Falkenblut - Chris Svartbeck - E-Book

Falkenblut E-Book

Chris Svartbeck

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Beschreibung

Tiko hat nur ein Ziel: Sich einen Namen zu schaffen, der seinem Haus Ehre bringt. Eine Ausbildung in der königlichen Garde ist scheinbar der ideale Weg dazu. Dummerweise tritt er dabei sowohl dem karapakischen Königshaus als auch den Zauberern kräftig auf die Zehen. Und nicht genug, dass Tiko es versteht, sich die falschen Feinde zu machen. Er sucht sich als Freund auch noch ausgerechnet die Geisel des Königs aus. An Karapaks Königshof haben schon bedeutend geringere Fehler den Tod gebracht. Doch Tiko hat keine Wahl, er muss durchhalten. Als Kadett der Garde lebt er gefährlich. Aber wenn er aufgibt, ist er in jedem Fall tot, wie sein eigener Vater ihm unmissverständlich klargemacht hat. Die Anfänge des späteren Königshauses der Sippe Mehme.

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Falkenblut

Spiegelmagie Band 8
Chris Svartbeck
©Chris Svartbeck 2019
Machandel Verlag
Charlotte Erpenbeck
2019
ISBN 978-3-95959-325-0
Bildquelle cover: Fotokostic /www. shutterstock. com

Hinweise für neue Leser der Serie

Dieses Buch schließt an die Kurzgeschichte „Brutmutter“ in dem gleichnamigen Ebook an und spielt einige Jahrhunderte vor den ersten sieben Büchern der Spiegelmagie-Serie. Es ist möglich für neue Leser, mit dieser Geschichte in die Serie einzusteigen, könnte aber die eine oder andere Überraschung in den ersten Bänden weniger überraschend machen. 

Mit anderen Worten: Wer es richtig spannend möchte, liest die Serie besser von Anfang an.

Noch einer

„Herr, Ihr müsst Eurem Sohn endlich einen Namen geben!“

Baron Kigato aus dem Hause Mehme antwortete nicht. Seine Feder kratzte weiter über die Steuerliste, die der König angefordert hatte. Mit einem Anflug von Neid dachte er an das talwärts gelegene Lehen der Lethe-Sippe. Die waren reich genug, sich einen Schreiber zu halten. Kunststück, wenn man hervorragende Weiden und eine der besten Pferdezuchten weit und breit hatte. Er dagegen …

Die Tinte spritzte unter dem Druck. Kigato unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Es schickte sich nicht, Untergebenen gegenüber Schwäche zu zeigen.

„Herr, der Priester drängt. Der Junge ist nun schon vier Tage alt. Er muss endlich in die Tempellisten eingetragen werden.“

Kigato durchforstete seine Erinnerungen nach einem brauchbaren Namen. Es wollte ihm keiner einfallen. Doch. da war der Spitznamen, mit dem er seinen Cousin immer geneckt hatte, als sie noch Kinder waren. „Sag dem Priester, der Junge heißt Tiko“, entschied er brüsk.

„Herr!“ Vor lauter Bestürzung vergaß der Diener für einen Augenblick, was er seiner Stellung schuldig war.

Erst jetzt ging Kigato auf, was er gesagt hatte. Ein Namen mit nur zwei Silben für einen Adelsspross – undenkbar. Aber eine einmal getane Aussage vor einem Diener wieder zurücknehmen? Das war noch viel weniger denkbar.

„Du hast mich gehört. Und jetzt benachrichtige den Priester, damit wir diese leidige Angelegenheit endlich hinter uns bringen.“

Was immer der Priester darüber dachte, er sagte nichts. So wurde der jüngste Sohn des Hauses Mehme in den Tempellisten unter dem Namen Tiko eingetragen.

*

Der Priester mochte schweigen, Kigatos Gattin aber dachte nicht daran. „Haben Euch die Winddämonen den Verstand verdreht?“ Ihre Stimme, sonst immer so weich und melodisch, kletterte in eine Höhe, die Kigato in den Ohren schrillte. „Ihr habt mit Eurer Entscheidung unseren Sohn dem Hohn und Spott des ganzen Landes preisgegeben!“

„Falls dieses ganze Land ihn überhaupt jemals sehen und zur Kenntnis nehmen wird“, grollte ihr Mann finster. „Er ist unser wievielter Sohn? Der sechste oder der siebte?“

„Der fünfte!“, fauchte seine Gattin.

„Spielt keine Rolle. Bei Eurer Fruchtbarkeit werden wohl noch ein paar dazu kommen. Erben kann nur unser Ältester. Und mehr als drei werden wir in keinem Fall in der Armee unterbringen können. Die Ausbildung an der Offiziersschule kostet zu viel, das wirft unser Lehen einfach nicht ab. Tiko wird also mit ziemlicher Sicherheit zusammen mit seinem halben Dutzend Schwestern hier auf der Burg bleiben, hier leben und hier sterben. Da wird ihn sein Name wohl kaum stören.“

Die Augen seiner Gattin wurden schmal. „Meine Mutter hat immer gesagt, wer die Tradition bricht, fordert die Götter heraus. Ich werde beten, mein Gatte, dass Euer unüberlegter Entschluss kein Unglück über unsere Familie bringt.“

Kigato drehte sich wütend um und marschierte aus dem Raum, bevor er sich vergaß und seiner Gattin den Hals umdrehte. Diese Frauen aus den Bergen! Aufmüpfig, laut und abergläubisch! Als ob die Götter sich auch nur um einen einzigen Menschen kümmerten, geschweige denn um einen Namen! Einen Moment dachte er sehnsüchtig an die sanften, rundgesichtigen Frauen der Ebene, die ihren Gatten jeden Wunsch von den Augen lasen und nicht einmal auf die Idee kamen, in seiner Gegenwart die Stimme zu erheben. Aber von denen hatte keine einen kleinen Baron am Rand des karapakischen Reiches, weit weg von allen Annehmlichkeiten der Zivilisation, heiraten wollen.

*

Kigato hatte Recht. Seine Frau war fruchtbar. Es dauerte kein Jahr, bevor sie mit dem nächsten Kind niederkam.

Aber auch seine Gattin hatte Recht. Die Götter liebten es nicht, wenn man gegen ihre Ordnung verstieß. Das neuste und jüngste Kind des Hauses Mehme war nur eine Tochter. Und zugleich war sie das letzte Kind, dass Kigato in seinem Haus aufwachsen sehen würde, denn seine Frau starb bei dieser Entbindung.

Die Hebamme musterte ihren Herrn mit schmalen Augen und wagte es tatsächlich, Kritik zu äußern. „Dreizehn Kinder in siebzehn Jahren, die Fehlgeburten dazwischen nicht eingerechnet, das hat Eure Gemahlin ausgelaugt und zu sehr geschwächt. Sie hätte dieses letzte Kind nicht mehr bekommen dürfen.“ Natürlich sprach die Hebamme Kigato nicht direkt an, sondern tat so, als rede sie mit dem wimmernden kleinen Säugling.

Was sollte das? Bis auf Tiko waren die letzten Kinder alles Mädchen gewesen. Sie konnte doch wohl nicht im Ernst erwarten, dass er nicht den Versuch machen würde, noch einen Sohn zu bekommen? Zumal es hier in den Bergen nicht selbstverständlich war, dass die Kinder überhaupt groß wurden. Sein ältester Sohn war im Jahr nach seiner Geburt an der Halsröte gestorben, und seine älteste Tochter Daini war beim Klettern in den Felsen abgestürzt und ihren schweren Verletzungen drei Tags später erlegen. Ein Mann musste einfach zusehen, dass er sich absicherte. Die Sippe musste fortbestehen. Aber Frauen dachten komisch. Zudem fanden die Hebammen es immer tragisch, wenn ihnen eine Gebärende unter der Hand wegstarb. Kigato beschloss, für dieses Mal gnädig zu sein und sie einfach zu überhören.

Was jetzt? Eine Burg voller Kinder, die meisten davon Mädchen und zudem noch klein, wer sollte sie erziehen? Sollte er eine neue Gattin suchen?

Aber eine neue Gattin bedeutete am Ende noch mehr Kinder. Nein. Er hatte schon Schwierigkeiten genug, für die vorhandenen einen angemessenen Platz zu finden, an dem sie standesgemäß leben konnten. Dann doch lieber die Mägde und Sklavinnen. Deren Brut war nichts, um das ein Burgherr sich kümmern musste.

Was dann?

„Mutter?“

Die Stimme war leise, zaghaft. Eine Mädchen von elf Wintern kam in das Zimmer, stutzte kurz, verneigte sich dann vor Kigato und eilte an das Bett der toten Burgherrin. Ein einziger Laut nur entfuhr ihr, als sie erkannte, dass sie zu spät kam, dann fielen ihre Schultern nach vorne, zuckten, und sie sank neben dem Bett in die Knie.

Aber natürlich, das war die Lösung!

Mit wenigen Schritten war Kigato bei ihr, griff nach ihren Schultern und drehte sie, sodass er in ihr Gesicht sehen konnte. Es war nass von Tränen.

„Selea, du bist die älteste meiner Töchter und damit jetzt die Burgherrin. Ich weiß, dass wir davon gesprochen hatten, dich in zwei Sommern zu verheiraten, aber das muss vorerst warten. Deine jüngeren Geschwister brauchen dich jetzt. Ich werde mit den Rarkat reden und einen Aufschub verhandeln. Natürlich kannst du dann nicht mehr die Erste Gemahlin werden, aber immer noch die zweite.“

Das würde ihm eine schöne Summe Brautgeld einbringen. Dann konnte er sich vielleicht sogar endlich nach einer Braut für seinen ältesten Sohn umsehen.

Selea hauchte ein zittriges „Ja.“

Zufrieden ließ Kigato sie los und stolzierte hinaus.

Nicht schnell genug. Er hörte noch, wie die Hebamme sagte: „Armes Ding. Musst Mutter sein, bevor du überhaupt zur Frau geworden bist!“

Dämliche Frau! Wusste nicht, wann sie den Mund zu halten hatte! Er würde sie natürlich bezahlen für ihre Dienste, ein Mehme stand zu seinen Verpflichtungen. Aber danach würde er sie mit Peitschenhieben vom Burghof jagen lassen.

Die Schwester

Schwestern waren langweilig. Wollten nie die Burg verlassen, hingen immer irgendwo in Haus und Hof herum, um Blumen zu hätscheln, immer dasselbe Essen zu kochen und Wäsche zu waschen. Er durfte dann nicht einmal in ihre Nähe kommen. Er sei zu schmutzig, schimpften sie.

Nur Selea war eine Ausnahme. Manchmal nahm sie Tiko mit, wenn sie die Burg verließ. Am besten fand er die Ausritte. Dann durfte er vor ihr auf dem Pferd sitzen, da, wo er den besten Blick hatte, sicher festgehalten von den starken Armen seiner großen Schwester. Sie ritt mit ihm bis hinauf zu den Bergwiesen. Dort durfte er herumtollen und mit ihr in den Felsen klettern. Sie hatte immer Pfeil und Bogen dabei, sicherheitshalber, aber meist benutzte sie sie nur, um auf Tannenzapfen zu schießen.

Selea hatte keine Angst, ohne männliche Begleitung auszureiten. Was sollte schon passieren, solange sie auf dem Land ihres Vaters blieb? Vaters Wachen hielten die Räuber kurz und die tolorischen Feinde fern, und von den eigenen Leuten hatte eine Tochter des Hauses Mehme keinerlei unangemessenes Benehmen zu erwarten.

Solange er noch ganz klein war, hatte Tiko das natürlich anders gesehen. Als Fünfjähriger war er vor Stolz fast geplatzt, wenn seine Schwester ihn liebevoll neckend als ihren Beschützer bezeichnete. Später wusste er es natürlich besser. Aber Spaß machten die Ausritte mit Selea trotzdem.

Solange, bis er sechs Jahre alt war und die anderen Jungen ihn aufzuziehen begannen.

„Na, immer noch mit einem Mädchen unterwegs? Traust dich wohl nicht unter Männer, was?“

„Bringt sie dir auch das Nähen bei?“

„Hast wohl Schiss, alleine rauszugehen!“

Danach begleitete Tiko seine Schwester nur noch selten auf ihren Ausflügen. Insgeheim gab er vor sich selbst zu, dass er diese gemeinsame Zeit vermisste. Selea war immer so lustig, und sie schlug und trat ihn nie.

„Eigentlich hätte sie schon längst verheiratet sein müssen. Dann wäre sie jetzt bei den Rarkat und ohnehin nicht hier“, bemerkte einer seiner älteren Brüder nur, als Tiko sich mal traute, das Thema anzuschneiden.

Das stimmte, wie die dicke Köchin Musa bestätigte, während sie ihm wohlwollend ein Stück kalten Braten in die Hand drückte. Kleine Jungen waren immer hungrig. „Aber Selea ist keineswegs traurig über die verschobene Heirat. Im Gegenteil, das verschafft ihr ein paar weitere Jahre zu Hause und damit relativ viel Freiheit. Selbst wenn es hinterher nur noch zur dritten Gemahlin des Rarkat-Erben reichte, das ist es ihr wert. Im Gegensatz zu einem Ehemann, der mit Argusaugen über jeden Schritt seiner Gattin wachen wird, interessierte sich ihr Vater kaum für das, was seine Töchter tun.“

Natürlich hätte Selea niemals gewagt, sich direkt gegen ihren Vater aufzulehnen. Nicht einmal seine ältesten Söhne taten das, obwohl sie schon erwachsen waren. Selea sollte die Stelle der Burgherrin vertreten, hatte der Vater gesagt. Also tat sie das, was auch ihre Mutter getan hatte: Die jüngeren Geschwister bemuttern, trösten, erziehen und lieben, den Haushalt leiten, die Einkäufe der Vorräte organisieren, den Hausbediensteten den Lohn auszahlen, Knechte und Mägde einstellen und, falls nötig, feuern.

Aber im Gegensatz zu ihrer Mutter, die als verheiratete Frau ohne die Erlaubnis ihres Gatten nirgendwohin gehen konnte, war Selea frei, die Burg zu Ausritten zu verlassen, durch Täler und Berge zu streifen und sich den einen oder anderen schönen Tag zu gönnen.

Einmal, als Tiko selbstvergessen mit ein paar Stockfiguren im Garten Krieg spielte, belauschte er Musa und seine Schwester. Er hörte mit eigenen Ohren, wie Selea zugab, diese Zeit ohne ihre Mutter sei die beste, die sie je gehabt hätte. Niemand, der sie in die Nähstube rief, um an ihrer Aussteuer zu arbeiten, niemand, der ihr erklärte, für eine Edelfrau schicke es sich nicht, den ganzen Tag draußen in der Sonne zu werkeln, das schade dem Teint, niemand, der schimpfte, dass es sich für eine Edelfrau ungehörig sei, auf dem Pferd zu sitzen wie ein Mann, anstatt sich mit einer Sänfte tragen zu lassen.

Sie müsse nur aufpassen, dass ihr Vater keinen Grund zur Klage fände und ihre Aufgaben stets mustergültig erledigt seien.

Das waren sie wohl, denn der Vater beschwerte sich nie. Im Gegenteil, einmal verstieg er sich sogar dazu, ein „Gut, gut!“ zu brummen, als Selea ihm die Vorratslisten vorlegte.

*

An einem schönen Frühsommertag war dann der Falke in die Burg gekommen. Selea kam von einem Ausritt zurück, einen Falken im Arm, den sie so in die Satteldecke eingewickelt hatte, dass der Vogel weder seinen gesunden Flügel noch Krallen oder Schnabel einsetzen konnte.

Sein Vater hatte sich das blutbefleckte Federbündel angesehen und war drauf und dran gewesen, dem Tier den Hals umzudrehen, aber Selea hatte protestiert und gesagt, der Flügel könne doch wieder heilen. Es war ein schöner, großer Falke, ein Königsfalke. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben. Vater hatte ihr den Versuch erlaubt, und der Falkner Mirko hatte den Vogel verarzten dürfen.

Danach schoss Selea nicht mehr auf Tannenzapfen. Irgendwie sah sie den Falken genauso als Verpflichtung wie ihre jüngeren Geschwister und sie ging für ihn jagen. Für ein Mädchen schoss sie sogar ziemlich gut, musste Tiko zugeben.

Anfangs brachte sie nur jeden zweiten oder dritten Tag Beute nach Hause, aber dann nahm sie den Falken mit. Und obwohl der Vogel weder dressiert noch flugfähig war, schien das Seleas Jagdkünste deutlich zu verbessern. Sie kam nie mehr mit leeren Satteltaschen zurück. Sie brachte Kaninchen, den einen oder anderen Vogel, sogar Murmeltiere heim.

Tiko wusste, wie schwer es war, ein Murmeltier zu erbeuten. Er war also gebührend beeindruckt.

*

Im nächsten Winter wurde Selea krank. Fast jeden Morgen erbrach sie sich, sobald sie aufstand. Tiko merkte es nur, weil er noch jung genug war, um in den Frauenquartieren zu schlafen. Er verstand nicht ganz, warum Selea nicht zu der Heilerin ging. Tagsüber musste sie nicht brechen, da verrichtete sie ihre Arbeit ganz normal, wenn auch vielleicht ein wenig langsamer, und niemand schien etwas zu merken. Selea war stolz, wie alle Mehme. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Tiko beschloss, den Mund zu halten. Es war ja auch ihr letzter Winter zu Hause, den wollte er ihr nicht verderben. Bereits im kommenden Sommer sollte sie den Rarkat heiraten. Zum Mittsommerfest. Vater stellte bereits ihre Mitgift zusammen. Auch das schöne braunscheckige Pony sollte dazugehören. Tiko beneidete Selea, er hätte es gerne selbst als Reittier gehabt. Oder besser gesagt, er beneidete ihren Rarkat-Bräutigam, denn dessen Eigentum würden sowohl das Pony als auch Selea werden.

Und dann kam jener Tag, der sich Tiko ins Gedächtnis einbrannte. Der Tag, der alles änderte.

Am Tag davor war Selea wieder zur Jagd geritten.

Und dann war nur ihr Pferd zurückgekehrt.

Vater hatte sich geweigert, in der früh einbrechenden Winternacht einen Suchtrupp loszuschicken, auch wenn die Spur in dem hohen Schnee vermutlich selbst bei Mondlicht gut zu erkennen gewesen wäre. „Wenn sie zu blöd ist, sich auf einem Pferd zu halten …“ hatte er gezischt.

Erst am nächsten Morgen durfte der Suchtrupp losreiten. Sie kamen schnell zurück, Selea war wohl schon ganz in der Nähe gewesen. Dann brachten die Männer Selea in den großen Saal. Alle waren sie dort versammelt, auf Befehl des Barons, die ganze Familie und alle Soldaten und Diener und Sklaven der Burg. Selea würde bestraft werden. Vor aller Augen.

Mirko hob ihr den Falken vom Arm, die Diener nahmen Selea die dicken Überkleider ab. Der Vater starrte auf ihren Bauch, als ob er Löcher hineinbrennen wollte. Sein Gesicht versteinerte zu jenem kalten, starren Ausdruck, der nach Tikos Erfahrungen äußerste Wut bedeutete. Und dann ging er auf seine Tochter los.

Tiko verkroch sich instinktiv unter dem Tisch

Sein Vater brüllte und trat, Selea schrie und ging zu Boden, und dann war plötzlich ein lautes Zischen zu hören, und sein Vater flog durch die Luft und gegen die Wand. Als Tiko wieder zu Selea sah, blieb ihm der Mund offen stehen. Über ihr stand etwas wie eine überdimensionale Eidechse mit funkelnden goldenen Augen, langen Zähnen und Flügeln. Das musste einer der sagenumwobenen Drachen sein! Aber die gab es doch nur im Norden, da, wo auch die Frostgeister lebten?

Tiko wollte gerade unter dem Tisch hervorkriechen, um dieses Wundertier näher in Augenschein zu leben, als der Drache tatsächlich redete!

„Wage es nicht, sie noch einmal anzurühren!“ Trotz des unmenschlichen Zischens war die Stimme klar verständlich. „Du nicht – und keiner deinesgleichen! Diese Frau trägt meine Brut! Sie steht unter meinem Schutz!“

Schlagartig herrschte Totenstille. Und Tiko war mehr als froh, unter dem Tisch und somit weitgehend außer Sicht zu sitzen.

Der Drache sprach weiter. Er klang ebenso wütend, wie Tikos Vater es zuvor gewesen war. Kunststück. Wenn Tiko das richtig verstand, hatte sein Vater schließlich auch gerade versucht, den Nachwuchs des Drachen totzutreten.

Gegen dieses Monster hatten alle Männer seines Vaters zusammen keine Chance. So fand Tiko es auch nicht erstaunlich, dass sein Vater bereitwillig auf alle Bedingungen des Drachen einging. Sicherheit und Unversehrtheit für Selea, Sicherheit und Unversehrtheit für das ungeborene Junge in seiner Burg.

Sicherheit mit Hintergedanken, und entsetzlicherweise schien der Drachen Gedanken lesen zu können. Er sprang den Baron an, und im nächsten Moment schrie sein Vater ganz fürchterlich, Blut spritzte und Tiko sah die abgebissene Hand seines Vaters zu Boden fallen.

Mirko war der einzige, der sich überhaupt traute, seinem Herrn zur Hilfe zu kommen und ihm den Armstumpf abzubinden. Danach musste Baron Kigato noch einmal schwören, dieses Mal wesentlich umfassender.

Der Drache wurde wieder zu einem Falken.

Und der Falke bliebt auf der Burg für die ganze Dauer von Seleas Schwangerschaft.

*

Im siebten Monat ihrer Schwangerschaft ritt Selea mit dem Falken aus. Als sie zurückkam, war der Falke nicht mehr bei ihr. Ihr Pferd auch nicht.

Und sie war nicht mehr schwanger.

Ihr Vater ließ sie gar nicht erst in die Burg hinein. Er hielt sein Versprechen, ihr nichts anzutun, aber er verbannte sie, weit weg, in ein kleines, ärmliches Köhlerdorf am Rand des Hochwaldes.

Tiko sah sie nicht wieder.

Halsröte

Es war, als ob mit Selea auch das Glück aus der Burg vertrieben worden war. Tiko vermisste ihr Lachen. Seine Schwestern drängten sich scheu in die Schatten, sobald ihr Vater irgendwo auftauchte und ihre Stimmen sanken zu einem Flüstern, um nur nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Baron machte nicht einen einzigen Versuch, noch weitere von ihnen zu verheiraten. Es war, als ob sie nicht mehr existierten, Schatten unter Schatten.

Sein Vater trank. Trank, wenn er Schmerzen hatte – und sein Armstumpf schien ihn fast jeden Tag zu schmerzen. Er trank auch, wenn er keine Schmerzen hatte, um seine Schande zu vergessen. Tiko nahm er bis tief in den Winter nur ein einziges Mal wirklich zur Kenntnis. Das war, als der Frost so klirrend kalt war, dass die Wände der Burg innen vor Eiskristallen glitzerten, und Männer wie Frauen selbst in den Räumen noch dicke Pelze trugen. Ein Winter, wie er seit Menschengedenken nicht mehr hier, so tief im Süden der tolorischen Grenzberge, gesehen worden war. Ein Frostgeisterwinter, wie einige der ganz Alten schaudernd raunten. Der Vater war abgemagert seit dem Zwischenfall mit dem Drachen. Er fror schnell, weder das lodernde Kaminfeuer noch die dicken Fuchsfelldecken vermochten ihn zu wärmen. Tiko hörte ihn stöhnen und brachte ihm einen Becher heißen Würzwein. Sein Vater nahm den Becher, ohne ihn anzusehen, leerte ihn in wenigen Zügen. Dann sah er auf.

„Du!“ Er beugte sich vor. „Nichtsnutziger Nachkömmling. Dich hätte es niemals geben sollen. Dann wäre meine Gattin vielleicht noch am Leben und dieses ganze Desaster mit deiner Schwester niemals geschehen.“

Einen Moment schlossen sich seine Augen, als ob ihn die Müdigkeit übermannte. Dann flogen sie wieder auf; und schneller noch als seine Augenlider bewegte sich seine Faust, fuhr vor und traf Tikos linke Schulter. Sein Schlüsselbein brach mit einem hörbaren Knirschen. Tiko floh, so schnell er sich wieder aufrappeln konnte. Erst draußen wich der Schock so weit, dass er den Schmerz spürte und wimmernd zusammensank. Er merkte nicht einmal, wer ihn aufhob und zur Heilerin trug.

Der Knochen heilte ohne böse Folgen. Aber danach drückte auch Tiko sich in die Schatten, wenn sein Vater in der Nähe war.

Alle waren mehr als erleichtert, als es endlich taute und sie nicht mehr von Schneewehen eingeschlossen waren. Die Sache hatte nur einen Haken. Nicht nur die Mehme-Leute konnten jetzt ihre Burg verlassen, das konnten auch andere.

Tikos ältere Brüder bemannten die Grenzwachen doppelt. Da die Rarkat auf der einen Seite keine Mehme-Frau mehr in Aussicht hatten, auf der anderen aber auch der Schutz durch den Drachen fehlte, mochten sie auf die Idee kommen, wie in früheren Jahren Überfälle auf die Dörfer und Herden der Mehme zu machen.

Jeder Pass und jede Straße wurde gesichert.

Der Feind jedoch kam auf einem ganz anderen Weg.

*

Am ersten Vollmond nach dem letzten Schnee feierten sie traditionell das Frühlingsfest. Egal, wie miserabel seine eigene Stimmung war, dieses Fest musste Baron Kigato einfach feiern. Nicht einmal in seinem alkoholumnebelten Zustand war er so dumm, seine Gefolgsleute durch eine Absage zu verärgern.

Musa backte und briet und braute, und mit ihr werkelten ein Dutzend Frauen in der großen Küche. Tikos Brüder gingen wilde Antilopen jagen, und die Bauern brachten ihre traditionellen Frühlingsabgaben, Lämmer und Eier, um zur Festtafel beizutragen.

Wichtiger aber waren die Händler und Musikanten. Ein gutes Dutzend von ihnen kam, wie jedes Jahr, in die Burg, baute große, bunte Stände auf, voller verlockendem Tand, ihre Frauen und jungen Männer tanzten und zeigten akrobatische Kunststücke, Trommeln und Flöten erklangen den ganzen Tag und die ganze Nacht. Tiko wusste, dass er sich dieses Jahr nichts kaufen konnte, Vater hatte nicht, wie früher, ein paar Kupferstücke für seine jüngeren Kinder herausgerückt, aber die verheißungsvollen Gerüche, der Trubel im Burghof und die ungewohnte, lustige Menschenmenge besaßen dennoch eine magische Anziehungskraft. Er stürzte sich voller Begeisterung in das Gewühl.

Am interessantesten waren natürlich die Akrobaten und Jongleure. Einer der Musiker legte am Abend seine Trommel weg, griff zu einigen Fackeln und begann, die brennenden Scheite kunstvoll durch die Luft zu wirbeln. Tikos Augen klebten förmlich an den Funkenwirbeln. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Es war, als ob die Flammen Muster in den Himmel schrieben.

Ein zweiter kam dazu, und die beiden Männer warfen sich gegenseitig die Fackeln zu, ein halbes Dutzend waren es jetzt. Ihre schweißglänzenden Muskeln spielten im Feuerschein, während sie sich drehten und sich über den Platz bewegten, in einem flammenden Tanz.

Frenetischer Applaus dankte ihnen und Tikos ältester Bruder gab ihnen gut gelaunt einige Kupferstücke für diese Darbietung. Dann klang die Trommel wieder, und die Zuschauer begannen ebenfalls zu tanzen.

Für Kinder war in dem Tanz kein Platz. und immer nur zusehen war langweilig. Tiko beschloss, die bunten Wohnwagen etwas näher in Augenschein zu nehmen.

Wirklich reich waren die Händler und Schausteller nicht, wie er von Nahem sehen konnte. Zwar waren alle Wagen bunt bemalt und die Hörner und Hufe ihrer Zugochsen frisch geölt, aber das Holz war alt und verwittert, die Ochsen so mager, dass ihre Knochen hervorstanden. Die bunten Röcke, die an einer Leine zwischen zwei Wagen flatterten, waren vielfach geflickt und der Eintopf, der in einem großen Kessel auf einem offenen Feuer vor sich hin simmerte, roch nicht, als ob viel Fleisch darin enthalten war.

Eine Frau kam aus einem der Wohnwagen, ging zum Kessel und schöpfte etwas vom flüssigen Teil des Eintopfs in eine kleine Schale, dann kletterte sie zurück in den Wagen. Tiko konnte durch die offene Tür hören, wie sie mit jemandem sprach.

„Versuch doch wenigstens, etwas zu essen. Schau, ich hab dir auch nur Brühe mitgebracht. Es tut bestimmt nicht weh. Versuch es, mir zuliebe, bitte!“

Sie bekam keine Antwort.

Warum sollte jemand nicht essen wollen? Tiko wusste absolut sicher, dass er nie, nie etwas zu essen ausschlagen würde. Irgendwie hatte er sowieso immer Hunger.

Wie auf Stichwort rumorte sein Magen. Der Eintopf hatte wohl zu gut gerochen, auch ohne Fleisch. Aber Tiko wusste, wo er Besseres bekommen würde. Er flitzte zu Musa in die Küche.

Am nächsten Tag packten die Händler bereits wieder und fuhren ab, ebenso die Dorfleute. Tikos Brüder kurierten, wie die meisten Männer der Burg, einen ordentlichen Kater, und die Frauen machten sich mit einigen Seufzern daran, die Überreste der Feuer wegzuräumen und den Hof zu säubern. Nicht alles, was sie fanden, war appetitlich, die Feier schien einigen nicht gut bekommen zu sein. Aber das war nach jedem Frühlingsfest so und sie lachten und scherzten, während sie fegten und schrubbten.

Am späten Nachmittag schmerzte plötzlich Tikos Kopf. Gegen Abend war es so schlimm, dass er nichts essen mochte. „Hast dir gestern wohl den Magen verdorben, was, Kleiner?“, scherzte Musa gutmütig. „Das nächste Mal nimmst du einen Blaubeerkuchen weniger.“

Einer der Diener platzte in die Gesindeküche, wo traditionell auch die jüngeren Kinder und Frauen des Burgherrn mit aßen. „Ich brauche einen Eimer mit heißem Wasser, schnell! Der junge Herr Kimuko hat sich erbrochen, mitten bei der Mahlzeit!“

Das würde seinem Vater ganz bestimmt nicht gefallen. Tiko war fast geneigt, Mitleid mit Kimuko zu haben. Wie viel sein Vater auch trank, von seinen Söhnen erwartete er, dass sie Maß hielten. Kimuko stand eine derbe Abreibung bevor.

Aber warum sah Musa plötzlich so besorgt aus?

„Das ist schon der vierte.“ Die Köchin flüsterte, als ob sie Sorge hatte, die Aufmerksamkeit böser Geister auf sich zu ziehen. Ihr Blick flog zu Tiko. „Oder der fünfte. Holt die Heilerin! Sofort! Und du, mein Junge, gehst sofort ins Bett!“

Normalerweise hätte Tiko mit seinen bereits neun Jahren heftig protestiert. Er war kein kleines Kind mehr, das man einfach so ins Bett schickte. Aber heute war er fast erleichtert, die Tafel verlassen zu dürfen.

Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging, stolperte er und fiel. Verdutzt blieb er auf den Stufen sitzen. Was war denn bloß mit ihm los? Diese kleine Treppe nahm er doch sonst mit wenigen Schritten!

Einer der Diener kam, sah ihn dort sitzen, hob ihn hoch und trug ihn ohne viel Federlesens in sein Zimmer. Tiko war froh, als er endlich unter der warmen Bettdecke lag. Er hatte entsetzlich zu frieren begonnen.

*

An die nächsten Tage erinnerte er sich nicht. Nur noch daran, dass er nach Luft gerungen hatte, dass sein Hals schmerzte, als er wieder erwachte, und er sich schwach fühlte wie ein neugeborenes Kitz.

Die Heilerin hatte ihm etwas eingeflößt, bitter, kratzig, aber er war so durstig gewesen, dass ihn das nicht störte.

Dann hatte sein Vater in der Tür gestanden, ihn angesehen, fast feindselig. „Warum ausgerechnet der? Warum nicht einer von den anderen? Die wären wenigstens nützlich gewesen!“

Die Tür fiel zu, sein Vater war verschwunden.

Im Blick der Heilerin hatte er Mitleid gesehen.

Halsröte. So hieß der Feind, der die Burg und das ganze Umland erobert hatte, heimtückisch und leise, noch während sie alle glücklich feierten. Die, die auf dem Fest gewesen waren, hatten die Seuche mit heimgebracht. Kein Dorf, in dem nicht Tote zu beklagen gewesen waren. Niemand, der die Krankheit nicht schon einmal mitgemacht hatte, blieb verschont. Von den Kindern überlebten die meisten. Aber die jungen Männer raffte es reihenweise dahin. Tiko war der einzige Sohn Kigatos, der überlebte.

Jetzt wusste er, was er in dem kleinen Wagen der Händler in der Festnacht gehört hatte. Die Fremden hatten den Tod mitgebracht.

Nur für die Männer. Frauen erkrankten nie an der Halsröte. Eine Tatsache, die Baron Kigato besonders übelnahm. Vier Söhne des Hauses Mehme waren tot. Die Burg hatte nur noch einen einzigen Erben: Tiko. Und eine Horde Mädchen, die er mangels ausreichender finanzieller Mittel nicht verheiraten konnte.

Natürlich erwog Kigato, sich eine neue Gattin zu nehmen und weitere Söhne zu zeugen. Das Problem war nur, dass ein Haus, das so viele Söhne verloren hatte, den potenziellen Schwiegerväter als wenig glückbringend erschien. Mal ganz zu schweigen davon, dass Kigato nur noch eine Hand hatte. Also blieb er Witwer und alleine.

Da wäre natürlich immer noch die Möglichkeit gewesen, einen seiner Bastarde mit der Dienerschaft anzuerkennen. Aber ein Mehme, der eine nichtadelige Mutter hatte?

Das ließ sein Stolz nicht zu.

Dann doch lieber diesen nichtsnutzigen, aber rechtmäßigen Nachkömmling ausbilden.

*

Tiko wurde zu seinem Vater zitiert. Das war das erste Mal, dass er erfuhr, dass mit seinem Namen etwas nicht stimmte.

„Du wirst dich anstrengen müssen. Es geht nicht an, dass das Haus Mehme von einem Mann vertreten wird, der nur zwei Silben in seinem Namen hat. Ich werde dich als Kadett bei der königlichen Garde anmelden. Sieh zu, dass du in den nächsten Jahren aufholst, was du bisher zu lernen versäumt hast. Die Garde behält nur die Besten. Und zu denen musst du gehören, damit der König dir einen längeren Namen gewährt.“

Tiko verstand die Welt nicht mehr. Was war so schlimm an einem Namen mit zwei Silben? Selbst der Hauptmann, der die Soldaten seines Vaters anführte, hatte nur zwei, und ebenso seine beiden jüngsten Schwestern.

Der Hauslehrer übernahm die undankbare Aufgabe, den jungen Burgerben aufzuklären.

„Euer Vater hatte sechzehn Kinder mit seiner rechtmäßigen Gattin. Er hat nie damit gerechnet, dass bei so vielen Nachkommen ausgerechnet sein Jüngster der Erbe sein würde. So wenig, wie er damit rechnete, dass er seine jüngeren Töchter je verheiraten könnte. Daher hat er sich die mühsame Suche nach einem passenden Namen bei seinen jüngsten drei Kindern gespart.

Das Problem ist, dass im gesamten Adel ein Name mit weniger als drei Silben undenkbar ist. Wenn Ihr also diesen Namen behaltet, wird man immer annehmen, ihr wäret von niedriger Geburt. Ein Bastard, oder, schlimmer noch, ein Bürgerlicher, der gerade erst in den Adelsstand erhoben wurde. Damit wäre es für Euch unmöglich, eine standesgemäße Ehe abzuschließen oder jemals im Reich irgendeinen höheren Posten zu bekleiden.“

Sein Vater war also der Grund für seine missliche Lage. Tiko biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten.

*

Kampftraining mit und ohne Waffen, Schreib- und Leseübungen, lernen, lernen, lernen. In den folgenden Monden wünschte Tiko sich oft, nicht seine Brüder wären an der Halsröte gestorben, sondern er selbst.

Sein Vater redete in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal mit ihm: Als der Baron von den Ausbildern und Lehrern wissen wollte, ob Tiko weit genug war, um Kadett zu werden. Ansonsten gingen beide, Vater wie Sohn, sich so weit wie möglich aus dem Weg und die wenigen gemeinsamen Mahlzeiten verbrachten sie schweigend.

Am Ende war Tiko mehr als erleichtert, als er tatsächlich nach Sawateenatari geschickt wurde. Auch wenn das bedeutete, die klare, kühle Luft der Berge gegen die mückenverseuchten Flussufer des Tsaomoogra und die stinkenden, lärmenden Gassen der Hauptstadt einzutauschen, in denen die heiße Luft zu stehen schien und mehr Menschen herumwuselten, als es im Frühjahr in den Bergteichen Kaulquappen gab.

Die Eskorte aus drei Soldaten lieferte ihren Schützling am Tor des Kasernenhofes ab, überreichte einem mürrischen Hauptmann, der die Neuen in Augenschein nahm, den Begleitbrief des Barons, auf dem unübersehbar das gleiche Wappen prangte wie auf Tikos schon fadenscheiniger, viel zu großer, von seinem ältesten Bruder geerbten Tunika, und machten auf der Stelle kehrt.

Da war er nun. Auf Gedeih und Verderb dazu verdammt, Erfolg zu haben.

Tiko spürte einen Muskel in seinem Gesicht zucken. Er zwang sich, seine Kiefer zu entspannen. Hier gefiel ihm überhaupt nichts. Aber er hatte keine Wahl. Und zudem, es würde ja nicht für ewig sein. Sobald er seinen Namen hatte, war er hier wieder weg, soviel stand fest.

Gegner

„Tiko aus dem Haus Mehme!“

Die Blicke, die ihn von allen Seiten trafen, schienen auf seiner Haut zu brennen. Oh, wie er seinen Namen mittlerweile hasste! Und seinen Vater dazu. Hätte der ihm nicht einen ganz normalen, dreisilbigen Namen geben können, wie alle anderen seiner Brüder? Nur zwei Silben, ganz, als ob er nicht besser als ein Kaufmann wäre. Er sah nur zu deutlich in den Mienen der anderen Kadetten, was sie davon hielten.

Aber er musste da durch, egal, was die anderen von ihm hielten. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, diesen Namensmakel loszuwerden. Einen offiziellen Namenszusatz. Und den konnte nur der König selbst vergeben. Nur damit würden die Priester bereit sein, seinen Namen in den Tempellisten zu ändern. So reihte er sich wortlos ein in der Gruppe Halbwüchsiger, die allesamt begierig auf eine Offizierslaufbahn in der königlichen Garde waren, wild entschlossen, sich einen Namen zu verdienen, den sie mit Stolz nennen konnten.

„Seit wann erlauben wir Niederen, in die Garde einzutreten?” Das Tuscheln war so laut, dass Tiko es auf jeden Fall hören musste.

„Sein Vater soll ja tatsächlich ein Adeliger sein.”

„Wenn er einer ist, dann hat er den Verstand eines Schlammflohs. Seinem Sohn einen zweisilbigen Namen zu geben! Ist der überhaupt legitim, oder hat dieser Mehme-Baron einen Bastard in seine Erblinie holen müssen?”

Tiko konnte fühlen, wie seine Ohren glühten. Seine Kiefer mahlten. Zuhause … zuhause hatte sich niemand an diesem Namen gestört. Wenn er gewusst hätte, wie viel das hier bedeutete … Aber sein Vater hatte ja auch wohl nie vorgehabt, ihn in den königlichen Dienst treten zu lassen. Dafür waren seine älteren Brüder bestimmt gewesen. Die alle die Seuche im letzten Frühjahr nicht überlebt hatten. Und jetzt war er der Älteste. Tiko ballte die Fäuste so stark, dass seine Nägel sich schmerzhaft in die Innenfläche seiner Hände pressten. Seine Familie hatte ihm das hier eingebrockt, sie alle zusammen. Er hasste sie. Er hasste sie mit Inbrunst. Der Vater, der ihn nur zur Kenntnis nahm, weil er der letzte seiner Söhne war. Seine Brüder, die einfach so gestorben waren. Und das mit seiner ältesten Schwester war fast noch schlimmer. Wenn jemand hier wüsste, dass die tatsächlich einen Bastard von diesem fliegenden Ungeheuer ausgetragen hatte ... Nach den ersten Bemerkungen über seinen Namen hatte Tiko beschlossen, die Sache mit Selea auf keinen Fall hier zu erwähnen. Die Kommentare der anderen Kadetten waren auch so schon beißend genug. Vielleicht hätte er ja zu Hause bleiben, dieser Demütigung entgehen können, wenn seine Schwester nicht so pflichtvergessen gehandelt hätte. Das Bündnis mit den Rarkat, dass sie eigentlich durch Heirat hätte besiegeln sollen, hätte seinen Vater vielleicht ausgereicht fürs Familienprestige.

Zu viele vielleicht. Eine Heirat kam nach dieser Schande für seine Schwester nicht mehr infrage und die Rarkat waren nicht an einer anderen Braut aus dem Hause seines Vaters interessiert gewesen. Also blieb Tiko nichts anderes übrig, er musste ein Mitglied der Garde werden. Erfolglos nach Hause zurückzukehren war keine Option. Sein Vater würde ihn umbringen.

Die tuschelnden Stimmen in seinem Rücken verstummten immer noch nicht. Tiko straffte seine Schultern und versuchte, nicht länger hinzuhören.

Der Diener, der ihm den Packen mit seiner Kadettenuniform reichte, musterte ihn halb mitleidig, halb belustigt, und auch um seine Mundwinkel zuckte es. Tiko zwang sich, keine Miene zu verziehen, nahm den Packen und trat zurück in die Reihe.

*

Fünf Gruppen würde es in diesem Jahr bei den Kadetten geben, weil sie so zahlreich waren. Das verkündete der Ausbilder, ein bulliger, älterer Hauptmann mit einer Narbe am rechten Arm und über dem rechten Ohr. „Bodoke!“, dröhnte seine Stimme. „Merkt euch meinen Namen! Ich heiße nicht umsonst wie die Ochsenpeitsche. Ich werde euch treiben, bis euch das Blut in den Schuhen steht und ihr nicht mehr wisst, ob ihr noch lebt oder schon in den Winden wandert. Ihr werdet auf mich hören wie auf euren Vater! Und mehr noch, bei mir werdet ihr auch parieren! Es ist mir egal, aus welcher Familie ihr kommt und mit wem ihr verwandt seid oder nicht, ich bin hier, um jeden von euch zu prüfen und zu schleifen, bis er entweder ein glänzender Gardist ist oder als Abfall rausfliegt, egal, ob lebend oder tot.“

Leere Versprechungen, zumindest das mit der Gleichbehandlung. Oder vielleicht wäre es das auch nicht gewesen, aber dann kam, gerade als der Hauptmann mit seiner gebrüllten Ansprache fertig war, noch ein neuer Kadett. Rumaru, der Sohn des Königs. Allseits bereits bekannt als fähiger Zauberer.

Selbstredend hatte Rumaru von seinem königlichen Vater die strickte Anweisung bekommen, eben diese Zauberer-Fähigkeiten nicht zu benutzen, da er eine solide soldatische Ausbildung bekommen sollte. Schließlich hatte das Haus Nahne noch einige Eroberungen vor. Man munkelte, der König wolle das ganze Gebiet der Ebene am Fluss unter seine Herrschaft bringen. Tiko hielt das für ausgemachten Quatsch. Wer sollte das alles regieren? Er wusste, wie viel Arbeit bereits die eine Burg mit den zugehörigen Ländereien seinem Vater machte und wie schwierig es in manchen Jahren gewesen war, sie ausreichend vor den räuberischen Banden aus den tolorischen Bergen zu schützen. Und Karapak war um ein Vielfaches größer. Er hatte sich die Karte genau angesehen. Das Lehen seines Vaters passte mindestens fünfzigmal hinein. Aber Könige eroberten nun mal. Anscheinend waren sie dafür gemacht. Und für nichts Gescheites sonst.

Alle Nahne-Könige bislang waren Eroberer gewesen. Und alle waren sie sowohl als Feldherren als auch als Zauberer ausgebildet worden. Rumaru folgte also nur der Familientradition.

Was nicht hieß, dass er mit seiner augenblicklichen Position glücklich war, auch wenn die anderen Rekruten ihn teils mit offenem Mund bewundernd anstarrten. Tiko konnte sehen, wie geringschätzig Rumarus Mundwinkel sich nach unten verzogen, während er seine zukünftigen Kameraden musterte.

Das würde nicht leicht werden.

Zunächst aber ließ Hauptmann Bodoke jetzt die Gruppen zusammenstellen. Nicht durch ihn selbst, wie Tiko gehofft hatte. Er rief lediglich fünf Namen auf und bestimmte diese Jungen als zukünftige Leiter und Verantwortliche der Gruppen. Natürlich war Rumaru unter ihnen.

Dann bekamen die frisch ernannten Gruppenleiter die Namenslisten und konnten sich ihre Leute wählen. Immer einen pro Durchgang.

Diejenigen, die aus den bedeutenderen Adelshäusern stammten, wurden zuerst gewählt. Danach kamen die weniger wichtigen Namen an die Reihe. Zuerst die Barone. Tiko wartete, aber niemand rief seinen Namen. Die letzten Ränge wurden aufgerufen, diejenigen, deren Väter bloße Wappenträger waren. Tiko stand immer noch auf dem Platz, mit inzwischen vor Scham glühenden Gesicht. Schließlich war nur noch ein einziger Junge neben ihm. Der Gruppenleiter, der gerade dran war, ein Grafensohn namens Zakari, schaute etwas verunsichert. Jedem war klar, dass er Tiko ganz bestimmt nicht wollte, so wenig, wie einer der anderen. Das Problem war nur, dass als letzter Rumaru noch einmal dran war. Und dem Sohn des Königs jemanden in die Gruppe zu geben, der nur einen zweisilbigen Namen hatte …

Zakari schien es für geratener zu halten, sich mit einem wie Tiko einzulassen, als den Zorn des zukünftigen Königs zu erregen. Er rief Tiko auf. Mit einer Miene, die nur zu klar verriet, dass er es als persönliches Opfer betrachtete, dass er nur dem Kronprinzen zuliebe über sich brachte.

Rumaru brachte ein verkniffenes Lächeln zustande und rief den letzten Namen.

Unverschämtheit! Dass sie es überhaupt wagten! Rumaru schäumte inwendig vor Wut. Eigentlich hätte dieser Tiko bereits viel früher von einem der anderen Gruppenleiter gewählt werden müssen. Mal ganz abgesehen davon, dass es eine Zumutung war für den Erbprinzen des Hauses Nahne, mit einem Niedriggeborenen zusammen ausgebildet zu werden. Der und ein legitimer Sohn? Im Leben nicht! Legitime Adelssöhne wuchsen niemals mit einem nur zweisilbigen Namen auf. Wahrscheinlich ein Bastard, den dieser Baron Mehme ins Rennen schickte, weil ihm kein besserer Sohn geglückt war.

Der würde es nie in die Königsgarde schaffe, dafür würde er sorgen. Das fehlte gerade noch, dass ein Niedriggeborener in die persönliche Leibgarde des Königs kam.

Natürlich war das immer noch sein Vater. Rumaru ballte erbittert die Fäuste. Warum bestand der überhaupt auf dieser albernen Tradition, dass der zukünftige König mit primitiven, nichtmagischen Kadetten ausgebildet werden musste? Was immer sein Vater an diesen Kreaturen so bemerkenswert fand, Rumaru sah nichts. Aber wenn dieser Tiko verschwinden sollte, dann musste er es geschickt anfangen. Sein Vater predigte immer, ein König müsse unvoreingenommen sein. Der würde es bestimmt nicht mögen, wenn er erfuhr, dass Rumaru den Baronsbastard absichtlich aus dem Kadettenkorps herausbugsierte.

Es durfte also nicht allzu offensichtlich vorgehen. Abwarten. das war immer die beste Taktik, wenn man noch keine hatte.

Und in der Zwischenzeit … kleine Nadelstiche. Bemerkungen, geschickt gesetzt. Bei manchen Leuten reichte das schon, dass sie von selbst abzogen. Vielleicht auch bei diesem Provinzler. Der sprach wie einer, der auf dem Dorf groß geworden war. Intrigen kannte der wohl überhaupt nicht. Da sollte ein versierter Mann leichtes Spiel haben.

Rumaru lächelte böse.

Sein Tag würde kommen, oh ja!

Tiko hatte fast ein wenig Angst bekommen. Der Kronprinz hatte ihn zum Abschied mit einem Blick bedacht, der ihn schaudern ließ. Aber der würde ihn doch sicher nicht verzaubern, oder? Während der Ausbildung war ihm das ja verboten. Komisch, einen Zauberer unter den Kadetten zu haben. Tiko hatte irgendwie immer gedacht, die würden an Tischen sitzen, dicke, alte Bücher wälzen und Zaubersprüche ausprobieren.

Jetzt trottete er mit seiner Gruppe hinter Hauptmann Bodoke her, der sie weiter einweisen wollte.

Jede Gruppe bezog einen gemeinsamen Raum in der größten Kaserne. Tiko wartete, bis alle anderen ihre Pritsche ausgesucht hatten, bevor er das letzte verbliebene Gestell nahm. Es stand hinten in der Raumecke, am weitesten entfernt von den Fenstern, und war somit der wärmste und damit schlechteste Schlafplatz während der langen Sommermonde. Aber wer in der Hackordnung ganz unten stand, durfte keine Ansprüche stellen.

So ließ Tiko sich auch widerspruchslos zu den Diensten einteilen, die die Hochgeborenen nicht verrichten mochten: Stube putzen und Kübel leeren. Letzteres teilte er sich mit Schenomat, dem Sohn eines Fürsten aus dem Süden. Ein merkwürdiger Name. Er klang überhaupt nicht karapakisch. Schenomat grinste seinen Leidensgenossen an. „Sieht wohl so aus, als ob wir die Fußabtreter hier werden. Ich wette, du wunderst dich auch über meinen Namen, stimmt‘s?“

„Ein wenig schon ...“

„Ist ganz einfach.“ Schenomat grinste noch immer. Er schien einer von diesen Naturen zu sein, die das ganze Leben spaßig fanden. „Uns hat Karapak erst kurz vor meiner Geburt erobert. Und mein Vater dachte nicht im Traum daran, mir einen Namen in der Sprache der Eroberer zu geben. Er hat extra einen Namen ausgesucht, der so unkarapakisch wie möglich war. Noch dazu einen, den schon mein Urgroßvater getragen hat, und der hat seinerzeit den ersten Versuch Karapaks, uns zu erobern, erfolgreich abgewehrt.“

„Und da willst du ein Mitglied der Königsgarde werden?“

„Will ich überhaupt nicht, das kannst du mir glauben. Ich bin als so eine Art Geisel hier. Bei den letzten Steuerzahlungen hat mein Vater wohl etwas zu deutlich seinen Unwillen gezeigt. Jedenfalls kam kurz darauf eine königliche Botschaft, dass er seinen ältesten Sohn zur Ausbildung in die Hauptstadt zu schicken hätte. Was dann ich bin. Und du? Was ist mit dir?“

Tiko zuckte mit den Schultern. „Ich hatte das Pech, dass alle meine älteren Brüder im Frühjahr an der Halsröte gestorben sind. Damit war ich plötzlich der Erbe. Und mein Vater war dumm genug, mir nicht gleich einen ausreichend langen Namen zu geben. Jetzt muss ich zusehen, dass ich irgendwie weit genug komme und gut genug bin, dass der König mir einen längeren Namen gewährt.“

„Oh je! Da hast du wirklich Pech gehabt. Hoffentlich schaffst du das!“ Schenomat klopfte Tiko voller Mitgefühl auf die Schulter.

Wenigstens einer, der ihn verstand. Plötzlich sah die Zukunft nicht mehr ganz so trostlos aus.

*

Schenomat blieb allerdings auch der einzige. Alle anderen behandelten Tiko von oben herab und beschränkten ihre Kontakte auf das Minimum. Lediglich der Hauptmann machte eine Ausnahme. Er sah bei den Rekruten tatsächlich mehr auf die Leistung als auf den Namen. Vorerst. Und mit einer Ausnahme: Rumaru.

Sechs der Anwärter wurden bereits nach dem ersten Mond wieder nach Hause geschickt. Wie Hauptmann Bodoke ihnen fast leutselig mitteilte, waren sie wohl eher für den Schreibtisch und die Feder geschaffen als für Schwert und Exerzierplatz. Auch bei den Hochgeborenen in Rumarus Gruppe war einer dabei, der keinen Deut besser war als die nach Hause Geschickten. Allerdings war dieser Taskete inzwischen allem Anschein nach ein enger Freund des Kronprinzen. Bodoke drückte also beide Augen zu.

Enger Freund traf es nicht ganz, dachte Tiko. Eher ein Schleimer. Aber Rumaru schien diese Lobhudeleien zu genießen.

Taskete schleimte nicht nur. Er spionierte und tratschte auch. Tiko war mehr als froh, nicht in Rumarus Gruppe gelandet zu sein. Taskete trug dem Kronprinzen jedes Wort zu, das über ihn geredet wurde, und schien zudem systematisch die Schwächen aller Mitglieder seiner Gruppe auszuloten. Schwächen, die er Rumaru ebenfalls mitteilte und die dieser gnadenlos benutzte, um seine Gruppe zu manipulieren. Keiner beklagte sich darüber, im Gegenteil, jeder schien überdies noch gegen jeden zu kämpfen in dem blinden Eifer, möglichst hoch in der Gunst des künftigen Königs zu steigen.

Und Taskete stichelte. Kleine Seitenhiebe auf alles und jeden, besonders aber auf Tiko.

Tiko hatte noch nie mit einem Großschwert gekämpft? „Der Kleine war vermutlich zu zart, um so ein Schwert überhaupt heben zu können!“

Tiko ging unter seinem Schild zu Boden, als ein doppelt so schwerer und einen Kopf größerer Kadett auf ihn eindrosch? „Der hat nicht mal Verstand genug, um rechtzeitig wegzulaufen. Seht bloß zu, dass der in einem echten Kampf nicht neben euch steht. Der bringt sich selbst um und euch noch dazu!“

Tiko kannte die korrekte Handhabung des Morgensterns nicht? „Vermutlich haben sie bei ihm zu Hause nur Korn dreschen geübt.“

Am schlimmsten aber waren die immer wieder aufflammenden Bemerkungen zu seinem Namen, die süffisant geflüsterten Worte: „Aber er ist bestimmt nur ein Bastard.“ Etwas, was anscheinend alle glaubten.

Tiko fühlte sich in seinem gleich anfangs gefassten Entschluss bestärkt. Sobald er seinen Namen hatte, würde er vom Königshof verschwinden. Das war nicht die Sorte Leben, die ihm gefiel. Lieber eine Burg in den Bergen vor Räubern schützen, als in diesem höfischen Schlangennest sein Leben zu fristen und immer auf seinen Rücken achten zu müssen. Es waren ja nicht nur Worte, die hier als Waffen eingesetzt wurden. Auch der eine oder andere Dolch verirrte sich schon mal, auch in den Übungskämpfen, und Todesfälle im Dunstkreis des Thrones waren nicht ungewöhnlich.

Regenzeit

Die erste Regenzeit in Sawateenatari hätte Tiko fast umgebracht. In den Bergen fiel um diese Zeit Schnee vom Himmel und es war kalt. Aber gegen diese Kälte konnte man sich schützen. Dicke Pelzmäntel, pelzgefütterte Mützen und Stiefel, ebenso dick gefütterte Beinkleider. So gekleidet machte es sogar Spaß, in den Schnee hinauszureiten. Die Jagd war einfach, denn das Wild hinterließ deutliche Spuren, und die deutlich leichteren Hunde hatten keine Schwierigkeiten, auf der gefrorenen Eiskruste zu laufen, ihre Beute einzuholen und für die Jäger zu stellen.

Hier dagegen …

Hier regnete es. Und regnete. Und regnete. Alles war irgendwie klamm, wenn es nicht gleich nass war, und die Kohlepfannen konnten auch nur unzureichend Wärme in die Räume bringen. Die Luft schien zugleich zu stehen, ein Dunst, der trotz der Wärme kalt war. Und da die Kohlepfannen vor dem Fenster standen, wurde Tikos Pritsche von der Wärme überhaupt nicht mehr erreicht.

Sein Bettzeug begann zu schimmeln.

Er versuchte, es tagsüber in der Nähe der Kohlepfannen aufzuhängen, aber Zakari verbot es ihm schroff. „Ich will nicht, dass es hier aussieht wie in einer Wäscherei. Der Hauptmann soll einen ordentlichen Raum sehen.“

Also machte Tiko sein Bett nach Vorschrift und legte sich abends unter die schimmlige Decke.

Und er wurde krank. Ein hartnäckiger, bellender Husten, der ihn nicht mehr schlafen ließ. Die anderen allerdings auch nicht. Schließlich hatte Zakari die Nase voll und schickte Tiko zum Heiler. Der hörte sich an, was der schniefnasige, fiebernde junge Mann vor ihn erzählte, und packte ihn auf die Krankenstation, in ein sauberes, durch heiße Steine gewärmtes Bett. Ohne Schimmel.

*

Als Tiko endlich zu seiner Gruppe zurückkehrte, war der schlimmste Teil der Regenzeit vorbei, und er hatte eine neue Decke.

Schenomat war heilfroh, dass er seine Aufgaben wieder mit jemandem teilen konnte. „Ich glaube, ich verstehe jetzt die Seufzer der Diener, die immer hinter uns Kindern her putzen durften, wenn wir mal wieder im Schlamm am Flussufer gespielt hatten“, vertraute er Tiko an. „Meine Finger sind so aufgesprungen, dass ich manchmal kaum ein Schwert halten kann.“

Genau das mussten sie zurzeit jeden Tag. Der Hauptmann war inzwischen von den Holzschwertern zu richtigen eisernen Waffen übergegangen, wenn auch welche, die keine scharfen Klingen hatten. Aber auch stumpfe Klingen taten gemein weh, wenn man damit getroffen wurde. Tiko hatte einen blauen Fleck neben dem anderen. Nicht, dass es ihn wunderte, ihm fehlten schließlich fast zwei Monde an Übungen. Er versuchte, diese fehlende Zeit durch vermehrten Einsatz und zusätzliche Übungen wettzumachen. Nicht auszudenken, was sein Vater sagen würde, wenn Hauptmann Bodoke ihm seinen Sohn als Versager zurückschickte.

Tiko konnte spüren, wie er kräftiger wurde. Und nicht nur er spürte es, auch seine Gegner. Hin und wieder gelang es ihm jetzt sogar, Sieger in den Übungskämpfen zu sein. Zakari sah ihn nicht mehr ganz so geringschätzig an, und einige der anderen aus seiner Gruppe redeten tatsächlich mit Tiko. „Sie sehen, dass du nicht aufgibst, und das imponiert ihnen“, erklärte Schenomat. „Du könntest es tatsächlich schaffen.“

*

In der Nacht hatte es gewittert. Die Sonne schien durch eine geradezu erfrischend klare, kühle Morgenluft in den Übungshof, wo die Rekruten sich versammelt hatten, die Schwerter und Schilde bereits in der Hand.

„Heute ändern wir die Kampfpartner“, erklärte Hauptmann Bodoke, während er mit auf den Rücken gelegten Händen und wiegendem, breitbeinigen Gang an ihnen vorbeimarschierte. „Bislang habt ihr nur innerhalb eurer Gruppen geübt. Ihr kennt eure Kameraden, wisst, wie sie kämpfen, und habt euch darauf eingestellt. Aber im wirklichen Leben kriegt ihr keine Chance, euch auf eure Gegner einzustellen. Jeder, egal, ob Soldat, Krieger oder ein mit einer Mistgabel bewaffneter Bauer, der sich euch entgegenstellt, wird eine andere Art zu kämpfen haben, eine, die euch vollkommen unbekannt ist. Ihr müsst lernen, aus den Bewegungen eurer Gegner auf deren Vorhaben zu schließen, und das könnt ihr nur, wenn ihr hier nicht ewig gegen die gleichen Leute antretet. Darum mischen wir ab sofort die Gruppen. Also: Gruppen teilen, und die jeweilige zweite Hälfte rückt auf dem Platz heute eine Gruppe weiter, morgen zwei, übermorgen drei und so weiter, bis ihr alle Gruppen durch habt. “

Selbstredend hatte der Hauptmann recht, das sah Tiko ein, aber er würde auf diese Weise auch gegen die engeren Freunde des Kronprinzen kämpfen müssen. Wenn nicht sogar gegen Rumaru selbst. Soviel hatte Tiko durch Beobachtungen schon gelernt: Rumaru verlor nicht gerne. Alles, was ihm zu seinem Unglück noch fehlte, war ein Kronprinz, der sauer auf ihn war.

Es war, als ob die Winddämonen seine Gedanken gelesen und beschlossen hatten, ihm den größtmöglichen Streich zu spielen. Es dauerte nur drei Tage, da musste Tiko gegen Rumaru antreten.

Schon als Hauptmann Bodoke die Paarungen verlas, hörte Tiko hässliche Pfiffe und unterdrücktes Lachen. „Als ob man eine Bergmaus gegen einen Falken kämpfen lassen könnte! Der macht sich gleich vor Angst nass!“

„Kein Wunder. Der hat doch mit Sicherheit zu Hause kein vernünftiges Training bekommen. Welcher Vater würde schon eine Ausbildung auf einen Sohn verschwenden, den er nur zwei Silben wert hielt?“

„Und so einer soll gegen den Kronprinzen antreten? Da könnte ja jeder dahergelaufene Niedriggeborene kommen!“

Rumaru selbst sagte nichts. Aber der Blick, mit dem er Tiko von oben bis unten musterte, triefte vor Verachtung.