Winterzauber in den Hamptons - Mandy Baggot - E-Book

Winterzauber in den Hamptons E-Book

Mandy Baggot

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als kurz vor Weihnachten ihre geliebte Großmutter stirbt, lässt Harriet in London alles stehen und liegen. Zutiefst traurig reist sie in die Hamptons, um ihrem Großvater in dieser schweren Zeit beizustehen. Und in Montauk entfaltet der Winter einen ganz besonderen Zauber. Die Küste funkelt im Schnee, die Häuser erstrahlen im Lichterglanz, und Harriet stürzt sich in die Vorbereitungen des Weihnachtsfests, das ihre Großeltern immer für die ganze Nachbarschaft ausrichteten. Dabei trifft sie auf Mack, in den sie einst verliebt war und der ohne eine Erklärung aus ihrem Leben verschwand. Nun ist der schweigsame Bootsbesitzer fest entschlossen, Harriets Herz zurückzuerobern …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 543

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Als kurz vor Weihnachten ihre geliebte Großmutter stirbt, lässt Harriet in London alles stehen und liegen. Zutiefst traurig reist sie in die Hamptons, um ihrem Großvater in dieser schweren Zeit beizustehen. Und in Montauk entfaltet der Winter einen ganz besonderen Zauber. Die Küste funkelt im Schnee, die Häuser erstrahlen im Lichterglanz, und Harriet stürzt sich in die Vorbereitungen des Weihnachtsfests, das ihre Großeltern immer für die ganze Nachbarschaft ausrichteten. Dabei trifft sie auf Mack, in den sie einst verliebt war und der ohne eine Erklärung aus ihrem Leben verschwand. Nun ist der schweigsame Bootsbesitzer fest entschlossen, Harriets Herz zurückzuerobern …

Weitere Informationen zu Mandy Baggotsowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Mandy Baggot

Winterzauber in den Hamptons

Roman

Aus dem Englischenvon Sylvia Strasser

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Christmas by the Coast« bei Aria, an imprint of Head of Zeus Ltd, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2022

Copyright © der Originalausgabe by Mandy Baggot, 2021

Published by Arrangement with HELLAS PRODUCTIONS LTD.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: gettyimages/DenisTangneyJr, aoldman; FinePic®, München

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-29858-6V001

www.goldmann-verlag.de

Für Mick

»Du musst dein Leben leben!«

DEZEMBER 2012

Lieber Corporal Javier Gonzalez,

hoffentlich kommt dieses Geschenkpaket heil und rechtzeitig zu Weihnachten bei Ihnen an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss, Weihnachten so weit weg von der Familie zu feiern, mitten in der Wüste, wo man für Menschen kämpft, die einem fremd sind. Die Welt ist wirklich ein verrückter Ort.

Mein Großvater hat auch in der Infanterie gedient, und ich weiß, dass es ein paar Sachen gab, die er damals fast genauso sehr vermisst hat wie meine Großmutter, und davon habe ich Ihnen etwas eingepackt. Vor allem das getrocknete Rindfleisch. Meine Großmutter hat mir einmal gesagt, dass, wenn sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hätte, er sich ganz bestimmt eine Frau gesucht hätte, die in der Rindfleischindustrie arbeitet. Und ich glaube ihr aufs Wort.

Jedenfalls hoffe ich, dass Sie und Ihre Kameraden sich über die Süßigkeiten, die Socken (keine Tiermuster oder Disney-Figuren!) und die Spiele freuen. Ich habe mich entschieden für Uno (das kennt und mag jeder), Monopoly (wie es in Großbritannien, meiner Heimat, gespielt wird) und Texas Hold’em (das muss man nicht unbedingt um Geld spielen, Gummibärchen tun’s auch).

Sie brauchen mir nicht auf meinen Brief zu antworten, das Päckchen ist als nette Geste gedacht zu Ehren meines Großvaters. Auf der Rückseite des Umschlags steht aber meine Adresse, nur für den Fall, dass Sie noch etwas brauchen sollten oder Ihnen die Süßigkeiten, die ich ausgewählt habe, nicht gefallen. Viel Glück mit den Zuckerstangen! Die sind nicht jedermanns Sache, aber man hat deutlich länger was davon als von Schokokugeln.

Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünscht Ihnen

Joanna

KAPITEL EINS

Bournemouth, Dorset

November

»Denk daran«, begann Iain. »Es kann unmöglich schlimmer sein als das an der Middleton Avenue.«

Die neunundzwanzigjährige Harriet Cookson sog die kalte, feuchte Luft tief in die Lungen, rückte ihre rote Wollmütze zurecht und steckte ein paar blonde Strähnen darunter. Sie und ihr Freund Iain standen vor einem kleinen Reihenhaus, das sie bisher nur von Fotos kannten. Sie erinnerte sich noch an den grässlichen Kieselputz. Auf der Versteigerung hatten sie sich buchstäblich in allerletzter Sekunde für den Kauf entschieden. Das Haus lag in einer guten Gegend an einer von Bäumen gesäumten Straße und nur zwanzig Gehminuten vom Zentrum entfernt. Die nahe gelegenen Schulen waren von offizieller Seite als »gut« eingestuft worden. Achten mussten sie allerdings auf die Energieeffizienzklasse des Gebäudes. Harriet hoffte, dass die Nachtspeicheröfen funktionierten und die Fenster nicht erneuert werden mussten. Die Kosten dafür würden den Profit drastisch schmälern.

Harriet schloss die Augen, wie sie es immer tat, streckte die Hände aus und berührte die Hauswand. Es fühlte sich sogar hässlich an, aber das spielte keine Rolle. Immerhin war das nicht ihr neues Zuhause, und das würde es auch nie werden.

»Und jetzt … Tür auf!«, verkündete Iain so feierlich, als würde er ein Band durchtrennen und den Zugang zu einem Festplatz freigeben. Er legte Harriet die Hand aufs Kreuz und schob sie mit sanftem Druck vorwärts. Harriet sträubte sich ein wenig. Warum hatte es Iain so eilig? Er wusste doch, wie viel ihr dieser Augenblick bedeutete, vor allem dann, wenn sie ein Haus zum allerersten Mal betrat. Sie liebte dieses überwältigende Wie konnten wir nur so eine Bruchbude kaufen-Gefühl, in das sich sogleich ein aufgeregtes zweites mischte: Ich sehe alle Schönheitsreparaturen schon genau vor mir, und diese gelb gekachelte Arbeitsfläche ist das Erste, was dran glauben muss! Vorfreude erfüllte sie, als sie mit ihren Winterstiefeln auf den dünnen Teppichboden trat. Sie konnte sich von den Fotos genau daran erinnern. Die Grundfarbe war ein dunkles Orange mit so vielen Kringeln darin, dass einem schwindlig wurde vom bloßen Hingucken. Vielleicht ganz gut, dass sie die Augen noch geschlossen hatte. Ihr war sowieso schon ein bisschen schwummrig, weil sie nur ein paar Mince Pies zu Mittag gegessen und sich stattdessen durch ein Immobilienportal geklickt hatte. Dort war ihr ein kleines Cottage aufgefallen, das allerdings nicht so ganz in ihre Preisvorstellungen passte. Harriet war nicht sicher, ob die Gewinnspanne groß genug wäre, um Iains Interesse zu wecken. Aber es hatte definitiv Potenzial, und sie wusste, dass es ihr keine Ruhe lassen würde. Sie wurde immer ein bisschen hibbelig, wenn sie nicht genug Projekte an der Hand hatte. »Ohne Fleiß kein Preis«, sagte ihre Großmutter Lorna immer.

»Das Bad?«, fragte Iain. Eine Fingerspitze an ihrem Ellenbogen dirigierte er sie leicht nach links.

Harriet nickte. »Na klar!«

Das Bad kam immer als Erstes. Das gehörte zu ihrem Ritual. Weil das Bad meistens am schlimmsten aussah, begannen sie ihren Rundgang dort. Harriet, die Augen immer noch geschlossen, eine Hand auf dem Handlauf, stieg vorsichtig die Treppe hinauf. Iain ging dicht hinter ihr.

Sie erinnerte sich, dass das Bad in einem schaurigen Avocadogrün gehalten war. Als sie sich vor sechs Wochen, eine Stunde vor Versteigerungsbeginn, mit den Einzelheiten befasst hatte, war ihr aufgefallen, dass die auf Halbmast hängende Jalousie in Grün und Lila überwiegend aus Schimmel bestand. Es schien sich um einen halbherzigen Versuch des Eigentümers zu handeln, das Ganze ein wenig aufzupeppen, ehe alles wieder der Verwahrlosung überlassen worden war. Die Jalousie musste als Allererstes raus, bevor sich die Schimmelsporen weiter ausbreiteten. Einen verborgenen Schatz gab es im Bad allerdings auch, und das waren seine Fliesen. Sie sahen aus, als wären sie aus den gewaltigen Steinblöcken von Stonehenge gehauen worden. Der aktuelle Trend ging nicht zum absoluten Minimalismus in Weiß und nüchternen Formen, sondern hin zu farblichen Akzenten, »Love«- oder »Home«-Neonleuchten, künstlichen Pflanzen und Büchern, die kein Mensch je lesen würde. Harriet war gespannt, wie die Fliesen aussehen würden, wenn sie erst einmal gründlich geputzt worden wären. Normalerweise investierten sie in kleine Apartments oder Maisonettewohnungen für junge Berufstätige, aber bei diesem Haus mit seinen zwei Schlafzimmern und dem handtuchgroßen Garten auf der Rückseite hatte Harriet sofort an eine junge Familie gedacht.

»Fertig?«, fragte Iain. Harriet nickte. Sie wusste, dass sie jetzt vor dem putzigen, aber ausreichend großen Badezimmer standen. Ihre Anspannung wuchs. Sie konnte es kaum erwarten, einen Blick hineinzuwerfen, alles in sich aufzunehmen, voller Vorfreude auf die Verschönerungen, die sie durchführen würde. Nur wenn das Objekt jemandem gefiel, würde es sich für Iains und ihre Firma finanziell auszahlen.

»Achtung, los geht’s!«

Sie riss die Augen auf, wie immer voller Sorge, weil sie fürchtete, dass sie sich mit dem Kauf vielleicht doch übernommen hätten. Doch dann haute es sie beinahe um.

Von Avocado keine Spur mehr. Stattdessen Badewanne, Waschtisch, Toilette in strahlendem Weiß, die Wasserhähne aus blitzendem Chrom. Die alte Jalousie war durch eine billige in Silbermetallic ersetzt worden. Statt der rustikalen Steinfliesen klebten jetzt die schlichten, glänzenden weißen an der Wand, die Iain bevorzugte. Harriet wusste nicht, was sie sagen sollte, deshalb sagte sie gar nichts. Sie stand da, blinzelte ein paarmal und fragte sich, ob sie wie Alice im Wunderland in das Kaninchenloch gefallen war.

»Du bist ja richtig geschockt!«, stellte Iain mit selbstgefälliger Miene fest. »Also wenn es dir wegen der paar kleinen Veränderungen schon die Sprache verschlägt, kann ich mir die Weihnachtsgeschenke dieses Jahr wohl sparen!«

Harriet wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte. Wie war das möglich? Sie hatten die Schlüssel doch erst heute bekommen! Aber irgendjemand musste vorher schon Zugang zum Haus gehabt haben, anders waren die nagelneuen Sanitärinstallationen nicht zu erklären. Das gefiel ihr nicht. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Was sollte dieser Alleingang? Wieso hatte Iain das nicht mit ihr abgesprochen? Schön, dann würden sie eben jetzt darüber reden. Sie ging zu der Jalousie hinüber, die so billig war, dass nicht einmal sie sie für dieses Haus ausgesucht hätte, obwohl sie es doch schnellstmöglich wieder verkaufen würden. Sie legte einen Finger auf eine der Lamellen, die unter dem leichten Druck sofort nachgab. War sie womöglich wie diese Lamelle? Leicht manipulierbar? Manchmal überempfindlich? Zu nachgiebig? Sie schluckte und ärgerte sich, dass ihr Gehirn sie mit diesen Vergleichen überrumpelte.

»Wann hast du das alles denn gemacht, Iain?«, fragte Harriet und drehte sich zu ihm um. Hoffentlich würde er sie nicht anlügen. Obwohl sie seit zwei Jahren und fünf Monaten zusammen waren und sie seine Vorlieben und Abneigungen zu kennen glaubte, hatte sie manchmal den Eindruck, dass sie im Grunde kaum etwas über ihn wusste.

»Was?« Er vergrub seine Hände in den Manteltaschen und setzte ein Lächeln auf wie ein ungezogener Schuljunge, der versucht, seinen Charme spielen zu lassen. »Gefällt es dir nicht?« Er legte sich in gespielter Bestürzung eine Hand auf die Brust. »Erzähl mir bloß nicht, dass du dieses komische Grün gemocht hast! Das hat doch ausgesehen wie … wie einer dieser grässlichen Drinks, die dein Dad in Spanien für uns gemixt hat und die einem das Hirn durchpusten.«

Schön, gelogen hatte er nicht, aber er wich ihr aus.

»Wann hast du das alles gemacht?«, fragte sie noch einmal. »Ich dachte, du hättest die Schlüssel heute erst bekommen.«

Iain lachte und wollte ihr die Hände auf die Schultern legen, ließ sie dann aber wieder sinken. »Freust du dich nicht über meine Überraschung?«

Früher hatte sie Überraschungen geliebt, aber das Leben hatte sie gelehrt, dass sie nicht immer nur schön waren. Manche brachen einem das Herz. Und heute war jede Abweichung von der Routine imstande, sie aus der Bahn zu werfen. Außerdem war Iain normalerweise nicht der Typ für Überraschungen. Jedenfalls nicht mehr seit der Geschichte mit den vegetarischen Quorn-Topinambur-Spießen, die sie sich hatten liefern lassen. Da hatten sie mehr gebetet als gegessen.

»Iain«, sagte Harriet seufzend. Das Ganze fühlte sich einfach falsch an. Jede Freude an dem Rundgang war ihr verdorben. Hatte er noch mehr Räume renoviert? Vielleicht schon eine neue Küche eingebaut? Warum wurmte sie das so? Das sollte schließlich kein Zuhause für sie beide werden, das war einfach nur ein Haus. Sie war doch sonst nicht so empfindlich. Warum also jetzt?

»Was?« Iain senkte den Kopf ein bisschen, damit er ihr ins Gesicht blicken konnte. »Freust du dich nicht?«, fragte er zum zweiten Mal. »Ich dachte, jetzt wo Weihnachten vor der Tür steht, wäre es sinnvoll, schon mal anzufangen. Oder willst du über die Feiertage in Dreck und Staub wühlen?«

Warum denn nicht? Sie konnte es nicht ausstehen, dass über die Festtage alle in den Ruhemodus schalteten. Sicher, sie freute sich auf all das köstliche Essen in der Weihnachtszeit, aber abgesehen davon war sie froh, wenn der Jahreswechsel und mit ihm neue Projekte anstanden.

Iain wartete nicht auf eine Antwort. Er legte seine Arme um sie, zog sie an sich, bis ihr Gesicht in seinen Tweedmantel gedrückt wurde, und tätschelte ihr den Rücken. Zu größeren Zärtlichkeitsbekundungen ließ er sich außerhalb ihres Schlafzimmers nicht hinreißen. Und doch spürte sie, wie der vertraute Duft seines teuren Rasierwassers ihre Sinne stimulierte und ihr Ärger verflog. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Iain ein Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert, als sie schon geglaubt hatte, nie wieder lächeln zu können. Das durfte sie niemals vergessen. Das war etwas, wofür sie wirklich dankbar sein musste.

»Mickey hatte letzte Woche ein paar Tage frei, und da dachte ich, warum nicht wenigstens dieses eine Zimmer schon mal renovieren«, fuhr Iain fort.

LetzteWoche? Mickey hatte Bescheid gewusst, bevor sie davon erfahren hatte? Harriet schob Iain energisch von sich. Er musste begreifen, dass es so nicht ging. Schließlich waren sie Partner, sie hatten eine geschäftliche und eine private Beziehung. Man konnte jemandem, der so großen Wert auf Ehrlichkeit und Offenheit legte, doch eine solche Information nicht vorenthalten!

»Jetzt komm schon«, sagte Iain. »Ich wollte dir eine Freude machen, und du tust, als ob …«

»Als ob was?« Harriet spürte, wie die Wut wieder in ihr hochkochte. Sie fühlte sich immer noch wie diese billige Jalousie, die Iain mit seinem großen, dicken Finger anstupste.

»Als ob ich Mist gebaut hätte«, beendete er den Satz.

Der Blick, mit dem er sie bedachte, war normalerweise Situationen vorbehalten, in denen er tatsächlich Mist gebaut hatte. Als er zum Beispiel ihr Auto zu Schrott gefahren und behauptet hatte, daran sei nur der Lufterfrischer am Innenspiegel schuld gewesen, weil er ihm die Sicht genommen habe. Aber vielleicht sah sie das zu eng. So wichtig war dieses Haus nun wirklich nicht. Es handelte sich um eine Investition, mit der sie Geld verdienen wollten, mehr nicht. Es war ja nicht so, als ob Iain in die Wohnung marschiert wäre, die sie sich mit ihrer besten Freundin Jude teilte, das Bad herausgerissen und die ganze Sanitärausstattung durch Billigprodukte ersetzt hätte. Die meisten potenziellen Hauskäufer achteten auf klare Linien und neutrale Ausstattung. Die Qualität spielte nur eine untergeordnete Rolle, solange sie im Geist schon gemütliche Sofas, Deko in Rosa und Gold und einen Platz für ihre Familienfotos vor sich sehen konnten. Und was nicht passte, wurde eben passend gemacht. Gut möglich, dass sie sich ganz umsonst ärgerte und nur ihre Energie vergeudete. Außerdem neigte Iain dazu, nach jeder kleinen Meinungsverschiedenheit tagelang zu schmollen …

»Entschuldige«, sagte Harriet und seufzte leise. »Ist schon in Ordnung. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, das ist alles.« Sie lächelte gezwungen.

»Puh!« Iain tat, als würde er sich den Schweiß von der Stirn wischen. »Ich dachte schon, ich würde Mickey bitten müssen, das Bad in dieses grässliche grüne Ding zurückzuverwandeln.«

Wieder lächelte sie, wusste aber nicht so recht, was sie sagen sollte. Es wurmte sie immer noch, dass Iain sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Schließlich betraf diese Entscheidung sie genauso sehr wie ihn. Aber der Deal war unter Dach und Fach, und das war schließlich die Hauptsache. In ein paar Monaten würde das Haus wieder zum Kauf angeboten werden, und mit ein bisschen Glück würden sie einen ordentlichen Gewinn einstreichen können.

»Komm«, sagte Iain und drehte sie Richtung Tür. »Lass uns einen Blick in die Küche werfen. Mickey sagt, sein Lieferant hätte was für uns, ein Auslaufmodell mit allen Elektrogeräten.«

»Na dann los«, erwiderte Harriet.

»Das ist die richtige Einstellung!«

Sie schaute flüchtig in Richtung Jalousie und sah, wie sie sich im schwachen Luftzug von Iains Atem bewegte.

KAPITEL ZWEI

The Potter’s Heron, Ampfield, Hampshire

Es war noch nicht einmal Dezember, und Harriet hatte bereits eine weihnachtliche Speisekarte in die Hand gedrückt bekommen. Aber für Truthahn war es eigentlich nie zu früh. Ein in Butter geschwenkter Vogel, der samt Füllung in einer dicken Soße schwamm, dazu Karotten, Brokkoli, Rosenkohl und Bratkartoffeln, die außen knusprig und innen schön cremig waren – das war für sie das Feiertagshighlight schlechthin. Sogar Iain machte an Weihnachten eine Ausnahme und aß Truthahn. Als Harriets Blick jetzt über die Wörter »Würstchen im Schlafrock« huschte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Ich glaube, ich nehme einen Salat.«

Die Worte ihres Vaters wirkten wie eine kalte Dusche auf sie. »Ist das dein Ernst? Willst du bei der Kälte nicht lieber was Herzhaftes essen, Dad?« Während ihr Vater von seinen zahlreichen Spanienaufenthalten immer eine rosig gesunde Gesichtsfarbe mitbrachte, schien sie in England ausschließlich zwischen diversen Grautönen zu wechseln. Heute sah er auffallend aschfahl aus, und sein schulterlanges Haar wirkte eine Spur silberner als sonst.

»Der Salat ist doch etwas Herzhaftes«, erwiderte Ralph. »Da sind Feigen drin und Halloumi.« Er rieb sich die Hände und streckte sie dann, die Handflächen nach außen, nach rechts. »Außerdem sitzen wir direkt am Feuer.«

Da hatte er allerdings recht. In dem eisernen Ofen unter dem wuchtigen hölzernen Kaminsims, der mit klobigem türkisfarbenem Flitterkram und einer Lichterkette dekoriert war, prasselte ein wärmendes Feuer. Trotzdem sah ihr Dad aus, als müsste er aufgepäppelt werden. Er hatte immer schon allergrößten Wert auf eine gesunde Lebensweise gelegt, aber Harriet wünschte, er würde sich wenigstens gelegentlich etwas anderes gönnen als Alfalfasprossen und Hanfsamen. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie siebzehn gewesen war, und manchmal fragte sie sich, ob hinter dem Gesundheitswahn ihres Vaters und seinem leidenschaftlichen Eintreten für eine vegetarische Ernährung nicht etwas ganz anderes steckte. Vielleicht ging es ihm genau wie ihr, vielleicht brauchte auch er etwas, auf das er seine Energie konzentrieren konnte, um sich von dem Aufruhr in seinem Inneren abzulenken.

»Schön, ich jedenfalls nehme den Truthahn«, sagte Harriet. »Wollen wir bestellen?«

»Noch nicht, Schatz.« Ralph legte seine Hand auf ihre, bevor sie der Bedienung winken konnte. »Wir warten noch auf jemanden.«

Was? Auf wen denn? Iain? Harriet schluckte schwer. Hatte ihr Magen sich gerade noch auf gebratenen Truthahn gefreut, flatterte er jetzt vor Nervosität. Iain sollte jetzt eigentlich in Fareham sein, um sich eine Immobilie anzusehen. Zwar hatte er gestern Abend bei einer Flasche Shiraz und einer gedünsteten Brachse vorgeschlagen, die geschäftlichen Aktivitäten über die Feiertage ruhen zu lassen, doch dann hatte Harriet, die nicht schlafen konnte, um vier Uhr früh diese Wohnung entdeckt. Mit dem atemberaubenden Blick auf den Fluss war sie ein wahres Schmuckstück. Hätte sie nicht diese Verabredung mit ihrem Dad gehabt, wäre Harriet selbst hingefahren. Sie wollte ihn gerade fragen, auf wen sie denn warteten, als jemand an ihren Tisch trat und sich die Frage erübrigte.

»Bevor ihr etwas sagt – ich kann nichts dafür«, verkündete Marnie Cookson. Sie wickelte sich das Tuch mit dem Leopardenmuster vom Hals und schlüpfte auf den Platz neben Harriet. »Allein dieser Taxifahrer ist schuld daran, dass ich zu spät komme.« Sie seufzte ärgerlich. »Ich habe ihm klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ich nicht an einer Unterhaltung interessiert bin, aber er musste mir unbedingt in allen Einzelheiten von seinem Familienleben, seinen sechs Kindern und ihren Rollen in der Weihnachtsschulaufführung berichten.« Sie beugte sich lächelnd zu Harriet. »Hallo, mein Engel.« Dann setzte sie sich wieder gerade hin und nickte Ralph zu. »Ralph. Du siehst so normal aus. Schön, dass du mal nicht dieses komische Hemd anhast.«

»Danke, Marnie«, erwiderte Ralph lächelnd. »Dieses ›komische Hemd‹ nennt man übrigens Kurti, wie du weißt.«

Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihre Eltern hassten einander zwar nicht, trafen sich aber normalerweise auch nicht in einem Restaurant zu einem zwanglosen Mittagessen. Und die Bemerkung ihrer Mutter war bei aller Bissigkeit verhältnismäßig harmlos gewesen. Außerdem konnte sich Harriet nicht erinnern, wann ihre Mum sich das letzte Mal tagsüber von ihrem Fernseher losgeeist hatte. Und sie hatte sich schick gemacht: Sie trug einen klassischen braunen A-Linie-Kunstlederrock und einen schwarzen Rollkragenpulli. Ihre Haare waren allem Anschein nach mit dem Lockenstab bearbeitet worden. In ihren schlichten schwarzen Jeans und dem hellgrauen Pulli kam sich Harriet vor wie ein Kind, das vergessen hat, dass heute keine Schuluniform getragen wird.

»Was machst du denn hier, Mum?«, fragte sie, als Marnie nach der Karte griff und mit dem Finger die Auswahl entlangfuhr.

»Oooh, Lachs! Da sag ich nicht Nein! Du lädst uns ein, nicht wahr, Ralph?«

»Das hab ich doch gesagt«, bestätigte er.

»Du nimmst mit Sicherheit irgendwas Breiiges, stimmt’s?«, gackerte Marnie. »Das ungefähr so viele Kalorien hat wie eine Rübe.«

Harriet beschloss, dieser merkwürdigen Konversation ein Ende zu bereiten. »Mum. Dad. Was ist eigentlich los? Warum seid ihr beide hier und geht so verdächtig höflich miteinander um?«

»Wir sollten erst mal bestellen«, sagte Marnie und ruckte mit dem Kopf auf und ab und hin und her wie ein verrückter Straußenvogel, um die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. »Ihr wisst doch, wie es um diese Zeit in manchen Restaurants zugeht. Entweder sie können es kaum erwarten, dass man gegessen hat und der Tisch wieder frei wird, oder man muss stundenlang warten, weil der Koch etwas anbrennen lässt oder ihm die Yorkshire Puddings missraten sind.«

»Das ist mein Stammlokal, Marnie«, entgegnete Ralph steif. »Es ist immer sehr nett hier. Und Harriet gefällt es auch.« Dann begann er, die Kopfbewegungen seiner Exfrau nachzuahmen, als ob er sich auf diese Weise mit ihr unterhalten würde.

»Dein Stammlokal? Ja, vielleicht wenn du dich ausnahmsweise mal nicht am Viñuela-Stausee herumtreibst«, knurrte Marnie.

Harriet lehnte sich zurück und verschränkte die Arme auf der Brust. »Ich werde erst etwas bestellen, wenn ihr mir gesagt habt, was es mit diesem Essen auf sich hat.« Sie sah ihren Dad an. »Ich dachte, das wäre unser monatliches Treffen und du würdest mir mitteilen, dass du Weihnachten wieder in Spanien verbringst. Was völlig in Ordnung wäre, schließlich bin ich kein Kind mehr, für das du den Weihnachtsmann spielen musst.« Zumal Weihnachten ein Tag wie jeder andere war, bloß mit mehr Pastete, Prosecco und Partyknallern. Sie und Iain hatten zwar noch keine Pläne gemacht, aber sie vermutete, dass sie genau wie letztes Jahr am Morgen seine Eltern besuchen und abends vor dem Fernseher Truthahn futtern würden. Spätestens am zweiten Weihnachtstag würde sie sich wieder in die Arbeit stürzen und überprüfen, ob ihre Kontakte beim Makler irgendwelche Winterschnäppchen hereinbekommen hatten oder die Vermarktung ihrer bereits renovierten Objekte vorbereiten.

»Na ja«, begann Ralph und wirkte auf einmal leicht angeschlagen, »es geht schon um Spanien, aber nicht nur. Da ist noch etwas anderes …«

Jetzt fing Harriet an, sich Sorgen zu machen, zumal ihr Vater es tunlichst vermied, sie anzusehen. Sein Blick schweifte zu dem großen Schneemann in der Ecke hinüber, zum offenen Feuer, zu der Speisekarte, von der er sich längst etwas ausgesucht hatte – überallhin, nur nicht zu ihr. Die Sache war ernst. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie.

Ihr Dad griff sich mit beiden Händen ins Haar und holte tief Luft. »Okay«, sagte er, schien selbst aber keineswegs okay zu sein. Seine Hände zitterten ein wenig. Sogar Marnie war die Lust zu schnippischen Bemerkungen ganz offensichtlich vergangen.

Jetzt ergriff sie Harriets Hand und hielt sie fest. »Dein Dad hat … eine Nachricht bekommen, mein Engel. Und er hat mich gebeten, dabei zu sein, wenn er dir davon erzählt.«

»Eine Nachricht? Was für eine Nachricht?«

Harriet hatte das Gefühl, dass alle ihre Emotionen abrupt zum Stillstand kamen, als ob sie in ein Fass Sirup gekippt worden wären und jetzt in der klebrigen Masse feststeckten. So, wie ihre Eltern sich benahmen, konnte es sich eigentlich nur um etwas Schlimmes handeln. Ihr Dad vermied es immer noch, sie anzusehen. Und sie hatte sich doch tatsächlich über seine Menüauswahl aufgeregt und bei dem Gedanken an Würstchen im Schlafrock vor Vorfreude regelrecht gesabbert!

»Nun sagt doch!«, stieß Harriet gepresst hervor. Ihre Mum hielt immer noch ihre Hand umklammert. »Spannt mich doch nicht so auf die Folter!« Einerseits wollte sie augenblicklich wissen, was los war, andererseits hätte sie sich am liebsten zwischen dem Stapel Kaminholz versteckt, damit sie nie, nie erfahren musste, was das für Neuigkeiten waren.

Ralph räusperte sich, als ob er gleich eine Rede halten wollte. Harriet hielt unwillkürlich die Luft an.

»Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll«, begann Ralph mit brüchiger Stimme. »Meine … also deine Großmutter … Lorna … sie ist gestern gestorben.«

Das Leben kam zum Stillstand, während die Worte ihres Vaters auf sie niederprasselten wie golfballgroße Hagelkörner, die schmerzhafte, brennende Rötungen auf ihrer Haut hinterließen. »Was? A... aber … das kann doch nicht sein!« Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich hab doch letzte Woche noch mit ihr gesprochen! Das ist unmöglich! Sie kann nicht …«

»Schon gut, mein Engel, du kannst ruhig weinen, wenn du möchtest.« Marnie ließ ihre Hand los und tätschelte ihr stattdessen den Handrücken mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms.

Du kannst ruhig weinen, wenn du möchtest? Ihre Tränen brauchten keine Erlaubnis! Harriet konnte nur mit größter Mühe ein lautes Schluchzen unterdrücken. Das Atmen fiel ihr schwer, der Schock durchlief sie, und es kam ihr so vor, als würden die Wände näher rücken. Die weihnachtlichen Jazzmelodien dröhnten auf einmal in ihren Ohren, während das Gelächter der übrigen Gäste in den Hintergrund gedrängt wurde, und ihr Herz hämmerte heftig. Ihre Nana Lorna. Ihre süße, reizende, starke Großmutter mit den weißen Haaren wie fluffige Zuckerwatte und den grellbunten, riesigen Ohrringen. Harriet konnte sie lachen hören, laut und kehlig und schalkhaft. Und wie sie mit sanfter Stimme ihre ganz persönlichen Weisheiten zum Besten gab. Der liebliche Duft ihres Gesichtspuders … Sie konnte nicht tot sein. Ausgeschlossen.

»Es ist bestimmt schnell gegangen«, sagte Marnie. »Ich meine, niemand hat damit gerechnet, oder? Sie war doch nicht krank, Ralph?«

»Ich weiß es nicht«, gestand er und senkte den Blick. »Madame Scarlet hat nichts gesagt.«

»Sie war nicht krank«, fauchte Harriet ihre Mutter an. »Ich telefoniere jede Woche mit ihr.«

Telefonierte. Wie merkwürdig sich das anhörte. So furchtbar falsch. »Weiß man, woran sie gestorben ist?«

Der ausgelassene Lärm der Gäste zerrte an ihren Nerven. »Fitte, gesunde Menschen sterben nicht einfach so.« Und ihre Nana war definitiv fit und gesund. Lorna hatte nie geraucht. Gelegentlich gönnte sie sich ein Gläschen Rum, und sie naschte gern, aber deswegen starb man doch nicht. Harriet blinzelte die Tränen zurück, als sie an ihre gemeinsamen Strandspaziergänge dachte, die sie fast jeden Sommer unternommen hatten, solange sie zurückdenken konnte. Manchmal hatte der Wind ihnen den Sand so heftig ins Gesicht geblasen, als ob Mutter Natur ihnen ein Peeling verpassen wollte. Wieder zu Hause, hatten sie sich mit cremiger heißer Schokolade und S’Mores gestärkt.

»Sie war sehr alt, mein Engel«, sagte Marnie, die immer noch die Hand ihrer Tochter tätschelte.

»So alt auch wieder nicht«, gab Harriet zurück und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Und warum erfahre ich erst heute davon? Warum habt ihr mich nicht gleich gestern angerufen und es mir gesagt? Warum hat Madame Scarlet mich nicht angerufen?«

»Sie hat versucht, dich zu erreichen«, antwortete Ralph. »Und ich habe gestern angerufen. Ich habe mit Iain gesprochen. Er hat erzählt, dass ihr euch ein neu erworbenes Haus anschauen wollt, und das wollte ich euch nicht verderben, deshalb …«

»Dad, ich weiß, dass ihr nicht miteinander auskommt, aber es geht um meine Großmutter«, fiel Harriet ihm scharf ins Wort. »Nana ist mir doch tausendmal wichtiger als irgendein blödes Haus mit Kieselputz!« Die Stimme versagte ihr, als sie die ganze Tragweite dieser schrecklichen Nachricht zu erfassen begann. Sie riss ihre Hand zurück, weil sie das Getätschel ihrer Mutter nervte, und strich sich die Haare hinter die Ohren. Dieser verdammte Iain! Warum hatte er ihr verschwiegen, dass ihr Dad angerufen hatte? Hatte er es bloß vergessen? Oder gedacht, es sei unwichtig? Das erinnerte sie an die Sache mit dem neuen Bad, die er auch über ihren Kopf hinweg entschieden hatte.

»Lorna hätte bestimmt nicht gewollt, dass du dir die ganze Nacht die Augen aus dem Kopf weinst und auf etwas verzichtest, das dir Freude macht«, sagte Marnie und griff wieder nach der Speisekarte. »Kauft ihr diesmal ein richtiges Haus? Eins für euch beide, damit ihr endlich zusammenziehen könnt?«

Woher wollte ihr Mum denn wissen, was Lorna gewollt hätte? Sie kannte ihre Nana und ihren Grandpa doch kaum. Und auch ihr Dad hatte zu seinen Eltern keinen Kontakt mehr. Auf Harriets Fragen dazu hatte er immer nur ausweichend geantwortet. Von ihren Großeltern erfuhr sie genauso wenig. Sie wusste nur, dass ihr Dad als ganz junger Mann sein Elternhaus in Montauk verlassen hatte und nie wieder dorthin zurückgekehrt war. Irgendwann hatte Harriet aufgehört, Fragen zu stellen. Sie war einfach nur dankbar, dass sie den Sommer immer mit zwei ganz wundervollen Menschen verbringen durfte. Jetzt schüttelte sie den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. Wie würde es weitergehen? Sie musste es wissen, damit sie planen konnte. Sie sah ihren Dad an. Was auch gewesen sein mochte, Lorna war seine Mutter. Und er war das einzige Kind. Harriet dachte an ihren Großvater. Es brach ihr fast das Herz. Grandpa Joe hatte alles, wirklich alles seine Frau regeln lassen. Was würde er ohne seine Seelenverwandte anfangen? Ganz allein. Tausende Meilen entfernt.

»Hast du schon einen Flug gebucht?«, fragte Harriet. Falls nicht, würde sie sich darum kümmern. Das half in Zeiten wie diesen. Organisieren, die Dinge nach und nach abarbeiten und … noch ein Haus kaufen – oder auch drei.

Ralph sah sie an. »Nach Spanien?«

»Nein, doch nicht nach Spanien! Nach Montauk! Zu Grandpa.« Harriet griff nach ihrem Wasserglas und nahm einen Schluck. »Er ist bestimmt am Boden zerstört. Nana hat doch alles gemanagt. Er hat garantiert keine Ahnung, was er zuerst machen soll, allein schon wegen … wegen der Beerdigung.« Ihre Stimme brach bei diesem letzten Wort. Wie unwirklich sich das anfühlte. Wie unvorstellbar. Die funkelnde Weihnachtsdekoration über dem Holzofen wirkte unpassend fröhlich und grell. Lorna war immer so vital, so energiegeladen und lebensfroh gewesen. Alter hin oder her, Harriet hätte nie gedacht, dass ihre hell flackernde Lebensflamme ohne Vorwarnung ausgelöscht werden könnte.

»Na ja«, sagte Ralph zögernd. »Du weißt selbst, dass unser Verhältnis nicht gerade einfach ist, und deshalb …« Er räusperte sich und fuhr dann mit festerer Stimme fort: »Ehrlich gesagt, leite ich nächste Woche ein Retreat zur Aurareinigung mit zehn Personen in Andalusien.«

»Was? Du willst nicht zu deinem Vater? Ihm nicht beistehen? Nicht zur Beerdigung deiner Mutter gehen?« Die Worte blieben Harriet im Hals stecken, als ob sie mit klebrigem Weihnachtspudding überzogen wären, in dem zu viele große Nüsse steckten. Was auch immer vorgefallen sein mochte, spätestens jetzt mussten sie doch einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Sie konnte es einfach nicht fassen.

»Harriet, du weißt doch, dass die Beziehung zwischen deinem Dad und seinen Eltern schwierig war«, mischte sich Marnie ein.

Harriet wusste nur, dass es nie gemeinsame Besuche gegeben hatte. Sie war immer allein zu den Großeltern geflogen. Dennoch waren sie eine Familie. Erinnerungen spulten sich vor ihrem inneren Auge ab: wunderschöne Sommertage in der Tiki-Bar ihrer Großeltern am Strand in den Hamptons, Angelausflüge aufs Meer hinaus, ohne Sattel am Wasser entlangreiten, erwachsen werden. Nana Lorna und Grandpa Joe hatten sie immer mit so viel Liebe überschüttet, dass sie bei der Landung in New York jedes Mal das Gefühl hatte, nie fort gewesen zu sein. Eine Gruppe Hippies auf der Suche nach einem Neustart für Körper und Geist wäre für sie kein Grund, die Reise über den Atlantik nicht anzutreten. Nana Lorna war tot, und Grandpa Joe würde jemanden brauchen. Genauer gesagt, er würde sie brauchen.

»Das verstehst du doch, nicht wahr?«, fragte Ralph.

»Nein«, entgegnete Harriet mit harter Stimme. »Das verstehe ich absolut nicht. Ich hab’s nie verstanden.«

»Harriet …«

Sie stand auf. »Bemüh dich nicht.«

Marnie seufzte. »Schrecklich, wenn jemand so kurz vor Weihnachten stirbt. Das wirft alles aus der Bahn.«

Auf dem Weg zu den Toiletten, begleitet von Kylies Version von »Santa Baby«, beschloss Harriet, auf direktem Weg nach Hause zu fahren und einen Flug zu buchen.

KAPITEL DREI

Anglewood Mansions, Westbourne Close, Bournemouth

Drei Tage später

Harriet fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und drehte den Kopf auf dem Kissen in die andere Richtung. Von irgendwoher hörte sie die Musik von Carly Rae Jepsen. Es schien heiß und staubig zu sein, die Luft flirrte vor Hitze, Sandkörnchen wirbelten durch ihr Blickfeld, es roch nach Segeltuch, Gummi und Schweiß. Überall Tarnfarben. Und dann … diese grünen Augen.

Sie waren nicht smaragdgrün, wie sie es so oft in Liebesromanen gelesen hatte, sondern moosgrün. Die gedämpfte Farbe erinnerte sie an Weingummi und verschlug ihr regelrecht den Atem.

Seine Haare. Die konnte sie jetzt auch sehen. Kurz und lockig und fast kastanienbraun, aber irgendwie auch rötlich blond. An den Seiten waren sie rasiert. Harriet lächelte und wand sich ein bisschen, als ein Glücksgefühl sie durchströmte. Sie hatte noch lange nicht genug. Da war noch mehr.

Sein Lächeln. Das gefiel ihr noch besser als seine Augen. Es war einfach vollkommen. Als er ihr zugelächelt hatte, war ihm ihr Herz förmlich zugeflogen. Sie hatte den Blick nicht abwenden können, während er sprach. Sein amerikanischer Akzent hatte das Verlangen geweckt, ihn an sich zu ziehen, bis sie seine Lippen auf ihren spürte …

»Harriet! Aufwachen! Hör mit diesem Pornogestöhne auf!«

Harriet schreckte hoch, riss die Augen auf, spürte den Stoff des Sofas unter ihren Händen, stellte fest, dass sie nicht an einem heißen, sandigen, schmutzigen Ort war. »Jude, Himmel noch mal, hast du mich erschreckt!«

Ihre Mitbewohnerin stand über ihr, in der Hand eine Packung After Eight. »Von Iain hast du jedenfalls nicht geträumt«, sagte sie und schob sich eines der dünnen Schokotäfelchen in den Mund.

»Ich habe von gar niemandem geträumt«, schwindelte Harriet. Als sie sich aufsetzte, flatterten die Blätter, die ihr beim Einnicken auf den Bauch gefallen waren, zu Boden. Sie sammelte sie wieder ein und betrachtete sie naserümpfend. Warum hatte sie das Exposé des Bungalows in Surrey Gardens bloß in Farbe ausgedruckt? Das Dach sah aus, als müsste es erneuert werden, und ihre Käuferzielgruppe, die Millennials, hätten sicher keine Ahnung, was das für Pflanzen waren, die da in dem großen Garten wuchsen.

Jude setzte sich zu Harriet aufs Sofa, warf die dunklen Haare nach hinten, schlug die jeansbekleideten Beine übereinander und stellte die Packung After Eight auf dem Knie ab. »Erzähl mir nichts! Du hast wieder von deinem Soldaten geträumt, deinem Soldier Boy. Das erkenne ich an den lustvollen Geräuschen, die du von dir gibst. Wenn Iain hier übernachtet, höre ich immer nur ihn, wenn er einen Videocall hat: ›Kannst du mich jetzt hören?‹ oder mein absoluter Lieblingssatz: ›Du hast auf stumm geschaltet, Dave! Dave, Junge, du hast auf stumm geschaltet!‹« Sie lachte. »Was für ein Trottel!«

»Iain ist kein Trottel. Und außerdem, wer sagt denn heutzutage noch Trottel?«

»Du weißt doch, dass ich altmodische Schimpfwörter mag.«

»Und ich mag es nicht, wenn du dich über meinen Freund lustig machst oder Kommentare über die Geräusche abgibst, die ich im Schlaf von mir gebe.« Harriet hatte es augenblicklich bereut, als sie Jude in einem schwachen Moment – ausgelöst durch eine Flasche Baileys – von dem Mann erzählt hatte, der sie in ihren Träumen verfolgte. Jude hatte ein unglaubliches Gedächtnis, doch für Harriet gehörte dieser Teil ihres Lebens definitiv der Vergangenheit an.

»Da«, sagte Jude, bückte sich und hob einen Zettel auf. »Was ist das? Reisedaten? Für einen Flug morgen?«

»Hab ich dir doch erzählt«, sagte Harriet und nahm ihr das Stück Papier ab. »Vergiss bitte nicht, die Blumen zu gießen, und falls jemand wegen was Geschäftlichem anruft, soll er es auf meinem oder Iains Handy versuchen. Ich habe dir die Nummern aufgeschrieben, falls du dein Telefon wieder verlierst.«

»Ich hab nicht gedacht, dass es dir ernst damit ist«, erwiderte Jude und biss in ein zweites Pfefferminztäfelchen.

»Meine Großmutter ist gestorben, Jude.«

War das nicht Grund genug, ihren Großvater zu besuchen? Es war schwierig gewesen, mit ihm zu telefonieren. Grandpa Joe war so gut wie taub. Schon bei ihrem letzten Besuch vor ungefähr drei Jahren hatte er praktisch jedes Wort von den Lippen ablesen müssen. Dieses Mal allerdings hatte Harriet die meiste Zeit zugehört. Noch hatte sie keine Antwort auf die Frage nach der Todesursache. Ihre Nana wurde obduziert, und erst danach gab man ihren Leichnam zur Beerdigung frei. Das war zwar kein schöner Gedanke, aber wenigstens würde sie dank dieser Verzögerung an der Beerdigung teilnehmen können. Und so hatte sie für morgen früh einen Flug nach New York JFK gebucht. Von dort ging es mit dem Auto weiter, fast drei Stunden lang. Bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt war die Fahrt eine Herausforderung, aber die einzige Alternative wäre ein teures Taxi. Harriet versuchte, das Ganze von der positiven Seite zu sehen: Sie war noch nie im Winter in den Hamptons gewesen. Es wäre sicher schön, die Gegend einmal auf diese Weise kennenzulernen. Wenn sie langsam fahren musste, würde sie wenigstens die Landschaft genießen können. Und es war atemberaubend schön dort. Vom Großstadttreiben des Big Apple mit seinen Glas- und Stahlgiganten führte die Straße zum Shinnecock Canal, wo sich die Boote, Restaurants und Cafés aneinanderreihten. Für die meisten Menschen begannen die Hamptons dort, an diesem Kanal.

»Dann hast du es also wirklich ernst gemeint. Sorry. Ich dachte, das wäre nur so dahingesagt.«

Harriet schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde hinfliegen.« Von Kummer und Trauer überwältigt, stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

»Verdammter Mist. Tut mir echt leid.« Nach einer Pause fügte Jude hinzu: »Alles in Ordnung, Süße?«

Harriet lächelte. Mitgefühl war nicht unbedingt Judes Stärke, aber immerhin war sie immer ehrlich. Die beste Eigenschaft, die man sich bei einer Freundin und Mitbewohnerin wünschen konnte! Die Wohnung teilten sie sich jetzt seit zwei Jahren. Kennengelernt hatten sie sich auf einer grässlichen Modeparty, zu der ihre Mutter sie mitgeschleppt hatte. Normalerweise unternahm Harriet nichts mit Marnie gemeinsam – ihr reichte es, dass sie bei ihr wohnen musste –, aber hin und wieder plagte sie das schlechte Gewissen, sodass sie sich dazu bereit erklärte, sie zu begleiten.

Die Mode, die dort präsentiert wurde, passte zu Marnie und ihren Freundinnen: Kunstlederhosen und gestreifte Tuniken, die perfekt in die Achtzigerjahre gepasst hätten, eng sitzende Businesskostüme, die nach Harriets Ansicht niemandem standen, und jede Menge körperbetonte Stricksachen. Jude war mit einer Freundin aus ihrer Do-it-yourself-Gruppe gekommen und hatte jedes Kleidungsstück geringschätzig gemustert. Bei Snacks, die genauso altmodisch waren wie die Kleider – Ananas-Käse-Spieße, Krabbencracker, Gemüsesticks mit Mayonnaisedip –, waren Jude und Harriet ins Gespräch gekommen. Diese erste Unterhaltung über die grauenvolle Mode hatte den Grundstein für ihre Freundschaft gelegt. Als Judes Mitbewohnerin drei Jahre später ihr Zimmer kündigte, ergriff Harriet die Gelegenheit und zog bei ihrer Freundin ein. Mit siebenundzwanzig Jahren stand sie endlich auf eigenen Beinen.

»Aber warte mal«, sagte Jude jetzt und zeigte mit dem Finger auf Harriet, »hast du nicht gesagt, du hättest nur dank deiner Großmutter in deine erste Immobilie investieren können? Weil du geerbt hast?« Sie nickte, als hätte sie ihre Freundin bei einer Lüge ertappt.

Harriet seufzte. »Das war meine andere Großmutter. Die, die ich nie kennengelernt habe.« Dass ihre Großmutter Gracie sie als Erbin eingesetzt hatte, nahm ihre Mutter ihr bis heute übel. Wenn Marnie vor dem Fernseher zu viele Gins gekippt hatte, und es rief dann zufällig jemand an, machte sie ihrem Ärger darüber, dass sie übergangen worden war und neben dem örtlichen Bingoverein Harriet alles geerbt hatte, ordentlich Luft. Sie hatte ihrer Mutter angeboten, das Erbe an sie abzutreten, doch das hatte Marnie mit dem Hinweis, sie habe es nicht nötig, Almosen anzunehmen, strikt abgelehnt. Außerdem war sie nach ihrer Scheidung finanziell gut abgesichert. Sie besaß eine eigene Wohnung, den größten Fernseher, den Sony je hergestellt hatte, und jede Menge sündhaft teure Haarpflegeprodukte.

»Aber die hier, also die, die du kanntest, lebte in den USA?«, fragte Jude.

Harriet nickte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihrer Freundin nie von ihren Verwandten erzählt hatte. Wieso eigentlich nicht? Schuldgefühle packten sie. Es war, als hätte sie sie aus einem Teil ihres Lebens verbannt, nicht viel anders als ihr Dad. »Montauk in den Hamptons. An der Spitze von Long Island.«

»New York?«

Mit New York meinte Jude die USA. Das war für sie das Gleiche. Harriet war überzeugt, dass ihre Freundin dachte, die Vereinigten Staaten seien etwa so groß wie die Isle of Man und enthielten im Wesentlichen eine schmutzige Blues-Bar, einen rund um die Uhr geöffneten Imbiss und einen Hotdog-Stand neben dem Empire State Building. Letzteres stimmte allerdings sogar.

»Es gehört zum Staat New York, ja«, erwiderte Harriet.

»Cool. Gelbe Taxis und Essiggurken am Times Square.«

»Na ja, eigentlich eher Sandstrände, coole Restaurants und ein wunderschöner Leuchtturm.« Harriet seufzte leise. Sie hätte öfter hinfahren sollen. Sich die Zeit nehmen. Jetzt war es zu spät. Der Gedanke an die bevorstehende Reise schickte ihre Gefühle auf eine Achterbahnfahrt. Sie atmete tief durch, spürte, wie ihre Haut auf die Erinnerungen reagierte, Erinnerungen an scheinbar endlose Sommer voller sonniger Tage, an Eisbecher und Nanas selbst gemachten Cranberrysaft. Vielleicht hatte sie Jude deshalb nie davon erzählt. Vielleicht hatte das letzte Mal, als sie über Montauk gesprochen hatte, richtig darüber gesprochen hatte, das Ende markiert.

»Aber es gibt doch bestimmt Truthahn, oder? An Weihnachten, meine ich.« Jude biss in ein weiteres Pfefferminztäfelchen. »Bleibst du über die Feiertage dort?«

»Ich weiß noch nicht«, gestand Harriet. Höchste Zeit, dass sie ein bisschen weiter vorausdachte, und nicht nur daran, warme Sachen in den Koffer zu werfen. Es musste noch so viel organisiert werden. Die letzten Arbeiten an den beiden Wohnungen, die demnächst zum Verkauf standen, sollten reibungslos weitergehen. Und die Renovierungsarbeiten für das Haus mit dem Kieselputz mussten angestoßen werden. Es wurmte sie immer noch ein bisschen, dass die Fliesen im Bad heruntergehauen worden waren. Andererseits hätte sie sich jetzt sowieso nicht darum kümmern können. Grandpa Joe war wichtiger. Sie musste nach ihm sehen und sich von Nana Lorna verabschieden.

»Ich weiß gar nicht, wie es im Dezember dort ist«, fuhr sie fort und stibitzte eins der Schokotäfelchen. »Ich bin immer nur im Sommer hingefahren.«

»Na ja, im Notfall gibt es ja einen netten Imbiss in New York«, meinte Jude.

Harriet konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Es gibt auch eine tolle Tiki-Bar.«

»Was?«

Harriet nickte. »Die von meinen Großeltern. Das heißt, jetzt wird mein Grandpa sie wohl allein weiterführen.« Sie schob ihren Emotionen schnell einen Riegel vor. Sie würde noch genug Gelegenheit zum Weinen haben, wenn sie ihren Grandpa in die Arme schloss. »Die Tiki-Bar am Strand.«

»Was ist eine Tiki-Bar?«, fragte Jude und hörte mitten in der Bewegung auf zu kauen. »So eine kleine Hütte, wie sie hier an Weihnachten aufgestellt werden, mit teuren Cocktails und Heizpilzen, damit man sich wie in Brasilien vorkommt und nicht wie in Bournemouth?«

»Es hat schon ein bisschen mehr Südseeflair.« Sie kramte ein paar Erinnerungen hervor: klobige Tonbecher in Form von Fischen mit offenen Mäulern, in denen Grandpa Joe Zombies oder Mai-Tais servierte; die Papierschirmchen, die sie sich als Kind in die Haare gesteckt hatte; die Barhocker, die ihr immer viel zu hoch zum Draufklettern vorgekommen waren.

»Meine Großeltern hatten einen alten Ford Cortina«, erzählte Jude. »Mit dem haben sie immer ihre Rente abgeholt. Im Schneckentempo. Das war das Aufregendste in ihrem Leben. Von wegen eine gut gehende Bar am Strand!«

Harriet lächelte. »Ja, meine Familie war schon immer ein bisschen anders. Mein Dad ist ein Gesundheitsapostel, und meine Mum verbringt den Großteil ihrer Zeit vor dem Fernseher.«

Jude nickte nachdenklich. »So betrachtet ist eine Tiki-Bar eigentlich etwas ganz Normales.«

Es klingelte an der Tür. Harriet fuhr zusammen. »Erwartest du jemanden?«

»Ja, ich hab die Seifenschnitzer eingeladen.« Jude machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich wusste ja nicht, dass du morgen wegfährst.«

Harriet presste die Lippen aufeinander. Seifenschnitzen war vermutlich das verrückteste Hobby, das Jude je angefangen hatte – und seit ihrem Einzug hatte sie eine ganze Menge angefangen. Im Bad standen immer noch drei Seepferdchen, eine Eule und der bemerkenswert lausige Versuch einer Schnecke herum und warteten darauf, benutzt oder verschenkt zu werden. Sie stand auf und ging zur Tür, legte vor dem Öffnen jedoch die Kette vor.

»Überraschung!«

Vor der Tür stand Iain. Harriet runzelte die Stirn. Er hatte doch einen Termin mit dem neuen Schreiner, weil der bisherige, Jamie, überraschend nach Leeds gezogen war.

»Was machst du hier?«, fragte sie. »Ich dachte, du triffst dich mit diesem … wie heißt er noch gleich? … Willie?«

»Wally«, verbesserte Iain lächelnd. »Ich hab den Termin vorverlegt, damit ich herkommen konnte.«

»A… aber ich hab noch zu tun, ich muss die Angebote für die Zentralheizung für die Wohnung in Branksome durchsehen, und ich will früh ins Bett, weil ich morgen früh rausmuss.«

»Es ist erst vier, Harriet«, sagte Iain immer noch lächelnd. »Willst du mich nicht reinlassen?«

»Oh, entschuldige.« Sie hakte die Kette aus, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, und öffnete sie dann weit.

»Du bist übrigens nicht die Einzige, die heute Abend früh ins Bett muss.« Iain trat über die Schwelle. »Hey, Jude!«

»O Iain!« Jude schüttelte den Kopf. »Der Witz hat so einen Bart!«

Jetzt erst bemerkte Harriet den Reisetrolley und den Rucksack, den ihr Freund über der Schulter trug. Etwas sagte ihr, dass sich keine Muster für Fliesen oder beschichtete Arbeitsplatten darin befanden.

Ohne die Tür zu schließen, fragte sie: »Was hast du mit dem Koffer und dem Rucksack vor?«

»Ich werde dich in dieser Situation doch nicht allein lassen. Ich habe einen Platz in deinem Flieger gebucht. Vielleicht kann ich jemanden vom Bordpersonal überreden, uns Plätze nebeneinander zu geben, aber wenn nicht – auch egal. Jedenfalls werde ich mitkommen.«

In Harriets Ohren begann es zu rauschen. Sie hörte nur noch, wie Jude sich an einem Pfefferminztäfelchen verschluckte und husten musste

KAPITEL VIER

Montauk, Long Island, USA

»Hör auf, Scooter!«

Mack Wyatt schloss die Augen wieder und lauschte dem Regen. Die Tropfen prasselten so heftig auf sein Boot, als würde es mit Tennisbällen bombardiert werden. Normalerweise empfand er Regen als etwas Wohltuendes. Regen reinigte und erneuerte, und das war schließlich etwas Großartiges. Aber jetzt sehnte er sich einfach nur nach Schlaf. Er atmete bewusst tief und langsam und überließ sich dem Rhythmus des sanften Wellengangs im Hafen.

Scooter knurrte erneut, und Mack öffnete die Augen ein ganz klein wenig, was sein Hund offensichtlich als Zeichen dafür auffasste, dass er wach und bereit zum Aufstehen war. Mit einem Satz sprang er aufs Bett. Mack spürte seine nasse Nase an seiner Wange und sah, dass er etwas in der Schnauze hielt, das dort nichts zu suchen hatte.

»Scooter! Was soll das? Was hast du jetzt wieder angestellt?«

Er nahm dem Hund seine Beinprothese aus dem Maul und seufzte, als Scooter sein Gesicht ableckte. »Das ist eklig! Jetzt muss ich eine andere nehmen, sonst rieche ich den ganzen Tag so wie du.«

Er setzte sich ein wenig auf und versuchte, Scooters Betteln um Aufmerksamkeit zu ignorieren. Ein Blick durchs Bullauge bestätigte, dass es in Strömen regnete. Mack rieb die beschlagene Scheibe frei. Die Wasseroberfläche kräuselte sich unter dem peitschenden Regen wie das Fell einer Trommel. Er blinzelte, brachte sein Gesicht näher an die Glasscheibe und starrte zu dem Holzsteg hinüber. War da draußen jemand? Bei diesem Wetter? Er schaute angestrengt und mit zusammengekniffenen Augen in das dämmrige Licht. Da stand tatsächlich jemand. Ohne Mantel.

Scooter bellte, schnappte sich die Prothese aufs Neue und stieß Mack damit an. Plötzlich verstand er. Sein Hund wollte ihm etwas mitteilen. Er tätschelte ihm den Kopf. »Okay, Kumpel, ich hab’s kapiert.«

Er rutschte über die Matratze und nahm ihm die Prothese ab.

»Hey, Sie! Alles in Ordnung?«

Der Wind frischte auf, als Mack an Deck kletterte. Mutter Natur hielt das offensichtlich für den idealen Zeitpunkt, das Wasser aufzuwühlen und Gischt zu verspritzen. Mack stützte sich einen Moment ab, bevor er einen großen Schritt auf den Steg hinüber machte. Die meisten Boote waren mit einer Persenning abgedeckt, andere in ein Winterlager gebracht worden. Das Geschäft für Bootszubehör war geschlossen, genau wie Madame Scarlet’s Emporium und Skeet’s Surf Shack. Nur gastronomische Betriebe hatten noch geöffnet.

Scooter überholte sein Herrchen, rannte bis ans Ende des Stegs und begann, um die Person dort herumzuspringen. Mack konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, er sah nur, dass der- oder diejenige Jeans trug, ein rot-schwarz kariertes Hemd und eine Baseballmütze. Als keine Reaktion kam, lief Mack los, legte beide Hände um den Mund und schrie: »Hey! Sie holen sich ja den Tod bei der Kälte! Außerdem zieht ein Sturm auf!«

Scooter sprang jetzt an der Person hoch, setzte die Pfoten auf deren Oberschenkel und winselte, wie Mack es noch nie von ihm gehört hatte. Und dann, bevor er auch nur einen Finger rühren konnte, schwankte die Person und stürzte vom Steg in das eiskalte Wasser.

»O verdammt! Verdammt! Hilfe! Kann mich jemand hören? Hilfe!«, brüllte Mack.

Tausend Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, als er unbeholfen lossprintete. Er musste hinterherspringen. Es blieb keine Zeit, seine Prothese abzunehmen. Aber was, wenn sonst niemand mehr kam? Würde er den anderen retten können, ohne selbst unterzugehen oder zu erfrieren? Doch was wäre die Alternative?

Mack sprang. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, als er in das eisige Wasser eintauchte und begann, aus Leibeskräften mit Armen und Beinen zu rudern, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Augen, Nase, Haut brannten vor Kälte. Dann plötzlich Stille. Nur der Wind und das Tosen des Meers waren zu hören. Irgendjemand musste seine Hilferufe doch gehört haben. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, und er wurde schlagartig in die Vergangenheit zurückkatapultiert.

Der Geruch von sonnendurchglühter Erde und verbranntem Fleisch, Sand in seinem Mund, der metallische Geschmack von Blut auf seinen Lippen. Sein Herzschlag dröhnte laut, während er alle anderen Geräusche in dieser feindseligen Umgebung nur noch gedämpft wahrnahm. Schrilles Pfeifen in seinen Ohren. Panik. Dann ein gleißendes Licht. So viele Geräusche. Unendliche Schmerzen.

Scooters aufgeregtes Bellen holte Mack in die Wirklichkeit zurück. Unmittelbar vor ihm trieb jemand auf den Wellen. Die Mütze war fort. Graue Haare und ein aschfahles Gesicht. Der Mund stand offen. Mack erkannte den Mann.

»Joe!«, rief er und paddelte hektisch auf ihn zu. »Halte durch, ich bin gleich bei dir!«

Als er den alten Mann erreicht hatte, legte er ihm von hinten einen Arm um den Hals, damit sein Kopf über Wasser blieb. Warum kam ihnen niemand zu Hilfe? Sogar im Winter fuhr der ein oder andere zum Angeln raus. Gut, bei dem Wetter war das unwahrscheinlich, aber normalerweise war immer jemand im Hafen, der etwas zu erledigen hatte, zum Beispiel sein Boot gegen den Sturm sichern musste.

»Bist du okay, Joe? Kannst du sprechen?«

Bei der Eiseskälte und mit dem Gewicht des alten Mannes selbst wenige Meter zu schwimmen verlangte Mack alles ab. Seine Prothese würde nach dem Aufenthalt im Wasser ruiniert sein. Im Moment hatte er einen ganz schönen Verschleiß. Die letzte war erst vor zwei Wochen kaputtgegangen.

Der alte Mann antwortete nicht, aber Mack spürte, dass er atmete. Er musste ihn schnellstens aus dem eisigen Wasser bekommen. Er strampelte und ruderte, so gut es ging, auf den Holzsteg und die Leiter zu.

»Mack! O mein Gott! Joe!«

Die Stimme gehörte seinem Freund Lester. Mack, dem allmählich die Puste ausging, hatte selten etwas Schöneres gehört. Er sah den groß gewachsenen Barkeeper auf dem Steg stehen, in einer grellgelben Öljacke, die Kapuze über den Kopf gezogen. Scooter saß neben ihm.

»Du musst mir helfen, Lester!«

»Willst du etwa, dass ich da zu dir reinspringe?« Lester riss vor Entsetzen die Augen weit auf. »Ausgeschlossen! Das kann ich nicht! Niemals!«

»Nein! Du sollst mir nur helfen, Joe an Land zu ziehen!«

»Lebt er? Soll ich den Notarzt rufen? Ich … ich will auf keinen Fall ins Wasser fallen.«

Lester geriet in Panik. Na wunderbar, das hatte gerade noch gefehlt. Mack hatte nicht mehr daran gedacht, dass der Junge eine Heidenangst vor Spinnen, der Dunkelheit und – was für jemanden, der am Meer wohnte, durchaus ungewöhnlich war – vor Wasser hatte.

»Lester!«, schrie Mack. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu bewegen. Er konnte seine Arme und Beine kaum noch spüren. »Konzentrier dich! Es geht um Joe!«

Mack hatte keine Ahnung, wie alt genau Joe war, aber sicher über siebzig. Und wenn es für ihn mit seinen einunddreißig Jahren schon anstrengend war, musste es für den alten Knaben noch viel schlimmer sein. Er spürte den Schmerz in seinem Beinstumpf, während er nach Kräften weiterstrampelte und inständig hoffte, dass seine Prothese sich nicht löste.

»Ich konzentriere mich«, rief Lester. Er trat an die Leiter und beugte sich vorsichtig hinunter. »Ich werde nicht ins Wasser fallen, ich werde nicht ins Wasser fallen, ich werde nicht ins Wasser fallen …« Er stieß einen schrillen Schrei aus. »Ich kann nicht! Ich muss die Augen zumachen!«

»Nein, Lester, nicht! Komm schon, du schaffst es. Beug dich noch ein wenig vor, dann kriegst du ihn zu fassen. Gemeinsam bekommen wir ihn da raus!«

»Okay, ich tu einfach so, als ob sein Leben von mir abhängt. Als ob ich mit Tom Hanks in einem Hollywoodfilm spiele und einer von den Guten bin, die anderen das Leben retten, und …«

Lester redete gegen seine Panik an. Mack kannte das von einem Mann in seiner Einheit. Vor jedem Feindeinsatz fing Jackson Tate zu reden an und hörte nicht mehr auf. Er plapperte den größten Mist daher, alles, was ihm in den Sinn kam, angefangen von seinem verdammten Baseballteam in seiner Heimatstadt bis zu seiner Meinung über Schokobonbons.

»Lester!«, schnauzte Mack. »Joes Leben hängt wirklich von dir ab! Sieh zu, dass du ihn endlich aus dem Wasser ziehst!«

Lester winselte zwar wie Scooter, wenn er mehr Futter wollte, löste sich aber aus seiner Erstarrung und beugte sich tiefer hinunter. Er packte Joe und zog, Mack schob von unten, und so hievten sie ihn schließlich auf den Steg. Der alte Mann lag regungslos da, leichenblass, aber er lebte.

»Okay, Lester«, rief Mack, als er wieder Luft bekam, »dreh ihn auf die Seite, damit das ganze Wasser aus ihm rauslaufen kann.«

»Ich soll ihn umdrehen?« Lester starrte auf Joe.

Mack fluchte leise und begann, sich die Leiter hinaufzuziehen. Ein schneidend kalter Wind peitschte das Wasser rings um ihn herum. »Dreh ihn einfach auf die Seite, Lester! Ich bin gleich bei dir.« Sprosse für Sprosse mühte er sich nach oben. Er hatte es fast geschafft, als seine Prothese sich von seinem Bein verabschiedete und ins Meer plumpste.

»Gottverdammt! Ich hab aber auch ein Pech!«

Mack beobachtete, wie die Prothese von den Wellen hin und her geworfen, von der Gischt verschluckt und wieder ausgespuckt wurde. Aber sie war es nicht wert, dass er sich noch einmal in die aufgewühlte See wagte, um sie herauszufischen. Er würde Dr. Jerome um eine Neuanfertigung bitten. Schon wieder. Hoffentlich lachte er ihn nicht aus.

Er zog sich an der Leiter hoch, kletterte auf den Steg und hüpfte auf einem Bein zu Joe.

»Mack! Dein Bein!«

»Augen nach oben, Lester, dahin, wo die Muckis sind.« Mack kniete sich unbeholfen auf den Steg und brachte den alten Mann in die stabile Seitenlage.

Lester schälte sich aus seiner Öljacke und deckte Joe damit zu. Plötzlich ging ein krampfhaftes Zucken durch den alten Mann, er hustete und spuckte Wasser aus. Mack atmete erleichtert auf. Sie waren alle drei in Sicherheit. Aber noch war die Gefahr nicht gebannt. Das wurde Mack klar, als Scooter sich wimmernd dicht neben Joe legte. Sie mussten schnellstens ins Warme.

»Was zum Teufel ist denn hier los!?«

»O verdammt!« Lester duckte sich.

»Hey, Ruby!«, rief Mack der Frau in dem langen schwarzen Anorak und der engen Jeans zu, die auf sie zukam.

»Habt ihr den Verstand verloren, oder was? Was macht ihr denn bei dem Wetter hier draußen? Es wird gleich richtig anfangen zu stürmen und … großer Gott, Joe!«

Die junge Frau fiel neben dem alten Mann auf die Knie und strich ihm sanft über das nasse Haar. Joes Lider flatterten. Er zitterte am ganzen Körper.

»Was ist denn passiert, verdammt noch mal?«, fragte Ruby beinahe vorwurfsvoll.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mack. »Aber er muss sofort ins Warme.«

»Los, Lester, bringen wir ihn in die Bar«, befahl Ruby.

»Ich würde euch ja helfen, aber …« Mack zeigte auf seinen Beinstumpf.

»O Mann, schon wieder halb nackt?« Ruby schüttelte den Kopf. »Wie viele Beine willst du dieses Jahr denn noch verschleißen? Hast du überhaupt noch welche?«

»Zwei«, antwortete Mack. »Eins ist allerdings fünf Jahre alt.«

Ruby richtete sich auf und streckte ihm die Hand hin.

»Kümmere dich lieber um Joe«, wehrte Mack ab. »Ich komm schon klar. Scooter ist ja bei mir. Ich ziehe mir trockene Sachen an und rufe dann den Arzt.«

»Hey, Leute, schaut mal, was ich gefunden habe!« Lester hatte eine Schubkarre aufgetrieben. Er warf die Fischernetze und Körbe, die sich darin befanden, auf den Steg. »Damit können wir ihn transportieren.«

»Wenn Lorna uns jetzt sehen würde«, seufzte Ruby mit einem Blick himmelwärts.

Nachdem sie Joe behutsam in die Schubkarre gelegt hatten und Lester sie Richtung Strand schob, während Ruby aufpasste, dass sie nicht zur Seite kippte, wandte sich Mack seinem Hund zu.

»Okay, Junge, ist schon eine Weile her, dass ich das gemacht habe. Mal sehen, ob ich’s immer noch kann.«

Scooter bellte, stand auf und schaute Mack erwartungsvoll an. Es regnete jetzt noch heftiger.

Das war sein Partytrick. Damit konnte er die Leute beeindrucken, wenn sie erst einmal wussten, dass ihm der linke Unterschenkel fehlte. Mit einer flüssigen Bewegung ging er in den Handstand und begann, auf den Händen zu laufen. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Vielleicht war das nach der kräftezehrenden Rettungsaktion doch keine so gute Idee …

»Okay, Scooter, alles klar«, sagte er, weil der Hund ihn mit wachsamen Augen beobachtete. »Aber pass gut auf mich auf, okay, Kumpel?«

Scooter bellte. Er hatte verstanden.

KAPITEL FÜNF

Das Rum Coconut, Montauk

»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte noch einen vertragen.«

Ruby stand hinter der Theke von Joes Strandbar, schob ein Whiskeyglas unter den Ausgießer im Flaschenhalter und griff mit der anderen Hand nach Macks leerem Glas. Ihren Anorak hatte sie ausgezogen, bevor sie angefangen hatte, Alkohol zum Aufwärmen auszuschenken. Ihre schwarzen Haare kräuselten sich durch die Feuchtigkeit noch mehr. Ruby war noch jung, schätzungsweise Mitte zwanzig, aber in der Bar war sie der Boss. Ein wahres Energiebündel, frech und gerissen und nie um eine schlagfertige Antwort verlegen. Ging sie etwas nichts an, dann sorgte sie dafür, dass es sie etwas anging, und niemanden schien es zu stören.

Mack hatte als Erstes den Arzt angerufen, noch bevor er trockene Sachen angezogen hatte. Dann war er mit seiner schlecht sitzenden Ersatzprothese in die Bar gehinkt, um nach Joe zu sehen. Der arme Kerl. Er hatte einiges durchgemacht in letzter Zeit. Erst der Tod seiner Frau und jetzt das …

Mack nickte. »Gute Idee, schenk mir auch noch einen ein.« Er zeigte mit dem Kinn Richtung Kaminfeuer, wo Dr. Ambrose den Patienten untersuchte. »Wie geht es ihm?«

Die Wand über dem Kamin war mit Palmen, Tiki-Holzmasken und farbenfrohen Blütenketten dekoriert. Rechts und links wartete je eine echte Fichte darauf, weihnachtlich geschmückt zu werden.

Ruby seufzte, nippte an ihrem Whiskey pur und schob Mack sein Glas hin. »Er hat nicht mal gewusst, in welchem Schrank seine Kleider sind. Lorna hat ihm einfach alles abgenommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Erst vor ein paar Monaten hat sie mir erzählt, dass sie seit dem Tag ihrer Hochzeit immer seine Sachen für ihn herausgelegt hat, weil er keinen Sinn für Farben hat.«

»Mir ist aufgefallen, dass das karierte Hemd ein bisschen schmuddelig aussah«, meinte Mack.

Ruby nickte. »Das Grün steht ihm gut, findest du nicht?« Nachdem er geduscht hatte, hatte sie ihm einen dunkelgrünen Pulli und eine passende Cordhose herausgesucht. »Lorna hat diese Farbe an ihm geliebt. Sie meinte, das erinnere sie an seine Zeit als Soldat und wie toll er in seiner Uniform ausgesehen habe.«

»Ja, das stimmt.« Mack blickte zu den Fotos an der Wand hinter der Bar. Joe und Männer aus seiner Einheit. Joe und Lorna an ihrem Hochzeitstag. Ein kleiner Junge, ihr Sohn, wie Mack vermutete, in einer Badewanne, in der Hand ein Stück Seife, von dem er abzubeißen versuchte. Mack trank einen Schluck. »Wann ist die Beerdigung?«

»Donnerstag«, antwortete Ruby. »Doktor Ambrose hat dafür gesorgt, dass die Obduktion vorgezogen wurde, und Joe wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen …« Sie atmete tief durch. »Ihre Enkelin kommt heute. Lester holt sie vom JFK ab.«

»Die Kleine, die im Riesenrad festsaß?«

Ruby lachte. »Ja, die Geschichte hat Lorna gern erzählt!«

Mack nickte. »Ich bin erst seit zwei Jahren hier, und sogar ich kenne sie auswendig.«