Wolfgang Rihm - Über die Linie - Eleonore Büning - E-Book

Wolfgang Rihm - Über die Linie E-Book

Eleonore Büning

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  • Herausgeber: Benevento
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Hommage an einen freien Geist: Ein Meister der modernen Klassik im Porträt Wolfgang Rihm zählt zu den großen deutschen Komponisten. Sein Werk zeichnet sich vor allem durch eines aus: künstlerische Freiheit. In seinem Œuvre lotet er die expressive Kraft der Musik aus und widersetzt sich dabei jedem Versuch der Einordnung. Moderne klassische Musik? Neue Musik? Wolfgang Rihms Musik steht für sich selbst. Musikkritikerin und Autorin Eleonore Büning beschreibt in dieser Biographie zum ersten Mal Leben und Werk dieses phänomenalen Musikers. Durch ihre umfassende Musikkenntnis und langjährige Freundschaft zum Porträtierten gelingt ihr eine Darstellung des Komponisten, die ebenso fundiert wie persönlich ist. - Biographie zum 70. Geburtstag des Ausnahmekünstlers - Wolfgang Rihm im Interview: 25 Fragen und Antworten zum Alltag des Komponierens - Mit vollständiger Diskographie (mit allen bis 2021 veröffentlichten Aufnahmen) und umfassendem Personen- und Werkregister - Wolfgang Rihm als Lehrer und Netzwerker: Wie beeinflusst er das Musikdenken der Gegenwart? Lebensgeschichte eines der wichtigsten und berühmtesten Komponisten der Neuzeit Wolfgang Rihm sei »ein Sonderfall für die Musikgeschichte«, schreibt Eleonore Büning im Vorwort der Biographie. Der Komponist gehörte nie zu einer Seilschaft, sondern hat sich seine Unabhängigkeit bewahrt. Rihm empfindet Bach oder Beethoven als seine Zeitgenossen und schließt in seinem Musikbegriff einfach nichts aus. Seine Musik berührt auch Menschen, die keine Lust auf Avantgarde haben. Tauchen Sie ein in die Klangwelt der neuen Musik und lassen Sie sich von der Virtuosität und dem Erfindungsreichtum von Wolfgang Rihms Kompositionen in den Bann ziehen!

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Seitenzahl: 435

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Eleonore Büning

WOLFGANG RIHMÜBER DIE LINIE

Die Biographie

Die Fotos im Bildteil stammen von:

Bridgeman Images: S. 10, 14 o. (bd. Betty Freeman)

Hans Kumpf, Schwäbisch Hall: S. 5 o.

Charlotte Oswald, Wiesbaden: S. 12 u., 14 u., 16

Paul Sacher Stiftung, Basel: S. 11 (Niggi Bräuning)

Picturedesk: S. 1 (Wiesinger Telemach/SZ-Photo), 13 o. (Rolf Haid/dpa), 13 u. (Barbara Gindl/APA)

Peter Peitsch/peitschphoto.com: S. 5 u.

Privatbesitz Büning: S. 15

Privatbesitz Rihm: S. 2, 3, 4 u., 6, 9

Courtesy Studio Semotan/© Elfie Semotan: S. 12 o.

Sowie aus:

Dieter Rexroth, Der Komponist, 1985: S. 7, 8

Martin Wilkening, Komponistenporträt, 1988: S. 4 o.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2022 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Futura

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: © picture-alliance/dpa/Bernhard Schmitt

eISBN 978-3-7109-5140-4

Inhalt

Vorwort

1Sie wünschen, wir spielen

2Mit Blut geschrieben

3»ES« passiert

4Der geschockte Komponist

5Weder Goethe noch Guru

6Über die Linie

7Gezielte Verdunkelung – 25 Fragen und Antworten zum Alltag des Komponierens

Anmerkungen

Diskographie

Personen- und Werkregister

Vorwort

Wolfgang Rihm ist ein Sonderfall für die Musikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Kann man so etwas überhaupt sagen, von jemandem, der mitten im einundzwanzigsten Jahrhundert immer noch schafft, lehrt, komponiert und absolut allgegenwärtig erscheint? Darf ich so etwas sagen? Wo bleibt da die Distanz der Chronistin?

Diese Frage ist nicht unheikel, sie hat sich mir beim Schreiben laufend in den Weg gestellt. Rihm und ich, wir kennen uns seit dreiunddreißig Jahren, wir sind befreundet. Doch bevor wir uns kennenlernten, haben wir uns erst mal gezofft. Ich nannte ihn einen Epigonen, er nannte mich plemplem. Ich schrieb damals, in einer sehr hässlichen, auf lustig gebürsteten Glosse, die in der taz erschien, die Musik dieses Komponisten habe nichts Eigenes, weder Farbe noch Ausdruck, nur von allem ein bisschen. Er schrieb mir, auf einer mindestens ebenso hässlichen Postkarte, ich sei ahnungslos, womit er, wie sich bald herausstellte, zwar nicht generell, aber in diesem einen Punkt jedenfalls recht hatte. Dieser Schlagabtausch ist öffentlich dokumentiert, in einem Büchlein, das vom Festival »Heidelberger Frühling« 2012 zu Rihms Sechzigstem herausgegeben wurde. Soviel dazu.

Ein Sonderfall ist Wolfgang Rihm, weil er innerhalb der relativ kleinen Welt der zeitgenössischen Musik, die sich seit jeher aufteilte in feindliche Lager und einander ablösende Schulen, nie zu einer Seilschaft gehörte und auch keine begründet hat. Seilschaften und Richtungskämpfe gab es schon, als Bach für seine Zeitgenossen komponierte. Das gilt auch für Beethoven, Schumann, Mahler, Debussy, Busoni oder Schönberg. Rihm jedoch blieb immer Einzelgänger, so wie, zum Beispiel, auch Schubert einer war. Er ist nicht unglücklich dabei, auch alles andere als ein Eremit. Rihm ist äußerst gesellig. Mischt sich ein in aktuelle Debatten. Ist umfassend belesen, bestens informiert. Redet offen mit jedem. Hört hervorragend zu. Oft denke ich, diese einmalige, liebenswerte, eiserne Freundlichkeit Rihms kann nur ein Panzer sein, der ihm hilft, seine Unabhängigkeit und die seiner Musik zu schützen.

Rihm ist auch insofern ein Sonderfall, als er Bach oder Beethoven für Zeitgenossen hält. Seine Auffassung vom Fortschritt impliziert, dass er sich Rückblicke erlaubt, auf Augenhöhe. Das hat nichts zu tun mit Epigonentum, auch nicht mit dem alltäglichen Historismus oder der Theorie vom Ende der Geschichte. Rihms Musikbegriff schließt einfach nichts aus. Er arbeitet, im Wesentlichen, mit den Gestaltungsmitteln, die schon im späten neunzehnten Jahrhundert bereitstanden. Das Klavier, die Instrumente des klassischen Symphonieorchesters und die menschliche Stimme liefern ihm nach wie vor unendliche Möglichkeiten, sich musikalisch auszudrücken. Es gibt nur wenige Experimente mit graphischer Notation in seinem Werk, keine elektronische Musik, keine Klanginstallation. Manchmal verwendet er Tonbänder, für raummusikalische Effekte. Er ist ein begnadeter Kontrapunktiker. Ob er tonal schreibt, atonal oder völlig frei, das ergibt sich aus Rhythmus oder Melos, je nachdem. Er schreibt die Noten auf Papier, mit der Hand. Er besitzt keinen Computer. Das ist wahrlich old fashioned.

Drittens ist Rihm ein Sonderfall, weil er die Isolierstation, in die sich die neue Musik hineinmanövriert hatte, schon mit seinen ersten Kompositionen verließ. Seine Musik berührt auch Menschen, die keine Lust haben auf Avantgarde. Obgleich sie alles andere ist als einfach oder nur lieblich, gibt es ein großes, wachsendes Rihm-Publikum. Das ist ein Paradox. Einer der ersten, der bemerkte, dass es da ein Geheimnis geben muss, war der Komponist, Cellist und Rundfunkredakteur Hans-Peter Jahn. Er erklärte, Rihms Musik sei gegenüber jedem Versuch, sie zu analysieren, resistent.

Ähnlich äußerte sich Jörg Widmann, der bei Rihm studiert hat und, wie alle Rihm-Schüler, des Lobes voll ist über die Lizenz zur Freiheit, die er dort erfahren hat: „Wenn man etwas zu haben glaubt, womit man Wolfgang Rihm fassen kann, dann ist er schon längst woanders.“ Karlheinz Stockhausen, einer der Lehrer Rihms, sagte – und er sprach damit, wie stets, für uns alle: »Die musikalische Vorstellung verlangt heute nach Klängen, die noch niemand gehört hat.« Rihm sagt, und er spricht dabei nur für sich: »Ich möchte eine Musik schreiben, die man nicht erklären kann mit herkömmlichen Begriffen.« Das ist der Unterschied. Aber das ist wohl auch mit ein Grund dafür, warum buchstäblich alle, die sich bisher musikjournalistisch oder musikwissenschaftlich mit Rihms Musik befasst haben, ihre Texte mit Zitaten von Rihm pflastern. Rihm erklärt Rihm. Darin steckt zwar eine Tautologie; aber eben auch eine weitere Besonderheit: Dieser vielseitig Hochbegabte, der alles kann, nur nicht dirigieren, hat eine Menge flammender und enigmatischer Essays geschrieben.

In den letzten Jahren kamen etliche Aufsätze zu Rihm heraus, es gibt Dissertationen zu seinen Streichquartetten, zu den Opern und zum Liedschaffen. Natürlich auch jede Menge Polemiken. Aber es gab bisher keinen Versuch einer Gesamtdarstellung. Dieses Buch ist auch nicht unbedingt freiwillig entstanden. Ich traf Rihm, irgendwann Mitte der Zweitausenderjahre, mal wieder in Donaueschingen. Wie immer kam ich zu spät, und als ich zwei Minuten vor Beginn des Eröffnungskonzerts nach einem freien Stuhl suchte im vollbesetzten Saal, rief Rihm von der Empore herunter, wo er am liebsten sitzt, und winkte mich hoch. Statt, wie üblich, »Hallo, grüß Dich«, sagte er diesmal: »Ich habe eine Idee: Du schreibst meine Biographie.« Ich stimmte zu, was blieb mir auch anderes übrig. Die Zeit war knapp, außerdem brauchte ich dringend einen Platz. Ich weiß aber noch genau, dass ich dachte: »Daraus wird nichts. Er komponiert zu viel, ich schreibe zu langsam.« Nach dem Konzert kam ich aus der Sache nicht mehr raus.

Mein erster Versuch, diese Biographie zu schreiben, ist vor über zehn Jahren gescheitert. Geplant war ein schmales Buch. Weil es unmöglich ist, das Œuvre Rihms – es umfasst mehr als sechshundert Kompositionen – auch nur halbwegs vollständig zu verhandeln, geschweige denn zu erklären, schwebte mir etwas Unvollkommenes, aber Nützliches vor, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Viele Fotos, viele Zitate, ein Register, eine Diskographie. Etwas, das in jeden Turnbeutel, jede Handtasche passt und dabei hilft, sich kurz darüber zu informieren, was man da gerade gehört hat und von wem. Es ist nun doch, im zweiten Anlauf, länger geworden. Dass ich es diesmal fertig schrieb, ist einzig das Verdienst des begnadeten Lektors Stefan Mayr. Ihm schulde ich großen Dank. Noch größerer Dank geht an Wolfgang Rihm, für ungezählte Gespräche. Alle in den Fußnoten nicht nachgewiesenen Zitate gehen darauf zurück. Außerdem danke ich von Herzen Wolfgang Schaufler (vormals Universal Edition), der mich zuverlässig mit Partituren versorgt hat, sowie Felix Meyer vom Sacher-Archiv und Ulrich Mosch (vormals Kurator der Rihm-Sammlung) für die Möglichkeit, zu recherchieren. Stellvertretend für die vielen Kritikerkollegen, von deren Einwänden und Ideen ich profitierte, seien Max Nyffeler und Christian Wildhagen bedankt. Schließlich danke ich Winrich Hopp für die vielen großartig besetzten Rihm-Konzerte, die ich bei seinen Festivals in München und Berlin habe hören können.

1

Sie wünschen, wir spielen

Jedes Kind sollte in den Augen der Eltern etwas Besonderes sein. Jeder Mensch ist einzigartig. Aber nicht alle Eltern erleben, was der bildermächtige Dirigent Nikolaus Harnoncourt einmal, in einer seiner Salzburger Reden, beschrieben hat: Vater und Mutter schauen eines schönen Tages im Kinderzimmer vorbei und merken, dass da etwas nicht stimmt: »Man meinte, ein herziges, gescheites Kind zu haben und sieht unvermittelt – ein Krokodil.«1 Die Rede ist von den Eltern Anna Maria und Leopold Mozart. Ihr Jüngster war ein Hochbegabtenkind, eines von der Art, die »aus der Art« schlagen, wie man so sagt, weil sie anders spielen, Ideen aushecken, Forderungen stellen, nicht quengeln, sondern üben, nicht schreien und streiten, sondern schaffen und arbeiten, und auch noch Spaß haben dabei. Etwas Fremdes, Exotisches. Gut möglich, dass sich rund zweihundert Jahre später im badischen Karlsruhe Margarete und Julius Rihm eines Tages ähnlich erschreckt haben, über ihren Ältesten.

Wolfgang Michael Rihm kommt am 13. März 1952 zur Welt, in der Privatklinik Stich in der Eisenlohrstraße. Die Mutter, Jahrgang 1921, ist gelernte Modezeichnerin, bleibt aber Hausfrau. Der Vater, Jahrgang 1914, arbeitet als Angestellter beim Roten Kreuz, er ist Kassenleiter bei der Badischen Schwesternschaft. Das familiäre Milieu lässt sich als auskömmlich beschreiben, nicht kulturfern, aber doch alles andere als bildungsbürgerlich. Die Rihms sind katholisch. Kirchgang findet unregelmäßig statt, eigentlich nur zu besonderen Gelegenheiten, Weihnachten und Ostern. Auch der Kindergarten, den die Eltern auswählen, ist konfessionell nicht gebunden. Es handelt sich um einen Privatkindergarten, wahrscheinlich eine frühe Form des Tagesmuttermodells: Zwei Erzieherinnen hüten eine Kindergruppe in ihrer Wohnung. Diese Phase frühkindlicher Gemeinschaftssozialisation dauert nur ein halbes Jahr, dann werden alle Kinder nach Hause geschickt, der Kindergarten schließt und der kleine Rihm bleibt fortan, bis zu seiner Einschulung, daheim bei der Mutter, zu der er zeitlebens ein inniges Verhältnis hat – das zum Vater bleibt kühler, wird konfliktreicher. Einzig im Gedächtnis geblieben aus jener Zeit »bei den Damen« ist eine Theateraufführung, darin er etwas über einen Hirsch aufsagen und mit den Händen ein Hirschgeweih anzudeuten hatte: »Wofür ich sehr gelobt worden bin.« Dieser Auftritt muss einen bleibenden Eindruck in der Familie hinterlassen haben. Den Vers zum Hirsch weiß sogar noch Wolfgangs kleine Schwester, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geboren war, heute immer noch auswendig: »Wer kommt da aus der Höh’ herbei? Es ist der Hirsch mit sei’m Geweih!«2

Eigentlich spielte die musische Erziehung keine große Rolle in der Familie. Eine Ausnahme waren die sonntäglichen Museumsbesuche. Dann pflegte der Vater den Sohn, statt in die Kirche, in die Karlsruher Kunsthalle mitzunehmen, um gemeinsam mit ihm Bilder zu betrachten und zu besprechen, was nicht ohne Folgen bleiben sollte. Besuche in der Kunsthalle wurden Wolfgang Rihm zur lieben Gewohnheit, solange er in Karlsruhe bei den Eltern wohnte, also bis 1971, aber auch später wieder, als er zurückkehrte nach Karlsruhe, um dort seine Kompositionsprofessur anzutreten: nach 1985. Alles in allem hat Rihm seine Vaterstadt nur für wenige Jahre, ja eigentlich niemals richtig verlassen, auch wenn er viel reiste und Zweitwohnungen unterhielt, in Köln oder in Berlin. Er ist nun einmal ein Karlsruher und nicht irgendeiner, sondern für die anderen Karlsruher auch eine Institution. Jeder Taxifahrer kennt und grüßt ihn. Was die Affinität zur bildenden Kunst anbetrifft, so besucht Rihm auch überall anderswo auf der Welt, wo immer ihn seine Musik hinführt, die Museen und Galerien. Diese ihm früh vom Vater eingepflanzte Leidenschaft wird eine Konstante in seinem Leben, Freundschaften entstehen daraus, zwei Ehen. Sie schlägt sich vielfach nieder in seinen Schriften und vor allem: in seinen Kompositionen.

Theater und Literatur dagegen spielten im Familienleben der Rihms eine eher untergeordnete Rolle. Gesungen wurde so gut wie nie, kein Elternteil musizierte aktiv. Dabei hatte die Mutter eigentlich »relativ gut« das Klavierspiel erlernt, sie führte ihre Kenntnisse auch manchmal bei Besuchen in der Verwandtschaft vor, wenn dort ein Instrument herumstand. Margarete Rihm, geborene Häußer, stammte aus einer musikalischen Familie. Ihr Vater hat sogar gelegentlich komponiert. Friedrich Häußer, ein aktiver Freizeitmusiker, spielte die Trompete, er leitete auch die Blaskapelle des Musikvereins Knielingen, für die er Stücke schrieb, Märsche, Tänze und Potpourris. Allerdings komponierte Häußer nicht in Partitur, er hatte das absolute Gehör und notierte alles direkt für die transponierenden Stimmen. »Das könnte ich nicht«, sagt Wolfgang Rihm anerkennend, als er diese Geschichte von seinem Großvater erzählt. Und zeigt dazu ein Erinnerungsstück vor: eine 45er-Vinyl-Platte, Privatpressung mit handschriftlichem Etikett. Ein Marsch namens »Gruß aus Karlsruhe«, komponiert »von Herrn Friedrich Häußer«, gespielt vom Knielinger Blasorchester unter Leitung des Komponisten. Der Flyer dazu kündet: »Viertes großes Wunschkonzert, am 31. Oktober 1959, in der Turnhalle. Sie wünschen, wir spielen. Alle Freunde der Volksmusik sind hierzu herzlich eingeladen. Unkostenbeitrag DM 1.«

Rihm ist zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt, er geht in die Weinbrenner-Grundschule. Außer Lesen, Schreiben, Rechnen lernt er außerdem das Notenlesen in der Blockflötenklasse von Frau Bender-Streit im Karlsruher Konservatorium. Ist bis dato immer noch wohlbehütetes Einzelkind, doch im November 1960 kommt die jüngere Schwester Monika Margarete Elisabeth dazu: ein Schwesterchen, zum Beschützen, zum Liebhaben. »Das fand ich lustig. Aber so richtig wahrgenommen habe ich sie eigentlich nicht.« Der Altersunterschied von achteinhalb Jahren ist am Ende zu groß, als dass von einer gemeinsamen Kindheit gesprochen werden könnte. Monika Rihm erinnert sich, dass ihr der Bruder wie ein drittes Elternteil vorgekommen sei. Sie war stets »die Kleine«, alle anderen waren groß. Wolfgang war ganz besonders groß. Körperlich überragte er schon im Kindergarten die Gleichaltrigen, und so ist das auch geblieben: Rihm ist hochgewachsen, breitschultrig, mit einem ausgeprägt runden Schädel. Eine große Gabe, wie sie dieser Knabe, der bereits zwölfjährig in den Stimmbruch kommt, mit sich herumträgt oder, besser gesagt: von der er getragen wird und getrieben, verlangt offenbar nach einem großen Gehäuse. Es gibt, sagt Rihm heute, Erinnerungen daran, dass er schon sehr früh ahnte oder vielleicht sogar wusste, er verhalte sich anders als die Spielkameraden. »Nicht besser, das nicht! Nur eben anders.« Auch dass seine Eltern öfter in Sorge waren deswegen, hat er mitgekriegt. »Aber man macht sich als Kind keine Gedanken darüber, man wächst da so hinein. Trotzdem muss ich sagen: Meine Eltern haben mich immer gefördert in dem, was ich wollte.« Eine glückliche Komponistenkindheit also, alles in allem.

Es ging los mit dem Wort: mit Gedichten und Geschichten. Der kleine Wolfgang, kaum dass er laufen konnte, erfand Reime, die die Mutter aufschreiben musste. Der Vierjährige zeichnete, malte und wünschte sich einen Ölmalkasten, den er prompt bekam. Verlangte nach Musik und erhielt zum fünften Geburtstag die Blockflöte, mit acht Jahren dann ein Klavier, das budgetsprengend hundert Mark kostete und von der Großmutter finanziert wurde. Kaum hatte er gelernt, einen Ton an den nächsten zu reihen, dachte er sich eigne Musikstücke aus, kaum kannte er die Notenschrift, schrieb er die Stücke auf. Noch war das nichts weiter als »die Äußerung eines ganz normalen knäbischen Expansionsdranges, alles selbst zu machen« (Rihm).3 Im Rückblick, seitens der Universal Edition, die das riesige Œuvre Rihms heute verlegt und verwaltet, liest sich das anders: »Wolfgang Rihm hätte Dichter oder Maler werden können. Er ist Komponist geworden, er teilt sich durch Töne mit.«4

Ja, er hätte vielleicht auch Filmemacher werden können oder 4-Sterne-Koch oder Karikaturist, Sommelier, Architekt oder Philosoph oder auch nichts von alledem. Sogar Priester zu werden hatte Rihm eine Zeitlang vorgehabt: Irgendwann, »so mit dreizehn, ach, eigentlich noch davor, zwischen acht und elf Jahren«, damals habe er den Seinen daheim die Messe gelesen, »was sicherlich viele Buben tun oder damals zumindest sicherlich viele taten«.5 Rihm erinnert sich zurück, in einem langen biographischen Gespräch mit Rudolf Frisius, im Jahr 1985 – es ist das Jahr, in dem er seine Professur antritt, in Karlsruhe, er ist dreiunddreißig. Und, ein andermal, im Gespräch mit Max Nyffeler, da ist er fünfundsechzig: »Das erste größere Stück, das ich als Kind schreiben wollte, war eine Messe. Mit zwölf kam ich in den Karlsruher Oratorien-Chor und habe da all diese Sachen kennengelernt. Und da wollte ich gleich so etwas schreiben.«6 Der Priester-Plan hatte sich dann rasch wieder verlaufen, vermutlich, weil die Eltern dem Sohn ausnahmsweise mal einen Wunsch abschlugen: Er durfte nicht Ministrant werden, es hätte ihn, meinte der Vater, abgelenkt von seinen ohnehin schon vernachlässigten Schulpflichten.

Später, im Gymnasium, als sich ringsherum die Mitschüler politisierten und das Thema Kirchenaustritt aktuell wurde, hielt sich Rihm zwar zunächst heraus. Seine damalige Freundin Andrea Schellinger, die ihn offenbar gut kannte, sagte dazu: »Gell, du willst es dir am Ende nicht mal mit dem lieben Gott verderben?« Doch als Student, wiederum ein paar Jahre später, trat er dann ganz offiziell aus der katholischen Kirche aus. »Wenn etwas religionsfähig an mir war«, so sein lässiger Kommentar, 1985, in besagtem Gespräch mit Rudolf Frisius, »dann war es eine gewisse Anfälligkeit für Inszenierung oder Aufnahmefähigkeit von inszenierter Erhebung. Aber sicherlich nicht die Auseinandersetzung mit einem als persönlich erfahrenen Gott.«7 Womit die Glaubensfrage nicht ein für alle Mal erledigt gewesen war. Was sich ablesen lässt an einer Fülle von religiösen und spirituellen Musiken, die Wolfgang Rihm komponiert, und Debatten darüber, auf die er sich eingelassen hat, zeit seines Lebens. Es sind echte Kirchenmusiken darunter, kleine und größere Chorstücke. Die meisten sind allerdings für den Konzertsaal bestimmt, den Sakralbau der Moderne.

Einige der Rihmschen Kirchenmusiken beziehen sich auf die Heilige Schrift, andere auf die katholische Liturgie. Doch hat er, seit er 1984 sein erstes größeres Oratorium komponierte, diese Texte immer wieder um weltliche ergänzt beziehungsweise erweitert, in denen Glaubensfragen kommentiert oder gar Zweifel angemeldet werden in Bezug auf die Dogmen der Kirche. Christliche Kernthemen wie Passion und Auferstehung werden hinterfragt, Trostrituale überprüft. Es geht in Rihms geistlichen Werken allemal um die Rolle des tätigen Menschen, den »Homo politicus«, jetzt und heute. 2017 wurde er für dieses »besondere Schaffen im Horizont geistlicher Musik« mit dem Preis der Europäischen Kirchenmusik ausgezeichnet. Die Preisverleihungsfeier im Heilig-Kreuz-Münster in Schwäbisch Gmünd wurde mit Musik von Bach und Mozart gerahmt, außerdem gab es drei Kirchenmusiken Rihms zu hören: ein Jugendwerk für Orgel, eine politische Auftragskomposition aus mittleren Jahren sowie eine späte Kantate, in der es um den Gottesbegriff geht. Zwei davon haben einen nachweisbar biographischen Bezug: In »Toccata, Fuge und Postludium« verarbeitete der zwanzigjährige Rihm ein Thema seines verehrten Kompositionslehrers Eugen Werner Velte. In den 2005 zur Einweihung des Berliner Holocaust-Denkmals entstandenen »Memoria. 3 Requiem-Bruchstücke« tritt er dann selbst auf, in Gestalt einer Knabenstimme: In diesem Auftragswerk rahmen Verse der ins Exil entkommenen jüdischen Dichterin Nelly Sachs, vertont für Altstimme, Chor und Orchester, einen Mittelsatz, in dem zu der Frauenstimme noch eine helle Knabenstimme hinzutritt. Alle miteinander singen, mit geöffnetem Mund, textlose Vokalisen: ein zerbrechliches Klagelied, das eingekreist und bedroht wird von vier in Entfernung (»sehr fern – weit weg – von allen Seiten«) aufgestellten Schlagzeuggruppen und sich zu einem blechbläserverstärkten Geschrei steigert. Diesen Satz hatte Rihm ursprünglich zehn Jahre vorher komponiert, »Communio – Lux aeterna« genannt und als solches beigesteuert zu dem Stuttgarter »Requiem der Versöhnung zum Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs«. Vom Dirigent der Uraufführung, Helmuth Rilling, befragt, ob nicht statt der Knabenstimme auch eine weitere solistische Frauenstimme verwendet werden könne, erwiderte Rihm: »Nein. Ich selbst habe den Krieg nicht erlebt, aber meine Mutter – und ich bin der Knabe.«8

Das dritte Kirchenmusikwerk schließlich, das zur besagten Preisverleihung in Schwäbisch Gmünd aufgeführt wurde, heißt »Maximum est unum«. Im Jahresbericht des an dieser Feier beteiligten Bachchores Stuttgart heißt es dazu: In diesem Werk aus dem Jahr 1995, von dem gleich noch die Rede sein wird, habe Wolfgang Rihm überhaupt zum ersten Mal das Wort »Gott« (Deus) vertont. Das ist nicht ganz richtig.

Die ersten fünf Motetten zum Thema Passion schrieb Rihm schon mit sechzehn: »Fragmenta passionis«. Auch Teile der katholischen Totenmesse hatte er bereits wiederholt verarbeitet. Gleich dreimal verkomponierte er die Klage der Mutter Gottes am Fuße des Kreuzes, eine Sequenz, die auf ein mittelalterliches Fürbitten-Strophenlied zurückgeht. Das erste dieser »Stabat Mater« entstand noch in der Pubertät, das zweite komponierte er als Mann in den besten Jahren, achtunddreißigjährig, zur Jahrtausendwende, für eine eingedunkelte Pergolesi-Besetzung, Mezzosopran und Alt, die einander schwesterlich umschlingen, in langen Melodiebögen, plus tiefen Streichern und Harfe. Ein drittes »Stabat mater« widmete er dann im zweiten Coronajahr 2020 dem Bariton Christian Gerhaher und der Violavirtuosin Tabea Zimmermann. In dieser Duo-Version, die alle zehn Strophen der Sequenz in Musik setzt, sind deutliche Erinnerungen an die jahrhundertealte Renaissance-Tradition eingeschlossen. Vertraute rhetorische Formeln der Exklamatio, der Klage, Angst und Trauer tauchen in beiden Stimmen auf. Sie werden jedoch nicht einträchtig parallel geführt, sie arbeiten auf verstörende Weise gegeneinander. Anfangs noch Stützakkorde für die Singstimme liefernd, verfolgt die Viola die weit ausgreifende Suada des Sängers zugleich rhythmisch versetzt, mit komplex verhakten Doppelgriff-Melodienlinien, wie ein Schatten. Oder: wie ein Fluch. »Es ist sehr viel ICH in diesem von einem Mann gesprochenen Text«, sagte Gerhaher dazu vorab im Interview: »Und das hört man bei Rihm sehr stark.«9

1984 beginnt Rihm mit der Arbeit an seinem ersten großen Requiem-Projekt – ein Auftragswerk des Landes Rheinland-Pfalz. Er widmet das Stück Luigi Nono, die Uraufführung findet in Wien statt, Lothar Zagrosek dirigiert. Verarbeitet werden Texte sowohl aus der Vulgata als auch aus dem Graduale, Rihm hat sie freilich, wie er es nennt, »entgottet«, das heißt: »vom Gottesbegriff befreit«. Die Leerstellen werden mit Worten von Leonardo da Vinci gefüllt, entnommen der Schrift »De metallis«, in der da Vinci vor einem der ältesten Götzen warnt, dem die Menschheit jemals Sinn und Verstand geopfert hatte: dem Gold. Auch aus dem Titel dieses luxuriös mit Solistenquartett, zwei Sprechern, Chor, Kinderchor und Orchester besetzten Oratoriums entfernte Rihm den Verweis auf Gott: Statt »Dies Irae« – »Tag des Zorns« nennt er die berühmte Requiem-Sequenz über den Tag des Jüngsten Gerichts schlicht »DIES« – »jener Tag« oder vielmehr »jener Termin«, an dem »nur noch der Mensch schuld« sei: »Deswegen auch kein Richter, der von oben kommt, um zu richten.«10 Allerdings: In den Versalien ist die Erinnerung an IHN wohl doch noch anwesend.

Mitte der Achtziger nahm Rihm den Jüngsten Tag abermals ins Visier. Grundlage dieses Werks, das den Titel »Andere Schatten« erhält, ist die bizarr-romantische, bitter-zynische »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei« aus dem Siebenkäs-Roman von Jean Paul – und der Name des Herrn taucht darin mannigfach auf. Auch dieses Stück ist oratorienreif reich besetzt. Doch ist es, zwischen zwei großen Opernwerken entstanden, ganz anders angelegt als die vorhergegangenen Sakralwerke, nämlich opernhaft. Rihm selbst hatte im Autograph vorgeschlagen, dieses Stück könne man auch für die Bühne adaptieren. Zehn Jahre später, Mitte der Neunziger, schreibt er dann die bereits erwähnte Kantate »Maximum est unum« im Auftrag der Neuen Bachgesellschaft. Turnusmäßig feierte die ihr 71. Bachfest in Freiburg im Breisgau, die Uraufführung im November 1996 im Münster wurde dirigiert von Hans Michael Beuerle, Silke Marchfeld sang das Alt-Solo, es begleitete das Freiburger Barockorchester nebst dem Freiburger Anton-Webern-Chor – eine damals immer noch ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen zwei Spezialensembles für Alte und Neue Musik. Und der ZEIT-Kritiker Heinz Josef Herbort, ein studierter katholischer Theologe, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits vom Saulus zum Paulus gewandelt hatte, was Rihmsche Kompositionen anging, schrieb dazu eine erstaunlich einvernehmliche Kritik, in der unter anderem die Rede davon war, dass die »Sicherheit des Glaubensfundaments« in Klang umgesetzt worden sei. Grundlage des Werkes ist die Meister Eckhart zugeschriebene Dichtung vom Senfkorn: »In dem begin/ho uber sin/ist ie daz wort« – »Am Anfang (zu hoch, um es zu begreifen), ist das Wort«. Dieses ins Hochmittelalterliche transportierte Genesis-Zitat wird von Rihm weder fragmentiert noch klanglich übermalt. Es ist vielmehr frei, mit einem langen Atem und in schön und hoch geschwungenem Melodiebogen, von der Altstimme vorzutragen, der zwei gemischte Chöre mit Vokalisen gegenüberstehen, dazu eine Gruppe aus vier Sopranstimmen, die gemeinsam mit vier Flöten und drei Trompeten von der Orgelempore aus agieren. So lautet jedenfalls die Empfehlung des Komponisten; aber auch alle anderen Stimmgruppen, so der Vorschlag Rihms, können optional räumlich gestaffelt werden, was bei der Aufführung im Kirchenraum des Freiburger Münsters auch realisiert wurde und einige Rezensenten der Uraufführung auf die Idee brachte, von venezianischen »Fernchören« zu schreiben, à la Nono.

In den Chorpartien von »Maximum est unum« trifft die Mystik Meister Eckharts auf lateinische Texte des Theologen Nicolaus Cusanus, die, obgleich nur wenig später entstanden, von neuzeitlichem Denken geprägt sind. Von diesem Widerspruch lebt die Musik. Wolfgang Rihm seinerseits hatte im Programmbuch der Uraufführung nicht nur bereitwillig Auskunft über die Textexegese gegeben, er sprach auch über persönliche Motive im Umgang mit den biblischen Texten: »In diesem Text ließ ich wie Intarsien diese monolithischen Sätze aus Cusanus und Meister Eckharts lateinischen Schriften ein. Da aber das Granum Sinapis eine ganz aus dem Einverständnis heraus artikulierte Aussage von ganz anderer Haltung als das Buch Hiob ist, gab es für mich nun keine Rechtfertigung mehr, den Passus Duriusculus, die Chiffre für Leid, persönliche Wirrsal, Kampfsituationen, in meine Komposition zu integrieren. Durch die Arbeit an diesem Stück habe ich Erfahrungen gemacht, die ich nicht erwartet habe, die mich auch überrascht haben, auch in Bereiche geführt haben, die ich, wie ich jetzt weiß, bisher verschlossen hielt, aus welchen Gründen auch immer.«11

Zur Jahrtausendwende komponierte Rihm eine veritable Passion, wiederum im Auftrag Helmuth Rillings und der Gächinger Kantorei. Rilling hatte ein Vier-Passionen-Projekt ins Leben gerufen, neben Rihm beteiligten sich daran die Komponistin Sofia Gubaidulina sowie Osvaldo Golijov und Tan Dun. Rihm wählte für seinen Beitrag, das Oratorium »Deus Passus«, als Vorlage die protestantische Lutherübersetzung des Evangeliums nach Lukas, weil es, wie er sagte, der am wenigsten antisemitisch eingefärbte Text sei: »Die anderen Evangelien wären für mich, als deutscher Komponist, niemals gestaltbar gewesen.«12 Dieser Text wird außerdem erweitert. Wiederum kreuzt Rihm in seinem selbst zusammengestellten Libretto andere biblische und liturgische Texte ein und überblendet sie mit heutiger Dichtung. Auszüge aus dem Buch Jesaja und Messtexte der Karwoche – darunter das »Stabat Mater« – werden, in einem quasi offenen Schluss, konfrontiert mit der scharfen Anklage des »Tenebrae« aus dem Sprachgitter von Paul Celan von 1959. In dialektischer Volte wird die Passionsgeschichte Christi so mit den Verbrechen und Leiden konfrontiert, die sich die Menschheit selbst zufügte im zwanzigsten Jahrhundert. Ein schleppendes, zäh und langsam verlöschendes Lamento. Celans Verse vollziehen einen Rollentausch zwischen Gott und Mensch: »Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah.« Ein Choral im A-cappella-Stil, grundiert nur von punktuellen Echos von Flöte oder tiefen Streichern oder dem Donnergrollen der Pauke. Und wieder ganz neu und anders fällt der vielgesungene, ja allseits bei Chören und Publikum beliebte Motettenzyklus der »Sieben Passions-Texte« aus. Rihm schreibt ihn nach und nach, Stück für Stück, ab 2001, er lässt darin die Satzkünste der alten Meister noch einmal lebendig werden und überführt sie in die Gegenwart, in sieben meditativ-subjektiven Nachtwachen-Texten zur Karwoche. 2006 erweitert Rihm diesen Zyklus, er ergänzt die Motetten durch instrumentale Espressivo-Zwischenspiele. Orgel, Schlagwerk und Posaunen melden sich zu Wort, Horn und Klarinette mischen sich ein aus der Ferne, postiert im Raum. Und ein neu hinzugefügtes viertelstündiges Miserere beendet diese »Vigilia«, auf der Stelle schwebend, schmerzvoll, pausendurchweht.

Und noch drei weitere Kirchenmusikwerke Rihms sollten in diesem vorauseilenden Exkurs unbedingt erwähnt werden. 2007 schreibt er erneut eine große, dunkel verschattete Chorkantate, komponiert im Auftrag der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität, die damit ihr Bestehen seit 550 Jahren zu feiern gedachte. Rihm hatte in der Süddeutschen Zeitung den Hinweis auf Kurt Flaschs Übersetzung der Gottesdefinitionen aus dem Buch der vierundzwanzig Philosophen des obskuren spätantiken Hermes Trismegistos gefunden: Auf vierundzwanzigfach verschiedene Weise wird die Frage beantwortet: »Quid est Deus?« – »Was ist Gott?« Rihm vertont die Definitionen, dazu vierundzwanzig Incipits. Er habe, schreibt Rihm im Werkkommentar zu dieser seiner »Cantata Hermetica«, die Klangsphäre diesmal »nicht primär subjektiv« angelegt. Ein schattiges Stück, freitonal, das von den Bratschen angeführt wird. Es fehlen aber nicht nur die Violinen, es fehlen auch die Klarinetten und Hörner, die »Garanten schimmernder Klangweichheit« (Rihm). Solistisch tritt die spitzige Oboe aus den Schatten dieses Diskurses hervor, Blechbläserflächen breiten sich aus, dazu Schlagzeug, Harfe und Klavier, klangmalerisch stellt sich die Musik wiederum in die Tradition der barocken Figurenlehre. Der Dirigent Sylvain Cambreling, der das Werk in Freiburg zur Uraufführung brachte, bemerkte über das auffallend ungeschmeidige Klangbild (»ohne Brahmsklang«) hinaus eine irritierende Ambivalenz der mit Konsonanz und Dissonanz spielenden Harmonik: »Für mich war der Gedanke relativ früh da, dass das Stück in sich eine Frage ist, und zwar, was harmonisch und was unharmonisch ist, bis zum letzten Ton. Es fängt doch an mit einer reinen Oktave. Aber es endet nicht mit einer reinen Oktave, es endet auf einem Ton mit verschiedenen Nebentönen.«13 Die Instrumente stellen die Fragen, der Text, vom Chor skandiert, antwortet: »Gott, das ist die Monade, die eine Monade erzeugt und sie als einen einzigen Gluthauch auf sich zurückbeugt« – so lautet die erste Antwort. »Gott, das ist die Finsternis in der Seele, die zurückbleibt nach allem Licht«, lautet die einundzwanzigste. Auf das Stichwort »Licht« hin baut sich aus einem Crescendo heraus ein gewaltiges zwölfstimmiges Cluster auf, ein spektakulärer Effekt, der an Haydns Schöpfung erinnert. Und die letzte, vierundzwanzigste Antwort der Philosophen in »Quid est Deus« lautet: »Deus est lux quae fractione non clarescit, transit, sed deiformitas in re« – zu Deutsch: »Gott, das ist das Licht, das ohne Brechung leuchtet. Es kommt herüber. Aber in den Dingen ist Gottförmigkeit.«

Heute antwortet Rihm auf die Frage, wie er es mit der Religion halte, immer noch ausweichend, mit einem Wortspiel: »Bin ausgetreten. Aber ich stehe der Sache nicht fern.« Er wird ja auch jedes Mal wieder, wenn er ein neues kirchenmusikalisches Stück vorlegt, zum biographischen Kontext und den persönlichen Motiven interviewt. Im Kontext der Uraufführung von »Deus Passus« antwortete er auf die Gretchenfrage, unwirsch: »In dem Maße, wie sich die Frage zeitlebens stellt und niemals beantwortet werden kann, bin ich gläubig.« In Bezug auf die im November 2009 in der Kölner Philharmonie uraufgeführte Requiem-Vertonung »Et Lux« zog er sich zurück auf einen objektivierbaren Prozess der Anamnese: Er habe sich dieser Splitter aus der Liturgie der Totenmessen fragmentarisch beim Komponieren erinnert, weil er in seiner Kindheit und Jugend nun einmal viele Requien im Chor mitgesungen habe. Jedoch: Der »musikalische Klangstrom« sei die eigentliche Hauptidee gewesen beim Komponieren, oder vielmehr die Bewegung des »vokalen und instrumentalen Melos«.14 Kein »Vorstoß ins Jenseits« also ist diese, vielmehr ein musikalischer Rückblick. Keine Reproduktion, auch keine Imitation der Musik der Alten. Und doch gemahnt die Linienführung der Streicher an den Sound eines Gambenconsorts, die kontrapunktisch verwobenen Stimmen der Sänger an versunkene Motettenkunst. Schließlich, als Wolfgang Rihm dann im März 2017 seine »Requiem-Strophen« herausbrachte, an deren Uraufführung er selbst krankheitshalber nicht teilnehmen konnte, spitzten die Reporter die Gretchenfrage abermals zu. Dieses Werk ist ein großer, romantisch-theatralischer Wurf, ganz anders geartet als das intime »Et lux«. Rihm wendet sich an die Öffentlichkeit, er stellt sich geradezu bekenntnishaft repräsentativ in die Tradition des großen romantischen Requiem-Repertoires. Man könnte ein Suchspiel veranstalten: Wo erinnert die Musik an Mozart, wo folgt sie textlich Brahms, wo ergänzt sie ihn, wie spielt sie mit Verdi, was lässt sie aus von Berlioz, was borgt sie sich von Fauré? Und wo schließt Rihm, in der meisterhaften kontrapunktischen Linienführung, der unerschöpflichen Melodieerfindungskunst, direkt an Rihm an? Die Sopran-Soli sind zwei tollen, erfahrenen Rihm-Sängerinnen, Mojca Erdmann und Anna Prohaska, direkt auf die luxuriösen Stimmen komponiert, sie beginnen mit dem Jesaja-Text vom welkenden Gras. Bariton Hanno Müller-Brachmann singt drei in die Requiem-Fragmente interpolierte Michelangelo-Sonette. Wunderlich zärtlich und zuversichtlich singt der Chor des Bayerischen Rundfunks das choralartige Finale nach Versen von Hans Sahl. Die Uraufführung der »Requiem-Strophen« unter Leitung von Mariss Jansons im Herkules-Saal der Residenz wurde im März 2017 beinahe zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Die Münchner Abendzeitungärgerte sich darüber, wie der »saubere Krankenhaustod als Staatsbegräbnis« zelebriert worden sei: »Die Frage nach dem Absoluten und Jenseitigen mutete der rücksichtsvolle Komponist sich und den Zuhörern nicht zu. Den wahren Rihm hinter den vielen Masken werden wir nie kennenlernen.« Die Süddeutsche Zeitung dagegen raunte: »So führte Wolfgang Rihm seine Hörer an die Geheimnisse des Todes heran. Um ganz am Ende den Tod als Freund zu begrüßen.« Rihm nahm es gelassen. Er hatte jedem, der es hören wollte, geduldig schon im Vorfeld erklärt, dass er dieses Requiem nicht für sich selbst komponiert habe, vielmehr sei es als ein Auftragswerk der Münchner BR-Serie »Musica Viva« schon lange vorher konzipiert und geschrieben worden, bevor er sich seines Tumors wegen unters Messer legen musste und ins Krankenhaus kam. Und gab, vom Schweizer Tagblatt nach diesem »persönlichen Schicksalsschlag« befragt, zu Protokoll: »Ich erfreue mich, trotz Einschränkungen, einer guten Lebensqualität. Der Mensch ist ein Wunder! Bei mir war es vor allem eine Art Ergebung. Aber das ist etwas sehr Privates, das ich nicht als Regel oder Lebenshilfe herausposaunen kann. Da muss jeder selbst entscheiden, wie er damit umgehen will. Was Gott betrifft: Man schließt ja jeden Tag fünfzigmal mit ihm oder mit dem Göttlichen ab, dann fängt man wieder an – und er macht es wahrscheinlich genauso.«15

Auch von Karlheinz Stockhausen, bei dem er nach dem Abitur und nach Abschluss des Karlsruher Hochschulexamens noch einmal zwei Semester lang in Köln studierte, von 1972 bis 1973, hatte sich Rihm wiederholt fragen lassen müssen, wie er es mit der Metaphysik halte: »Alles, was ich von Ihnen, über Sie gelesen habe, zeigt mir ein gebrochenes Verhältnis zu Gott. Das spürt man auch deutlich in Ihrer Musik. Vielleicht wollen Sie zuviel? Zuviel Sich-Selbst?«, schreibt Stockhausen an Rihm. Dass ein guter Komponist nicht gottlos sein könne und dürfe, war eine der Stockhausenschen Grundgewissheiten, sie zieht sich als stiller Vorwurf durch den Briefwechsel der beiden. Was Rihm jeweils antwortete, ist nicht aktenkundig.16

Als er noch ein Knabe war und Priester werden wollte, war es zunächst die Kirchenorgel gewesen, die ihn gefangen genommen hatte, mit den farbenreichen Möglichkeiten ihrer Klangfülle. Eine Orgel ist vielstimmig, prächtig, mächtig, überwältigend und nicht transportabel. Sie gilt deshalb, landläufig, als die »Königin der Instrumente«. Weniger bekannt ist, dass sie auch das »Instrument der Jugend« ist.17 Viele große Komponisten vor Wolfgang Rihm, von Mozart bis Janáček, Beethoven bis Bruckner, hatten ebenfalls als Kind schon auf der Orgelbank gesessen, selbst wenn sie mit den Füßen noch nicht an die Pedale reichten. Wolfgang Rihm war immerhin elf, als er erstmals bei einem Pfarrhaus klingelte und um den Kirchenschlüssel bat, um auf der Orgel spielen zu dürfen. Das wurde ihm zuerst in den Sommerferien erlaubt, in dem kleinen Schwarzwaldort Bernbach bei Herrenalb, wo Familie Rihm öfter urlaubte. Er hat dann in den Folgejahren noch andere Kirchenorgeln der Bernbacher Umgebung ausprobiert, hat phantasiert und improvisiert. Einmal, so erinnert er sich, wiederum in Bernbach sei es gewesen, wurde ihm der Strom abgestellt, weil sich Nachbarn über den Lärm beschwerten. Ein andermal, in Baiersbronn, schenkt ihm ein Kurgast, dem das Orgelspiel des Knaben gefallen hat, zwei Mark. »Das war das erste Geld, das ich mit Musik verdient habe!«

Die ersten Kompositionen Rihms sind überliefert aus seinem elften, die ersten Werke für Orgel aus seinem vierzehnten Lebensjahr. Da war er längst auch daheim in Karlsruhe schon in diversen Kirchen unterwegs. Er verbrachte viel Zeit in Sankt Konrad in der Hertzstraße, wo er improvisieren konnte, solange er wollte. Er spielte öfter in der Herz-Jesu-Kirche in der Grenadierstraße sowie in Durlach in Sankt Peter und Paul, und, seltener, aber besonders gerne, in Sankt Stephan auf der schönen neuen Klais-Orgel. Auch wenn er später vor allem das Ungezähmte, Autodidaktische an diesen »Orgeleien« hervorhob und betonte, er sei hauptsächlich nächtens mit sich und dem Instrument in der Kirche allein gewesen, so gibt es doch eine Reihe von Stücken, beispielsweise tonal orientierte Choralvorspiele, die entstanden sind, weil er gelegentlich auch an Gottesdiensten mitwirkte. Er hat sich also auf der Orgel rundum erprobt, hat Erfahrungen gesammelt, experimentiert. In der Erinnerung spielt Rihm die Ergebnisse ein bisschen herunter, er sprach, dazu befragt, von »Jugendsünden«: Es sei »wenig Frommes« dabei gewesen, dafür viel »dröhnend Freies, kinderhaft pompig. Orgel hatte immer etwas Lustvolles für mich, etwas tränenfroh Wildes … schulversäumnisreich.« Andererseits war gerade die Orgel für ihn ein »Ermöglichungsinstrument« für den »großen Klang«. Die Orgel ersetzte ihm das Orchester. Denn: »Wer will schon ein Orchesterwerk eines Fünfzehnjährigen aufführen? Also musste ich an der Walze drehen, bis es kracht. Mit ernsthaftem Instrumentalstudium hat das nichts zu tun. Eher mit Obsessions-Seancen.«18 Der Stephanskantor Andreas Schröder war es, zugleich sein Musik- und Erdkundelehrer am Bismarck-Gymnasium, der ihn dabei förderte und mit der symphonisch-orchestralen Wucht der französischen Orgelkomponisten bekannt machte, mit Olivier Messiaen, Maurice Duruflé und Charles Widor, aber auch mit Jehan Alain, was sich in Rihms eignen frühen Orgelstücken, zumal in den als Tondokument überlieferten Improvisationen, widerspiegelt. Er hat Schröder »in Dankbarkeit und Verehrung« auch etliche seiner frühen Choralvorspiele, Phantasien und Tokkaten gewidmet. Und der wiederum bedankte sich, indem er Rihm zum fünfzehnten Geburtstag eine Ausgabe von Schumanns »Arabeske« schenkte.

Insgesamt sind vierunddreißig komponierte Orgelwerke Rihms bekannt. Zweiunddreißig davon schrieb er im Alter von vierzehn bis achtzehn. Erst vor Kurzem wurde dieses Notenkonvolut vom Leipziger Organisten Martin Schmeding aus dem Dornröschenschlaf im Basler Rihm-Archiv der Sacher Stiftung erlöst und erstmals eingespielt. Blockhaft schroff steht da Zartes neben Wildem, schon in der »1. Phantasie in e-moll« von 1966. Sie beginnt mit einer kraftvoll punktierten Intrada-Fanfare, trumpft auf mit irrem Passagenwerk, greift chromatisch weit aus und landet unverhofft in knallhartem Dur. Kaum ein musikalischer Gedanke, der nicht mit einem Ausrufezeichen daherkäme. Eine Prise Reger blitzt darin auf. Seine »3 Fantasien« von 1967 widmete Rihm dem Gedenken an Jehan Alain, der ihn beeindruckte mit exzentrischen Klangideen, modal inspirierter Harmonik. Die »Aria variata I«, Jahre später entstanden, spricht von der Beschäftigung mit Schönberg. In »Parusie für große Orgel op. 5«, einer malerischen Erdbebenmusik, die von der Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag berichtet, erprobte Rihm dann 1970 heftig auffahrende Espressivo-Gesten, krachende Cluster, knurrende Klangmixturen und Töne wie von zersplitterndem Glas, an György Ligeti erinnernd. Als das Stück am 23. Mai 1971 in der Auferstehungskirche Freiburg-Littenweiler öffentlich aufgeführt wurde, verfasste Rihm dafür eine seiner ersten Programmheftnotizen. Er schrieb: Der »Tenor des Stückes« sei zwar »religiös angelegt«. Jedoch: »Am besten, man löst sich von all diesem Ballast und hört ein Stück, bewusst aus der großen, spätromantischen Orgeltradition und dem Vorbild besonders Messiaens entstanden. Ich glaube, dass diese Angabe der Inspirationsquellen am besten zum Verständnis der Expressivität dieses Stückes führen – und Expressivität, fast um ihrer selbst willen, ist doch das Hauptanliegen dieses Orgelstücks.« Und fügte später, im Gespräch, hinzu: »Da wusste ich, wie Komponieren geht.«19

Martin Schmeding, der im Sommer 2019 eine Record-Release-Party bestritten hat, live am Originalschauplatz in Karlsruhe, in Sankt Stephan, hat diesen Satz überliefert. Schmeding ist, als Organist, zutiefst überzeugt davon, dass die Grundlagen zu Rihms Personalstil hier gelegt worden sind. Die Orgel ist für ihn der Ursprung: das A und O. Hier, in seinen nächtlichen Exzessen, aus der Improvisation heraus, habe Rihm sich das »freie Komponieren« erobert, frei von Systemen und Vorschriften. »Hier klingen«, schreibt Schmeding, »schon viele Dinge an, die den späteren Komponisten ausmachen: das Ausloten von Extremen, die besondere Intensität und Expressivität, das Suchen nach Klängen, durchaus greifbar und sich sowohl prozessartig als auch eruptiv umwandelnd.«20 Ohne Zweifel ist damit einer der wichtigen Aspekte des Rihmschen Komponierens benannt, wenn auch nicht alle. Die Melodie, die Transzendenz der Menschenstimme und die der Instrumente, das Überschreiten der Linie, das Übermalen der Bilder, die Kontrapunktik – es gibt noch viele andere Momente, die eine Rolle spielen in seiner Musik. Schmedings Initiative ist es übrigens auch zu danken, dass ein Tonband mit Orgelimprovisationen Rihms aus dem Archiv ans Licht fand und digital aufbereitet werden konnte. So kamen 2019 zu den vierunddreißig schriftlich fixierten, aus der Improvisation heraus entstandenen Orgelwerken noch einmal vierzehn nicht notierte Improvisationen hinzu, die ebenfalls auf CD veröffentlicht wurden. Und die lassen einige Rückschlüsse darauf zu, wie »das Komponieren« geht.

Rihm ist achtzehn, als er beim Improvisieren an der Scherpf-Orgel in Sankt Peter und Paul ein Tonband mitlaufen lässt. Er benutzt dazu ein Monogerät und spricht kurze Ansagen zwischen den Stücken, die er spielt. Er sagt: »Variationen über ein Barock-Thema«, zum Beispiel, worauf eine Variationenfolge über das bewährte Follia-Thema anhebt, mit wunderlichen Mixturen und abrupten Registerwechseln. Oder: »Toccata über BACH«. Die erschließt sich gewaltsam den gesamten Tonraum, aus schwarzen Bassregionen bis in höchste Sphären, zerklüftet von im Fortississimo gehämmerten Dissonanzen, und flüchtet sich am Ende, nach sechsminütigem wüstem Toben, in eine ferne, kleine, in Einzeltöne sich auflösende Melodie. Die Länge der Improvisationen variiert zwischen dreieinhalb und knapp sechzehn Minuten. Extrem ausgestellte Brillanz wechselt mit extrem zurückgenommener Innerlichkeit. Tonales weicht Atonalem, Bitonales taucht auf, Zwölftöniges, Serielles. Starke dynamische Kontraste, wild dreinschlagende Akkordballungen und irisierende Pianissimopassagen wirken aufrührerisch und empfindsam zugleich. Und ganz erstaunlich virtuos spielt dieser junge Organist, in seinem Sturm und Drang.

Die Leidenschaft für die Orgel verblasste allmählich, als Wolfgang Rihm Abitur gemacht und zeitgleich sein Examen an der Karlsruher Musikhochschule abgelegt hatte. Anfang der Siebziger war die Zeit reif geworden für öffentliche Auftritte und das Aufmischen großer Symphonieorchester, für »Trakt« und »Magma«, »Morphonie« und »Dis-Kontur«. Nach 1980 hat Wolfgang Rihm kein neues Stück mehr für Orgel geschrieben – sieht man ab von dem Umstand, dass einige seiner Oratorien auf das kirchenmusikalische Idiom der Orgel nicht verzichten.

Er improvisierte allerdings nach wie vor weiter auf der Orgel, bis in die Achtzigerjahre hinein, wo immer ein Instrument verfügbar war und es seine Zeit erlaubte. In Freiburg zum Beispiel, während des Studiums, spielte er regelmäßig auf der Orgel der Universitätskirche. Das letzte Stück für Orgel-Solo, das er komponierte, ist ein musikalischer Spaß. Es erzählt mit musikmalerischen Mitteln und in bester Spötterlaune, wie es ihm einst mit dem Lieblingsinstrument seiner Kindheit in den nächtlich leeren Kirchen ergangen war. Fünfzehn Minuten dauert dieses Stück namens »Bann, Nachtschwärmerei«, das Spuk-Programm dazu wird mit den Noten mitgeliefert: »Einer erstarrten Suite gleich folgen folgende frierende Skelette: ein eintöniges, einleitendes Viertonstück, ein Misterioso (Klagerufe aus der Krypta; war da nicht eben etwas, oder habe ich mich verhört? … weiterspielen … da war doch …), eine Aria (streng und gelahrt (sic), ein Rezitativ zu einer Sarabande (stockend; wieder knarren unten im Kirchenschiff Bänke, Knochen oder …), eine Toccata (… und das war immer das Schönste: Wenn die Messe aus ist, ›erhebt sich‹ die Orgel, als wollte sie sich fürs lange Sitzenmüssen rächen – aber jetzt ist ja keiner da, es ist Dunkel in Dunkel … es hat doch etwas geknarrt … und plötzlich noch zwei Takte Sarabande. Eine Suite also. Züchtig.«21

Und damit zurück zum Klavier. Bevor er an die Orgel ging, hatte er natürlich erst einmal das Klavierspiel erlernt. Er hat es nie wirklich geliebt. Zwar war das Instrument, als er etwa acht war, sein innigster Wunsch gewesen. Die Eltern erfüllten ihn, wie wir schon wissen. Die erste Klavierlehrerin, Annemarie Wanner, wohnt zwei Straßen weiter. Der zweite Klavierlehrer heißt Theo Braun, er ist Pianist. Der dritte, Reinhold Weber, ebenfalls Pianist, komponiert außerdem und lehrt, als einer der Ersten dieses Spezialfachs, elektronisches Komponieren am Badischen Konservatorium in Karlsruhe. Das Unterrichten betreibt Herr Weber streng nach der sogenannten »Martienssen Technik«, die er von seinem Lehrer Max Martin Stein, einem Patensohn Max Regers, übernommen hatte. Da sich aber erwies, dass das Üben, zumal das methodisch-technische, nicht eben Rihms Lieblingsbeschäftigung werden konnte, wurde diese Schüler-Lehrer-Beziehung alsbald wieder beendet. Auch die Mutter fing, da nun mal wieder ein Klavier in der Wohnung stand, wieder an, zu klimpern, am liebsten Filmschlager aus den Vierzigern, zum Beispiel von Zarah Leander: »Davon geht die Welt nicht unter«. Der Sohn dagegen übte, wie gesagt, viel zu wenig, improvisierte viel – und er komponierte. Immerhin, Klavierlehrer Weber hat ein paar fragwürdige Spuren hinterlassen in den Korrekturen, die er diesen Kompositionsversuchen angedeihen ließ.

Mit zwölf kommt Wolfgang Rihm in den Stimmbruch, zu seinem Glück. Ab jetzt darf er mitsingen im Karlsruher Oratorien-Chor, der von Erich Werner geleitet wird, einem seiner Musiklehrer am Bismarck-Gymnasium. Werner, der auch nebenbei komponierte, organisierte Opernaufführungen an der Schule. Außerhalb der Schule hatte er sich mit den ehrgeizigen Programmen seines Chors auch überregional einen Ruf erworben. Das erste Werk, bei dem Rihm mitsingt, im zweiten Bass, ist das Magnificat BWV 243 von Johann Sebastian Bach – damit geht es dann gleich auf Konzertreise nach Paris. Am 11. Mai 1966 findet im Pariser Salle Pleyel ein Benefizkonzert für das Krankenhaus in Lambarene statt, im Gedenken an Albert Schweitzer, Charles Munch dirigiert. Der Chor aus Karlsruhe reist einen Tag zuvor mit dem Zug an, die jüngsten Chormitglieder luxuriöserweise in familiärer Begleitung. Beide Eltern Rihm fahren mit. Man wohnt im Hotel d’Armaillé in der Rue d’Armaillé, das Probenprogramm ist dicht, Erich Werner beeindruckt Rihm mit seiner dirigentischen Umsicht (»Bitte höchste Disziplin … Bitte auch nicht flüstern. Nehmen Sie die Gelegenheit wahr, den Dirigenten sofort zu beobachten, um schnellstens auf ihn eingehen zu können. Der Oratorienchor legt größten Wert darauf, mit Herrn Charles Munch in gutem Kontakt zu bleiben« und so fort). Zweihundert Mitwirkende stehen am Abend auf der Bühne, mittendrin Rihm. Er lernte in diesem Chor dann die gesamte große Chorliteratur quasi von innen kennen. Sang alle großen Requiems mit, aber auch Mendelssohns »Elias«, Beethovens »Missa Solemnis« oder »Le Martyre de Saint-Sébastien« von Debussy. Er lernte: »Wie klingt ein großer Apparat, wenn man drin steht? Das ist eine Erfahrung, die hat man dann jedem voraus. Es ist etwas ganz anderes, wenn man da mitten in einer Klangmasse sich bewegt und das Orchester vor sich sieht, man steht als Chor immer so, dass man alles sieht, man weiß ganz genau, aus welcher Gruppe welche Töne herauskommen und kennt die …«22

Mit dreizehn trifft er dann auf dem Weg zur Schule einen Mitschüler aus der Parallelklasse in der Straßenbahn, Thomas Rübenacker, die beiden kommen ins Gespräch, es ist der Beginn einer fast lebenslangen Freundschaft. Rübenacker, aus dem ein Film- und Radiomacher wurde, erinnert sich heute noch aufs Wort genau, was Rihm ihm damals in der Straßenbahn sagte, als es ums Kennenlernen ging und darum, die Murmeln in der Hosentasche zu zählen und das Terrain abzustecken, so wie kleine Jungens das nun mal nötig haben. Rihm sagte: »Und ich werde mal ein weltbekannter Komponist.« Se non è vero, è ben trovato.

Keine zehn Jahre vergehen, dann ist es so weit. Da wurde Wolfgang Rihm über Nacht berühmt, zwar nicht auf der ganzen Welt, aber doch immerhin innerhalb der neuen Musikszene. Stichtag war der 19. Oktober 1974. An diesem Tag wurde ein großes Orchesterstück von ihm bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt: »Morphonie, Sektor IV«. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zweihundert Kompositionen zu Papier gebracht, Groß- und Kleinbesetztes, lange und kurze Stücke, wenn auch die meisten nur für die Schublade. Er hatte auch schon, nachdem er zunächst beim Verlag Schott abgelehnt worden war, in Breitkopf & Härtel einen namhaften Musikverleger gefunden. Und er konnte bereits auf ein rundes Dutzend Uraufführungen verweisen, die von der Fachkritik beachtet worden waren. Nicht nur daheim in Karlsruhe, auch, zum Beispiel, in München, wo im Dezember 1972 das Kammermusikstück »Hekton« als Auftragswerk der Musica Viva im Lenbachhaus aus der Taufe gehoben worden war, von dem Geiger János Négyesy und dem Pianisten und Komponisten Cornelius Cardew. An diesem Tag kam Rihm zur Uraufführung zu spät. Das Auto seines Studienfreundes Norbert Krupp blieb auf der Autobahn wegen Altersschwäche liegen, und als Krupp, Rihm und Rihms Freundin Andrea Schellinger endlich im Lenbachhaus eintreffen, kriegen sie nur noch eines zu hören: Alles sei gut gelaufen, sagte Cardew.

Wenige Monate vor der Donaueschinger Uraufführung von »Morphonie« wird Rihm der Stuttgarter Kompositionspreis 1974 verliehen, dotiert mit 2500 Mark. Er hatte dort die »Morphonie«-Erstfassung eingereicht. Dieser Stuttgarter Preis ist unter den Musikpreisen einer der renommiertesten und für das Fortkommen junger Komponisten damals wohl der bedeutendste. Vor Rihm wurde er unter anderen Aribert Reimann, Wilhelm Killmayer, Hans-Joachim Hespos und Helmut Lachenmann zuerkannt und neben Rihm werden, im gleichen Jahr, auch Manfred Trojahn, Ulrich Stranz und Horst Lohse ausgezeichnet. Weitere Stufen auf der Karriereleiter, die Rihm zu diesem Zeitpunkt bereits erklommen hat, sind ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie ein Lehrauftrag an der Karlsruher Musikhochschule. Besser kann ein zweiundzwanzigjähriger Musikwissenschaftsstudent im fünften Semester, der bereits sein Kompositionsdiplom in der Tasche hat, kaum vernetzt und aufgestellt sein. Wolfgang Rihm ist also kein unbeschriebenes Blatt mehr, als er 1974 nach Donaueschingen fährt.

Diesmal kommt Rihm pünktlich an. Natürlich ist Andrea Schellinger mitgefahren, auch einige seiner Freiburger Studienfreunde, Stephan Hoffmann, Angelika Bierbaum, Brian Ferneyhough, am 18. Oktober sitzen sie gemeinsam im Publikum bei der Uraufführung von »Inori«, dem neuen Stück von Karlheinz Stockhausen, Rihms Ex-Lehrer. Tags drauf spielt das SWF-Orchester die Uraufführung von »Morphonie Sektor IV«, Rihms neuem Stück. Gemeinsam geht man im Anschluss in den Schützen und Stockhausen lässt sich zu einer Art Lob hinreißen, ja, doch, diese Bassklarinettenstelle sei wirklich sehr gut gelungen. Oder war das ironisch gemeint und eher eine Art Schmäh? Rihms »Morphonie« ist ja doch, im Unterschied zu Stockhausens Urformel-Gebets-Tanz-Zyklus »Inori« oder auch zu Dieter Schnebels »Maulwerke«, die am nächstfolgenden Donaueschingen-Tag »dran« sein sollten, unüberhörbar ein mit traditionellem Orchester-Besteck gearbeitetes Stück. Der Schwarzwälder Bote, ein lokales Blatt, titelte am übernächsten Morgen mit der Frage: »Kommt die Welt der Neuen Musik wieder in Ordnung?« Und der Rezensent, der nichts wusste oder auch nichts wissen wollte von den Streitigkeiten an Komponistenstammtischen, erklärte, nun endlich werde wieder »Musik gemacht« in Donaueschingen: »Musik, in der sich die vielfältigen Möglichkeiten des Ausdrucks spiegeln. Musik, die aus dem Nichts zu kommen scheint und sich im Unendlichen verströmt.«23

Auch Rolf Urs Ringger war damals bei der »Morphonie«-Uraufführung dabei, er erinnert sich: »Das war ein starkes Stück – im doppelten Wortsinn. Füllig, ausgreifend, angriffig – es blieb als einziges Werk jener Veranstaltungstage im Gedächtnis haften.« Letzteres darf verstanden werden als Spitze gegen Stockhausen und Schnebel. Ganz anders sah das, ebenfalls in der Retrospektive, Rudolf Frisius: »Stockhausen als Exponent der detailliert erklärbaren ›Struktur‹ – Rihm als Exponent einer zumindest im ersten Höreindruck weitgehend rätselhaft bleibenden Form: Dieser Kontrast warf 1974 ein charakteristisches Licht auf eine musikalische Situation, die sich nachhaltig zu ändern begann nach 1968 – hier ablesbar in der Gegenüberstellung eines in spirituelle Botschaften transformierten Konstruktivismus (Stockhausen) und eines teilweise un-avantgardistischen Ansatzes neuer Ausdrucksmusik (Rihm). Rihms ausgedehnte, rund vierzigminütige Komposition wurde interessiert, aber auch etwas ratlos aufgenommen: als Talentprobe eines jungen, morphologisch und instrumentationstechnisch versierten Komponisten, die allerdings in vielen komplexen Details und in vielen größeren Zusammenhängen der (mit vielen Zäsuren und Satzgliederungen zerklüfteten) musikalischen Form rätselhaft erscheinen konnte.«24

»Morphonie« wurde zur Legende. Es war die erste Komposition Rihms, die öffentlich so kontrovers diskutiert wurde. Die ihm neue Freunde schaffte, aber auch treue Feinde, bizarre Zukunftsprognosen einbrachte, aber auch vergiftete Komplimente. Kontroverse Ratlosigkeit spiegelte sich sehr schön bereits in den ersten Pressereaktionen. Selten haben Musikkritiker einander so ratlos und vehement widersprochen, wie in diesem Fall. Man verglich Rihm mit Paul Hindemith oder mit Richard Strauss oder mit Alban Berg oder mit Gustav Mahler. Die Stuttgarter Nachrichten nannten ihn gönnerhaft »eine zweite Henze-Begabung«. Die Neue Zürcher Zeitung erklärte »Morphonie« zu einer stümperhaften Schülerarbeit, der Berliner Tagesspiegel fand das Stück einfach »genialisch« und der Rezensent der Thurgauer Zeitung schrieb, es sei, wenn auch kein Meisterwerk, so doch immerhin ein »ganz erstaunliches Gesellenstück«. Allerdings empfahl er, bei der nächsten Aufführung möge der junge Komponist doch bitte die letzten dreieinhalb Minuten weglassen: dieser romantische Streicher-Abgesang, dieser »tonale Ausklang« mit seinen allzu deutlichen Mahler-Erinnerungen, der sei von gar zu »unerhörter Schönheit«. Im Übrigen: »Auf die weitere Entwicklung Wolfgang Rihms sind wir gespannt.«25

Zur Legende gehört auch, dass Wucht und Wirkung von »Morphonie« ungebrochen sind. Das Stück hat keinen Staub angesammelt, es ist immer noch frisch. Ja, man meint, man könne dieser Musik den Nachhall des Skandals, den sie vor rund einem halben Jahrhundert verursachte, heute noch anhören. Nicht nur wegen des romantischen Finales. Ein Streichquartett tritt an gegen ein Symphonieorchester, fast vierzig Minuten lang: Allein im kombinierten Aufgebot zweier klassischer Klangkörper steckte Sprengkraft. Es gibt freilich für die Besetzung