Winterzauber in London - Mandy Baggot - E-Book
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Winterzauber in London E-Book

Mandy Baggot

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Beschreibung

Wunderbar winterlich und zum Dahinschmelzen romantisch – der neue Weihnachtsbestseller von Mandy Baggot.

Die alleinerziehende Londonerin Anna hat nach ihrer Scheidung den Glauben an die Liebe verloren. Ablenkung findet sie in den Weihnachtsvorbereitungen, denn sie möchte ihrer Tochter Ruthie ein unvergessliches Fest schenken. Dann begegnet sie dem charmanten Footballstar Sam, der nach einer bestürzenden Nachricht nach London geflohen ist. Kurz entschlossen nehmen Anna und Ruthie Sam bei sich auf. Und während die Stadt im Glanz der Lichter erstrahlt und funkelnde Schneeflocken auf Straßen und Plätze herabtanzen, kommen Anna und Sam sich näher, und Anna fühlt: Dieses Weihnachten könnte doch das Fest der Liebe werden …

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Buch

Die alleinerziehende Londonerin Anna hat nach ihrer Scheidung den Glauben an die Liebe verloren. Ablenkung findet sie in den Weihnachtsvorbereitungen, denn sie möchte ihrer Tochter Ruthie ein unvergessliches Fest schenken. Dann begegnet sie dem charmanten Footballstar Sam, der nach einer bestürzenden Nachricht nach London geflohen ist. Kurz entschlossen nehmen Anna und Ruthie Sam bei sich auf. Und während die Stadt im Glanz der Lichter erstrahlt und funkelnde Schneeflocken auf Straßen und Plätze herabtanzen, kommen Anna und Sam sich näher, und Anna fühlt: Dieses Weihnachten könnte doch das Fest der Liebe werden …

Weitere Informationen zu Mandy Baggotsowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Mandy Baggot

Winterzauber in London

Roman

Aus dem Englischenvon Claudia Franz

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Wishing on a Star« bei Embla Books, Bonnier Books UK Limited, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2023 

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Mandy Baggot

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by Arrangement with HELLAS PRODUCTIONS LTD.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: alamy/parkerphotography; FinePic®, München

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-30716-5V001

www.goldmann-verlag.de

Prolog

Cincinnati, Ohio

November

»Sam, hörst du mich?«

»Bedrängt ihn nicht so. Sam, Kumpel, hier ist Tim.«

»Ist sein Helm gespalten? Ich glaube, sein Helm ist gespalten! Heißt das, dass sein Schädel gespalten ist?«

Sam Jackman lächelte innerlich, aber er war sich nicht sicher, ob die Info von seinem Gehirn an die entsprechenden Muskelpartien weitergeleitet wurde. Sein Mannschaftskollege Chad war in Panik, als wäre er seine Mutter. Aber es fühlte sich auch wirklich seltsam an. Es fühlte sich an wie … Nun, es tat weh. Sehr weh sogar. Gerade war er noch losgesprintet, auf die Goal Line zu, um alles für den Sieg zu geben – den Sieg seines NFL-Teams, der Cincinnati Bisons –, und dann war er in irgendetwas hineingerannt – in irgendjemanden vielmehr – und regelrecht durch die Luft geflogen. Die Menschenmassen auf den Tribünen, die Flutlichter, die Cheerleader, alles war zu einem leuchtenden Regenbogen verschwommen, bevor er hart auf dem grasbedeckten Boden gelandet war. Mit dem Kopf zuerst. Dann waren da nur noch Sternchen.

»Atmet er?«, hörte er Tim fragen.

»Du weißt nicht, ob er atmet?!« Das war Chad, noch panischer.

»Wo sind die Ärzte?«

»Sam! Wach auf, Mann! Mach die Augen auf!« Chads Stimme war jetzt so laut, dass es in den Ohren schmerzte.

Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Die Müdigkeit packte ihn, hüllte ihn ein und schien in jeden Winkel seines Körpers zu dringen. Sam lag bereits, daher musste er nur noch die Augen schließen …

»Sam! Sam! Bei der Arbeit wird nicht geschlafen!«

»Sam!«

Kapitel Eins

Richmond, London

Anfang Dezember

»Zieh, Ruthie!«

»Ich ziehe doch!«

»Dann musst du eben ziehen, als würden wir Mark Ruffalo ins Haus schleppen, nicht einen stacheligen Weihnachtsbaum. Autsch!«

Anna Heath ließ die Zweige los, als die Nadeln wie spitze Nägel durch ihre Wollhandschuhe drangen. Die Tanne war viel zu groß, um sie mühelos durch die Eingangstür ihres Reihenhauses in Richmond zu bugsieren. Außerdem auch viel zu ausladend. Sicher würde sie sowohl den Fernseher als auch den Kamin verdecken, falls sie das Monstrum je über die Türschwelle und weiter ins Wohnzimmer bekommen würde. Aber im selben Moment, als Ruthies Blick auf den Baum gefallen war, wie er da in der frühen Dezemberluft aus dem Christbaumstand vor ihrem Lieblingscafé herausragte, war klar, was kam. Das ist er, Mum. Das ist Malcolm.

Ruthie war mittlerweile bereits dreizehn Jahre auf der Welt, aber Anna hatte ihr immer noch nicht beibringen können, dass man nicht alles haben konnte. Das Problem war, dass Ruthie sich hundertmal am Tag in irgendetwas verliebte, und wenn es nicht den Ruin bedeutete, konnte Anna es ihr nicht abschlagen. Mum, hier gibt es jetzt drei Sorten heiße Schokolade – die müssen wir alle probieren. O Mum, schau doch mal, der flauschige Stoffesel da – er heißt Larry, und du weißt selbst, dass wir ihn nicht hierlassen können, wo er doch jetzt einen Namen hat. Nicht, dass Ruthie verwöhnt wäre, sie litt unter Autismus. Anna konnte sich mit der Diagnose, die vor zwei Jahren gestellt worden war, immer noch nicht abfinden.

»Malcolm tut es leid«, ertönte Ruthies Stimme irgendwo zehn Äste weiter.

»Malcolm wird wohl ein paar Zweige opfern müssen, wenn er bleiben will«, sagte Anna. Sie zog die Handschuhe aus und betrachtete ihre roten Hände.

»Wir können ihn doch nicht verstümmeln. Er gehört zur Familie!«

Anna konnte Ruthie durch Malcolms dicke Zweige hindurch nicht sehen, sich ihren Gesichtsausdruck aber zu gut vorstellen. Die strahlend blauen Augen würden hin und her huschen, wie sie es taten, wenn sie etwas zu fokussieren versuchten, und die dunklen Locken auf und ab hüpfen, während sie die Äste zusammenbog, um diesen riesigen Baum irgendwie durch die Tür zu bekommen. Sie war überaus intelligent. Immer die Klassenbeste. Im Autismus-Zentrum nannte man das »hochfunktional«, aber schlichte Aufgaben im Alltag bereiteten ihr dagegen oft große Probleme. Ihre Mum hätte sie am liebsten in den Arm genommen, geküsst und ihr versichert, dass alles gut werden würde – nur dass man einen integralen Teil seines Kinds nicht wegküssen konnte. Mit einer Autismus-Diagnose hatten Anna und Ed nun wirklich nicht gerechnet. Aber da war sie dann gewesen, drei Briefe, die ihr Leben für immer verändern sollten und ein kluges, außergewöhnliches Kind mit einem Etikett versahen.

»Gut«, sagte Anna und schnaubte. »Ich schiebe noch einmal kräftig. Aber du sagst Bescheid, wenn ich aufhören soll.« Sie zog die Mütze über ihren braunen Bob und konnte nur hoffen, dass ihre Jeans nicht rutschte und sie der Straße ihren nackten Hintern präsentierte. Sie brauchte wirklich dringend einen neuen Gürtel.

»Leg los«, rief Ruthie zurück.

»Sicher, Ruthie? Diesmal werde ich mich wirklich ins Zeug legen«, verkündete Anna. »Ich meine … mit der Kraft von Thor und seinem Hammer und hoffentlich der Präzision von Hawkeye.«

»Mum, ich weiß, dass du stark bist. Aber du bist keine Superheldin.«

»Jetzt zertrümmerst du meine Träume«, antwortete Anna. »Also … auf drei. Eins, zwei, drei!«

Als sie mit aller Kraft drückte, schoss der Baum durch die Eingangstür. Im selben Moment erklang ein markerschütternder Schrei, den man für die American Horror Story hätte aufnehmen können.

»Malcolm, nein. Malcolm liegt auf mir! Malcom liegt auf mir drauf!«

Wenn Ruthie schrie, konnte sie Luzifer aus den brennenden Kreisen der Hölle heraufbeschwören. Anna hoffte inständig, dass ihre Tochter nicht ernsthaft verletzt war. Um zu ihr zu gelangen, warf sie sich buchstäblich in den Baum, bog Zweige aus dem Gesicht und kletterte um den Stamm herum. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ihr Blick zu dem gerahmten Foto von Nanny Gwen auf dem Sideboard. Schaute die aus dem Himmel herab und lachte über die Szene, oder fragte sie sich, warum Anna keinen Mann zu Hilfe geholt hatte? Nanny Gwen war eine selbstbewusste, unabhängige Frau gewesen und hatte Anna zu Selbstständigkeit erzogen. Dennoch war sie bis zuletzt überzeugt davon, dass bestimmte Arbeiten für bestimmte Geschlechter nicht taugten. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und als alleinerziehende Mutter war nun mal auch sie für alles allein verantwortlich.

»Ruthie, alles in Ordnung?«, fragte Anna, als sie sich endlich zu ihrer Tochter durchgekämpft hatte.

»Malcolm tut mir weh!« Ruthie schrie noch lauter – falls das überhaupt möglich war.

»Alles in Ordnung«, sagte Anna, packte den Baum bei den äußeren Zweigen und wollte ihn von Ruthie wegziehen. Von der war nicht viel zu sehen, nur zappelnde Glieder wie von einer Weihnachtselfe, die sich in einem Schornstein verfangen hatte. Anna musste diesen Baum hochbekommen, und zwar schnell!

»Malcolm, lass das!«

Sie musste entweder das Flurensemble opfern (besagtes Foto von Nanny Gwen, Annas Lieblingslampe mit dem hellroten Schirm, die Nanny Gwen gehört hatte, und das Telefon), oder Ruthie würde sich in ihre Panik hineinsteigern. Möglicherweise würde ein besorgter Passant die Polizei rufen …

Anna warf den Baum nach links und eilte zu ihrer Tochter. Der Telefonhörer knallte auf den Boden, gefolgt vom Geräusch splitternden Glases – Lampe oder Bild, das konnte Anna nicht sagen.

»Alles gut«, sagte Anna, als Ruthie aufzustehen versuchte, ohne irgendetwas anzufassen – nicht ganz leicht, wenn man auf dem Rücken lag. »Soll ich … deinen Arm nehmen und dir helfen?«

»Fass meine Hände nicht an!«, kreischte Ruthie, als sie sich auf die andere Seite warf und die Ellbogen auf den Holzboden stützte, die Hände von allem fernhaltend, das sie berühren könnten. »Und schau mich nicht an.«

Anna biss sich auf die Lippe und richtete den Blick in den Flur, in dem sich Zweige und die Scherben der roten Lampe verteilten – noch eine Gefahrenquelle, die sie im Blick behalten musste. Eigentlich wollte sie Ruthie das Leben nur ein wenig erleichtern, aber manchmal blieb ihr nichts übrig, als die Scherben zusammenzukehren. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Kann ich jetzt duschen?«, fragte Ruthie, sobald sie auf den Beinen war. Ihr Pullover war mit Nadeln übersät. Sie schien sich ziemlich unbehaglich zu fühlen, weil sie auf dem Boden gelegen hatte, und streckte wie eine Vogelscheuche die Arme aus.

»Ja«, sagte Anna. »Natürlich. Ich lege dir Handtücher raus. Aber rühr dich nicht, hier ist überall Glas, ja?«

»Ja.«

Als Anna zur Treppe ging, betrachtete sie den Weihnachtsbaum, der sich auf dem Holzboden breitmachte, das Telefon, den zersplitterten Lampenschirm, die Weihnachtskarten, die sie geschrieben, aber noch nicht abgeschickt hatte – ein Bild der Verwüstung. Nanny Gwen hielt den Blick stumm darauf gerichtet. Was für ein fröhliches Fest. Und es hatte gerade erst begonnen.

Kapitel Zwei

Dr. Monroes Büro, Cincinnati

Der Kaffee hier war immer gut. Für ein Krankenhaus war das ungewöhnlich. Sam Jackman legte beide Hände um den Pappbecher mit der dunklen Flüssigkeit und genoss die Wärme, während er darauf wartete, dass der Arzt zum verabredeten Termin erschien. Draußen war es bitterkalt, und wenn es sich aufwärmte, dann nur so weit, dass man mit Schnee rechnen musste.

Sam hatte Kälte nie gemocht, aber er war daran gewöhnt. In seiner Kindheit galt Heizen als Luxus, und die Heizung wurde nur aufgedreht, wenn die Temperaturen unter null fielen. Seine Mum und sein Dad hätten sich nie als »arm« bezeichnet. Wir sind mit einem Dach über dem Kopf, Essen im Magen und Gottes Liebe gesegnet. Aber nach den Maßstäben der meisten Menschen waren sie es.

Sie hatten ein Secondhandleben geführt. Secondhandschulbücher, Gebrauchtwagen und selbst genähte Kleidung, für die ihn seine Kumpels förmlich in Stücke gerissen hatten. Seine kleine Schwester Tionne hatte das allerdings viel schwerer getroffen. Wie konnte sie mit ihren Freundinnen mithalten – die Pink verehrten und in der Mall einkauften –, wenn sie wie eine abgeerntete Zuckerrohrstange aussah? Mittlerweile war das vorbei. Dafür sorgte er. Ihr Insta-Account war der beste Beweis. Früher hatte man sie wegen ihrer Kleidung verspottet, nun war Tionne Influencerin. Sam war mächtig stolz auf sie.

Er nahm den Becher in eine Hand und zog am Kragen seines Wollmantels. Es war ein Designerstück, für das er über tausend Dollar hingeblättert hatte. Ihm war klar, dass er seinen Eltern niemals erzählen durfte, wie viel Geld er für ein Kleidungsstück ausgegeben hatte. Er musste selbst zugeben, dass er vor dem Kauf gezögert und schnell zum Ständer mit den Sonderangeboten hinübergeschaut hatte: Vielleicht war Nylon die neue Wolle, wenn man auf diese Weise billiger davonkam … Offenbar konnte man einen Menschen aus Winton Hills herausholen, Winton Hills aber nicht aus einem Menschen. Er musste sich immer noch an die Tatsache gewöhnen, dass er mittlerweile ein reicher Mann war. Und wie würde es erst werden, wenn er zur besten Football-Mannschaft der Vereinigten Staaten wechselte, den Dallas Diggers? Der Deal war fast besiegelt und würde ihn zum bestverdienenden Spieler aller Zeiten machen – so hieß es jedenfalls. Die Details des Vertrags überließ er seiner Managerin, Frankie, aber er wusste, dass Tionne, seine Eltern und er selbst nie wieder Geldsorgen haben müssten. Es sei denn, dieser Termin jetzt hatte einen anderen Zweck, als ihm mitzuteilen, dass alle Untersuchungen in Ordnung waren. Doch vielleicht waren sie das gar nicht. Vielleicht war das vor ein paar Wochen doch keine Gehirnerschütterung gewesen. Der Zusammenstoß hatte ihn ein paar Tage außer Gefecht gesetzt, mit Kopfschmerzen und Übelkeit, wie zu erwarten, selbst Advil hatte dieses Mal nichts bewirkt. Sein bester Freund bei den Bisons, Chad, war mindestens zweimal am Tag vorbeigekommen. Und wenn Sam nicht an sein Telefon gegangen war, hatte Chad ihm den Lieferservice nach Hause geschickt, um sicherzugehen, dass er auch wirklich etwas aß.

Sam betrachtete die Wände des Büros von Dr. Monroe. Zwischen den Informationsplakaten zu Cholesterin und Diabetes hingen gerahmte Zertifikate, die mit Lamettagirlanden geschmückt waren. Die Auszeichnungen zeugten von einem Profi, der hart studiert und unermüdlich geschuftet hatte, um sein Examen mit Bestnote abzuschließen. Sam hatte andere um solche Leistungen immer beneidet, weil sie eine solide Grundlage hatten. Ihn selbst bezahlten die Leute dafür, dass er mit einem Ball in der Hand rennen konnte und keinen Schaden nahm, wenn man ihn zu Boden warf. Aber in Wahrheit würde er bald einen Haufen mehr verdienen als ein Arzt, der Kranke heilte und Leben rettete. Der Gedanke an sein Glück hatte einen faden Beigeschmack …

Die Tür zum Büro öffnete sich. Zusammen mit einem eiskalten Luftstoß drangen Fetzen von Weihnachtsliedern herein; sie kamen aus den Lautsprechern auf dem Empfangstresen, an dem Sam vorbeigekommen war. Vielleicht hatte sich die Anschaffung des Mantels doch gelohnt. Und da war er nun, Dr. Monroe, drei Stifte in der Brusttasche, eine Fliege mit Zuckerstangenmuster um den Hals, die Augenbrauen wie immer gerunzelt. Vielleicht bereute er die langen Stunden am College und seine Auszeichnungen. Vielleicht wünschte er sich, er würde seinen Lebensunterhalt auch damit verdienen, einen Ball zu werfen.

»Sam«, sagte Dr. Monroe und streckte die Hand aus, als Sam sich zur Begrüßung erhob. Dann zog er die Hand wieder zurück. »Gibt man sich heutzutage noch die Hand? Oder schlägt man nur noch die Fäuste aneinander?«

Sam ballte die Hand zur Faust. »Ich könnte Ihnen den Gruß der Bisons beibringen, wenn Sie es damit versuchen wollen.«

»Belassen wir es lieber beim Händeschütteln«, erwiderte Dr. Monroe und streckte ihm wieder die Hand hin.

Sam nahm sie. Nach der förmlichen Begrüßung ließ sich Dr. Monroe auf seinen Schreibtischstuhl plumpsen, als sei der Teil einer Schaumstoffwelt für Kinder. Dann schloss er die Augen und verstummte.

»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich Sam. Vielleicht fragte nie jemand diesen Typen, der die Antworten auf sämtliche Gesundheitsprobleme kennen sollte, wie es ihm eigentlich ging.

»Na ja … Es fällt mir immer schwer, schlechte Nachrichten zu überbringen«, antwortete der Arzt.

Dann schlug er die Augen auf und sah Sam so direkt an, als habe der Kommentar etwas mit ihm zu tun. Schlechte Nachrichten? Nein, bei diesem Termin ging es darum, dass die medizinischen Untersuchungen abgeschlossen waren und er grünes Licht bekam.

»In der Tat«, fuhr Dr. Monroe fort, »das ist das Schlimmste an meinem Beruf.«

»Aha«, sagte Sam. Seine Kehle war jetzt trocken. »Reden Sie von mir?«

»Also«, sagte Dr. Monroe, setzte sich auf und begann, Papiere zusammenzulegen und gleichzeitig eine Akte aus einem Stapel zu ziehen. »Die Details werde ich erst darlegen, wenn Ihre Anwältin da ist. Wird sie noch lange brauchen?«

Sams Frage hatte der Arzt nicht beantwortet.

»Ich …« Sam war entsetzt. Er hatte Frankie gesagt, dass sie nicht kommen müsse. Dr. Monroes Sekretärin hatte ihn zwar gebeten, sie zu dem Termin dazuzubitten, aber Frankie arbeitete hart an den letzten Finessen des Vertrags. Da am Monatsende schon Weihnachten war, konnte er sich ausrechnen, wie beschäftigt sie war. Nicht wegen ihrer Pläne fürs Fest, da Frankie selbst mit Ebenezer Scrooge mithalten konnte, wenn es darum ging, sich keine Pause zu gönnen, sondern weil alle anderen dann die Arbeit einstellten. Sie musste sicherstellen, dass die Verträge unter Dach und Fach waren, bevor die Bürotüren zufielen. Sam hatte ja auch erwartet, zu einem Abschlussgespräch hier zu sein, nicht zu einer medizinischen Vorbesprechung.

»Frankie kann heute nicht«, sagte Sam. »Sie hat andere Verpflichtungen.«

»Oh«, sagte Dr. Monroe. »Verstehe.« Er knetete die Akte in seinen Händen. Hatte diese Akte mit Sam zu tun? War heutzutage nicht alles digitalisiert? Plötzlich wollte er nicht, dass die Mappe in Dr. Monroes Händen geöffnet wurde. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er spürte, dass etwas in der Luft lag. Das ursprünglich so behagliche Ambiente mit all diesen geschmückten Zertifikaten hatte jetzt etwas Klaustrophobisches. Er musste etwas tun. Er musste das andere Team ins Spiel bringen.

»Dr. Monroe«, sagte Sam und richtete sich auf, »sagen Sie es einfach geradeheraus.« Er nickte. »Ist es wegen der Gehirnerschütterung? Das war ein harter Aufprall, ich weiß. Man muss sich nur den Helm ansehen. Ist es ein Blutgerinnsel oder so etwas? Wenn Sie mich hierbehalten oder mir Medikamente geben wollen, dann sollten Sie wissen, dass ich Ihnen vertraue. Damit kann ich leben.«

Der Arzt legte die Akte ab und zog eine Schreibtischschublade auf. Eine Flasche guten Whiskys kam zum Vorschein, gefolgt von zwei roten Plastikbechern. Es war schlimmer als ein Blutgerinnsel. Sam schluckte. Was könnte schlimmer sein als ein Blutgerinnsel?

Der Whisky wurde eingeschenkt, und Sam bekam über den Schreibtisch hinweg einen der roten Becher in die Hand gedrückt. Warum bot ihm der Doktor vor dem Mittagessen Alkohol an, wo doch eines der Plakate an der Wand eine beschädigte Leber zeigte? Dr. Monroe hatte seinen Becher bereits an die Lippen gesetzt. Sam wusste nicht, was er sagen sollte. Es fühlte sich an, als würde er wieder durch die Luft fliegen, auf seine Gehirnerschütterung zu, während das Publikum kollektiv den Atem anhielt.

Dr. Monroe stellte seinen Becher ab und griff wieder zu der Akte. »Sam, Sie wissen doch, dass die Dallas Diggers alle Arten von Untersuchungen angefordert haben, bevor der Vertrag endgültig unterzeichnet wird.«

»Klar«, sagte Sam. »Ich habe mich schon gefragt, ob die mir überhaupt noch einen Tropfen Blut lassen.« Er runzelte die Stirn. »Aber die Fitnesstests habe ich doch bestanden, oder?« Ihm war selbst nicht klar, warum er das fragte. Er wusste schließlich, wie fit er war. Er hatte sich immer um sein Wohlbefinden gekümmert, sich gesund ernährt und sein Training über alles gestellt. Fitness war alles für ihn. Seit der High School hatte er sein ganzes Leben dem Training geopfert, hatte hart gearbeitet, das Stipendium bekommen und das College absolviert, stets sein Ziel im Blick – die NFL.

»Mit den Fitnesstests hat das nichts zu tun«, teilte Dr. Monroe ihm mit. »Die haben Sie mit Bravour bestanden. So perfekt wie kaum jemand, den ich in meiner Obhut hatte.«

Trotz dieser Worte fühlte Sam sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Es musste etwas mit seinem Sturz zu tun haben. Andererseits war das Spiel schon zwei Wochen her, und die Kopfschmerzen und die Übelkeit hatten sich längst gelegt. Was konnte sich so lange nach dem Vorfall bemerkbar machen?

»Die Dallas Diggers wollten, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Das ist ja mittlerweile auch Standard, wenn man bedenkt, um welche Summen es hier geht.«

Einhundert Millionen Dollar. Ein Drei-Jahres-Vertrag. Und es fühlte sich immer noch wie eine Fantasiewährung an. Man konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine solche Summe aussah, wenn man sie in Dollarscheinen auslegte.

»Verständlich.« Sam nickte. »Welchen Test habe ich also nicht bestanden? Was auch immer nötig ist, eine kleine Schonfrist oder ein bisschen Training oder was auch immer, ich bin bereit.«

Dr. Monroe senkte den Blick auf den Plastikbecher und schien sich zu wünschen, er möge wieder halb voll sein. Der Typ sah gar nicht gut aus, und in Sams Magen begann der Kaffee zu rumoren. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Sam«, begann Dr. Monroe und schlug jetzt einen professionell sanften Tonfall an. »Es gibt keinen Weg, jemandem so etwas schonend beizubringen, daher sage ich es einfach geradeheraus. In Ordnung?«

Sam hielt die Luft an.

»Es ist der Gentest, der uns alarmiert hat«, fuhr Dr. Monroe fort. »Sam … Es tut mir leid, aber Sie tragen ein defektes Gen in sich. Die Krankheit nennt man Chorea Huntington.«

Kapitel Drei

Richmond

»Herr im Himmel! Ich weiß schon, Anna, dass du gesagt hast, der Weihnachtsbaum würde im Vorraum liegen. Mist.«

»Pavinder würde ausrasten, wenn das bei uns passiert wäre. Er weint buchstäblich wie ein kleines Kind, wenn er ein Haar auf dem Küchenboden entdeckt. Seine Mutter hatte einen Putzfimmel. Das hat mein Leben zerstört.«

Anna lächelte, als sie ihre Freundinnen Lisa und Neeta ins Haus ließ, wo sich immer noch Malcolm breitmachte, die Äste über den gesamten Vorraum gestreckt. Nur ein schmaler Weg blieb, um die Tür zum Wohnzimmer und den Rest des Hauses zu erreichen.

»Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte Anna, die sich als Erste am Baum vorbeidrückte und ins Wohnzimmer voranging. In der Zeit, in der Ruthie unter der Dusche stand, hatte Anna den kleinen Holzbrenner und ein paar weihnachtliche Duftkerzen angezündet. Sie war so in Gedanken, dass sie fast auch den Korken der Rotweinflasche angezündet hätte, hatte dann im letzten Moment aber doch zum Korkenzieher gegriffen.

»Wir sind nur gekommen, weil du uns Wein versprochen hast«, sagte Lisa, nahm ein Glas aus dem Regal und hielt es Anna hin.

»Ich bin nur hier, weil einer von Pavinders Kollegen eine Weihnachtskarte vorbeibringen wollte. Wer bringt jemandem, der gar nicht Weihnachten feiert, eine Weihnachtskarte? Außerdem gibt es dafür doch die Post«, sagte Neeta und schüttelte ihre lange schwarze Mähne. Die großen silbernen Ohrringe schaukelten.

Anna füllte Lisas Glas und nahm für Neeta auch eins aus dem Regal. Da waren sie nun, herbeigeeilt auf ihren Hilferuf, ihre beiden besten Freundinnen, die ein paar Meilen weiter am Rande von Richmond wohnten. Anna erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie sich alle zum ersten Mal begegnet waren. Dreizehn Jahre war das jetzt her, und Ruthie damals drei Wochen alt. Die Hebamme kam nicht mehr ins Haus, und so lag es an Anna, ihre Tochter jede Woche zum Wiegen in die Klinik zu bringen.

Was ihr niemand erzählt hatte, war, wie die Mutter-Kind-Wiege-Sitzungen in der Klinik abliefen. Man saß splitternackt in einem Kreis, in dem alle anderen schweigend jedes winzige Detail in Augenschein nahmen. Außerdem war es unfassbar kompliziert, das Baby auszuziehen, nachdem man es zuvor gegen sämtliche Eventualitäten des britischen Wetters eingepackt hatte. Anna musste lächeln, als sie daran dachte, wie sich Ruthie mit ihren Beinchen im Ärmel ihres Strampelanzugs verfangen hatte und mit dem Lungenvolumen eines Pavarotti schrie, während Anna unter dem Druck und der allgemeinen Beobachtung ins Schwitzen geriet.

Neeta hatte, wie sich herausstellte, kein eigenes Kind, sondern sollte das Baby ihrer Cousine zum Wiegen bringen, weil sich die frischgebackene Mutter ein Hennatattoo auf den neuerdings wieder flachen Bauch malen ließ. Neeta hatte immer noch keine Kinder, und Anna hegte schon lange den Verdacht, dass ihr Mann Pavinder, so sehr er auch den Wunsch nach einer Familie beteuern mochte, nicht für den chaotischen, schmutzigen Dauerjob der Elternschaft geschaffen war. Pavinder konnte wunderbar mit Pflanzen umgehen, auch wenn niemand verstand, was eigentlich sein Job war – nur dass der Schmutz im Labor blieb und nicht ins Heim der Khatris geschleppt wurde. Lisa hatte Zwillinge, Kai und Kelsey, die beide damals auch gewogen wurden. Lisa und Paul waren immer noch glücklich miteinander. Anders als Anna und Ed.

»Bäh, du solltest dieses Foto wirklich entsorgen. Es kann doch für die Aura eines Hauses nicht gut sein, das Bild seines Ex-Manns vor der Nase zu haben, wenn man sich eine neue Folge von Der Bachelor reinziehen will.«

»Neeta«, sagte Lisa mit warnendem Unterton.

Anna reichte Neeta ihr Weinglas, dann tippte sie an den Rahmen des Bilds, sodass es flach auf das Regalbrett fiel. Es war ein Familienschnappschuss, den sie Ruthie zuliebe aufbewahrte. Er zeigte Ed, Ruthie und sie auf dem Snowdon, ein paar Sommer zuvor. Ruthie hatte den Aufstieg einfach nur gehasst. Das Ungeziefer. Die Felsen. Die anderen Menschen. Die Sonne. Den Wind. Wales überhaupt. Aber dem Foto merkte man nichts davon an. Lächelnde Gesichter, eine wahre Bilderbuchfamilie – bevor dann Sekunden später Ed zufällig gegen Ruthies Arm stieß, sie einen Anfall bekam und ihr Arm von den Fingerspitzen bis zum Ellbogen mit Desinfektions­mittel eingesprüht werden musste. »Schon geregelt.«

»Hast du mal wieder etwas von ihm gehört?«, fragte Lisa, als sie sich in ihren Lieblingssessel fallen ließ – es handelte sich um einen alten von Nanny Gwen, den Anna restauriert und neu bezogen hatte – und die in Jeans steckenden Beine übereinanderschlug.

»Nein«, sagte Anna. »Jedenfalls nicht, seit er letzte Woche da war, um den Dachboden zu plündern.«

»Wie bitte?«, fragte Lisa. »Er hat was getan?«

Anna nickte. »Er hat Besitzansprüche auf vier Kisten angemeldet, die wir seit unserem Einzug hier nie ausgepackt haben. Alles Zeug, das seine Mutter uns gegeben hat. Ich wollte es nicht. Er will es eigentlich auch nicht. Und ich garantiere euch, dass Nicolette es auch nicht will.«

Es war ein schwacher Versuch gewesen, Macht zu demonstrieren, das wusste Anna. Deshalb hatte sie Ed mit der Leiter hochmarschieren lassen, damit er sich holte, was er so dringend brauchte, auch wenn sie beide wussten, dass dem nicht so war. Mittlerweile waren sie schon ein Jahr geschieden. Anna konnte den Moment nicht bestimmen, an dem ihr klar geworden war, dass die Liebe sich verflüchtigt hatte, aber dass sich ihre Beziehung verändert hatte, war ihr endgültig bewusst geworden, als sie nach Ruthies Diagnose zunehmend Trost bei ihren Freundinnen gesucht hatte statt bei Ed. Das wäre nicht passiert, wenn Ed und sie sich wie zu Beginn ihrer Ehe verbunden gefühlt hätten. Bevor sie Eltern geworden waren, war es ein »Wir gegen die Welt«. Bei einer Flasche Wein und selbst gemachter Pasta hatten sie Arbeitsfragen besprochen und gemeinsam darüber diskutiert, wie man angespannte Beziehungen im Kollegium kitten oder Kundenerwartungen befriedigen könnte. An den Wochenenden hatten sie lange im Bett gelegen und gemütlich zu Mittag gegessen, hatten zwischendurch den Hausputz erledigt und dann Spaziergänge im Richmond Park unternommen. Der Rausch der frischgebackenen Elternschaft – Blumen- und Kartengrüße der Gratulanten, dann die Entfernung der Naht an Annas Vagina – hatte nicht lange gewährt. Und dann hatte Ed eine Affäre begonnen. So ein abgenutztes, vorhersehbares Klischee.

»Ich würde ihm das Zeug trotzdem nicht geben«, empörte sich Neeta, die Kissen herumschob, um es sich bequemer zu machen. »Die Scheidung ist durch. Er lebt hier nicht mehr. Auf das, was er zurückgelassen hat, hat er keinen Zugriff mehr, wo kämen wir denn da hin? Wird er dich demnächst um die Autoschlüssel bitten? Und was ist mit Ruthies Kaninchen? Wird er eines Tages vorbeischauen, weil er beschlossen hat, dass seine neue Freundin unbedingt ein Haustier braucht?«

»Nein«, sagte Anna. »Nicolette ist eher der Hundetyp.« Nicht dass sie Eds ehemalige Geliebte und jetzige Freundin beschattet hätte. Anders als zu Beginn war es keine Obsession mehr, nun da fast ein Jahr seit dem formalen Ende der Geschichte vergangen war. Wenn Eddie die Seligkeit mit einer Frau gefunden hatte, die Selfies in nichts als Gummi­stiefeln postete, ein paar Schreibtischlampen strategisch platziert, dann sei’s drum. Trotzdem war es immer besser, sich zu wappnen. Auch wenn das bei Körbchengröße E – sollten die geposteten Dessousschildchen denn korrekt sein – nicht ganz einfach war.

»Woher willst du das wissen? Wenn du ihn immer reinlässt, dann betrachtet er das als Einladung, nach Belieben hereinzuspazieren und sich zu bedienen.«

»Neeta«, sagte Lisa. »Nicht so laut. Wo ist Ruthie eigentlich?«

»Oben in ihrem Zimmer«, sagte Anna, nahm einen Schluck Wein und rückte eine Weihnachtskarte auf dem Kaminsims zurecht, bevor sie sich neben Neeta setzte. »Sie kann nicht noch einmal herunterkommen, wenn sie geduscht hat. Angeblich wird … ihr Schlafanzug dreckig, wenn sie hier in diesem Raum ist.« Sie schluckte. Niemand verstand so recht, was der Autismus im Mechanismus von Ruthies Verstand anrichtete, aber immerhin konnte Anna mit ihren Freundinnen darüber reden. Fremden gegenüber, das musste Anna zu ihrer Schande zugeben, erfand sie der Einfachheit halber lieber Ausreden.

Seit der Scheidung hatte Ed beschlossen, einer dieser Fremden zu sein. Er hatte sogar aufgehört, sich mit seiner Tochter ernsthaft auseinanderzusetzen. Er tauchte immer nur kurz in ihrem Leben auf, um dann gleich wieder zu verschwinden, als sei sie unter den Vergnügungen, unter denen er wählen konnte, ein weniger attraktives. Allerdings hatte er keine Kinder, unter denen er wählen konnte. Er hatte Ruthie. Aber seit Ruthies Diagnose offiziell war, schienen sich Eds väterliche Pflichten zunehmend darin zu erschöpfen, seine nicht desinfizierten Finger von ihr zu lassen.

»Paul kommt in einer Stunde, um uns mit dem Baum zu helfen«, sagte Lisa, das Thema wechselnd. »Sobald er Kai zum Kickboxen gebracht hat. Biete ihm bitte keinen Kaffee an. Er ist auf Koffeinentzug, bis ihm seine Eltern den nächsten Schnupperkurs für Hobby-Baristas schenken.« Sie schüttelte den Kopf. »Letztes Jahr war es, als würden wir mit einem überdrehten Komiker zusammenwohnen, eine ganze Woche lang.«

»Danke«, sagte Anna, plötzlich von Rührung gepackt. »Weil ihr für mich alles stehen und liegen gelassen und euch auf den Weg gemacht habt.«

Sie schluckte, damit dieses Gefühl der Zerbrechlichkeit in ihre Brust sackte. Nicht das Gerede über Ed regte sie auf, und auch nicht Ruthie oder die Tannennadeln, die sich in ihre Haut bohrten. Der zerbrochene Lampenschirm oder das vermeintliche Kopfschütteln von Nanny Gwen waren es auch nicht. Eher das alles zusammen, außerdem die täglichen schweren Gedanken, ob ihr Leben eigentlich in Ordnung war.

Sie war eine fünfunddreißigjährige Mutter, die einen Drahtseilakt vollführte, um irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Wie eine Zirkusnummer war das, bei der unentwegt alle Teller rotieren mussten: Man wusste genau, welcher Teller Aufmerksamkeit brauchte, bevor er zu trudeln begann. War es nicht Ruthie, war es ihr Chef Adam. Oder Ruthies Nachhilfeassistentin in der Schule (Janice). Und war es keiner von ihnen – oder Ed, der vierte –, war es Mr Rocket (Ruthies Kaninchen), der zu einer Art Hannibal Lecter mutierte, wenn Ruthie sich nicht um ihn kümmerte. Meistens war Anna abends vor zehn im Bett und fragte sich, wie ihr die Stunden des Tages schon wieder zwischen den Fingern verrinnen konnten. Die Zeiten, in denen sie sich eine Maniküre gönnen oder bei einem Latte beim Friseur sitzen konnte, waren längst vorbei. Wenn sie mal fünf Minuten für eine ungestörte Dusche hatte, war das schon ein seltener Luxus.

»Das würdest du für uns doch auch tun«, sagte Lisa. »Du hast es für uns getan.« Sie lächelte. »Denk nur daran, wie wir diesen Pakettypen gefesselt haben, weil er die Päckchen absichtlich in der Gegend herumgeschmissen hat. Was wäre nur ohne deine Knotenkünste, die du als Pfadfinderin erworben hast, aus mir geworden?«

»Und ich habe gar nicht alles stehen und liegen lassen«, sagte Neeta und nahm noch einen Schluck von ihrem Wein. »Es ist doch wunderbar, hier zu sein und sich nicht dieses langweilige Gerede über die Beschaffenheit von Böden anhören zu müssen. Oder über die Frage, ob man, wenn man den Christbaum im Januar in den Garten pflanzt, einzig die Nachbarn verärgert. Pavinders Kollegen reden, als würde plötzlich eine nadelfreie Tanne auf die Erde fallen und Heilung für das Mosaikvirus schaffen.«

»Ehrlich gesagt«, erklärte Lisa lächelnd, »hatte ich auch nichts vor, als ein winziges Oberteil zu bügeln, das Kelsey unbedingt am Ohne-Uniform-Tag in der Schule tragen muss. Und natürlich heimlich eine Folge Chesapeake Shores zu schauen.«

»Umso besser«, sagte Anna und stellte ihr Weinglas auf den Couchtisch. »Da ihr nun einmal da seid und die Auszeit genießt, könnt ihr mir auch gleich helfen, einen eindrucksvollen Restrukturierungsplan für den Chip Shop zu entwickeln – angefangen bei einem neuen Namen.«

»Was?«, fragte Neeta. »Das Ding, in dem man auch chinesisches Essen und Pizza bekommt?«

Das war auch schon das Hauptproblem an dem Job, den Adam ihr übertragen hatte, mit der zeitlichen Vorgabe »vor Januar«. Wie sollte man einen Laden restrukturieren, der alles gleichzeitig sein wollte? Anna wusste, dass sie diesen ungeliebten Auftrag nur bekommen hatte, weil sie Teilzeit arbeitete, noch dazu im Homeoffice. Laut Stellenbeschreibung war sie die »Restrukturierungsexpertin« des Unternehmens, das sich auf Firmengründungen, Unternehmenswachstum und Qualitätsmanagement spezialisiert hatte. Kurz, man schanzte ihr Betriebe zu, die kurz vor der Pleite standen oder hinter den wirtschaftlichen Erwartungen zurückblieben, damit sie Verbesserungsvorschläge unterbreitete. In diesem Fall hätte sie es aber nicht schlimmer treffen können. Ihr Verstand war ohnehin schon in tausend Teile zersplittert, ihre Konzentration auf dem Tiefpunkt. Da sie allerdings jetzt projektweise bezahlt wurde, war der Lohn schon ein gewaltiger Anreiz. Deshalb hatte sie ihre ersten – ziemlich mäßigen – Ideen noch nicht in den Kamin geworfen.

»Drei mit einer Klappe?«, schlug Lisa wenig überzeugt vor.

»Das klingt nach einem Film mit Sandra Bullock, Zöpfchen im Haar und Maschinengewehr über der Schulter«, erklärte Neeta.

Drei mit einer Klappe. Gar nicht so schlecht. Etwas banal, aber wesentlich besser als alles, was ihr selbst eingefallen war. Anna hegte die Hoffnung, dass sich, wenn sie nur den richtigen Namen hatte, alles andere von selbst fand.

»Wie wäre es mit … Fritten, Frittata und Frittierter Reis?«, schlug Neeta vor.

»Das würde man nie auf ein Schild bekommen«, antwortete Lisa.

Anna ließ sich in die Kissen auf ihrem Sofa sinken, während Neeta laut dachte und Lisa ihre Vorschläge zerriss, und genoss das Zusammensein mit ihren Freundinnen. In solchen schönen Momenten ertrug sie ihr Leben als alleinerziehende Mutter besser. Es fühlte sich nicht so chaotisch an, wenn sie sich von der Liebe anderer getragen fühlte.

Kapitel Vier

American Airlines

»Darf ich Ihnen etwas bringen, Sir?«

Darf ich Ihnen etwas bringen? Wie wär’s mit einem Rückspulknopf fürs Leben? Klicken Sie auf die Pfeiltaste und erleben Sie, wie die letzten vierundzwanzig Stunden Ihres Lebens an Ihnen vorbeiflitzen …

»Sir?«

Sam riss sich zusammen und sah zu der Stewardess auf. Sie war etwa vierzig Jahre alt, adrett und attraktiv. Ein langes Leben lag noch vor ihr, mit vielen Stunden in den Lüften und sicher einem Typen und Kindern, die daheim auf sie warteten … Er schluckte. »Ich nehme eine …« Dann hielt er inne. Eine Diät-Cola, hatte er sagen wollen, aber wem wollte er etwas vormachen? Die Saison war gelaufen. Sein ganzes Leben war gelaufen. Was hatte es ihm genützt, auf Alkohol zu verzichten und gedämpftes statt gebratenes Huhn zu essen? Hier war er gelandet. Und weiter als hierhin würde er auch nicht kommen.

»Ich nehme ein Bier«, sagte Sam. »Und einen Rotwein bitte. Und haben Sie Chips? Die mit den Rillen?«

Wer war er überhaupt? Sein zwölfjähriges Selbst, das die gesparten Münzen zählte, um sie in einen Snackautomaten zu stecken? Während ihm bei dem Gedanken an die Dinge, die andere täglich und achtlos in sich hineinstopften, schon das Wasser im Munde zusammenlief?

»Sir, Sie befinden sich in der First Class. Wir haben Besseres zu bieten als Chips. Der Dinner Service wird gleich bei Ihnen sein.«

Sie stellte die Getränke auf sein Tischchen und schob den Servierwagen weiter. Er riss den Verschluss der Bierdose auf und kippte die Flüssigkeit in sich hinein, als sei es Wasser nach einem Spiel. Dann schob er die Fensterblende hoch und sah auf die Erde hinab. Da war er nun also, hoch über den Wolken, und hatte eine Entscheidung getroffen. Solange er noch konnte. Er zog die Blende wieder herab, nahm noch einen Schluck und schloss die Augen. Er hatte Chorea Huntington.

Wie der Name eines besonders edlen Bourbon klang das. Ich nehme einen Huntington on Ice. Oder wie eine Speise im Restaurant. Ich nehme das Huntington mit Pommes, Zwiebelringen und Sauce Béarnaise. Leider war es keins von beidem. Es war eine Krankheit, die sich, wann immer es ihr beliebte, auf die Nervenzellen seines Gehirns stürzen und seine Bewegungs- und sogar seine Denkfähigkeit zerstören konnte.

Er war fünfundzwanzig, kurz davor, den größten Deal seines Lebens abzuschließen, und würde nun langsam, aber sicher zugrunde gehen. In Windeseile würde er vom Fittesten zum Gebrechlichsten mutieren, einfach so. Die Chance, auf die er all die vergangenen Jahre hingearbeitet hatte, würde zerplatzen, sobald sich die Nachricht herumsprach. Eine Nachricht. Darauf würde man ihn reduzieren, wenn es herauskam. Der Typ, dem die Welt zu Füßen lag und der nun den entscheidenden Schritt seiner Karriere verpasste. All diese Opfer und Mühen – der Verzicht auf Partys und Drogen und Alkohol am Steuer und tiefergehende Beziehungen –, nur damit er jetzt in ein großes, schwarzes Loch fiel.

In Dr. Monroes Büro hatte es diesen Moment gegeben, in dem es sich so angefühlt hatte, als würden ihm dicke Wattebäusche in die Ohren gestopft. Alles hatte dumpf geklungen, bis auf das unaufhörliche Pochen seines Herzens. Sam wusste nicht, ob der Rhythmus – heftig, laut, allzu gegenwärtig – die Intensität der Situation verstärkte oder ob er ihn daran erinnern sollte, dass sein Herz trotz der Diagnose immer noch schlug und keinerlei Anzeichen von Ermüdung zeigte. Aber der Tumult in seinem Innern hatte auch zur Folge gehabt, dass Dr. Monroes Worte auf nahezu taube Ohren gestoßen waren. Sein überfordertes Gehirn hatte sich wahllos Wörter und Sätze herausgegriffen. Weitere Untersuchungen. Ein Termin beim genetischen Berater. Das Durchschnittsalter, in dem es bergab geht, liegt zwischen dreißig und fünfzig. Er war in seinem Mantel in Schweiß ausgebrochen. Beim genetischen Berater war er bereits vor den ganzen Untersuchungen gewesen, die die Dallas Diggers verlangt hatten. Eigentlich hatte er es für eine Formalität gehalten. Er hatte noch nie ein schlechtes Ergebnis bei einer medizinischen Untersuchung gehabt. Das war Teil des Problems. Es waren sein Talent und seine Fitness, die ihn auszeichneten und für die Akzeptanz in einer Welt sorgten, in der er sich seine gerechte Chance hart hatte erkämpfen müssen. Plötzlich fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der alle beneidete, die hatten, was er nicht hatte – nur dass es diesmal nicht um Dollars, sondern um Sand in der Uhr des Lebens ging.

Sam legte den Kopf an die Lehne und schloss die Augen. Wie auf Autopilot war er in seine Wohnung zurückgefahren, hatte wahllos Zeug in eine Tasche gestopft und sich seinen Reisepass geschnappt. Dann hatte er ein Taxi zum Flughafen genommen. Weit weg. Das war alles, was er denken konnte. Sich von dieser Zeit, diesem Ort, dieser Diagnose entfernen. Er hatte auf die Abflugtafel geschaut und den Flug gewählt, der in den nächsten Stunden die längste Strecke zurücklegen würde. Solange es noch ging, tat er das, was er immer am besten gekonnt hatte. Rennen.

Kapitel Fünf

Richmond

»Dad!«

Diese drei Buchstaben, in enormer Lautstärke hervorgestoßen, hatten zur Folge, dass Anna ihren starken Kaffee und die beiden Schmerztabletten so schnell hinunterschluckte, dass sie sich die Zunge verbrannte. Es war noch nicht einmal halb neun. Und es war Samstag. Hatte Ruthie die Haustür geöffnet? Oder hatte Ed immer noch einen Schlüssel? Bei diesem Gedanken sprang Anna auf und marschierte aus der Küche in die Vorhalle. Den Windfang schloss sie hinter sich. Alles hatte Grenzen. Sie waren geschieden. Er mochte immer noch Ruthies Vater sein, sie mochten auf eine jahrelange gemeinsame Geschichte zurückblicken, aber es war aus. Und auch wenn dieses Haus einst Eds Heim gewesen war, gehört hatte es ihm nie.

Anna war hier bei Nanny Gwen aufgewachsen. Böden, Wände und Decken waren über die Jahre hinweg renoviert und ersetzt worden, aber das Knochengerüst dieses Orts barg immer noch viele Erinnerungen: das lichtdurchflutete Wohnzimmer, in dem Nanny Gwen einer blutjungen Anna Tanzunterricht gegeben hatte; die Küche, in der Nanny Gwen versucht hatte, die Rezepte ihrer eigenen Großmutter nachzukochen, und dann auf ganzer Linie gescheitert war; das Schlafzimmer mit der hohen Decke und Annas Lieblingsmöbel, einem Kleiderschrank aus Walnussholz, der immer noch nach Nanny Gwens Lieblingsparfüm roch, Lily of the Valley. Ein Seitenblick auf Nannys Foto in der Vorhalle verlieh Anna die Kraft, sich der Szene zu stellen.

Da stand Ed, die Derbyschuhe auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Willkommen«. Was für eine Ironie – willkommen war er nun wirklich nicht. Vor allem nicht, wenn er sich selbst Zutritt verschafft hatte. Was hielt er da in der Hand? Einen Schlüssel? Anna sah schnell weg, weil sie sich das einbilden musste, und richtete den Blick auf sein Haar. Er hatte immer so schöne Haare gehabt, fast weißblond, strubbelig, aber durchaus zu bändigen. Er trug es immer noch so wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Damals war sie einundzwanzig gewesen und er noch sehr nett, ein guter Junge und durchaus sexy. Mit ihm hatte sie sich nie so gelangweilt wie mit ihren ersten wenigen Freunden. Die Hochzeit schien ein folgerichtiger Schritt zu sein, und dann kam auch schon Ruthie. Im Nachhinein hätte sie es vielleicht langsamer angehen oder die Beziehung erst einmal auf die Probe stellen sollen. Vielleicht war alles zu einfach gewesen. So einfach, dass es, als Ed dann derjenige war, der die Beziehung auf die Probe stellte, ein Leichtes gewesen war, sie aufzugeben.

Anna wollte sich schon eine Art Begrüßung abringen, als ein schrilles Geräusch erklang.

»Was ist in der Schachtel? Was ist da drin?«

Anna war so sehr damit beschäftigt gewesen, den Mann auf ihrer flugs umgetauften »Nicht-willkommen«-Matte zu ignorieren, dass sie die kunstvoll verpackte Schachtel neben ihm gar nicht bemerkt hatte.

»Ruthie«, sagte Anna und trat nun vor. »Beruhige dich. Du hattest doch gerade erst deine Coco Pops.« Ruthie übergab sich manchmal, wenn sie aufgeregt war und gerade erst gegessen hatte.

»Himmel«, sagte Ed und trat einen Schritt zurück. »Ich hätte gedacht, dass ihr längst gefrühstückt habt.«

Anna presste die Zähne zusammen. Da hatte sie ausnahmsweise einmal etwas getrunken und war spät ins Bett gegangen, und prompt wurde sie von Ed erwischt. Der Baum war noch nicht geschmückt, aber sie wusste, dass sie Ruthie nicht länger hinhalten konnte. Sie könnte es eigentlich heute noch tun, wenn sie ihren leichten Kater loswerden würde … und ihren Ex-Mann.

»Darf ich das aufmachen?«, fragte Ruthie mit großen Augen. Sie war vollkommen aus dem Häuschen und knibbelte mit den Fingern am Klebeband herum. Sie würde es sowieso tun.

»Nicht, wenn es ein Weihnachtsgeschenk ist«, begann Anna. »Du kennst doch die Regeln: Vor dem 25. Dezember machen wir gar nichts auf.«

»Na ja«, sagte Ed, der sich immer noch abseits hielt. »Diese Regel muss ich leider außer Kraft setzen. Es wird vor Weihnachten noch ein wenig Luft brauchen.«

Luft? War das etwas zum Aufblasen? Anna hoffte, dass es nicht mit Helium gefüllt war. Nie würde sie diesen Ballon in Form einer Sieben vergessen, aus der Ruthie und ihre Freundinnen abwechselnd inhaliert hatten, worauf die Party eine dramatische Wendung genommen hatte, die Anna die Rechnung für eine Komplettreinigung eines Mercedes S-Klasse eingebracht hatte.

Plötzlich war ein Geräusch zu hören, ein Miauen, absolut unverkennbar. In Annas Brust bildete sich ein Klumpen. Er würde doch wohl nicht … Er konnte doch wohl nicht …

»O Gott! Das ist … das ist …« Ruthie hyperventilierte fast, als eine gewaltige, langhaarige Tigerkatze den Kopf aus der Schachtel steckte, den Schwanz hoch erhoben, die grünen Augen so starr, als erwäge sie die Auslöschung aller anwesenden Menschen. Es stimmte. Er hatte für Ruthie eine Katze gekauft. Es sei denn …

»Ist das eines dieser Betreuungsprojekte, von denen man so viel hört?«, fragte Anna schnell, als die Katze aus der Schachtel sprang und auf dem Teppich landete.

»Betreuungsprojekte?«, fragte Ed und wirkte genauso verständnislos wie früher immer, wenn Anna ihn gefragt hatte, warum er bei eBay Dinge ohne ersichtlichen Nutzen gekauft hatte.

»So etwas wie … wenn man sich jemanden sucht, der für einen die Großmutter spielt. Das sieht man doch ständig im Fernsehen.« Irgendwie hatte sie schon den Kürzeren gezogen – während Ruthie bereits ihr Herz an etwas verloren hatte, das sie gar nicht behalten konnte, wenn es nicht nur für einen vorübergehenden Zeitraum war.

»Ich nenne sie …«

»Nein!«, rief Anna, sprang vor und nahm die Katze auf den Arm. Ruthie hatte sie noch gar nicht berührt. Eine gefühlsmäßige Bindung würde gar nicht erst entstehen, wenn Anna die Katze zurück in den Karton und den Karton zusammen mit Ed aus dem Haus bugsieren würde. Nur dass sich die Katze nun leider aufbäumte, dieser Brocken mit den Pfoten von der Größe menschlicher Fäuste …

»Mum! Du darfst Cheesecake nicht wehtun!«, rief Ruthie.

Nun, da sie einen Namen hatte, war die Sache gelaufen. Das schien selbst die Katze zu ahnen, da sie es für geboten hielt, so engelsgleich zu miauen, wie sie es vielleicht nie wieder tun würde. Was hatte Ed da nur geritten? Ohne sie zu fragen! Anna setzte die Katze ab, richtete sich auf und starrte Ed an. Sie konnte nicht mehr an sich halten.

»Kann ich kurz mit dir reden?«, fragte sie.

»Frohe Weihnachten!«, sagte Ed. »Ist das kurz genug?«

Wollte er sie auf den Arm nehmen? Anna verschränkte die Arme vor der Brust. Cheesecake, die auf den Boden geplumpst war, reckte ein Bein hinter den Kopf und leckte sich den After.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Anna bestimmt. »Im Wohnzimmer.«

Eds Antwort wartete sie gar nicht erst ab. Sie öffnete die Tür zu ihrer Rechten und trat in den Raum, der fast vollständig von Malcolm eingenommen wurde. Mist, auf dem Fensterbrett stand eine geöffnete Weinflasche, die sie nicht mehr wegräumen konnte. Anna blieb so stehen, dass Ed sie beim Eintreten nicht sehen konnte. Der hatte die Hände in die Taschen seiner dunkelblauen Jeans gesteckt und wirkte geradezu nervtötend entspannt. Nun, sie selbst war nicht entspannt. Sie kochte!

»Du hast Ruthie tatsächlich eine Katze gekauft?«, fragte sie.

Ed zuckte mit den Schultern. »Die hat sie sich gewünscht, als ich sie das letzte Mal gesehen habe.«

»Ed! Sie wünscht sich eine Katze, seit sie sprechen kann! Und wir haben immer Nein gesagt. Unser Leben und die Straße vor dem Haus sind nichts für Katzen. Mr Pender-ghast hat fünf Katzen verloren, bis es ihm zu viel wurde und er sich für einen Wellensittich entschieden hat.«

Wieder zuckte Ed mit den Schultern. Was sollte das? Hatte er sich das bei Nicolette eingefangen? Apathie. Hier sollte es darum gehen, dass eine Katze keine gute Idee war, und nicht um Annas Kränkung, weil Ed ein leichtes Leben hatte, während sie selbst bei der Arbeit immer die Gruseljobs abbekam und in ihrem Privatleben vor allem wohlmeinendes Mitleid erntete.

»Von derartigen Plänen hast du mir nichts erzählt, Ed!«, sagte Anna.

»Es sollte eine Überraschung sein! Überraschungen verrät man nicht vorher.«

»Aber keine Überraschung für mich. Die Katze ist für Ruthie. Du hättest mir vorher davon erzählen müssen, damit ich …«

»Damit du was?«, fragte Ed, nahm die Hände aus den Hosentaschen und gestikulierte. »Damit du mir erzählen kannst, dass das keine gute Idee ist?«

»Nun … ja!«

»Ich soll also nicht mitreden dürfen, wenn es darum geht, was gut für Ruthie ist?«, platzte es aus Ed heraus.

»Wie bitte?«

»Darum geht es doch bei diesem ganzen Theater, nicht wahr?«, fuhr Ed fort, verließ seinen Posten an der Tür und marschierte in Annas Lebensraum, als hätte sich zwischen ihnen nichts verändert. »Du willst doch nur die Kontrolle behalten … wie immer.«

Was passierte hier? War das wirklich wahr? Oder war ihr Kater schlimmer als gedacht. Anna schüttelte den Kopf und bereute es sofort wieder, weil er pochte, als hätte jemand eine Hantel dagegengeknallt.

»Ed, du hast Ruthie ein Tier geschenkt. Nicht irgendein Tier, sondern eines, das vielleicht achtzehn Jahre lang lebt und an jedem einzelnen Tag Pflege und Aufmerksamkeit verlangt.«

»Wenn ich es recht verstanden habe, gehst du sowieso davon aus, dass sie noch vor Weihnachten überfahren wird. Ein paar Büchsen Katzenfutter, und du bist sie los!«

»Ed! Das ist gemein.«

»Und was soll daran nett sein, wenn du mir verbieten willst, meiner Tochter eine Katze zu schenken? Ich weiß, dass sie dieses Tier lieben wird.«

Ed nahm die Flasche vom Fensterbrett und betrachtete sie, als müsse er überlegen, ob er sie als Beweismittel dem Jugendamt übergeben sollte. »Lange Nacht, was?« Er drohte mit dem Finger. »Und mal im Ernst: Was ist das für ein Baum? Der wäre eher etwas für den Trafalgar Square!«

Bevor Anna etwas sagen konnte, flog die Tür auf, und Ruthie stand im Türrahmen, die Kapuze ihres Sweatshirts so stramm um den Kopf gezogen, dass man nur ihre Augen sah. So trat sie auf, wenn sie sich unsichtbar machen wollte, weil die Situation zu kniffelig war. In ihren Armen hatte sie die Katze. Die schmiegte sich wie eine professionelle Tierschauspielerin an das Kind und ließ den Kopf von Ruthies Ellbogen herabhängen, ein Bild des Entzückens.

»Hört auf zu schreien!«, rief Ruthie. »Ihr wisst doch, dass ich empfindliche Sinne habe. Eine Tür zu schließen trägt nicht wirklich dazu bei, die Lautstärke zu reduzieren.«

»Tut mir leid, Ruthie«, sagte Anna sofort.

Ruthie trat auf Ed zu und legte ihm die Katze in den Arm. »Ich kann sie nicht behalten«, sagte Ruthie. »Falls es eine Sie ist, das habe ich noch nicht überprüft. Ich würde es tun, wenn ich sie behalten würde … ihn … aber das geht nicht.«

Die Katze schien von dem Ortswechsel nicht begeistert zu sein. Ihr Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse, als Ed herauszufinden versuchte, wie man sie am besten hielt.

»Ruthie, sei nicht albern. Du hast immer eine Katze gewollt, und jetzt hast du eine«, sagte Ed, während sie nun an seinem Pullover hochkletterte.

»Aber Mum hat immer Nein gesagt«, erinnerte Ruthie ihn. »Und ich möchte nicht gegen Regeln verstoßen.«

Anna schluckte. Es zerriss ihr das Herz. Sie hätte nichts lieber getan, als Ruthie zu sagen, sie könne die Katze behalten. Aber das war nicht möglich, und das wusste Ed auch.

»Nun komm schon, Ruthie. Wo soll ich denn hin damit? Sie hat sogar einen Stammbaum. Ihr Name besteht aus vier Wörtern. Ich habe sämtliche Papiere für sie.«

Natürlich hatte er die! Damit demonstrierte er nur seinen Wohlstand, während Anna hart arbeiten musste, um das Gleichgewicht zu halten, das Ruthie so dringend brauchte. Sie hatte das Haus, das war das Wichtigste. Für diese Stabilität hatte Nanny Gwen vor Ewigkeiten gesorgt. Aber Strom war nicht billig, genauso wenig wie eine anständige Internetverbindung. Ed konnte Vollzeit arbeiten, Anna nicht. Und was Ed nach der Scheidung zum Lebensunterhalt beitragen musste, war lachhaft.

»Du kannst sie behalten«, sagte Ruthie, eine Hand an der Klinke. »Vielleicht freut sich dein neues Baby über eine Katze!«

Als Ruthie den Raum wieder verließ, taumelte Anna zur Seite und fiel direkt in den Weihnachtsbaum.

Kapitel Sechs

London

Ein verschnörkelter Wegweiser zeigte »nach Putney«, während ein anderer »nach Richmond« wies. Sam wurde bewusst, dass er zwar wieder an einem Scheideweg stand, ihm die Entscheidung aber nicht so schwerfallen würde wie die, in ein Flugzeug nach Großbritannien zu steigen.

Als der Flieger in Heathrow gelandet war, hatte er ein Taxi genommen und dem Fahrer das Ziel überlassen – im Umkreis von zehn Meilen, so lautete seine einzige Bedingung. Richmond bildet sich ein, etwas Besseres zu sein, aber es ist sehr hübsch. Ich fahre mit meiner Frau dorthin, wenn ich mich danebenbenommen habe. Nette Restaurants und Parks. Die Weihnachtsbeleuchtung ist wunderbar, aber Geschenke kaufen Sie dort besser nicht. In Putney dreht sich alles ums Rudern.

Immer noch unentschlossen, hatte Sam sich zusammen mit seinem Rucksack an diesem Ort der Entscheidung absetzen lassen.

Nun ließ er den Rucksack fallen und überlegte, ob er sein Handy herausholen sollte. Seit er es für den Flug ausgeschaltet hatte, hatte er es nicht mehr in der Hand gehabt. In diesem ganzen Szenario war nicht er selbst der Patient, sondern die Dallas Diggers: Sobald Dr. Monroe die Ergebnisse des Gentests weitergeleitet hätte, wäre die Nachricht heraus. Er öffnete den kleinen Reißverschluss vorne am Rucksack und fröstelte. Kalt war es in England. Frost lag auf dem Gras, selbst jetzt – wie spät war es eigentlich? – am Nachmittag. Die verschneiten Winter in Ohio kannte er gut; vielleicht hätte er daran zurückdenken sollen, als er seine Sachen gepackt hatte. Tatsächlich konnte er sich kaum noch daran erinnern, wie er die paar Hemden und T-Shirts, eine Jeans, eine Sporthose und einen Pullover in den Rucksack gestopft hatte. Außer diesem Zeug, einem Laptop und Unterwäsche hatte er nur, was er am Leib trug.

Seine Finger stießen auf das Handy. Er betrachtete die glänzende schwarze Oberfläche. Mit nur einem Tastendruck könnte er es anschalten, könnte sich dem stellen, was auch immer ihn erwartete. Als ein Mann an ihm vorbeieilte, einem struppigen weißen Hund mit Halstuch hinterher, fragte sich Sam, von wem wohl die erste Nachricht sein würde. Von seinem Trainer bei den Bisons, Tim? Von Frankie? Oder von Chad, der eines dieser zwanglosen Treffen vorschlug, die unweigerlich in eine Poolparty ausarteten, über die man in der nächsten Promishow sprechen würde? Die Diggers? Nein, denn wenn die es bereits wussten, würden sie erst mit Frankie sprechen. Die Diggers waren ein millionenschweres Unternehmen, sie würden ihm keine Nachricht schreiben und erklären: Haben von deinen Problemen gehört, wir sind raus.

Tionne. Er zuckte zusammen. Sonst rief er sie einmal am Tag an oder schrieb ihr eine Nachricht, außerdem lud er sie jeden zweiten Freitag zum Eis ein. Dieser Termin stand seit Jahren fest. Einmal hatte er versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, weil die Jungs etwas trinken gehen wollten und er schon zu oft Nein gesagt hatte, aber vergeblich. Tionne hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihn in diesem Fall nicht mehr als ihren Bruder ansehen würde. Ihm war klar, dass sie es nicht so meinte. Wie selbstsüchtig sie sich auch aufführen mochte, im tiefsten Innern war sie immer noch das kleine Kind, das wegen seiner Zöpfe gehänselt wurde und den großen Bruder brauchte. Wie sollte er ihr die Situation erklären? Er war immer der Starke gewesen, und was war er jetzt? Angeschlagen? Schwach? Bei der Vorstellung fröstelte er.

Er steckte das Handy in die Tasche zurück und richtete den Blick wieder auf den Wegweiser. Dann traf er eine Entscheidung.

Kapitel Sieben

Bean Afar, Richmond

Obwohl das Café immer überfüllt war, hatte es seit jeher einen beruhigenden Einfluss auf Ruthie gehabt. Seit dem Moment, da sie gehen konnte, war Anna immer mit ihr hierhergekommen. Es war schon einer von Nanny Gwens Lieblingsorten gewesen. Damals hieß es noch Spooner’s, und es gab den ganzen Tag über Frühstück, außerdem Picknickkörbe, Tee in Jumbotassen und nachmittags riesige Kuchenstücke.

Ein Besuch hier hatte Anna ein paar Momente geschenkt, in denen Ruthie glücklich und zufrieden war und sie selbst durchatmen konnte. Der Kaffeeduft, der sich mit dem von den Espressomaschinen aufsteigenden Dampf mischte, hatte denselben Effekt wie ein Wellnesstag. Hier gab es nur normale Menschen mit gewöhnlichen Anliegen: Kaffee fürs ganze Büro holen, nach dem Joggen einen Saft trinken, Freunde treffen. Aztekische Blumentöpfe standen neben nie benutzten, knallbunten Flaschen. Ein Hauch von Exotik.

Das Problem damals war nicht, dass sie an die Wände ihres geliebten Hauses starrte, während sie ihren Ehemann immer noch zutiefst darum beneidete, dass er an seinen Arbeitsplatz flüchten konnte. Obwohl sie außerordentlich glücklich über ihr Baby war, hatte Anna ihre neue Aufgabe nie so angenommen, wie sie es ihrer Meinung nach tun sollte – oder wie es die Elternratgeber nahelegten. Mutter zu sein war hart. Noch härter war es, wenn die eigene Mutter das Heft schnell an die Großmutter weitergegeben hatte und die dann zu früh gestorben war, um Ratschläge geben zu können.

Vielleicht hatte sie, Anna, doch etwas von der kalten, selbstsüchtigen Art ihrer Mutter geerbt. Vielleicht hatte auch ihre Mutter einst Trost in einem Café gesucht und den Tag verflucht, an dem sie beschlossen hatte, die Pille abzusetzen. Kurz nach Ruthies Geburt hatten die finsteren Gedanken Anna überwältigt. Wenn sie in den Spiegel sah, schaute ihr oft die schlanke, dunkelhaarige Gestalt ihrer Mutter entgegen. Die seelenlosen Augen, das herrische Lächeln, niemand sollte hinter die Fassade blicken – ihre Mutter wollte es so, wie ihr irgendwann klar geworden war. Ein Machtspielchen war das.

Vielleicht war das erblich, dachte sie, wenn sie in Windeln und gerissenen Feuchttüchern versank. Vielleicht war die Unfähigkeit, eine gute Mutter zu sein, in der DNA festgeschrieben. In diesen Tagen, Wochen und Monaten unauslöschlicher Angst und Depression ertappte sich Anna manchmal sogar bei dem Gedanken, dass sie eines Tages ausrasten und Ruthie wie ein Bündel auf einer Bank im Richmond Park zurücklassen könnte. Jetzt schüttelte sie den Kopf und verscheuchte die düsteren Erinnerungen. Sie hatte es nicht getan. Mit Lisas und Neetas Hilfe hatte sie die schlimmsten Zeiten überstanden. Und was ihre Mutter betraf, hatte sie keine Ahnung, wo die jetzt war. Sie hatten keinen Kontakt mehr, seit sie uneingeladen und betrunken auf ihrer Hochzeit aufgetaucht war und sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Nanny Gwen hatte sie hinauskomplimentiert, und was auch immer sie gesagt – oder angeboten – hatte, so etwas war nie wieder vorgekommen.

Das Baby. Ed würde ein Kind mit Nicolette bekommen. Würden sie vor der Geburt heiraten? Würde Nicolette die bessere Mrs Heath werden? Eine, die nicht fluchte und schwitzte?

»Die Lebkuchenmänner sind nicht regelmäßig.«

Ruthies Stimme durchbrach Annas Gedanken und die weihnachtliche Radiomusik. Es war warm hier, und die Fenster waren beschlagen. Anna sah zu den Lebkuchenmännern hinüber, die zur Dekoration aufgehängt waren: zwei braune Arme, zwei braune Beine, drei schwarze Knöpfe, ein rotes Lächeln …

Ruthie seufzte. »Auf der einen Seite hängen vier, auf der anderen drei. Und der da hält Händchen mit einem Schneemann. Das passt doch gar nicht. Glaubst du, Esther ändert das, wenn ich sie darum bitte?«

»Keine Ahnung«, antwortete Anna und schlang die Finger um ihren Lieblingskaffee, eine kräftige Mischung aus Kenia. »Aber sie wird es dir nicht übel nehmen, wenn du sie fragst.« Ruthies Bedürfnis nach Ordnung war hier wohlbekannt. Es begann mit einer ungeraden Anzahl von Donuts auf dem Tresen und endete noch lange nicht bei der Inschrift auf der Tafel dahinter. Das Angebot musste in Gruppen von zwei, vier oder sechs aufgelistet sein, sonst konnte Ruthie die Augen nicht von dem Ungleichgewicht losreißen.

Ruthie legte die Lippen an den Becher mit der heißen Schokolade und nippte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Das tat sie nicht immer. Das Muster konnte variieren, je nachdem, was ihr der Verstand in bestimmten Situationen auftrug. Außerdem hing alles davon ab, wie gestresst sie war. Dass der eigene Vater noch ein Baby bekam, würde jeden beunruhigen, aber auf Ruthie konnte es extreme Auswirkungen haben. Anna fragte sich schon die ganze Zeit, wie lange Ruthie das Geheimnis bereits kannte. Sie betrachtete ihre Tochter, die in ihrem flauschigen überdimensionierten Lieblingsoberteil steckte, und verspürte einen Stich in der Magengegend, wenn sie sich vorstellte, irgendjemand oder irgendetwas könne ihr wehtun. Dieses Gefühl kannte ihre Mutter sicher nicht – diesen Mutterinstinkt, der keinen Zweifel daran ließ, dass du dieses von dir geschaffene Wesen um jeden Preis verteidigen würdest.

»Ruthie«, begann Anna sanft. »Wann hat dir Dad von diesem … Baby erzählt?«

Ruthie verdrehte die Augen. »Man kann das nicht aussprechen, als sei ›dieses Baby‹ ein Ding.«

»Habe ich das getan?«, fragte Anna, obwohl sie es natürlich selbst wusste. Sie hatte das Wort »Baby« ausgesprochen, als sei es mit stinkenden Exkrementen verkrustet, eine Beleidigung für ihre Zunge. Aber wie unerfreulich das Ganze für sie selbst sein mochte, dieses Baby würde zu einem Teil von Ruthies Leben werden, so wie auch Nicolette Teil von Ruthies Leben war.

»Mum«, sagte Ruthie. »Du hast es gesagt, als sei ›dieses Baby‹ Voldemort.«

»Schsch!«, machte Anna. »Dürfen wir diesen Namen hier überhaupt aussprechen?«

»Außerdem hat Dad mir gar nicht von dem Baby erzählt«, erklärte Ruthie, den Blick auf ihr Getränk gerichtet. »Ich war dabei, als Nicolette mit ihren Freundinnen zusammengesessen und mit einem Kästchen herumgefuchtelt hat. Alle haben gejohlt und mit Alkohol angestoßen. Ich dachte erst, es sei ein Covid-Test, und da alle so begeistert ›positiv‹ riefen, habe ich mich erkundigt, was denn so toll daran sei, Corona zu haben. Sie hat dann diese Stimme aufgesetzt, mit der sie immer über Dinge redet, die sie nicht essen darf, Kohlenhydrate zum Beispiel. Und dann hat sie gesagt: ›Du wirst große Schwester!‹«

Anna schloss die Augen. Ein Kind mit Autismus so mit einer gewaltigen, lebensverändernden Neuigkeit zu überrumpeln war sicher keine gute Idee. Man hätte Ruthie das mit Bedacht übermitteln müssen, in einer Atmosphäre, in der sie sich wohlfühlte, nicht in einem kreischenden Kreis angetrunkener Weiber. Und wie mit der Katze stellte sich die Frage, wieso Ed ihr selbst nichts davon erzählt hatte. Er war ihr ausgewichen, nachdem sie sich aus Malcolms stacheligen Armen befreit hatte.

Vage Worte wie »Wir warten auf den ersten Ultraschall« und »Wir haben es gerade erst unseren Familien erzählt« waren aus seinem verkniffenen Mund gedrungen. Der letzte Satz hatte sie getroffen. Und das wurde nicht besser, wenn Anna jetzt hören musste, dass Ruthie es von Frauen erfahren hatte, die definitiv nicht zur Familie gehörten.

»Was auch immer du nun empfindest, es ist vollkommen in Ordnung«, erklärte sie Ruthie.

»Das sagen Leute immer, wenn sie eigentlich eine bestimmte Meinung hören wollen, schwarz oder weiß.«