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Die Wüste ist gnadenlos – ihre Bewohner auch. Er ist der Schamane der Wüstenstämme. Einst hat er sein Volk fast vernichtet. Jetzt setzt er alles daran, ihm eine Zukunft zu geben. Doch was, wenn sein Volk sich diese Zukunft gänzlich anders vorstellt als er? Wenn selbst die Geister der Vergangenheit mit seinen Plänen nicht einverstanden sind? Plötzlich muss der Schamane an mehreren Fronten zugleich kämpfen – und feststellen, dass selbst er immer noch Fehler machen kann. Große Fehler. Und erkennen, dass auch andere Personen seines Volkes wichtig sind im Spiel des Schicksals. Wie zum Beispiel der junge Krieger Ikti, Sohn des Mannes, dessen Körper der Schamane erobert und besetzt hat. Ein Buch für alle Fans der Serie, die sich gefragt haben, was aus Nior und Ikti wurde, und ob Nior seinem Freund Jo noch einmal begegnen durfte.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Alle Personen, Namen und Vorkommnisse in diesem Buch
sind rein fiktiv und haben keine Vorlage in unserer realen Welt.
Was allerdings sehr wohl in unserer realen Welt vorkommt,
sind die diversen kleinen und großen Katastrophen
Die Handlung in diesem Buch fußt auf den Geschehnissen in Band eins bis sechs. Vermutlich werden Ihnen ohne Kenntnis dieser Bände einige Informationen zum Verständnis der Handlung fehlen. Ich empfehle Ihnen daher, zunächst den Anhang zu lesen, da dieser einige Basis-Informationen enthält.
Das Buch ist aus verschiedenen Kurzgeschichten entstanden, die eine gemeinsame Rahmenhandlung bekommen haben. Warum diese Kurzgeschichten? In erster Linie, weil der Schamane eine eigene Geschichte brauchte. Aber auch, weil viele Leser gefragt haben, was aus Nior und seinem zweiten Sohn Ikti geworden ist und ob Nior seinen Freund Jo noch einmal getroffen hat.
Durch die Kurzgeschichten, aus denen das Buch entstanden ist, gibt es ziemlich zu Anfang in der Handlung einen Sprung von gut tausend Jahren. Aber Sie werden sehen, dass sich am Ende der Kreis schließt.
Triggerwarnung:
Karapak ist eine sehr gewalttätige, weitgehend patriarchalische Welt. Das Leben eines Mannes gilt wenig, das von Frauen und Kindern noch weniger, und eine falsche Geste kann Kriege auslösen. Die Wüstenstämme halten zwar deutlich mehr von ihren Frauen und Kindern, aber pazifistisch kann man sie nun wirklich nicht nennen. Außerdem lieben sie es, ihre Feunde zu enthaupten.
Dass die Zauberer ebenfalls über Leichen gehen, ist noch ihre liebenswürdigste Seite.
Der Anfang dieser Geschichte führt viele Generationen zurück. In jene ferne Zeit vor mehr als tausend Regenzeiten, in der die Wüstenstämme noch keine Wüstenstämme waren. Damals, als sie noch in den Drachenschwanzbergen lebten, in den fruchtbaren Tälern auf der Windseite, wohin der Atem des Ozeans den Regen blies. In einer Zeit, in der ihre Herden so zahlreich waren wie die Menschen in ihren Zelten, und in der sie mehrere Schamanen hatten, zwei oder drei in jedem der Stämme. Schamanen, die Zauberer waren, auch wenn sie sich nicht so nannten, die aber im Gegensatz zu den Zauberern die Spiegel verschmähten und ihre Nutzung ablehnten. So mussten sie zwangsläufig mit der neu entstehenden Kristallkammer in Konflikt geraten. Jener Konflikt wiederum führte dazu, dass die freien Stämme der Drachenschwanzberge Karapak tributpflichtig wurden. Karapak und den Zauberern. Etwas, das weder den Männern und Frauen der Stämme schmeckte noch ihren Schamanen. Denn der Tribut nahm ihnen das, was ihnen am liebsten und teuersten war: ihre Kinder. Jene Kinder, die die Magie in sich trugen. Alle drei Jahre versammelten sich die Stämme im Grünen Tal. Und alle drei Jahre kamen die Zauberer dorthin, um sich ihre lebende Beute zu sichern.
„Morgen ist Tagundnachtgleiche.“
Der Schamane antwortete nicht. Er wusste so gut wie jeder andere der Männer, was morgen passieren würde. Seitdem die Zauberer vor drei Generationen das Versteck der Stämme im Grünen Tal gefunden hatten, war ihr Auftauchen dort so sicher, wie es Felsen in den Bergen gab. Bequemer konnten sie es nicht haben, wenn sie ihren Tribut einsammelten. Alle Stämme und damit alle Kinder an einem Ort versammelt.
Wie hatte das nur passieren können?
Der Schamane kannte die Antwort. Die Zauberer waren stärker als die Schamane. Die Tarnzauber seiner Vorgänger hatten versagt. Die Zauberer hatten ihre Beute so leicht gefunden, wie ein Drache eine Hornziege an den Steilhängen sah.
Das Kind rückte näher an ihn heran, versuchte, seinen dürren Körper unter den Arm des Schamanen zu drücken.
Er verzog das Gesicht. Die Angst der Kleinen, die er ohnehin fast greifen konnte, verstärkte sich durch den direkten Kontakt um ein Mehrfaches.
„Werden sie mich mitnehmen?“
Weshalb das Unvermeidliche leugnen? „Vermutlich ja. Du gehörst zu den stärkeren. Solche wie dich nehmen sie immer mit.“
„Ich will aber nicht weg. Ich habe Angst!“
Das Stimmchen war zaghaft, leise, kaum zu hören. Die Männer nickten, denn auch sie hatten Angst. Es gab keine Sippe hier, die nicht schon Kinder an die Zauberer verloren hatte. Und das Schlimmste war, man hörte nie wieder etwas von ihnen.
„Du wirst dort andere von uns antreffen“, sagte der Schamane. „Erinnerst du dich an deine Cousine Kalani, die vor drei Regenzeiten geholt wurde?“
Ein Zittern durchlief den Kinderkörper. „Ich habe von ihr geträumt. Sie hat geschrien, in meinem Traum.“
„Träume sind nur Träume“, sagte der Schamane.
Aber er wusste es besser. Es gab Träume, die verwehten. Und es gab Träume, die Bestand hatten. Sai gehörte zu denen, deren Träume Bestand hatten.
Mufa rieb sich fröstelnd die Arme. Der Nachtwind war kalt, selbst hier in der Schlucht, wo die Felsen tagsüber die Wärme der Sonne förmlich in sich hinein sogen. Da half nicht einmal das Feuer. Ohne schützende Zeltwände blieben die Nächte kalt.
„Du spürst es auch, nicht wahr?“ Der jüngere Mann auf der anderen Seite des Feuers warf einen scheuen Blick in Richtung der nördlichen Felswand. Unwillkürlich zog er die Schultern hoch. „Ich würde tausendmal lieber meine Herden auf den Weiden im Osten gegen einen hungrigen Berglöwen verteidigen, als hier auf sie zu warten.“
„Sie erwarten nun mal, dass sie hier jemand begrüßt.“ Mufa hörte, wie belegt seine Stimme klang. Nein, er konnte weder sich selbst noch dem jüngeren Wächter etwas vormachen. Es war nicht der Nachtwind. Es war die Drohung, die über ihnen schwebte, über den Zelten, über dem Tal. Das, was in jeder Trockenzeit zur Tagundnachtgleiche geschah, geschehen war, solange er lebte. Er ballte die Fäuste. Wie konnte so viel Grausamkeit hinter so freundlich wirkenden Gesichtern stecken! Lächelnde Münder, federnde Schritte, Hände, die nie eine Waffe getragen hatten. Und die doch tödlicher waren als Schwerter. Junge Körper mit alten Augen, die kalt blickten, kälter als das harte blauweiße Wasser in den höchsten Bergen. Seit Mufa diese Augen das erste Mal erblickt hatte, suchten sie ihn in seinen Alpträumen heim.
Erneut rieb er sich die Arme, neigte sich noch etwas näher über das Feuer. Aber die Kälte in seiner Seele blieb.
Beide Wächter waren mehr als froh, als der Himmel sich endlich aufhellte und der rote Rand der Sonne sich über die Berge schob. Egal, welchen Schrecken der Tag bringen mochte, er konnte nicht so schrecklich sein wie die Ungewissheit des Wartens.
Immer wieder wanderten ihre Blicke zu den Felsen. Mufa dachte an das Trockenfleisch in seiner Tasche. Aber alleine der Gedanke an Essen ließ ihn würgen.
Der andere gab einen erstickten Laut von sich. Mufa fuhr zusammen. Sein Blick sprang zu den Felsen hinüber.
Die Luft flirrte vor der Felswand. Aber so früh am Morgen war es nicht das Flirren der Hitze. Die Wächter sahen sich mit angstgrauen Gesichtern an. Dann gab Mufa dem anderen mit einer Geste zu verstehen, dass er den Schamanen benachrichtigen sollte. Der Jüngere rannte fast, froh, den Ankömmlingen nicht entgegentreten zu müssen.
Aus dem Flirren hatte sich das gefürchtete Spiegeltor geformt. Nacheinander traten fünf jung aussehenden Männer daraus hervor. Einer von ihnen reckte sich, drehte sich einmal um sich selbst. „Endlich kein Fischgestank mehr! Warum, bei den Windgeistern, mussten wir unseren Hauptsitz ausgerechnet in einer Fischerstadt wählen?“
„Ganz einfach, du Dummkopf“, grollte der erste. „Weil das die einzige Stelle weit und breit ist, an der sich die Meeresmagie mit der Drachenmagie überlappt! Und jetzt hör auf mit den Kapriolen, wir haben einen Auftrag! Oder willst du, dass dich diese Kreaturen nicht ernst nehmen?“
Der Wächter wartete, bis die Zauberer in einer geordneten Reihe vor dem Spiegeltor standen. Dann trat er hervor und begrüßte sie mit einer Verbeugung. Einer sehr tiefen Verbeugung. „Ihr seid gekommen, Euren Tribut zu holen. Wir haben alles vorbereitet. Bitte folgt mir, verehrte Meister!“
Er glaubte, ein glucksenden Lachen zu hören, sah aber nicht auf. Bange Hoffnungslosigkeit lähmte ihn fast. In diesem Jahr war auch sein Sohn unter den möglichen Tributen. Er wandte sich um und führte die Zauberer durch die Schlucht in das Grüne Tal.
Der Schamane spürte ihr Kommen, lange bevor er sie sah. Die Kinder ebenfalls. Sie pressten sich enger aneinander, und Sai nahm ihre jüngere Schwester fest in die Arme, streichelte ihr über das Haar. Der Schamane war sich ziemlich sicher, dass die Zauberer beide Mädchen wählen würden. Sie nahmen immer die Stärksten. Es war eine Schande, dass sie die besten Drachenblütigen in jedem Drittjahr auf diese Weise verloren. Sai wäre die perfekte Nachfolgerin für ihn.
Aber er durfte nur ein einziges Kind auswählen, das er zurückbehalten konnte. So war es vereinbart, für ihn wie für alle anderen Schamanen der Stämme. Nur ein Kind. Und natürlich hatte er seinen leiblichen Sohn gewählt, vor vier Tributjahren.
Der Junge war kurz danach an einem Skorpionstich gestorben. Und damit hatte der Schamane keinen Nachfolger mehr. Da blieben nur die übrig, die zu schwach waren, um die Zauberer zu interessieren. Aber wie sollte ein schwacher Schamane seinen Stamm schützen?
Die alte Mokoko hatte vermutlich recht, wenn sie sagte, dass die Zauberer das Drachenblut in den Bergen austrocknen wollten. Diese Steppenleute waren wie Treibsand, der seine Beute packte, sie Stück um Stück in sich hineinzog und vernichtete. Nicht einmal die Drachen mochten sie. Der Schamane konnte sich schon kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal einen Drachen über den Drachenschwanzbergen gesehen hatte.
Die Signaturen der Zauberer bewegten sich jetzt auseinander. Fünf Signaturen, fünf Zauberer, fünf Sammelplätze. Der Schamane wartete reglos.
Drei Handbreit war sein Schatten weitergewandert, als der Zauberer endlich in Sicht kam. Er sah jung aus. Aber das taten sie alle. Und dieser hier war mit Sicherheit älter als der Schamane. Der Schamane erkannte ihn wieder. Das war der Mann, der vor einem halben Leben ihn hatte wählen wollen. Er war der Wahl nur entgangen, weil der damalige Schamane Scho ihn als seinen Gehilfen gewählt hatte. Seit damals ... Der Schamane seufzte. Der Zauberer hatte es wohl nie verwunden, dass er seine Beute nicht bekam. Bei jeder der folgenden Tributwahlen war er wieder zum selben Sammelpunkt gekommen, hatte er sein Möglichstes getan, die Wahl möglichst demütigend, möglichst verletzend ausfallen zu lassen. Er hatte selbst die gewählt, die schwach waren und bei früheren Tributwahlen sofort ausgeschieden wären. Der Gram über seine Fehlentscheidung hatte Scho einen frühen Tod beschert. Und jetzt musste der Schamane selbst dem Zorn dieses Mannes gegenübertreten, erdulden, dass seinem Stamm unnötig viele Kinder geraubt wurden, musste die panische Angst der Kinder und die tiefe Verzweiflung der Eltern aushalten und gute Miene zum bösen Spiel machen. Es gab keine andere Lösung. Die Zauberer waren stärker als die Schamanen.
Beim Anblick des jämmerlichen Haufens verängstigter Kinder grinste der Zauberer boshaft. „So, so!“ Er umrundete seine Beuteherde. „Keine besonders hohe Qualität. Aber die habt ihr ja schon lange nicht mehr. Da wird wohl die Masse die fehlende Klasse ersetzen müssen. Ich nehme alle.“
Der Schamane zuckte zusammen. „Alle? Aber ...“
„Nichts aber. Ich nehme nur, was mir zusteht. Oder willst du das bestreiten, Schamane?“
Der Schamane senkte den Kopf und schwieg. Vertrag war Vertrag. Das konnte nicht einmal er ändern.
„Machen wir es kurz.“ Der Zauberer musterte die Kinder. „Ihr geht schon mal los.“
Keines der Kinder gehorchte. Im Gegenteil, sie klammerten sich noch fester aneinander.
Die Stimme des Zauberers wurde schärfer, und der Schamane erkannte den Zauber, der hineinfloss. „Ihr werdet gehorchen. Sofort!“
Das Knäuel der jammernden Kinder floss auseinander, wie von unsichtbaren Händen zerpflückt. Eines nach dem andren setzte sich in Bewegung. Dann stand da nur noch Sai und hielt ihre zappelnde kleine Schwester fest.
„Na los!“
„Ich will nicht!“
Der Kopf des Schamanen ruckte hoch. Der Zauberer erstarrte.
„Du ... gehst ... jetzt ... sofort!“
„Nein!“
Emotionen huschten über das Gesicht des Zauberers, so schnell, dass der Schamane sie nicht erkennen konnte. Dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Kleine Bergratte!“ Der Zauberer wirbelte herum, starrte den Schamanen an. „Was immer du mit dieser Kreatur gemacht hast, glaub nicht, dass ich mir das gefallen lassen. Wenn sie nicht selbst gehen will, dann wird eben einer deiner Leute sie tragen!“
„Das steht nicht im Vertrag.“
„Was?“
„Im Vertrag steht nur, dass ihr euch die Kinder holen könnt. Da steht nirgends, dass wir sie bringen müssen. Ist nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie euch gehorchen.“
Der Zauberer öffnete seinen Mund, dann schloss er ihn wieder, öffnete ihn erneut, ohne dass ein Wort herauskam.
Der Schamane fand allmählich Gefallen an dem Spielchen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie es überhaupt zustande gekommen war. Seit wann hatte ein Kind von kaum sieben Regenzeiten die Kraft, sich einem Zauberer zu widersetzen?
Der Zauberer starrte ihn weiter, an, inzwischen mit puterrotem Kopf. Dann drehte er sich abrupt um und stakste den davongehenden Kindern nach. Sais kleine Schwester hörte auf zu zappeln, als er sich entfernte, und blickte verstört um sich. „Mama?“
Die Frau löste sich aus der Menge. Mit aschgrauem Gesicht eilte sie zu ihren Kindern, drückte sie an sich und zerrte sie fort. Niemand sagte ein Wort.
Der Schamane spürte, wie sich ein schadenfrohes Grinsen über seinem Gesicht ausbreitete. Sai würde bleiben. Und er konnte sie als seine Nachfolgerin ausbilden.
„Du bist ein von allen Göttern verlassener Idiot!“ So leise Mokoko sprach, ihre Stimme schnitt tiefer als ein Messer. „Was hast du dir dabei gedacht, ein Kind zurückzuhalten?“
„Ich habe Sai nicht zurückgehalten. Sie hat sich von ganz alleine gegen ihn gestemmt“, gab der Schamane irritiert zurück.
„Mag sein. Aber werden die Zauberer das glauben? Und selbst wenn, du hättest das Mädchen dazu bringen können, mit ihm zu gehen.“
„Ist es nicht schon schlimm genug, dass die Zauberer so viele unserer Kinder holen?“, brauste der Schamane auf. „Sollen wir sie jetzt auch noch dabei unterstützen?“
Mokoko humpelte zu ihm, stemmte ihren Stock vor seinen Zehenspitzen in die Erde und funkelte ihn von unten herauf an. „Du bist zu jung! Ich habe immer gesagt, du bist zu jung, um bereits Schos Nachfolger zu werden. Junge Leute handeln, ohne zu denken! Sag mir eines – für wen bist du verantwortlich?“
„Für meinen Stamm natürlich!“, fauchte der Schamane zurück.
„Für wen aus deinem Stamm?“
„Für alle, natürlich!“
„Ah ja!“ Mokokos Stimme troff vor Ironie. „Das letzte Mal, als sich einer deines Stammes den Zauberern widersetzte und ein Kind zurückhielt, habt ihr es damit bezahlt, dass in all den folgenden Jahren doppelt und dreifach so viele Kinder fortgeholt wurden. Scho hat einen Fehler gemacht, als er dich behielt. Und du hast nichts Besseres zu tun, als diesen Fehler zu wiederholen! Schlimmer noch, du hast es bei einem Kind getan, dass imstande war, einem karapakischen Meister die Stirn zu bieten! Was glaubst du wohl, was die Zauberer daraus für Schlüsse ziehen werden? Wie viele Leben werden dich diese beiden geretteten Kinder wohl kosten? Glaubst du wirklich, dein Stamm wird damit glücklich?“
Der Schamane schwieg betroffen.
„Wie ich es mir gedacht habe. Du hast überhaupt nicht nachgedacht.“ Mokoko stieß zornig ihren Stab auf den Boden und verfehlte seinen Zehen dabei nur knapp. „Idiot! Impulsiver, jugendlicher Idiot!“ Sie ging zwei, drei Schritte zurück. Plötzlich schien ihre Gestalt einzufallen, um mehrere Handvoll Jahre zu altern. Der Schamane erkannte Tränen in ihren Augen. „Ich habe die Knochen gefragt“, sagte sie leise. „Egal, wonach ich fragte, sie haben nur Tod gezeigt. Ich bete zu den Göttern, dass deine Tat nur dich und die deinen umbringt und keine weiteren Kreise zieht.“
Dem Schamanen lief es kalt über den Rücken. Die anderen Schamanen warfen einander beunruhigte Blicke zu. Auch Mokoko gehörte zu denen, deren Träume Bestand hatten. Niemand in der Runde wagte es, die alte Schamanin zurückzuhalten, als sie das Beratungszelt verließ.
„Er wird mich holen kommen“, sagte Sai. „Ich habe geträumt, dass er mich holen kommt.“
Der Schamane sah sie nicht an. „Möglich“, murmelte er.
„Aber ich habe nicht geträumt, dass er auch meine kleine Schwester holt.“ Sais Stimme wurde lauter. „Die wird er nicht holen!“
„Dann hättest du zumindest sie gerettet“, gab der Schamane zurück und sah sie jetzt endlich doch an. Die Angst blickte aus ihren Augen zurück.
„Ich bin nicht sicher, ob ich sie gerettet habe. In meinem Traum hat sie geschrien. Dieser Zauberer ist böse. Er wird ihr wehtun. Hier. Dieser Ort ist schlecht.“
Der Schamane blickte ihr nach, als sie mit hängenden Schultern zum Zelt ihrer Familie zurückging. Das Grüne Tal – schlecht? Hier gab es die besten Weidegründe der Drachenschwanzberge. Hier gab es Quellen und Bäche. Hier gab es Bäume und Wild.
Aber auf diesem Idyll lag ein Schatten. Das spürte er genauso wie Sai. Vermutlich war es gut, dass das große Treffen der Stämme in zwei Tagen zu Ende ging. Er verspürte unmissverständlich den Drang, das Tal zu verlassen.
Eine Nacht voller unruhigem Schlaf. Der Schamane fühlte sich wie zerschlagen, als er am nächsten Morgen aus seinem Zelt trat. So freudig er sonst die aufgehende Sonne begrüßte, dieses Mal sah er nur mit einem Stirnrunzeln, dass der lodernde Ball bereits zu mehr als der Hälfte über den Horizont gestiegen war. Wobei das hier im Tal nichts zu sagen hatte. Es war längst Tag. Nur die hohen Berge ringsum sorgten dafür, dass die Sonne verhältnismäßig spät aufging.
Der Schamane wanderte am Bach entlang zu den weidenden Herden. Einige der Ponys sahen kurz auf, und ein kleiner Ziegenbock nahm sein rechtes Bein als Zielübung. Die winzigen Hörner, kaum mehr als fingernagelgroße Knubbel, konnten noch keinen Schaden anrichten. Die Lippen des Schamanen kräuselten sich zu der Andeutung eines Lächelns, bevor er das Tier mit einer Handbewegung wegscheuchte. Mit einem Meckern sprang das kleine Kerlchen zurück zu seiner Mutter.
Alles war ruhig. Alles war friedlich. Und doch ...
Der Schamane ging zurück zu seinem Zelt, nahm die Knochen, warf sie. Ein Bote würde kommen. Und hinter dem Boten ... Unheil. Der Schamane ging wieder hinaus, blieb vor seinem Zelt stehen und wartete auf das Unvermeidliche.
Da war Unruhe aus der Richtung der Schlucht. Ein Mann lief herbei, mit raschen, aber kurzen Schritten. Er musste bereits einen langen Weg zurückgelegt haben. Männer und Frauen sahen von ihren Arbeiten auf, legten sie beiseite, gingen ihm entgegen. Der Mann stockte, verschwand in einer Gruppe Menschen, die plötzlich wieder zurückwichen. Während er sich wieder in Bewegung setzte, jetzt geradewegs auf den Schamanen zu, rannten einige der anderen zurück zu den Zelten.
Der Man hielt direkt vor ihm, rang nach Luft, stützte leicht schwankend die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich vor. Sein Körper war von Schrammen und Blutergüssen gezeichnet. Der Schamane regte sich nicht. Endlich hob der Mann den Kopf wieder. Es war einer der Schluchtenwächter.
„Der Zauberer ist zurückgekommen.“
„Wann?“
„Kurz vor Sonnenaufgang.“
„Aber du kommst erst jetzt.“
„Er löste eine Steinlawine aus, die mich begrub.“
„Der andere Wächter?“
„Er stand mitten in der Lawine. Ich nur an ihrem Rand.“
„Und wo ist der Zauberer jetzt?“
„Ich hatte die Schlucht zur Hälfte durchquert, als ich sah, dass er zurückkam. Er ging in Richtung der Wüste.“
Schlecht. Sehr schlecht. Was hatte der Zauberer im Grünen Tal gewollt? Und wieso lebte der Wächter noch, der ihn gesehen hatte?
„Er ... war nicht alleine.“
„Noch ein Zauberer?“
Der Mann verneinte mit einer stummen Geste. Drüben bei den Wohnzelten schrie eine Frau auf.
„Sai. Er hat sie doch noch geholt.“ Der Schamane spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. „Wie hat er sie dazu gebracht, ihm zu gehorchen?“
„Das Mädchen hatte Blut im Gesicht. Und eine Schlinge um den Hals.“
Natürlich. Eine Schlinge konnte sehr viel überzeugender sein als ein magischer Befehl. Was jetzt? Einen Moment überlegte der Schamane, ob er die alte Mokoko um Rat fragen sollte. Aber dann erreichte ihn die Frau, die geschrien hatte. Sais Mutter. Auf ihren Armen das jüngere Kind, dessen Wange angeschwollen und aufgeplatzt war.
„Er hat Sai mitgenommen. Niri hat versucht, sie festzuhalten. Er hat sie niedergeschlagen.“
Ein entführtes Kind, ein geschlagenes Kind. Das war zu viel. „Der Tributtermin ist verstrichen. Er hätte nicht zurückkommen und Sai holen dürfen. Ich werde ihm folgen und sie zurückfordern.“
Erleichterung, Hoffnung und Zweifel wechselten sich im Gesicht der Mutter ab. Der Schamane wartete nicht ab, welche dieser Emotionen die Oberhand gewinnen würde. Wenn der Zauberer das Spiegeltor erreichte, war Sai für den Stamm verloren. Er lief los.
Die Spur ging fast beständig geradeaus, weg vom Grünen Tal. Der Vormittag verstrich, die Berge wichen flachen Hügeln. Am Horizont zeichnete sich bereits das Dünenmeer der Wüste ab, schattenlos in der Mittagssonne. Davor zwei kleine schwarze Punkte, die sich stetig weiterbewegten. Und weit und breit kein Spiegeltor. Da stimmte doch etwas nicht! Das Verhalten des Zauberers passte nicht. Normalerweise hätte er sich und seine Beute schon längst in Sicherheit gebracht. Der Schamane zögerte. Aber dann lief er doch weiter. Noch gab es eine Chance für Sai.
Die Hügel wichen, machten dem Sand Platz, die Bahn der Sonne begann sich wieder zu senken, die Schatten wurden länger, die Dünentäler dunkler, der Schamane holte auf.
Nur um zu merken, dass er nicht wirklich aufholte. Seine Beute hatte angehalten und erwartete ihn. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend verstärkte sich. Aber Sai lebte noch, stand neben dem Zauberer, er konnte ihre Signatur klar erkennen. Also lief er weiter.
Der Sand versuchte ihn aufzuhalten, klammerte sich um seine Füße, ließ ihn stolpern. Unwillig schüttelte er ihn ab und lief weiter.
Der Wind versuchte, ihn abzulenken, versuchte seinen Lauf zu drehen, dass er von der Verfolgung abließ und zurückkehrte. Der Schamane schüttelte die heißen Böenfinger des Windes unwillig ab und lief weiter.
Die herabsinkende Sonne versuchte ihn anzuhalten, blendete ihn mit heißem Licht. Unwillig kniff er die Augen zusammen und lief weiter.
Und dann stand er unvermittelt vor dem Zauberer, in einer schmalen Senke zwischen zwei hohen Sanddünen. Der Zauberer lächelte spöttisch und zog ein wenig mit seiner rechten Hand an einem dünnen Strick, der noch immer um den Hals eines kleinen Mädchens geschlungen war. Sai erzitterte, gab aber keinen Laut von sich. In der anderen Hand hielt der Zauberer einen Spiegel. „So habe ich dich also doch aus deinem Loch gelockt.”
Der Schamane ballte die Fäuste, schluckte, sammelte Speichel in seinem Mund, um reden zu können. Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. „Das hättest du nicht tun dürfen!“
„Nicht?“ Die Brauen des Zauberers wanderten in die Höhe. „Und ich dachte, ich könnte dir zur Abwechslung mal einen Gefallen tun.“
Der Schamane fror trotz der Hitze. „Einen Gefallen? Indem du widerrechtlich eines unserer Kinder entführst?“
Die Schnur straffe sich erneut. Sai stolperte einen Schritt zurück, stand jetzt so nahe an dem Zauberer, dass sie ihn fast berührte.
„Eigentlich hatte ich vor, euch alle zu vernichten. Aber diese kleine Bergratte ist ... interessant. Es könnte sich vielleicht lohnen, sie am Leben zu lassen.“
„Uns zu vernichten?“ Der Schamane glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Natürlich. Wir können nicht riskieren, dass noch mehr eurer Brut gegenüber unserem Zauber immun sind. Wer weiß, wie viele davon bereits existieren, ohne dass wir es wissen.“
„Niemand sonst!“, presste der Schamane hervor. Mokoko hatte recht gehabt. Die Zauberer hatten ihre Schlüsse gezogen. Der Preis für das Leben dieses einen Mädchens würde entsetzlich sein. Und was immer er jetzt an Argumenten hatte, er spürte, dass er damit zu spät kam. Sein Stamm war verloren. Er konnte nur noch versuchen, das Unheil zu begrenzen.
„Das ist jetzt auch egal.“ Der Zauberer musterte ihn kühl. „Selbst wenn bei den anderen Stämmen noch keine dieser Art geboren wurden, es könnte jederzeit passieren. Wenn man ein Nest Skorpione aufspürt, schlägt man nicht nur die oberen tot. Man rottet es komplett aus.“
Verzweifelt versuchte der Schamane, eine Warnung zu schicken. Nichts. Kein Kontakt. Er war zu weit weg von den anderen. Sie würden es nicht hören. Niemand würde sie warnen, wenn er hier starb. Der Zauberer hatte ihn bewusst so weit von den Bergen fortgelockt. Vor dem großen Aufbruch am Tag nach dem morgigen würde sich auch niemand Sorgen machen, wo er steckte. Seine Leute waren es gewohnt, dass er manchmal tagelang verschwand.
Und er begriff noch eines. Der Angriff der Zauberer war vermutlich bereits für den kommenden Tag geplant. Solange die Stämme im Grünen Tal beisammen waren, boten sie ein bequemes, kompaktes Angriffsziel. Die Vernichtung nicht nur seines Stammes, sondern seines ganzen Volkes stand unmittelbar bevor. Und die einzigen, die es davor hätten bewahren können, die Schamanen, waren so nichtsahnend wie ihre Schützlinge.
Der Zauberer spürte die Verzweiflung seines Gegners und lächelte. „Du siehst also, ich tue dir sogar noch einen Gefallen, wenn ich diese kleine Ratte mitnehme. Immerhin wird sie so euch alle überleben. Und wer weiß, wenn sie ganz brav ist, mache ich sie sogar zu meiner persönlichen Gehilfin.“
„Nein!“ Sai bäumte sich auf, versuchte mit beiden Händen, ihm den Strick zu entreißen. „Ich werde dir nie helfen!“
Der Zauberer riss den Strick hoch. Sai bekam keine Luft mehr, keuchte, brach halb in die Knie. „Aufsässiges Wesen! Ich glaube, ich nehme dich doch lieber nicht mit. Mit solchen wie dir hat man nichts als Ärger.“ Er wandte den Spiegel so, dass die glänzende Fläche auf Sai zeigte. Der Schamane konnte ihr verzweifeltes Gesicht in der Reflexion sehen. Sai wusste, was diese Spiegel taten. Jeder bei den Stämmen wusste es.
„Immerhin ist sie stark genug, um einen guten Spiegel abzugeben.“ Fast spielerisch senkte der Zauberer den Spiegel auf den Kopf des Kindes. Kaum dass er den Scheitel des Mädchens berührte, sog der Spiegel es in sich hinein. Der Schamane fühlte, wie sich sein Herzschlag verdoppelte. Diese Arroganz, mit der die Zauberer mit Menschenleben spielten ... Die Augen des verschwundenen Mädchens schienen ihn immer noch um Hilfe anzuflehen. Die Kinder seines Volkes ...
Der Schamane überlegte nicht länger. In aufschäumender Wut griff er zu, warf einen Zauber gegen seinen Gegner. Der Zauber versank wirkungslos im Spiegel. Der Schamane versuchte es auf Umwegen. Er rief den Sand, unter den Füßen seines Gegners nachzugeben, er rief den Stoff, der den Körper seines Gegners kleidete, ihn zu umschlingen und ihn bewegungsunfähig zu machen, er rief den Wind, ihm den Umhang vor das Gesicht zu pressen und ihm die Sicht zu nehmen.
Der Sand hätte es beinahe geschafft. Aber nur beinahe. Den Rest seiner Angriffe wehrte der Zauberer ohne langes Nachdenken ab. Und dann kam er näher. Der Schamane begriff, dass er verloren hatte. Ein bitterer Geschmack war in seinem Mund. Seine Seele würde ebenso wie die Sais den Spiegel stärken, den Zauber unterstützen, der sein eigenes Volk vernichten sollte. Fieberhaft überlegte er, suchte nach einem letzten Ausweg. Der Spiegel war nur noch wenige Handbreit vor ihm.
Der Schamane sprang. Tauchte unter der Hand mit dem Spiegel hinweg und packte den anderen an der Hüfte, warf ihn zu Boden, hielt ihn mit aller Kraft fest. Wenn der Zauberer jetzt seine Seele in den Spiegel zog, würde er sich selbst mit hineinziehen. Er bog den Kopf zurück, sah, wie das Begreifen in den Augen des Zauberers aufflackerte. Dann setzte sein Gegner den Spiegel konventionell ein, entnahm ihm Kraft, um den Schamanen zu bezwingen. Der Schamane verspürte finstere Genugtuung. Offenbar hatten die Zauberer vergessen, wie man ohne Spiegel zauberte. Bei direktem Körperkontakt war jede, wirklich jede Kraftquelle für beide zugänglich. Auch der Schamane bediente sich der Kraft des Spiegels. Er konnte förmlich spüren, wie diese Kraft hinaus floss, sich gegen sich selbst richtete, im Nichts zerstob. Kurz streiften seine Gedanken die Seele des Mädchens, er spürte, wie groß ihre Angst davor war, ein Windgeist zu werden, und einen kurzen Funken von Dankbarkeit, als er auch sie zergehen ließ.
Und dann war der Spiegel verbraucht, aufgelöst. Der Schamane starrte immer noch in das Gesicht seines Gegners. Ein Gesicht, das jung aussah, auch wenn der Zauberer bereits einige Menschenleben messen mochte. Ein Gesicht, das sich zu einem breiten Grinsen verzog, als der Zauberer das bemerkte, was der Schamane bereits wusste.
Die Hände, die den Zauberer hielten, waren alt und schwach. Der Körper, der auf ihm lag, hager und gebrechlich.
Der Zweikampf hatte nicht nur den Spiegel verbraucht, sondern auch den Körper des Schamanen. Schamanen zauberten nun einmal aus eigener Lebenskraft.
Der Zauberer packte die Handgelenke des Schamanen, drückte ihn zurück. „Das war’s, alter Mann. Du bist verbraucht. Ich glaube, es würde sich nicht einmal mehr lohnen, dich zu einem Spiegel zu machen.”
Er drückte fester. Der Schamane spürte Knochen brechen. Der Zauberer stand auf, trat ihm gegen die Rippen. Erneut brachen Knochen.
Etliche Tritte später hielt der Zauberer inne und sah auf sein Opfer herab. „Ein nutzloses Gerippe”, sagte er verächtlich. „In dem Zustand lebst du nur noch wenige Kerzen. Und dann kannst du als Windgeist zusehen, was wir mit deinen Leuten machen.”
Der Schamane erschauerte. Das hatte er über dem Kampf vollkommen vergessen. Sein Volk ... Was immer auch die Zauberer mit ihm vorhatten, es würde bald geschehen. Und es würde schrecklich sein. Und niemand war da, der sie warnen konnte.
Niemand außer ihm. Er musste etwas tun. Irgendetwas.
Blindlings griff er mit den Resten seiner Magie hinaus, griff nach dem Zauberer, der damit überhaupt nicht mehr gerechnet hatte, und packte sein Herz, drückte es zusammen. Der Zauberer brach über dem Schamanen in die Knie. Noch ein wenig ...
Der Schamane hielt inne. Ja, er konnte seinen Gegner jetzt töten, aber er selbst würde trotzdem sterben, so verletzt, wie er war, und dann war immer noch niemand da, der sein Volk warnen konnte. Er sah auf den schwankenden Körper, der über ihm aufragte. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Und wenn er ...
Er probierte es einfach. Hob seinen höllisch schmerzenden, gebrochenen Arm weit genug, dass er den Körper des Zauberers berühren konnte. Und dann schickte er seine Seele seiner Magie hinterher.
Die Seele des Zauberers wehrte sich vehement, als ein Fremder plötzlich ihren Körper beanspruchte. Der Zauberer war jung und stark. Einen Moment sah es so aus, als ob seine Seele diesen Kampf gewinnen würde. Doch auch wenn der Körper des Schamanen der eines Greises war, so war seine Seele ebenfalls noch jung. Und was ihr an Kraft fehlte, verlieh ihr der verzweifelte Wunsch, ein ganzes Volk zu retten. Der Schamane gewann die Oberhand.
Gerade wollte er die Restseele seines Gegners aus dem Körper stoßen, da hielt er inne. Der andere hatte Informationen, die er brauchte. Der Schamane begann, die Seele des Zauberers Stück für Stück zu zerpflücken und ihre Erinnerungen sich selbst einzuverleiben.
Es funktionierte. Die Teile der fremden Seele verschmolzen mit seiner. Einen flüchtigen Moment begriff er, dass er selbst dadurch ebenfalls verändert wurde, aber das war nicht so wichtig. Wichtiger waren die Informationen, die er nun dem Geist des anderen entnehmen konnte. Erinnerungen, die ihm jetzt so zugänglich waren, als wären es seine eigenen.
Er fand, was er suchte, und stöhnte entsetzt auf.
Heute noch!
Heute Abend noch!
Die Vernichtung seines Volkes stand unmittelbar bevor!
Und er war immer noch viel zu weit weg für eine Warnung.
Der Schamane rannte. In diesem einen Moment in seinem Leben verfluchte er die Tatsache, dass er keinen Spiegel hatte, nur auf die Kraft seines eigenen Körpers angewiesen war. Ein Körper, der jetzt jünger war, aber immer noch ein normaler, nur begrenzt leistungsfähiger menschlicher Körper. Der Schamane rannte, bis ihm die Beine den Dienst versagten und er stürzte. Sobald es ihm möglich war, rappelte er sich wieder auf, lief taumelnd weiter, dieses Mal deutlich langsamer, aber er lief. In der Ferne zeichneten sich vor dem inzwischen nächtlichen Himmel die Berge ab, schwarze Schatten vor den Sternen. Er lief.
Und hielt inne, als sei er in eine Mauer gelaufen. Die Berge glühten auf. Ein düsteres, rötliches Licht schien über sie zu fließen. Der Schamane zitterte. Zu spät! Der Zauber wirkte bereits. Er starrte auf das Glühen, das stärker wurde, heller wurde, bis die Berge von innen heraus zu leuchten schienen. Dunkle Wolken schienen durch dieses Leuchten zu schwimmen. Ein hohes Sirren lag in der Luft. Es war, als ob die Berge vor Schmerz schrien.
Dann hellte sich der Horizont im Osten langsam auf, und das Leuchten der Berge erlosch.
Der Schamane bewegte sich wieder vorwärts, langsam, schleppend. Nur zu gut wusste er, was er finden würde. Der Zauber hatte sein Volk gefressen. Vor ihm warteten nur noch Geister.
***
Der körperlose Seelenschatten Niors rollte sich enger in einer Ecke seines imaginären Gefängnisses zusammen. Schon wieder dieser Traum! Er wusste nicht, was schlimmer war: Dass er in der Zeit, in der der Schamane wach war, nur bruchstückhaft mitbekam, was in der Außenwelt geschah, oder dass er die Träume des Schamanen so intensiv miterleben musste, als wären sie seine eigenen. Und dieser eine Traum, er wiederholte sich ständig. Nach dem fünfzehnten Mal hatte Nior aufgehört zu zählen. Wie konnte ein Traum nach über tausend Regenzeiten noch immer so wuchtig und so schmerzhaft sein? Bei jedem Aufwachen hatte Nior das Gefühl gehabt, das, was der Schamane geträumt hatte, sei erst gestern geschehen. Die vielen langen Lebenszeiten hatten nichts gemildert. Es war, als ob das Feuer die Träume des Schamanen für alle Ewigkeit gebrandmarkt hatte.
Eines allerdings war ihm jetzt sonnenklar: Die Stämme hatten jeden Grund, Karapak zu misstrauen. Und es waren die Zauberer gewesen, die dieses Misstrauen, diese Zwietracht, in die Welt gebracht hatten. Aus nichts weiter als einer Paranoia, geboren aus Machtgier. Ein Muster, das Nior schrecklich vertraut war, wenn er an seine eigene Familie dachte.
Wäre es in diesem Gefängnis möglich gewesen zu frieren, Nior hätte Schüttelfrost gehabt. So presste er nur verzweifelt seinen Geistkörper noch enger zusammen und wimmerte wie ein kleines Kind.
„Schusch!“
Eine sanfte Berührung, die wie Nieselregen über seinen Rücken perlte.
„Beruhige dich, junger Nior! Ich habe dir doch gesagt, du musst lernen, ihn einfach auszublenden!“
„Jaila?“
Nior löste seine verkrampften Glieder und richtete sich halb auf. Ja, es war Jaila. Ein Seelenschatten wie er selbst, eine jener Seelen, die der Schamane schon vor Generationen vereinnahmt hatte und die sich geweigert hatte, vollständig in ihm aufzugehen. Ihre Projektion zeigte eine ältere Frau mit gutmütigem, runden Gesicht und einem warmen Lächeln.
„Es geht nicht“, gestand Nior. „Seine Träume sind einfach zu stark. Besonders dieser eine. Ich schaffe es nicht, mich dagegen zu verschließen.“
„Verschließen? Kann sich die Wüste gegen den Sand verschließen? Kann sich die Luft gegen den Wind verschließen? Der Sand ist ein Teil der Wüste, so wie der Wind ein Teil der Luft ist. So wie du ein Teil des Schamanen und seiner Träume bist. Wenn du dich gegen diese Erinnerungen stemmst, werden sie dich zermalmen. Lass sie durch dich hindurchfließen, lerne, sie nicht mehr festzuhalten, dann werden sie dich nicht mehr so schmerzhaft berühren.“
„Ausblenden heißt also ...“
„Genau. Wahrnehmen, ohne hinzusehen, deine eigenen Gedanken auf etwas anderes lenken.“
„Wie hast du das gelernt?“
Jailas Gesicht verlor sein Lächeln. „Ich war wie du, anfangs. Ich weigerte mich, in diesem alten Mann aufzugehen. Ich war erst sechzehn Regenzeiten alt, als er sich meinen Körper nahm, und genauso wie du wusste ich nicht, wozu ich zustimmte. Diese Träume ... ich kannte die Erzählungen meiner Großeltern über die Feuernacht in den Bergen, etwas, was sie nicht selbst erlebt, sondern wiederum von ihren Großeltern gehört hatten. Aber nicht einmal ihre Erzählungen hatten mich vorbereiten können auf diese Erinnerungen. Irgendwann war ich einfach zu müde, um mich noch gegen die Träume zu sperren. Und ich merkte, dass sie von dem Moment an einfach durch mich flossen, an mir vorbeiflossen, und mich nicht mehr vereinnahmten.“
„Ich werde es versuchen.“ Nior setzte sich auf, deutete mit der Hand vor sich auf den nicht vorhandenen Boden. „Setz dich.“
Jaila nahm mit anmutiger Geschmeidigkeit Platz.
„Sechzehn Regenzeiten. Du siehst aber älter aus.“
„Auch Seelenschatten können altern.“ Sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. „Immerhin bin ich bereits seit über 1000 Regenzeiten hier.“
„Du bist nicht die Einzige. Ich spüre genau, dass hier noch andere sind. Aber nur du kommst zu mir und sprichst mit mir.“
„Wundert dich das? Du bist – warst – immerhin ein karapakischer Zauberer. Und diejenigen von uns, die noch sie selbst sind, stammen fast alle aus der ersten Zeit. Damals war die Erinnerung an die Feuernacht noch mehr als nah, war unser Volk so klein an Zahl, dass es jederzeit vollständig hätte verschwinden können.“
Nior senkte verlegen den Blick. Aber er fragte trotzdem weiter. „Warum seid ihr nicht in dem Schamanen aufgegangen wie die späteren Seelenschatten? Und was das betrifft, warum bin ich nicht in dem Schamanen aufgegangen?“
„Von den ersten drei oder vier Seelen abgesehen, als er es noch nicht besser wusste, hat er nie jemanden gezwungen. Jedenfalls keinen aus unserem Volk. Gut, nicht jeder hat ihm seinen Körper kampflos gegeben, aber sobald wir wussten, weshalb er ihn nahm, haben wir alle nachgegeben und unseren Körper und unser Wissen mit ihm geteilt. Immerhin tat er es für unser Volk.“
„Aber du bist trotzdem du geblieben.“
„Wie ich schon sagte. Ich war ein junges Mädchen, er ein alter Mann.“
„Und das hat er toleriert.“
„So wie deinen Widerstand auch. Außerdem hat er sehr schnell gemerkt, dass es Vorteile hatte, wenn er nicht alle Seelen vereinnahmte.“
„Hm.“
„Er war immerhin der letzte und seitdem einzige Schamane der Stämme. Mit wem hätte er sich sonst beraten sollen?“
Das klang logisch. Und verständlich. Wer alleine Entscheidungen fällte, war einsam. Nicht einmal ein Schamane konnte das gut finden. Aber da fehlte noch etwas.
„Er hätte doch andere Schamanen heranziehen und ausbilden können.“
„Und wen?“, fragte sie mit sanftem Tadel. „Alle anderen Drachenblutlinien der Stämme waren im Tal vernichtet worden.“
„Er aber nicht. Er hätte Kinder zeugen können. Oder später welche wie mich adoptieren können“, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu.
„Du weißt, was in der Feuernacht passiert ist.“
Nior zog unbehaglich die Schultern hoch. „Leider nur zu gut.“
„Du weißt, dass er einen karapakischen Zauberer übernahm.“
„Ja.“
„Hast du jemals einen karapakischen Zauberer mit Familie getroffen?“
Das hatte Nior tatsächlich nicht. Dunkel erinnerte er sich, dass Jo dazu mal eine Bemerkung gemacht hatte. „Sie wollen nicht.“
„Genauer gesagt, sie können nicht. Sie sind so darauf trainiert, die Kraft anderer zu nehmen, dass sie das auch bei ihren eigenen Nachkommen tun würden. Kein Kind, das in der Nähe eines Zauberers geboren wird und aufwächst, lebt lange. Wenn es überhaupt geboren wird. Und unser Schamane steckte nun im Körper eines karapakischen Zauberers. Die fremden Reflexe waren zu stark. Er hat es versucht, mehrfach, aber nach den ersten Fehlgeburten wollte ihn keine Frau mehr an ihrem Feuer sehen. Und danach ... da hat er es nicht mehr versucht.“
Jäh begriff Nior. „Deshalb also hat er mich erst zu seinem Gehilfen gemacht, nachdem ich meinen Sohn gezeugt hatte. Und deshalb hat er mich nicht bei Ikti und Sua leben lassen.“
„Wie du vermutlich jetzt erkennst, handelt er immer zum Wohl des Volkes und seiner Mitglieder.“
„Zu dem ich immerhin am Ende auch gehörte. Und selbst wenn ihr anderen hier mich nicht als richtigen Krieger der Roten Zelte akzeptiert, mein Sohn ist auf jeden Fall einer. Jaila, ich will mich nicht einfach aufgeben. Aber wenn ich immer nur alleine hier hocke und nachdenke, werde ich verrückt. Und du kommst nur selten. Zu selten.“
„Tatsächlich?“ Die Frau legte verwundert den Kopf schief. „Ich dachte, ich würde andauernd hier sein.“ Sie runzelte die Stirn. „Vermutlich habe ich schon lange das Gefühl dafür verloren, wie schnell die Zeit wirklich verrinnt.“
„Jaila, kannst du nicht etwas tun, damit die anderen auch mal mit mir reden? Es sind doch noch viele andere Seelenschatten hier. Es würde mir sehr helfen. Sie kennen dich, sie vertrauen dir. Wenn du mit ihnen redest, vielleicht ...“ Nior verstummte unsicher.
„Aber natürlich!“ Jaila sprang auf und hielt ihm die Hand hin. „Komm, lass uns gleich damit beginnen! Ich werde dich einer Freundin vorstellen. Komm schon, sie wird dir gefallen!“
Und während sie ihn fortzog in das dunkle Licht der nicht vorhandenen Ebene, lachte sie fröhlich.
Flirrende Hitze lag über der sandrieselnden Ebene. Den Schamanen kümmerte es nicht. Seiner fast zu dunkelbraunem Leder verbrannten Haut machte die Sonne schon lange nichts mehr aus. Lediglich die Narben an seiner linken Seite reagierten manchmal noch. Andenken eines vergangenen Lebens. Der Schamane sortierte seine Ausbeute mit flinken Fingern. Zwei Handvoll fiebersenkende Mura-Beeren, ein Büschel Sindarre Wurzeln, gut gegen den Durchfall kleiner Kinder, und ein paar Pflanzen, die eher symbolischen Wert hatten, aber aufgrund ihrer Gestalt immer mächtig Eindruck machten. Klappern gehörte nun mal zu seinem Handwerk.
So, das war geschafft. Die Beeren steckten in einem grobmaschigen Säckchen, und der Rest war zu sauberen kleinen Büscheln geschnürt. Bedächtig hängte der Schamane seine Kräuter an die Trockenstange. Bei der Hitze, die im Moment herrschte, würden die Kräuter bereits heute Abend ausreichend trocken sein.
Fröhliche Rufe erklangen. Um die Lippen des Schamanen spielte ein Lächeln. Die Jungen kehrten von ihrem Ausflug ins Lager zurück. Wie es schien, hatten sie ganz offensichtlich eine erfolgreiche Jagd gehabt. Er sah auf. Und zuckte zusammen.
„Ikti!“
Ein drahtiger, gut zwölf Regenzeiten alter Junge löste sich aus der Gruppe und trottete zu ihm herüber.
„Zeig mir, was du erbeutet hast, Ikti!“
Der Junge hielt ihm den Vogel hin. Der Schamane sog scharf die Luft ein. Ein Königsfalke. Er hatte richtig gesehen.
„Ikti, diesen Vogel wirst du nicht essen. Gib ihn jemand anderem.“
„Warum nicht? Ich habe ihn erbeutet! Und Mutter wird sich freuen, wenn sie frisches Fleisch hat.“
Der Schamane seufzte. „Ikti, du bist ein Mehme. Du darfst keine Königsfalken essen.“
Der Junge schob bockig seine Unterlippe vor. „Du auch noch! Reicht das nicht, dass Mutter mir immer in den Ohren liegt mit diesem Mehme-Quatsch? Ich bin ein Krieger der Roten Zelte, verdammt! Kein Karapakier! Und überhaupt, was hat das damit zu tun, ob ich einen Vogel esse oder nicht?“
Der Finger des Schamanen berührte die Nase des Jungen. Eine Nase, groß und krumm wie ein Falkenschnabel. „Deine Sippe, Ikti, stammt vom Königsfalken ab. Wenn du diesen Vogel isst, isst du deinen Verwandten. Willst du das wirklich?“
Einen Moment wurde der Junge blass. „Aber ... das ist ein Vogel. Wie kann ein Vogel verwandt sein mit einem Menschen?“
„Ich bin ein Zauberer“, gab der Schamane zurück. „Wie kann ein Mensch ein Zauberer sein?“
Der Junge starrte ihn nur an.
„Zauberer werden nur die, deren Blut nicht vollständig menschlich ist“, sagte der Schamane.
Jetzt wurde der Junge wirklich gründlich blass. „Aber ... heißt das dann ...ich bin ein Zauberer ... ich bin kein richtiger Mensch?“
„Dummkopf“, schalt der Schamane und gab ihm einen Klaps auf den Kopf. „Du bist natürlich ein richtiger Mensch. Das heißt nur, dass aus dir vielleicht ein Zauberer werden kann, wenn du willst. Das heißt, dass irgendwo in der langen Linie deiner Ahnen einmal ein Zauberer gewesen ist. Und dieser Zauberer, im Fall der Mehme-Sippe, hat offensichtlich seinerseits einen Ahnen unter den Königsfalken gehabt. Wie auch immer das passiert sein mag. Jedenfalls, ich an deiner Stelle würde keinen Königsfalken essen.“
Der Junge starrte auf das Corpus Delicti in seiner Hand. Dann hielt er es zögernd dem Schamanen hin. Doch der schüttelte mit dem Kopf. „Nein.“ Er deutete auf seine eigene Nase. „Du siehst es jetzt nicht mehr, weil meine Nase im Kampf gebrochen wurde. Aber ich habe das gleiche Problem wie du, was Falken betrifft. Gib den Vogel Taniki. Sie hat drei hungrige Kinder in ihrem Zelt.“
Der Junge senkte zögernd die Hand, nickte dann und stapfte in Richtung auf Tanikis Zelt davon.
Der Schamane sandte einen Gedanken an einer der Seelenschatten in seinem Körper. An einen ganz bestimmten Seelenschatten. „Zufrieden?“
Wortlose Zustimmung.
Der Schamane lächelte. Er hatte richtig gelegen. An diesem einen Sohn der Rotem Zelte lag diesem Seelenschatten genug, dass er eine Reaktion bekam. „Wirst du jetzt endlich wieder mit mir reden? Du hast dich lange genug nur in Selbstmitleid gesuhlt.“
Aufflammender Zorn. „Du hast mich hereingelegt!“
„Hättest du sonst zugestimmt?“
„Vermutlich nicht.“
„Dann musste ich so handeln. Mein Volk wird in naher Zukunft einen Schamanen mit Zaubererblut brauchen.“
Verärgerter Unglaube. „Woher willst du das wissen? Niemand kennt die Zukunft.“
„Ach ja? Und was war mit der Priesterin in Sawateenatari?“
„Das ist etwas anderes. Durch sie sprach die Göttin.“
„Unsinn. Die Götter sprechen nicht durch Menschen. Und selbst wenn sie es tun könnten, hätten sie kein Interesse daran. Wir Menschen sind ihnen schlicht egal.“
„Ach ja? Und wie erklärst du dir dann, dass die Priester die Zukunft sehen können?“
„Ganz einfach. Menschenmagie.“
Der Seelenschatten Niors war für einige Herzschläge stumm. Dann: „Menschen haben keine Magie.“
„Das wollen die Zauberer euch zumindest glauben lassen.“
„Alle Magie stammt aus dem Drachenblut.“
„Falsch. Es ist heute falsch, es war schon immer falsch, und es wird immer falsch sein. Menschen haben ebenfalls Magie. Nur anders.“
Jetzt war aufrichtiges Interesse zu spüren. „Wie anders?“
„Als ich jung war, gab es bei meinem Volk ein Sprichwort. Die Magie der Drachen träumt von der Vergangenheit, doch die Magie der Menschen träumt von der Zukunft. Menschen können mit ihrer Magie die Zukunft sehen. Undeutlich, ungenau, in verschiedenen Möglichkeiten, denn die Zukunft liegt nie ganz fest. Aber sie können sie sehen. Und das war ein Teil jener Magie meines Volkes, deretwegen uns die Zauberer fast ausgerottet haben.“
„Das Mädchen Sai.“
Der Schamane bestätigte grimmig. „Ja, das Mädchen Sai. Und andere wie sie.“
Stille.
Der Schamane wartete. Als sich auch nach einer Handbreit Schattenwanderung noch nichts rührte, griff er nach der Bürste und begann, den Sammelbeutel zu reinigen.
„Schamane!“
Die Bürste ruhte.
„Bedeutet das, in den Schamanen sind beide Arten der Magie aktiv?“
„Mehr oder weniger, ja.“
„Warum nur in den Schamanen und nicht auch in den Zauberern?“
„