagte Rach und tätschelte ihr die Schulter.

»Dann verzichte ich eben darauf.« So viel konnte das nicht sein. Roland war ein berüchtigter Sparfuchs.

»Er hat versprochen, dass es keine tierischen Überraschungen geben wird«, fügte Rach hinzu.

»Ich glaube ihm kein Wort.«

»Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, Keeley.«

»Was sieht mir nicht ähnlich?«

»Du bist doch sonst die Freundlichkeit und Friedfertigkeit in Person! Stimmt was nicht?«

»Nein, alles in Ordnung.« Keeley nahm die Hände aus den Haaren, griff nach dem Wasserkocher und goss heißes Wasser in zwei Becher. Nichts war in Ordnung. Dass ihre Mum so einen Aufstand wegen eines Crumpets machte, belastete sie immer noch. Und das Letzte, was sie wollte, war, in der Vorweihnachtszeit Mr Petersons als Wohnung getarntes stinkendes Schlachthaus zu betreten.

»Na ja, wie auch immer – deine Haare sehen jedenfalls toll aus«, meinte Rach bewundernd. »Du hast hoffentlich darauf geachtet, dass sie nicht nass werden, oder?«

»Klar.« Keeley nickte und rührte Instantkaffee in das Wasser.

»Schön, dann liegt es also nur an deiner Mum, weil sie denkt, du könntest der Star einer Final-Destination-Reihe sein?«

Keeley musste lächeln, sie konnte einfach nicht anders. Rach war so ziemlich der einzige Mensch, der noch genauso mit ihr redete wie früher. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, wurde sie von allen wie ein rohes Ei behandelt, so als könnte ein falsches Wort oder eine zu feste Umarmung ihren Sinusrhythmus aus dem Takt bringen.

»Sie hat mehr Events mit Weihnachtsdrinks und Knabberzeug auf ihrem Terminplan, als zurzeit im Radio Songs von Michael Bublé gespielt werden«, erwiderte sie seufzend. »Mein Dad meint, sie lädt sich den ganzen Mist auf, weil sie das ablenkt. Damit sie nicht nachdenken muss. Wegen Bea und so. Na ja, hauptsächlich wegen Bea.«

»Und du, was denkst du?«

»Ich denke, dass ich noch wahnsinnig werde, wenn ich nicht bald von zu Hause ausziehe … oder irgendwas in Brand stecke … oder wahnsinnig werde … oder etwas wirklich, wirklich Schlimmes, aber unglaublich Leckeres esse, und zwar direkt vor ihren Augen … eine ganze Packung Eiscreme zum Beispiel.« Keeley rührte den Kaffee in beiden Bechern um und gab einen davon Rach. »Weihnachten ist nicht die richtige Zeit, um über einen Auszug nachzudenken, oder?«, sagte sie leise.

Aber wann war der richtige Zeitpunkt? Im tiefsten Inneren wusste sie, dass sie zu Hause blieb, weil ihre Eltern sie brauchten. Zumindest ihre Mutter brauchte sie. Beas Tod war ein schwerer Schicksalsschlag gewesen, der Lizzies und Duncans Welt auf den Kopf gestellt hatte. Sie mussten nicht nur mit dem Verlust ihres Kindes fertigwerden, sie hatten auch ihr eigenes Leben praktisch aufgegeben, um Keeley gesund zu pflegen. Ihre Mutter war sogar in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Daher das starke Bedürfnis nach immer neuen Hobbys …

»Sind da zwei Stück Zucker drin?« Rach hielt ihren Becher hoch.

»Ja, passend zu den Pralinen aus dem Adventskalender, die du gefuttert hast.« Keeley nippte an ihrem Getränk. »Du weißt schon, dass wir noch nicht mal Dezember haben, oder?«

»Ich weiß jedenfalls, dass es nicht mein Adventskalender ist«, antwortete Rach grinsend. »Er gehört Oz. Ich hab ihm erzählt, die Tochter der Putzfrau stibitzt immer die Süßigkeiten.«

»Rach!«

»O Gott!« Rach schnellte vor und knallte ihren Becher auf die Arbeitsfläche. »Haben wir irgendwo Küchenpapier?«

»Was? Keine Ahnung.«

»Jetzt bloß keine Panik!«, sagte Rach. »Das kriegen wir schon wieder hin.« Sie nahm Keeley den Kaffeebecher aus den Händen und stellte ihn ab. »Die Farbe geht bestimmt wieder raus.«

»Was?« Keeley starrte ihre Hände an. Sie waren braun verfärbt. »Rach! Ist das Haarfarbe?«

»Na ja, du musstest dir ja unbedingt in die Haare greifen, als ich dir von Mr Peterson erzählt habe. Wahrscheinlich hast du schwitzige Hände gehabt. Ich hab dich ja gewarnt: keine Feuchtigkeit! Komm mit aufs Klo. Mal sehen, was ich tun kann. Aber unterwegs nichts anfassen!« Sie zog Keeley am Arm hinter sich her.

»Was soll das heißen – ›die Farbe geht bestimmt wieder raus‹? Das Zeug hat meine Haare gefärbt. Es hat das Potenzial zum Färben! Das ist sein Daseinszweck! Sein einzigartiger Wettbewerbsvorteil!« Keeleys Stimme war eine Spur schrill geworden.

»Ganz ruhig, tief durchatmen!«, befahl Rach. »Denk an die Eiscreme. Ich spendiere dir eine Packung!«

KAPITELDREI

Hospiz, Kensington

»Was ist denn mit deinen Haaren passiert? Sieht furchtbar aus.«

Keeley beobachtete, wie ihre zweiundzwanzigjährige Freundin Erica sich gleich mehrere Celebrations-Riegel auf einmal in den Mund schob. Offenbar hatte sie die Schokolade schon vorher ausgepackt, damit sie sie schneller in sich hineinstopfen konnte. An einigen klebten Flusen von der Decke über ihrer schmalen, schrumpfenden Gestalt. Erica störten die Fussel anscheinend nicht. Wieso sollten sie auch? Das Polyester würde sie nicht umbringen. Es war der Krebs im Stadium vier, der sie töten würde.

»Danke«, antwortete Keeley lächelnd.

»Meine Haare sehen auch schrecklich aus, aber ich werde bald sterben. Ich darf so aussehen. Was ist deine Entschuldigung?«

»Rach hat sie mir mit irgendeinem Billigprodukt gefärbt, von dem wir jetzt wissen, dass es in der Ukraine verboten wurde. Ich kann von Glück sagen, dass die Ausdünstungen mich nicht blind gemacht haben. Ob ich von den chemischen Inhaltsstoffen unfruchtbar geworden bin, wird sich noch zeigen.«

Auf Ericas Gesicht zeigte sich eine rasche Abfolge verschiedenster Ausdrücke. Fältchen gruben sich rings um ihre tief liegenden dunkelbraunen Augen, ihre eingefallenen Wangen blähten sich auf, und dann sprühte eine Ladung Schokoladenkrümel aus ihrem weit geöffneten Mund auf die Bettdecke. »So ein Mist«, keuchte sie, »die schöne Schokolade!«

Keeley riss ein paar Papiertücher aus der Schachtel neben dem Bett und tupfte die mit Speichel vermischten Schokostückchen ab. »Ich hol dir eine frische Decke.«

»Lass nur«, wehrte Erica ab. »Ist ja nur Schokolade. Die Krümel kann ich später futtern, wenn sie mir nichts mehr zu essen geben.« Im Flüsterton fuhr sie fort: »So machen sie das nämlich, wenn sie dich loswerden wollen, weißt du. Wenn du nicht innerhalb von ein paar Wochen den Löffel abgibst, tun sie alles, damit sie dich wieder ins Pflegeheim abschieben können. Sie servieren dir sogar mieseres Essen.«

»Oh, also ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt.«

Keeley arbeitete ehrenamtlich hier. Nach dem Unfall, als sie sich endlich nicht mehr gefühlt hatte, als ob Dwayne »The Rock« Johnson sie mit Fäusten bearbeitet hätte, und sie wieder ein paar Schritte gehen konnte, ohne dass ihr gleich sterbenselend wurde, hatte sie etwas zurückgeben wollen und sich dafür entschieden, ehrenamtlich im Krankenhaus auszuhelfen. Schnell hatte sich herausgestellt, dass sie damit nicht nur den Patienten, sondern auch sich selbst etwas Gutes tat. Es war ganz erstaunlich, was ein paar Monopoly-Spiele, Sudokus und ein Serienmarathon bewirken konnten, statt ständig nur zu Hause zu sitzen, Trübsal zu blasen und die verstorbene Schwester schrecklich zu vermissen.

Das Allerbeste an diesen Nachmittagen im Krankenhaus aber war die Freundschaft, die sich mit Erica entwickelt hatte. Sie hatten sich auf der Station für Onkologie kennengelernt, als Ericas Therapie begann. Auf Keeleys Vorschlag, Scrabble zu spielen, hatte sie sich von Erica einiges anhören müssen, bis sie schließlich gemeint hatte, es wäre doch »nice«, wenn sie ein Trinkspiel daraus machen würden. Da sie sowohl eine Strahlen- als auch eine Chemotherapie bekam, war Alkohol keine Option. Stattdessen musste der Verlierer eine heiße Schokolade aus der Kantine spendieren. Sie wurden richtig gute Freundinnen, was angesichts ihrer ungewöhnlichen Lebensumstände schon ein wenig überraschend war. Ericas Kampfgeist erinnerte Keeley an Bea. Obwohl sie bei jeder Untersuchung mit der schlimmsten Prognose konfrontiert wurde, gab sie nicht auf: Sie glaubte felsenfest daran, wieder gesund zu werden.

Woche für Woche bekam sie eine Chemo oder eine Bestrahlung – manchmal ging es ihr so schlecht, dass sie sich im Bett nicht aufsetzen, geschweige denn ein Brettspiel spielen konnte. Keeley kümmerte sich auch außerhalb des Krankenhauses um sie, sorgte dafür, dass sie zu Hause alles hatte, was sie brauchte, einschließlich eines professionellen Notfallsets. Dennoch hatte ihr Weg sie nur wenige Monate später in das angegliederte Hospiz geführt. Und jetzt übte Keeley ihre ehrenamtliche Tätigkeit dort aus, wo ihre Großmutter Joan gepflegt worden war und wo auch ihre lebenslustige junge Freundin sterben würde. Trotz allem blieb Erica tough und kämpferisch. Und Keeley bewunderte ihre Freundin dafür sehr – es ging zwar nicht mehr darum, die Schlacht zu gewinnen, aber sie konnte sicher sein, dass sie gekämpft hatte bis zum bitteren Ende.

»Ich halte schon durch, das kannst du mir glauben. Aber wenn sie mir noch ein einziges Mal flüssiges Katzenfutter vorsetzen, muss ich vielleicht doch frühzeitig abdanken. Im Pflegeheim kannst du dir wenigstens die Mahlzeit vom Tischnachbarn klauen, wenn dir deine eigene nicht schmeckt. Hier ist es ja wie in Einzelhaft.«

»Warst du denn schon mal in Einzelhaft?«, fragte Keeley grinsend. »Wenn ja, hast du mir das verschwiegen.«

»Ich hab doch Netflix! Ich seh mir alle Serien an, die mit dem hier nichts zu tun haben!« Erica musste husten, jeder rasselnde Atemzug beförderte Schleim nach oben. Keeley massierte ihr sanft den Rücken, bis der Anfall vorbei war und Ericas schmächtige Gestalt auf die Kissen zurücksank.

»Das war nicht der verdammte Krebs, sondern die verdammte Schokolade«, röchelte sie.

Keeley lächelte. »Wie geht’s dir denn heute? Ich meine abgesehen davon, dass du nicht genug zu futtern kriegst.«

»Wie soll’s mir schon gehen. Ich sterbe«, erwiderte Erica achselzuckend. »Heute waren ein paar Kirchenmänner da. Sie haben mich angestarrt, als würden sie abschätzen, wie groß mein Sarg werden muss.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Sie haben mich angesehen, als ob ich nicht Erica wäre, sondern bloß ein verbrauchter Körper, der sich demnächst auflöst und verflüchtigt. Sie haben mich angesehen, als ob es mich als Person gar nicht mehr gibt.«

Keeley griff nach ihrer Hand, aber Erica zog sie weg. Keeley wusste ganz genau, wie sich ihre Freundin fühlte. Sie hatte manchmal den Eindruck, dass ein Teil von ihr mit ihrer Schwester gestorben war. So als wäre das, was kaputtgegangen und ersetzt worden war, nicht richtig angewachsen oder würde nicht einwandfrei funktionieren.

»Verschon mich mit dieser Mitleidstour! Du weißt, dass ich das hasse. Es reicht, wenn die andern mir mit diesem Mist kommen!«

»Entschuldige.«

»Du bist die Einzige hier, die mich nicht so behandelt, als ob ich längst tot wäre. Du hast mir vom ersten Moment an Geschichten aus deinem beknackten Leben erzählt – ich weiß bis heute nicht, ob du sie nur erfunden hast, um mich aufzuheitern, aber du hast mich zum Lachen gebracht und dafür gesorgt, dass ich etwas fühle. Was Besseres kann einem nicht passieren, wenn man jeden Tag ans Bett gefesselt ist.«

Keeley schwieg einen Augenblick und fragte dann: »Von wem sind denn die Schokoriegel?«

»Eine gewisse Mary hat sie für Miss Phipps gekauft, aber die ist heute Nacht gestorben, und da, na ja …«

Der unaufhörliche Kreislauf des Lebens. Das Geschenk der einen kam einer anderen zugute. Niemand wusste das besser als Keeley.

»Willst du auch eins?« Erica hielt ihr etwas hin, das wie ein kleiner Milky-Way-Riegel aussah. Schwer zu sagen ohne Verpackung.

Keeley schüttelte den Kopf. Sie hatte schon drei Pralinen aus dem Adventskalender gegessen, nachdem es Rach endlich gelungen war, ihre verfärbten Hände einigermaßen in Ordnung zu bringen. Zum Ausgleich würde es zum Abendessen etwas mit Grünkohl geben, und sie würde einen Umweg über das Fitnessstudio machen, wenn sie nach Hause ging.

»Nimm’s mir nicht übel, aber du siehst aus, als wärst du diejenige, die sterben muss«, meinte Erica. »Ich dachte, du sollst die Leute hier aufheitern!«

»Du hast recht«, pflichtete Keeley ihr bei.

»Na, dann sag das mal deinem Gesicht! Du lebst! Du hast vielleicht danebengegriffen, was deine Haare angeht, aber das lässt sich ja wieder ändern! Ich bin mit mir gestraft, bis Gevatter Tod mich holt.«

»Wenn du möchtest, lasse ich jemanden kommen, der dir die Haare macht.« Es gab Angebote für so etwas. Das Hospiz arbeitete mit allen möglichen Firmen und Organisationen zusammen, um Patienten einen letzten Wunsch zu erfüllen. Vergangene Woche hatten sie ein Wiedersehen zwischen Mr Davidson und dem Geier arrangiert, um den er sich während seiner Tätigkeit in einem Vogelschutzzentrum gekümmert hatte. Little Buddy hatte eine Flügelspannweite von knapp zwei Metern, sodass es eine Herausforderung gewesen war, ihn in Mr Davidsons Zimmer zu transportieren, wo er sich so über die Leckerbissen auf dem Teewagen gefreut hatte, dass er mit seinen gewaltigen Schwingen schlug und einiges durcheinanderwirbelte. Aber die Tränen des alten Mannes und seine zitternden Lippen hatten alle zutiefst bewegt. Und wer hätte gedacht, dass Geier es liebten, unter dem Schnabel gekrault zu werden?

»Von Rach werde ich mir auf keinen Fall die Haare machen lassen! Wenn ich schon sterbe, dann bitte nicht mit Haaren, die aussehen, als wären sie mit Öl gefärbt worden.«

»Du übertreibst«, sagte Keeley und fasste sich an die Haare. »So schlimm sehen sie jetzt auch wieder nicht aus!« Das hatte Rach ihr zumindest versichert.

»Nein«, seufzte Erica. »Du hast ja recht. Sind ganz passabel. Ich bin bloß ein gehässiges Miststück. Das ist das Vorrecht einer Sterbenden: Sie darf sagen, was sie will, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wen juckt’s, ob jemand zu meiner Beerdigung kommt? Ich liege eh in einer Kiste … na ja, hoffentlich in einem dieser Rattankörbe, wenn ich mir so einen leisten kann.«

»Darüber kannst du dir später Gedanken machen«, entgegnete Keeley und schluckte, weil sie plötzlich einen Kloß im Hals hatte. Sie dachten beide das Gleiche. Sie wussten beide, was kommen würde. Keeley würde wieder einen nahestehenden Menschen verlieren. Jemanden, der sie so sehr an ihre kleine Schwester erinnerte. Das war einfach nicht fair!

»Worüber soll ich mir dann Gedanken machen?«, fragte Erica, die großen Augen fest auf Keeley gerichtet. »Was ich von hier aus sehen kann, ist so deprimierend, dass es keinen zweiten Blick lohnt. So wie dieses grässliche Bild dort.«

Keeley folgte ihrem Blick zu dem Ölgemälde, das zwei auf den Hinterbeinen miteinander tanzende Pudel darstellte. Einer hatte einen Bart wie Karl I. Es war wirklich ein schauderhaftes Bild. Sie wandte sich wieder Erica zu.

»Was würdest du denn gern sehen?«

Vielleicht konnte sie erreichen, dass Erica in eins der Zimmer mit einem großen Fenster verlegt wurde. Diese Zimmer, die normalerweise den Patienten vorbehalten waren, die am bitteren Ende ihrer Reise angelangt waren, hatten alle einen fantastischen Blick auf die Parklandschaft. Selbst jetzt, Ende November, boten die kahlen, mit glitzerndem Raureif überzogenen Bäume einen märchenhaften Anblick.

»Einen der Jonas Brothers? Mir egal, welchen. Das heißt, lieber Nick … nein, Joe … nein, Nick, eindeutig Nick.«

Keeley lachte. Ein Poster oder eine Pappfigur oder ein Kissenbezug mit der Band dürfte nicht allzu schwer aufzutreiben sein. Sie würde später bei Amazon nachsehen.

»Aber nichts Weihnachtliches«, sagte Erica und sah ein bisschen wehmütig aus. »Mit der Schokolade komme ich schon klar, aber die Deko verspottet mich.« Sie seufzte. »Sieht nämlich ganz so aus, als würde ich den Truthahn dieses Jahr verpassen. Und das ist echt grausam. Ich liebe Truthahn!«

»Truthahn und die Jonas Brothers … Nick Jonas.« Keeley zählte die Punkte an den Fingern ab. »Weihnachten kann dieses Jahr garantiert ein bisschen früher stattfinden.«

»Was machst du denn an Weihnachten?« Erica strich die Decke mit ihren knochigen Händen glatt und tupfte mit der Fingerspitze ein Bröckchen Schokolade auf.

»Oh, ich werde daheim sein. Meine Mum wird ein wahres Festmahl zaubern, von dem ich nur ein paar Bissen probieren darf, und mein Dad wird vermutlich meinen Anteil in sich hineinschaufeln. Und nach dem Truthahn – sorry – werden wir Käse und Pralinen futtern und danach wohl vor dem Holzofen einschlafen, den mein Dad dermaßen anheizt, dass es im Wohnzimmer so warm ist wie im Innern eines Vulkans.«

Erica schnaubte. »Klingt klasse. Mal abgesehen davon, dass du nicht essen kannst, was du willst. Das wird in den Filmen, wo jemandem ein Organ transplantiert worden ist, nicht erwähnt, oder?«

Keeley zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil den Drehbuchautoren das Thema zu sehr an die Nieren geht«, flachste sie und lächelte. Sie hatte für fast jede Gelegenheit einen Nierenwitz parat.

Denn das war der Grund, weshalb sie das Leben im Schongang anging: Letztes Jahr hatte sie eine neue Niere von einem unbekannten Spender bekommen. Ein kostbares Geschenk, das ihr das Leben gerettet und verhindert hatte, dass die Andrews beide Kinder beim selben Unfall verloren. Ein wahres Wunder, das ihren Alltag allerdings völlig verändert hatte. Nichts würde je wieder so sein, wie es war. Aber immerhin war sie noch am Leben.

»Schon besser«, bemerkte Erica grinsend. »Jetzt guckst du schon wieder viel fröhlicher!«

»Okay, soll ich dir einen Tee bringen? Oder lieber eine heiße Schokolade? Ich kann aber nicht garantieren, dass die hier genauso gut schmeckt wie die aus der Krankenhauskantine.«

»Ein Carlsberg?«, fragte Erica. Sie gab die Hoffnung nie auf.

»Vielleicht kann ich einen Glühwein auftreiben.«

»Zwei, bitte! Meine Nieren sind sowieso schon hinüber, wie der ganze Rest von mir.«

KAPITELVIER

Haus der Andrews, Kensington

Keeley zog im Flur die Stiefel aus, lehnte sich einen Moment an die Wand und schloss die Augen. Als sie sie wieder aufmachte, fiel ihr das Lametta an den Zimmerpflanzen auf, das am Morgen noch nicht da gewesen war, genauso wenig wie der Weihnachtsstern auf dem Telefontischchen. Ihre Mum fing dieses Jahr aber wirklich früh mit der Weihnachtsdekoration an. Lizzie neigte zu Frustkäufen, und es war sehr gut möglich, dass ihre Auseinandersetzung wegen der Crumpets zu einer Einkaufstour geführt hatte.

Keeley unterdrückte ein Gähnen, bückte sich nach den Stiefeln und schlurfte durch den Flur. Sie war todmüde. Erst hatte sie alles für ein Inneneinrichtungsprojekt in Lambeth vorbereitet, und danach versuchte sie, Roland davon zu überzeugen, dass sie, falls sie Mr Petersons Haus noch einmal betreten müsste, entweder freiwillig Formaldehyddämpfe einatmen oder kündigen würde. Bedauerlicherweise hatten diese Drohungen ihn nicht davon abgehalten, einen Besichtigungstermin in ihrem Onlinekalender für sie einzutragen.

Und dann war da noch Erica. Ihre wunderbare Freundin versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber gut ging es ihr nicht. Sie hatte trotz starker Medikamente Schmerzen. Ihr Tod war nur noch eine Frage der Zeit. Weihnachten würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben, und dieser unerträgliche Gedanke tat Keeley unendlich weh.

Sie holte Luft und griff sich im nächsten Moment an die Taille, dort, wo sich eine ihrer Narben befand. Manchmal schmerzte die Stelle immer noch, und heute war es so schlimm gewesen, dass sie auf den Besuch im Fitnessstudio verzichtet hatte. Sie war auch nicht in der seelischen Verfassung dafür.

An der Tür zur Wohnküche hielt sie inne und wappnete sich für die Gäste, die ihre Mum sicherlich zu ein paar Baileys und Fingerfood eingeladen hatte. Doch die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, drehten sich nicht um das letzte Treffen und wer wem was angetan hatte, sondern da waren nur ihre Eltern, die sich über ein eindeutig ernsteres Thema unterhielten. Sie blieb stehen und lauschte.

»Wir müssen ihr davon erzählen, Lizzie. Wir können es ihr doch nicht verschweigen«, sagte ihr Dad gerade.

»Und ob wir das können!«, erwiderte ihre Mum. »Wir tun einfach so, als hätten wir die E-Mail nie bekommen. Verschieb sie doch einfach in den Ordner für Junk-Mails, so wie du es immer mit meinen Mails von Wallis mit den Gutscheincodes machst. Ich vergesse sehr gern, dass ich sie gesehen habe. Ich wünschte nur, ich hätte dir nichts davon erzählt.«

»Mir davon erzählt? Du hast mich nicht kommen hören. Wenn ich dir nicht über die Schulter geschaut und die Nachricht zufällig gelesen hätte, hättest du mir wahrscheinlich kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Hätte ich noch eine weitere Partie Darts gespielt, hättest du sie vermutlich schon längst gelöscht.«

Keeley konnte sich keinen Reim auf diese Unterhaltung machen. War sie diejenige, der sie etwas sagen mussten? War es etwas Schlimmes? Schlechte Nachrichten aus dem Krankenhaus? Bei der letzten Untersuchung hatte der Arzt ihr versichert, es sei alles in Ordnung …

»Was soll gut daran sein?«, fragte ihre Mum gerade. »Kannst du mir das verraten?«

»Na ja«, begann ihr Dad in dem besänftigenden Ton, den er normalerweise anschlug, wenn ihre Mutter ein neues Rezept ausprobiert hatte und das Ergebnis nicht ganz das war, was sie sich vorgestellt hatte. »Wir haben uns damals bereit erklärt, einer Kontaktaufnahme zuzustimmen, falls sie das wollen.«

»Wir haben getrauert!«, entgegnete ihre Mum heftig. »Sie haben uns so viele Papiere hingeschoben, dass ich mir wie in einem Altpapiercontainer auf dem Recyclinghof vorgekommen bin!«

Keeley überlief ein Schauder. Jetzt war ihr klar, dass es in diesem Gespräch um sie ging. Entschlossen drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür.

Ihre Mum, in engen Lycraleggins und einer fluoreszierenden pinkfarbenen Weste, stürzte ihr entgegen. Um den Kopf trug sie ein Schweißband. Ein paar Locken hingen darüber.

»Keeley! Du bist schon zurück! Wie schön! Wie schön! Ist das nicht schön, Duncan?«

Diese Wortwiederholungen waren ein Zeichen dafür, dass ihre Mutter entweder sehr aufgeregt war oder sich in die Enge getrieben fühlte. Letztes Jahr hatte sie auf einer Weihnachtsfeier mit ihrem neu gegründeten Häkelclub so oft »schrecklich grandios« gesagt, dass der Abend als »grandioser Schrecken« endete – ihre Cocktailhäppchen wurden sehr viel genauer als sonst unter die Lupe genommen.

Sie nahm Keeley in die Arme und drückte sie so fest, dass eine Wüstenspringmaus zerquetscht worden wäre.

»Ich hab Dad gesagt, dass ich zum Abendessen wieder da bin.« Keeley löste sich aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück, ihre Handtasche wie einen Schutzschild vor ihren Oberkörper gepresst, als ob sie damit beunruhigende Nachrichten abwehren könnte. »Aber wenn nicht genug da ist, kann ich auch …«

»Red keinen Unsinn!«, schnaubte ihre Mutter. »Natürlich ist genug da! Es ist immer genug da.« Sie ging an den Herd zurück, auf dem mehrere Töpfe standen, und hob ein paar Deckel hoch. Dampf stieg auf. »Es gibt Kichererbsen-Shakshuka mit Blumenkohlreis.«

Kichererbsen. Schon wieder! Nachdem rotes Fleisch fast vollständig von ihrem Speiseplan verbannt worden war, waren Kichererbsen zu den ungekrönten Herrschern der Proteinlieferanten aufgestiegen. Ihre Mutter hatte das zwar mit dem Kohlenhydratfußabdruck begründet, aber Keeley wusste, dass es ihr nur um ihre Diät ging.

Sie stand da und schaute zu, wie ihre Mum mit einem Sieb und einem Holzlöffel hantierte. Ihr Dad konzentrierte sich auf das Polieren des Bestecks und vermied es, sie anzusehen.

»Worüber habt ihr denn gerade gesprochen?«, fragte Keeley, ihre Handtasche immer noch an sich gedrückt. »Ich hab euch vom Flur aus gehört, und es hat geklungen, als ob …«

»Als ob dein Vater die Feiertage im Rabbit Hole verbringen will, nur weil dort irgend so ein blödes Darts-Turnier stattfindet, das er unbedingt besuchen will, und wir sollen mit. Ich meine«, sagte ihre Mutter und holte endlich einmal Luft, »es handelt sich um ein Pub in Kensington und nicht um die Weltmeisterschaft in Lakeside, oder?«

»Lizzie«, sagte ihr Dad und legte einen auf Hochglanz polierten Löffel auf den Tisch. »Wir haben nicht über das Darts-Turnier gesprochen. Sag es ihr.«

»Was? Was soll sie mir sagen?«, fragte Keeley.

Auf einmal war sie nervös. Ihre Eltern würden ihr doch hoffentlich nichts mitteilen, was einmal mehr alles über den Haufen werfen würde? Sie wollte nicht, dass sich die Dinge schon wieder änderten. Veränderungen diktierten ihr Leben seit über einem Jahr, und sie wusste nicht, wie viele sie noch verkraften konnte. Sie musste sich immer noch an ihr neues Leben gewöhnen, an ein Leben ohne Bea, mit nur einer Niere und all den Medikamenten, die dafür sorgten, dass die neue Niere ihre Arbeit tat.

»Kommt, lasst uns etwas essen«, sagte ihre Mutter und verschwand mit Töpfen klappernd hinter einem Dampfschleier.

»Wollen wir eine Flasche Wein dazu trinken?«, fragte ihr Vater.

»Im Weinregal ist ein alkoholfreier Cabernet Sauvignon. Heute ist erst Donnerstag, Duncan!«

Keeley schob sich eine Gabel voll Kichererbsen in den Mund. Es schmeckte nach nichts. Aber sie zwang sich dazu, etwas zu essen und abzuwarten, bis ihre Mum sich gefangen hatte, sonst würde sie womöglich nie erfahren, was ihre Eltern hinter ihrem Rücken besprochen hatten. Und sie musste es jetzt und hier herausfinden, sonst würde ihre Fantasie noch Amok laufen und ihre Ängste vor weiteren Krankenhausaufenthalten sich in gigantische, groteske, Grinch-ähnliche Monster verwandeln und ihr ganzes Denken vereinnahmen.

»Schmeckt es dir, Keeley?«, fragte ihre Mum. Sie trug immer noch das Stirnband und hatte ihnen bereits ausführlich von einer Frau aus ihrem Tanz-Workout erzählt, die gegen das armselige Soundsystem ihrer Sh’Bam-Trainerin und ihre noch armseligere, billige Elasthanhose gewettert hatte.

»Ja, prima«, antwortete Keeley. »Die Kichererbsen haben heute eine … besonders feine Konsistenz.«

»Sie erinnern mich immer an aufgeweichte Nüsse«, warf ihr Dad ein. »Terry vom Pub hat einmal eine ganze Tüte Erdnüsse in sein Bierglas fallen lassen. Statt sie wieder rauszufischen, hat er sein Bier ausgetrunken und dann die Nüsse gegessen. Ich hab ein paar probiert, sie haben genau wie die Dinger hier geschmeckt. Lecker.«

»Faszinierend«, bemerkte ihre Mum und schüttelte den Kopf.

»Okay.« Keeley legte die Gabel hin, schaute erst ihre Mutter, dann ihren Vater und wieder ihre Mutter an. »Ich glaube, mit dem Small Talk sind wir jetzt durch. Also – was ist los?«

»Ich kann nicht«, hauchte ihre Mum sofort. »Ich kann einfach nicht.« Sie hatte Tränen in den Augen.

Keeleys Vater griff nach ihrer Hand. Die Sache war ernst. Stieß ihr Körper die transplantierte Niere ab, ohne dass sie es wusste? Das würde sie doch merken. Sie würde krank werden, wenn das passierte, oder etwa nicht? Das hatte der Arzt gesagt, da war sie sich ganz sicher.

Sie schluckte, sagte tapfer: »Dad?«

»Duncan«, bat ihre Mum inständig und sah ihn flehentlich an.

»Keeley, Liebes, wir haben heute eine E-Mail bekommen«, begann er und drückte die Hand ihrer Mutter. »Von einer Frau namens Silvie Durand.«

Der Name sagte Keeley nichts. Sollte er? Ihr Dad sah sie an, als wäre diese Silvie Durand die Hüterin aller Geheimnisse des Universums oder das Superhirn hinter den Oreo-Keksen. Ihre Mutter stieß einen klagenden Laut aus.

»Wer ist das?«, fragte Keeley vorsichtig.

Ihre Mum weinte wegen dieser Frau – was würde als Nächstes kommen? O Gott … war sie etwa adoptiert worden? Darauf schien diese Unterhaltung hinauszulaufen. Sie hielt unwillkürlich die Luft an. War diese Silvie Durand ihre leibliche Mutter? Sie schauderte. Nein, unmöglich, so etwas gab es nur in Romanen … oder?

Ihr Vater räusperte sich, griff nach seinem Glas mit alkoholfreiem Wein und leerte es in einem Zug, als hoffte er auf eine Wirkung wie nach einem Jack Daniels.

»Sie … ist die Mutter … deiner Organspenderin«, stieß er gepresst hervor. »Sie hieß Ferne. Das Mädchen … die Frau … deren Niere du nach dem Unfall bekommen hast.«

Nicht adoptiert! Das war ihr erster Gedanke. Doch dann traf sie die Neuigkeit mit voller Wucht. Der Schock wanderte aufwärts von ihrer Brust in den Kopf. Ihre Augen brannten, es gelang ihr kaum, ihre Eltern anzusehen. Jetzt wusste sie, wer ihr Organspender war. Eine Frau, die in derselben Nacht gestorben war wie Bea. Eine Frau, die sich dafür entschieden hatte, nach ihrem Tod anderen das Leben zu retten. Eine Frau, die ihr das Leben gerettet hatte. Eine Frau namens Ferne.

»Was steht denn in der E-Mail?«, flüsterte sie.

Aus irgendeinem Grund war das Erste, woran sie dachte, dass jemand die Niere zurückverlangen würde, so als bedauerten sie ihr großzügiges Geschenk und wollten es jemand anderem geben. Vielleicht jemandem, der es mehr verdiente. Sie bemühte sich, diese Gedanken bewusst zu verscheuchen. Ihr Therapeut hatte zwar gemeint, das wäre nicht gut für den Verarbeitungsprozess, aber Keeley fühlte sich hinterher immer ein bisschen besser.

»Diese Silvie will dich uns wegnehmen«, brach es aus ihrer Mutter hervor. »Sie denkt wahrscheinlich, dass du jetzt, weil du etwas von ihrer Tochter in dir hast, zum Teil auch ihre Tochter bist, und wenn du gehst, wird es dir dort besser gefallen, und dann wirst du von hier wegwollen und … und uns verstoßen, weil … weil wir mit Beas Tod nicht fertiggeworden sind und dich abwechselnd viel zu sehr behütet und dann wieder vernachlässigt haben. Und ich erkundige mich viel zu selten nach deinem Leben, weil ich mich mit möglichst vielen anderen Dingen beschäftige, um bloß keine Zeit zum Nachdenken zu haben. Denn wenn ich anfange nachzudenken, dann … tut es so weh.«

Sie fing an zu weinen. Keeley beobachtete fassungslos die Sturzflut von Tränen, die mit Leichtigkeit die Thames Barrier hätte überwinden und London vollständig unter Wasser setzen können. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Und warum wusste sie es nicht? Weil sie unter Schock stand, ausgelöst von der Neuigkeit, dass die Mutter ihrer Organspenderin Kontakt zu ihr aufgenommen hatte und ihre eigene Mum vor ihren Augen zusammengebrochen war.

»Das ist eine ganze Menge, das erst einmal verarbeitet werden muss«, sagte ihr Vater in das Schluchzen hinein. »Eine ganze Menge.«

Keeley wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte. Ihr fiel ein, dass ihre Frage nicht beantwortet worden war.

»Was steht in der E-Mail?«, fragte sie noch einmal. »Bitte!«

Ihre Mutter hatte den Kopf gesenkt, ihre Haare hingen ihr fast ins Essen. Keeley hatte nicht den Eindruck, dass sie von ihr eine Antwort bekommen würde. Sie sah ihren Vater an.

»Na ja«, begann er leise und schenkte sich Wein nach, »es ist eine sehr nette E-Mail. Sie schreibt, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten viel nachgedacht habe und zu dem Schluss gekommen sei, dass sie dich sehr, sehr gern kennenlernen würde.«

Ihre Mum schluchzte immer noch und schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch, das sie aus dem Ärmel genestelt hatte. Keeley hatte ihren Dad aber trotzdem verstanden. Die Mutter ihrer Organspenderin wollte sie kennenlernen.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sie hat dich zu sich nach Frankreich eingeladen«, fuhr ihr Dad fort. »Genauer gesagt nach Paris.«

»Paris«, wiederholte Keeley verständnislos.

»Sie wohnt dort. Und ihre Tochter hat da auch gewohnt. Ferne.«

Keeley schüttelte den Kopf. Das war alles zu viel. Jetzt war sie es, die dringend einen Schnaps gebraucht hätte. Sie nippte an dem alkoholfreien Wein. Ihre Organspenderin war Französin? Sie hatte nie etwas Näheres über die Person, von der ihre Niere stammte, erfahren. Ihre Mutter war nach einer Krebserkrankung vor ein paar Jahren als Spenderin nicht infrage gekommen, und Vater und Tochter hatten sich als nicht hundertprozentig kompatibel erwiesen. Wie durch ein Wunder fand sich eine Patientin im selben Krankenhaus, in das Keeley eingeliefert worden war, eine Patientin, die künstlich am Leben gehalten wurde und bei der keine Verbesserung ihres Zustands zu erwarten war. Erstaunlicherweise bestanden zwischen Spenderin und Empfängerin höhere Marker-Übereinstimmungen, sowohl was die Blutgruppen- als auch die durch eine Kreuzprobe getestete Gewebeverträglichkeit betraf, als zwischen Keeley und ihrem Vater. Während sie in jener Nacht unglaubliches Glück gehabt hatte, war für jemand anderen eine Welt zusammengebrochen.

Keeleys Mutter hob ein klein wenig den Kopf. Aus ihren geröteten Augen liefen immer noch Tränen. Das Papiertaschentuch hatte sie fest an die Nase gepresst.

»Keeley, die Entscheidung liegt ganz allein bei dir«, sagte ihr Vater.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie.

Ein Schauder überlief sie, und sie spürte ein Ziehen irgendwo in ihrem Inneren. Das passierte ab und zu. Es war kein Schmerz, sondern eher eine Art Rückversicherung. Wie ein innerer Welleneffekt, wenn sie daran dachte, wie sehr sich ihr Leben seit der Unfallnacht verändert hatte.

»Du musst jetzt gar nichts entscheiden, Keeley«, sagte ihre Mutter mit roboterhafter Stimme. »Überhaupt nichts. Es ist alles noch viel zu frisch, und es ist kurz vor Weihnachten und …«

»Lizzie! Das ist nicht fair.«

»Ich meine ja nur«, fuhr sie fort und kämpfte sichtlich um Fassung. »Im Moment ist der Druck vielleicht zu groß für Keeley.«

»Die Entscheidung liegt allein bei ihr, Lizzie.« Er sah seine Frau direkt an. »Findest du nicht auch?«

Keeley betrachtete ihre Mum, die jeden Moment zu zerbröseln schien wie Brot für eine Truthahnfüllung. Das war definitiv nicht der Augenblick für Entscheidungen, egal welcher Art. Sie atmete tief durch und griff nach der Terrine mit der Shakshuka. Jetzt hieß es nach typisch britischer Gepflogenheit erst einmal abzuwarten und Ruhe zu bewahren.

»Kann ich noch ein bisschen Blumenkohlreis haben?«

KAPITELFÜNF

Hôtel Paris Parfait Opéra, Paris

»Rot oder grün? Oder … die grünen Wirbel auf Rot? Oder … die roten Wirbel auf Grün? Oder – ich weiß, das ist ein bisschen gewagt – wie wäre es zur Abwechslung mit Metallicblau und Silber?«

Ethan Bouchard fischte eine weitere Zuckermandel aus der Glasschale, die er Stück für Stück näher zu sich herangezogen hatte, und warf sie sich in den Mund. Dann nahm er eine, wie er hoffte, nachdenkliche Pose ein, indem er sich den Zeigefinger an die Oberlippe und den Daumen unters Kinn legte. Während Noel, sein Assistent, ihm ein Stoffmuster nach dem anderen präsentierte, hatte Ethan seinen Blutzuckerspiegel in die Höhe getrieben, um zu verhindern, dass sein Blick leer und glasig wurde. Das harte, zuckrige Naschwerk sollte ihm helfen, die Übelkeit zu vertreiben, und ihn gleichzeitig davor schützen, abfällig zu reagieren, wie er es sonst immer tat, wenn Noel eine Entscheidung von ihm verlangte, die Ethan als unwichtig erachtete. Und unwichtig war für ihn buchstäblich alles seit dem Tod seiner besten Freundin und Geschäftspartnerin Ferne. An der Zuckermandel lutschend warf er endlich einen Blick auf die Stoffmuster. Warum tat er sich das überhaupt an? Wozu das Ganze? Das Leben war niederträchtig und grausam, und am Ende starb man ja doch.

»Und wofür genau ist das noch mal?«, fragte er jetzt und schob die Mandel in die andere Backe.

Er war gelangweilt und verkatert, konnte förmlich spüren, wie der Alkohol sich mit jedem von Noels Vorschlägen aus seinem System verflüchtigte. Sein Assistent sollte eigentlich imstande sein, Entscheidungen allein zu treffen, anstatt ihn früh am Morgen, wenn er Wichtigeres zu tun hatte, damit zu belästigen. Er brauchte jetzt unbedingt einen Kaffee und den Geruch von Zigarettenrauch, damit er sich vorstellen konnte, wie es war, selbst eine zu rauchen, und … noch mehr Süßigkeiten. Immerhin war er ein viel beschäftigter Mann. Er fuhr sich mit der Hand durch seine dunklen Haare, setzte sich aufrecht hin und bemühte sich um einen aufmerksamen Gesichtsausdruck.

»Für das diesjährige Weihnachtsthema unserer Hotels!«, antwortete Noel ziemlich laut, wie Ethan fand. »Das ist sehr wichtig! Jedes Jahr ist es eine unserer weitreichendsten Entscheidungen!«

Noel verlor sichtlich die Fassung. Aus seinem sorgfältig zurückgegelten schwarzen Haar hatten sich ein paar Strähnen gelöst, und seine Wangen färbten sich so rot wie die Brust eines Rotkehlchens.

»Es ist gerade mal November«, entgegnete Ethan.

»Bei allem Respekt, Monsieur Bouchard, aber es ist Ende November. Eigentlich schon viel zu spät. Wir müssen so schnell wie möglich eine Entscheidung treffen. Unsere Gäste erwarten in den Paris-Parfait-Hotels nun mal das perfekte Weihnachten.«

Wofür würde sich Ferne entscheiden? Der Gedanke war da, bevor Ethan es verhindern konnte. Seine Stimmung schlug vollends um. Ohne Ferne war nichts mehr wie früher. Kein Wunder – Ferne hatte Paris Parfait geschaffen. Es war ihr Werk, ihre Vision. Sicher, er hatte ihr geholfen, aber ob sie seine Anregungen, seinen Input wirklich gebraucht hatte … nun, er wusste, was die meisten Leute darauf antworten würden. Das bekannte, tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühl meldete sich. Er lehnte sich zurück.

»Was denken Sie denn, Noel?« Er blickte aus den bodentiefen Fenstern auf die Straße hinaus.

Paris war eine lebendige Stadt. Zu jeder Zeit. Im Quartier de l’Opéra war er von allen Dingen umgeben, die Ferne am meisten geliebt hatte. Auf der Place des Victoires mit ihren aus dem 19. Jahrhundert stammenden Einkaufspassagen, wo sich in prunkvoll mit Messing und Holztäfelungen verzierten Gängen die Namen berühmter Modeschöpfer fanden, fühlte man sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Ferne hatte diese Boutiquen geliebt und war oft stundenlang auf der Suche nach etwas Originellem umhergeschlendert, einem Kleid, das sie zu einem Klassiker machen würde, oder einem Hut oder einem Paar Schuhe. Anderen mochten ihre Erwerbungen vielleicht ein bisschen überkandidelt erscheinen, aber Ferne hatte nicht nur eine einzigartige Sichtweise der Dinge gehabt, sondern auch eine unvergleichliche Art, Mode zu interpretieren. Was sie auch anhatte – es sah immer wie der allerneueste Trend aus. Ethan hatte sie mehr als einmal damit aufgezogen, dass es ihn nicht überraschte, dass sie das Flaggschiff ihrer Hotelkette in diesem Viertel haben wolle. So wäre es für sie ein Leichtes, in der Mittagspause durch die Galerie Vivienne, eine mit einem Glasdach überdachte Ladenpassage, zu schlendern. Er atmete hörbar aus und stellte Blickkontakt zu einer Taube draußen auf dem Fenstersims her.

»Nun, mit Blau und Silber ließe sich eine Menge machen«, antwortete Noel, dem die Begeisterung für die Dekoration der Hotels deutlich anzumerken war. Als Ethan ihn direkt ansah, bremste er sich ein wenig. »Obwohl wir traditionell natürlich immer Rot und Grün verwendet haben …«

Ethan war das gleichgültig. Völlig gleichgültig. »Wen interessiert das schon?«, hätte er am liebsten gebrüllt. Grün, Rot, Blau – was machte das für einen Unterschied? Würde eine falsche Entscheidung schlechte Bewertungen auf Trivago nach sich ziehen? Was sollte er sagen? Hätte Ferne eine Veränderung gutgeheißen? Er konnte sich nicht erinnern, von wem das ursprüngliche Farbkonzept stammte. Von ihr? Oder von dem Raumausstatterteam, das sie beauftragt hatte? Seine Idee war es jedenfalls nicht gewesen, das wusste er mit Sicherheit.

»Blau und Silber stehen für Luxus und Reichtum und exzellentes Essen und exquisiten Geschmack und …«, fuhr Noel fort und fuchtelte dabei mit den Armen wie ein Balletttänzer aus Der Nussknacker.

»Ist diese Unterhaltung beendet, wenn ich meinen Segen zu Blau und Silber gebe?«, fragte Ethan und schob sich eine weitere Zuckermandel in den Mund. Vielleicht hatte er etwas Hochprozentiges nötiger als Kaffee …

»Definitiv!« Noel strahlte über den errungenen Sieg. »Kein Wort mehr zu dem Thema! Ich werde mich um alles kümmern. Sie werden keinen Gedanken mehr an Weihnachten verschwenden müssen.«