Wüstenkrieger - Chris Svartbeck - E-Book

Wüstenkrieger E-Book

Chris Svartbeck

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Beschreibung

Dass die Wüstenstämme sich mit Tolor und Karapak anlegen würden, war praktisch vorprogrammiert. Der Grundstein zu diesem Krieg wurde bereits vor 1000 Jahren gelegt. Allerdings hatte niemand voraussehen können, wozu sich dieser Krieg entwickeln würde. Mit so verheerenden Folgen rechneten nicht einmal die Zauberer. Die Prophezeiungen führen in die Irre. Die Orakel können die tatsächliche Zukunft nicht mehr erkennen. Die Götter haben einen unberechenbaren Stein in die Wagschale der Zukunft geworfen. Und das Rad des Schicksals ist bereit, sich zu drehen.

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Spiegelmagie

Band 3

WüstenKRIEGER

C. Svartbeck

Hinweis:

Am Ende des Buches finden Sie einen Anhang mit einer Landkarte sowie Erläuterungen zum Land Karapak und seinen Bewohnern.

C. Svartbeck
Machandel Verlag Neustadtstr.7, 49740 Haselünne
Bildquelle cover: Vuk Kosticwww.shutterstock. com
2016

Was vorher geschah

Zwei königliche Halbbrüder, die sich innigst hassen. Eine Ehe unter Königskindern, wie sie unglücklicher nicht verlaufen könnte. Ein jugendlicher Zauberer, der tatsächlich einen Freund hat. Und dieser Freund ist noch nicht einmal ein anderer Zauberer, sondern der Bastard-Sohn des karapakischen Königs.
Karapak geht stürmischen Zeiten entgegen.
Band 1 - Königsfalke
Ioro, ältester Sohn einer Konkubine König Kanatas (und daher nicht Erbe), ist zum obersten Feldherren bestimmt, sein jüngerer Bruder Tolioro als Sohn der Ersten Gemahlin ist Thronerbe.
Wie das Schicksal so spielt, scheint Ioro mehr Intelligenz und Ehre zu besitzen als Tolioro, was Vater Kanata wohlwollend vermerkt. Ebenso wohlwollend sieht er allerdings zu, wie Söhnchen Tolioro einen potenziellen Konkurrenten nach dem nächsten aus dem Weg räumt. Und Mutter Iragana beseitigt unauffällig einige Leichen, die Tolioro bei seinen sexuellen Eskapaden produziert.
Auch Ioro würde dem Weg aller Königssöhne in ein frühes Grab gefolgt sein, hätte er nicht in dem angehenden Zauberer Jokon einen tatkräftigen Freund gefunden. Dumm ist halt nur, dass auch Jokon sozusagen auf Messers Schneide lebt.
Band 2 - Falkenkrieger
Am Ende stirbt der König von der Hand seines Sohnes und Ioro, der jetzt keine Zukunft mehr für sich sieht im Reich, flieht zu den Wüstenkriegern, gegen die das Reich gerade Krieg führt.
Zauberer Jokon, der sich jetzt Jo nennt, hat derweilen einen kapitalen Fehler begangen, ist einer fremden, feindlichen Zauberer-Fraktion auf den Leim gegangen und sitzt im Körper eines Falken fest.

Ein toter König

 

General Ordunat kratzte sich unbehaglich am linken Oberschenkel. Die alte Pfeilwunde schmerzte schon wieder. Er sollte wirklich einen Heiler aufsuchen … Aber das war nicht seine dringendste Sorge. Ganz und gar nicht.

„Wir haben nur eine Chance“, sagte General Skatskee mit gepresster Stimme. „Das hier darf nie, wirklich nie, unter absolut keinen Umständen, an die Öffentlichkeit gelangen.“

Sein Blick irrte durch das Zelt, um wieder bei der Gestalt zu landen, die inmitten eines unregelmäßigen Fleckens eingetrockneten Blutes am Boden lag. Sein König. Erschlagen mit einem Schwert, in einem seiner eigenen Zelte, inmitten einer Tausendschaft seiner besten Soldaten.

Dazu ein entkommener Gefangener. Und ein vermisster Feldherr, der zufällig auch noch der Sohn dieses Königs war.

Eine Katastrophe. Alle vier anwesenden Generäle waren sich darin einig. Eine Katastrophe für den Feldzug, eine noch größere Katastrophe für das Reich. Und eine vernichtende Katastrophe für die Ehre des Königshauses, sollte jemals die Wahrheit ans Licht kommen: Dass der oberste Feldherr Karapaks seinem Vater und König eigenhändig den Schädel gespalten hatte und mit seinem Erzfeind gemeinsam in der Wüste verschwunden war.

Der Junge hatte das gar nicht mal so ungeschickt gemacht, dachte General Ordunat. Hatte höchstpersönlich die Wachen mit einem harmlosen Gespräch abgelenkt, sodass der Schamane unbemerkt davonschleichen konnte, und war dann davongegangen, als ob er nur einen kleinen Spaziergang machen wollte. Es hatte fast eine Kerze gedauert, bevor dem ersten Wachsoldaten aufgefallen war, wie still es im Zelt war.

Ordunat verstand Ioro. Und wie er ihn verstand! Die letzten Befehle des Königs waren allesamt dermaßen unehrenhaft gewesen, dass es geradezu ein Wunder war, dass die Soldaten sie noch ausgeführt hatten. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, wie sehr der junge Feldherr unter diesen Befehlen litt. Und dennoch … Das hätte Ioro nicht tun dürfen. Damit hatte er seinen Eid gebrochen und seine Ehre auf immer verloren.

Aber das spielte auch nur noch eine sekundäre Rolle. „Wie wollen wir vorgehen?“

General Skatskee deutete auf die reglose Gestalt. „Wir werden sagen, der Schamane hat den König getötet. Und den Feldherren mit einem Zauber belegt, um ihn in die Wüste zu entführen. Und dort werden ihn vermutlich die rachsüchtigen Wüstenbarbaren töten.“

„Die Wachen wissen es anders“, gab General Nogando zu bedenken.

„Die Wachen werden sterben. Sie haben versagt. Sie hätten den König schützen müssen.“

„Wollen wir wegen des Feldherren etwas unternehmen?“

„Was denn?“, gab Ordunat bissig zurück. „Wollt Ihr die Wüste nach ihm umgraben? Da wären Eure Chancen besser, mit bloßen Händen in den Bergen einen Drachen zu erlegen. Niemand findet die Wüstenkrieger, wenn sie es nicht wollen. Der einzige, der das konnte, war Ioro, und auch der schaffte es nur, weil ihm dieser Falke dabei half.“

„Wenn wir Glück haben, erschlagen die Wüstenkrieger ihn wirklich“, knurrte General Ochot. „Genug von ihnen hat er schließlich getötet.“

„Und wenn wir Pech haben“, lächelte General Ordunat schief, „lassen sie ihn nicht nur am Leben, sondern nutzen auch seine Erfahrungen. Immerhin war er der oberste Feldherr Karapaks. Wer, wenn nicht er, kennt alle unsere Schwächen, weiß, wie unsere Armee arbeitet, und vor allem, wie wir denken?“

Die Generäle sahen sich an. Unbehagliches Schweigen breitete sich im Zelt aus. Schließlich räusperte sich General Skatskee. „Wollen wir hoffen, dass Ioro noch Ehre genug fühlt, dass er uns nicht verrät. Den Feldzug werden wir so oder so vorerst abbrechen müssen. Unsere alleinige Aufgabe wird es jetzt sein, unseren toten König nach Hause zu bringen. Dann ist es an seinem Sohn, unseren neuen König, über das weitere Schicksal dieses Feldzuges zu entscheiden.“

*

Der Weg nach Sawateenatari war lang. Es war den Zauberern zu verdanken, dass Kanatas Körper in einem einigermaßen ansehnlichen Zustand zurück in den Palast gelangte.

*

Iragana lauschte in sich hinein. Wie seltsam. Sie fühlte nichts. Dabei hätte sie doch jetzt Freude empfinden müssen. Freude darüber, dass der Platz ihres Sohnes gesichert war. Freude darüber, dass gleichzeitig sein ärgster Konkurrent, sein Bruder Ioro, ausgeschaltet war. Freude darüber, dass alle ihre Ziele erreicht und ihre Träume in Erfüllung gegangen waren.

Aber da war keine Freude. Da war nur diese merkwürdige Leere. Iragana schaute in ihr Innerstes. Diese Leere beunruhigte sie, verunsicherte sie zutiefst. Warum freute sie sich nicht? Sie grub in der Leere. Da ganz hinten, in einem tiefen, versteckten Winkel ihres Verstandes, war doch noch etwas. Sie packte dieses Etwas, zog es aus seinem Versteck, begutachtete es, wand es nach allen Seiten. Und sie erkannte es. Es war der letzte kleine Rest von jenem ersten winzigen Spross einer Liebe, die sie einmal, als junge Braut, ihrem Verlobten Kanata entgegengebracht hatte. Das, woraus ihre Liebe zu ihrem Ehemann gewachsen war, das, was sich aus unerwiderter Liebe zu Hass gewandelt hatte über die Jahre, und dann zur Gleichgültigkeit, und jetzt zur Leere. Aber dieser kleine Rest hatte überlebt. Hatte sich nicht zerstören lassen. Iragana erkannte fassungslos, dass sie ihren Mann immer noch liebte.

Die Gemahlin des toten Königs schrie laut auf.

In den Höfen des Sommerharems erstarrte das Leben.

*

Weiß. Die ganze Welt war weiß. Weiß trugen die Diener. Weiß trugen die Wachen. Weiß die Konkubinen und die Kinder. Weiß trug die Königin. Jedes sichtbare Stück Stoff war weiß. Selbst die Halsbänder der Hunde waren weiß. Und die Blumenbeete. Alle Blüten, die nicht weiß waren, hatten die Gärtner abgeschnitten.

So geisterhaft der Palast aussah, so still war er.

Die Gemächer des Kronprinzen blieben leer.

*

„Her mit dem Wein!“ Tolioro schwankte leicht, während er nach dem rubingeschmückten Pokal griff. Süßer, karapakischer Südwein. Sein Vater war endlich tot. Das musste gefeiert werden! Noch dazu schien sein Bruder sehr innig in diesen Tod verstrickt zu sein. Mit etwas Glück war Ioro sogar inzwischen ebenfalls tot. Tolioro hoffte auf die Rachsucht der Wüstenkrieger. So oder so aber war das Verschwinden seines Bruders von der Bildfläche ein weiterer Grund zum Feiern. Graf Chilikits Stadtpalais gab da gerade den rechten Rahmen her.

Zu Hause trugen alle Trauer. Selbst seine dämliche Mutter. Hatte sie sich nicht immer den Tod ihres Gatten gewünscht, sogar aktiv darauf hingearbeitet? Und jetzt, wo er endlich tot war, trauerte sie um ihn und behauptete, ihn tatsächlich geliebt zu haben? Versteh einer die Frauen! Tolioro verstand sie jedenfalls nicht. Aber egal. Sollte seine Mutter trauern, er würde feiern.

Die zierliche Sklavin schenkte den Wein ohne weitere Aufforderung nach. Ihre Hand zitterte leicht. Tolioro musterte sie kritisch von oben bis unten. Ein wenig zu dunkel für seine Zwecke. „Geh nach nebenan!“, befahl er. „Da steht Farbe. Mal dich heller. Und vergiss deine Haare nicht!“ Das Mädchen verbeugte sich und machte, dass es hinauskam.

Fitor von Arant-Kone, Graf Chilikits jüngster Sohn, sah mit weinseligem Lächeln auf. „Heller? Ich dachte immer, du magst keine hellhäutigen Frauen?“

„Mag ich auch nicht.“ Tolioro flegelte sich in die Polster. „Sie erinnern mich an meine Frau.“

Fitor zog es vor, darauf nicht zu antworten. So betrunken war er denn doch noch nicht, um nicht zu wissen, wie heiß dieses spezielle Thema war. Aber Tolioro sprach schon weiter.

„Meine entlaufene Frau Sirit.“ Seine Stimme klang heiser. „Wenn ich die heute hier hätte …“ Er goss einen weiteren Becher Wein in sich hinein. „Na gut, sie ist nicht hier, dann werde ich mich eben mit dieser hier begnügen müssen.“ Er deutete auf die Sklavin, die mit geweißtem Gesicht und ebenso geweißten Armen, Händen und Haaren soeben den Raum wieder betrat. Man sah der Farbe an, dass sie in aller Eile aufgetragen worden war. Schwankend richtete Tolioro sich auf, winkte die junge Frau heran. Sie versuchte eine Verbeugung. Tolioros Hand landete hart in ihren Haaren, krallte sich hinein und zwang sie auf die Knie. „Hässlich“, sagte er. Jetzt schnurrte seine Stimme fast. „Hässlich. Hell, hässlich, hell und hässlich.“ Er riss ihre Tunika auf. Auf den braunen Brüsten der Sklavin brachen sich die goldenen Reflexe der Kerzenflammen. „Arr!“ Tolioros freie Hand klatschte hart in ihr Gesicht. „Ich habe gesagt, du solltest dich heller machen. Was bei allen Winddämonen ist daran so schwer zu verstehen? Heller, überall heller. Ich habe nicht gesagt, lass deinen Körper aus!“ Er schlug ein zweites Mal zu. Da, wo sein Ring sie getroffen hatte, zeigte die Wange der Sklavin eine breite, blutige Schramme. Die Frau wagte nicht einmal zu wimmern. Tolioro warf sie hart auf den Boden. Dann ging er selbst nach nebenan, holte Farbe und Schwamm. Sanft, fast liebevoll begann er, den ganzen Körper der Sklavin mit der Farbe zu betupfen.

Fitor richtete sich interessiert auf. Das war neu.

Die Sklavin entspannte sich langsam. Drehte ihren Körper so, wie Tolioro es wollte, bis er sie von Kopf bis Fuß mit der hellen Farbe bedeckt hatte. Nicht einmal ihre Schamlippen hatte er ausgelassen. „Besser“, konstatierte er und warf den Schwamm achtlos beiseite. „Für heute Abend bist du meine Frau.“

Fitor zuckte zusammen. Au weia. Es wurde Zeit, dass er eine Ausrede fand, um sich zu verdrücken.

Tolioro öffnete seinen Gürtel, wog ihn in der Hand. Ein schneller, harter Schlag quer über die Brüste der Frau. Sie jaulte kurz auf. Er nahm den Gürtel und formte daraus eine Schlinge. Dann zog er sie beinahe liebevoll über den Kopf der Sklavin und beugte seinen Kopf an ihr Ohr. „Du wirst dich nicht wehren!“, flüsterte er. „Meine Frau tat das auch nie. Lieg einfach nur still. Wenn nicht …“ Er zog an der Schlinge. Das Lederband am Hals der Frau zog sich zu. Ihr Körper bäumte sich auf in dem vergeblichen Bemühen, Luft zu kriegen. Tolioro wartete ein paar Herzschläge, dann lockerte er die Schlinge wieder. In den Augen der Frau standen Tränen. „Wenn nicht, dann bist du sehr schnell tot. Hast du verstanden?“ Sie nickte furchtsam.

Wenn du wüsstest, dachte Fitor. Der Tod ist noch das geringste Übel, das dich hier erwartet. Aber er sagte nichts.

Tolioro hatte sich inzwischen seiner Kleidung entledigt und kniete zwischen den Beinen der Frau. In der einen Hand hielt er das Ende der Gürtelschlinge, in der anderen sein Messer, und sein Glied zuckte begierig vor ihrer Scham. Dann begann er, mit der Spitze des Messers Linien in die weiße Farbe auf ihrem Bauch zu ritzen. Verschlungene, gewundene Linien, aus denen es rot quoll. Die Frau tat ihr bestes, still liegen zu bleiben, aber ihr ganzer Körper zuckte und zitterte.

„Zu- zuwiel Wein!“, sagte Fitor, bewusst lallend. „Zuwiel Wein. Miris schlescht. Isch glaub isch geh mal kurzzz innen Garten.“ Ihm war tatsächlich schlecht, wenn auch nicht von dem Wein.

„Jaja“, murmelte Tolioro geistesabwesend, „geh nur.“ Sein Messer grub sich in den Oberschenkel der Frau. Sie wimmerte. Er drehte die Klinge. Die Frau schrie. Er zog die Schlinge zusammen. Aus dem Schrei wurde ein Röcheln. Im Hinausgehen nahm Fitor gerade noch wahr, wie Tolioro sein Glied in die Frau hineinrammte und zischte: „Du wirst mich noch um Gnade anflehen, Sirit!“

 

 

Der Neue

 

„Wir ziehen uns zurück!” Die Stimme des Schamanen hörte jeder, auch wenn er leise sprach. „Wir ziehen uns zurück und bleiben mindestens zwei Tagesritte von der Grenze entfernt!”

„Das sagst du nur, weil dieser Fremde dir das einflüstert!” Chirgot musterte Ioro feindselig. Nicht genug, dass der Schamane den Krieg abbrechen wollte, nicht genug, dass er einen der Karapaki persönlich mitbrachte ins Lager der Roten Zelte, es war auch noch der Anführer mit dem unheimlichen Geistervogel. Ausgerechnet der!

„Das sage ich, weil ich die Zeichen der Götter sehe!” Der Schamane ließ sich nicht beirren. „Wir werden tun, was uns die Götter zu tun bedeuten. Oder wollt ihr gegen ihren Willen und gegen meinen Rat weiterkämpfen?”

Chirgot antwortete nicht. Er selbst hätte ja die größte Lust, genau das zu tun. Aber welcher Krieger-Bruder würde ihm folgen? Keiner. Und die Karapaki alleine anzugreifen, da konnte er sich genauso gut gleich selbst die Kehle durchschneiden.

Er würde tun, was der Schamane sagte. Aber er war nicht glücklich mit dessen Entscheidung. Überhaupt nicht.

 

Er war nicht glücklich mit seiner Entscheidung. Überhaupt nicht. Ioro biss die Zähne zusammen. Was um alles in der Welt hatte ihn bewogen, ausgerechnet zu seinen größten Feinden zu gehen?

Aber natürlich kannte er die Antwort. Er hatte keine andere Option gehabt. Entweder die Wüstenkrieger oder Tolioro und der Scharfrichter. Im Grunde war es keine Entscheidung gewesen. Im Grunde hatte er überhaupt keine Wahl gehabt. Als kleines Glück im Unglück konnte er nur die Tatsache verbuchen, dass er in den letzten Wochen des Krieges intensiv die Sprache der Wüstenkrieger gelernt hatte. Eigentlich nur, um seine Gefangenen besser verhören zu können.

Ioro musterte die Wüstenkrieger. Geflochtene Haare, geflochtene Bärte, soweit sie nicht glatt rasiert waren, Tätowierungen auf Gesicht und Armen, schmutzige, abgerissene Kleidung und saubere, funkelnde Waffen. Jetzt, da er wusste, wonach er suchen musste, erkannte er mehrere Frauen unter ihnen. Was war das für ein Volk, dass den Frauen erlaubte, Krieger zu sein? Was waren das für Frauen, die in den Kampf zogen, um gegen Männer zu fechten und sie zu töten?

Ein halbes Dutzend Jungen, denen gerade der erste Bartflaum spross, war mit von der Partie. Sie kümmerten sich um die Pferde. Und dann war da der Schamane. Als einziger in der Runde hatte er graue Haare. Kaum zu glauben, dass dieser Greis kaum älter war als er selbst. Noch weniger zu glauben, dass diese ganzen wilden Wüstenkrieger, die die getrockneten, präparierten Köpfe ihrer Feinde auf ihren Zeltspitzen stolz zur Schau stellten, vor ihm kuschten wie kleine Kinder. Der Mann musste wirklich ein mächtiger Zauberer sein.

„Der geht mit mir”, stellte der Schamane gerade fest. Der, damit war er selbst, Ioro, gemeint. Nun, zumindest hatte er bei dem Schamanen nicht das Gefühl, dass der ihm bei nächster Gelegenheit die Kehle durchschneiden wollte. Was dagegen die anderen Krieger anging – gut, dass Blicke nicht töten konnten.

 

Chirgot misstraute dem Fremden. Egal, was der Schamane sagte, er misstraute ihm. Die Karapaki hatten Frauen und Kinder angegriffen und ermordet. Sie kannten keine Ehre. Die Götter mochten wissen, was dieser Fremde vorhatte. Womöglich plante er eine ganz besondere Gemeinheit. Chirgot würde mit dem Schamanen ziehen, um den Fremden im Auge zu behalten. Und sollte sich auch nur der geringste Anlass bieten, würde er es höchstpersönlich in die Hand nehmen, dass der Fremde einen Kopf kürzer gemacht wurde.

Zunächst aber würde er dafür sorgen, dass der Fremde das schlechteste Pferd bekam. Der sollte keine Gelegenheit finden, einfach wieder abzuhauen.

*

„Vermaledeite Schindmähre!” Ioro schlug seinem Gaul die Hacken in die Flanken. Die kleine, schmutziggelbe Stute mit der eisgrauen Mähne schnaubte verächtlich und trottete in ihrem gewohnten Schütteltrab weiter, als ob nichts passiert wäre. Bei allen Winddämonen, dieser Gaul brachte ihn noch um. Ioro spürte jeden Knochen in seinem Hinterteil. Und Knochen hatte die kleine Stute reichlich. Knochen, die an allen Ecken und Enden aus dem schütteren Fell herauszuragen schienen. Knochen, die sich ohne Sattel in jedes vorhandene Weichteil bohrten. Ioro hatte den Verdacht, dass man ihm das wohl schlechteste Pferd der ganzen Herde gegeben hatte.

Gut, die anderen sahen auch nicht besser aus, aber zumindest konnten sie schneller laufen. Wenn wenigstens dieser Chirgot nicht ständig wie ein Aasgeier hinter ihm hängen würde! Der sah so aus, als ob er ihn bei nächster Gelegenheit hinterrücks erstechen wollte.

Pad, pad, pad. Die kleine Stute kletterte mit schleifenden Hufen eine weitere Sanddüne empor. Nahm dieser Sand denn nie ein Ende? Mit seiner Kompanie war es schon schlimm genug gewesen, wenn sie durch Sand reiten mussten. Aber da hatte er wenigstens noch die Möglichkeit gehabt, hin und wieder eine Pause anzuordnen. Pausen schienen diese Wüstenkrieger überhaupt nicht zu kennen. Sie ritten jetzt schon seit dem Morgengrauen. Ohne zu rasten, ohne etwas zu trinken. Ioro klebte die Zunge fast am Gaumen fest und die Haut über seiner Narbe brannte wie Feuer. Gut, dass der Falke es heute vorzog, den Sand auf seinen eigenen Schwingen zu überwinden. Ioro war sich nicht so sicher, ob er das Gewicht des Vogels auf seiner Schulter noch ausgehalten hätte. Er konnte ja schon seinen eigenen Kopf kaum noch gerade halten. Ob dieser endlose Ritt eine spezielle Foltermethode der Wüstenkrieger war? Noch einen Tag würde er das nicht überstehen. Es war schon fraglich, ob er wenigstens diesen Tag überstand. Vermutlich, überlegte er düster, wäre er besser dran, hätte er sich gleich seinem Bruder Tolioro ergeben.

Pad, pad, pad. Die nächste Düne. Das wollte einfach kein Ende nehmen.

Reiner Stolz war es, der Ioro noch im Sattel hielt. Vor diesen verdammten Wilden würde er keine Schwäche zeigen. Wenn die das durchhielten, dann würde er, Ioro, ein Sohn des ruhmreichen Hauses Mehme, das schon lange schaffen.

Pad, pad, pad. Die nächste Düne.

Ioro klammerte sich fester an die struppige eisgraue Mähne.

 

Der Fremde schwankte. Chirgot schnaubte verächtlich. Diese Karapaki waren alle miteinander miserable Reiter. Malträtierten ihre Pferde mit Kandare und Sporen und hatten nicht einen Funken Gefühl für das, was die Tiere brauchten. Zudem hatte sich die ganze linke Gesichtshälfte und Schulter des Fremden mittlerweile dunkelrot verfärbt. Die Stelle sah vernarbt aus. Ob der Karapaki etwa auf seiner Narbe keine Sonne vertrug? Na, dann würde er nicht lange in der Wüste überleben. Sonne gab es hier nämlich ständig. Chirgot würde ihm ganz sicher keine Träne nachweinen.

 

Der dunkelrote Sonnenball berührte den Horizont, als hinter einer letzten Düne endlich ein ausgedehntes Tal in Sicht kam. Verstreut stehende Trupps von fahlgelben Pferden und rotbraunen Ziegen weideten die kargen Grasbüschel und die struppigen Dornbüsche ab. An der tiefsten Stelle des Tales standen ein paar ziegenfellrote Zelte, deren Bewohner sich umwandten und voller Erwartung ihren Kriegern entgegensahen. Der Schamane lenkte sein Pferd bis zwischen die Kochfeuer und sprang ab. Die Krieger folgten seinem Beispiel. Schon rannten Kinder herbei, um die Pferde in Empfang zu nehmen. Ioro hörte aufgeregtes Getuschel, als er sich vom Pferd gleiten ließ. Einen Moment musste er sich an der Kuppe festhalten, seine Beine drohten wegzuknicken. Verdammt! Ein einziger Tagesritt und er fühlte sich schwächer als ein Kleinkind? Das dufte doch nicht wahr sein. Unter Aufbietung aller Willenskraft ließ er das Pferd los und machte einen wackligen Schritt zur Seite. Ihm wurde schwarz vor Augen. Ruhig, ermahnte er sich. Bleib stehen, rühr dich nicht, warte. Irgendwie schaffte er es tatsächlich, stehenzubleiben. Dann roch er Wasser, fühlte den Rand eines Bechers an seinen aufgesprungenen Lippen. Ah, tat das gut! Er wollte mehr, doch die Frau schob seine Hand sanft zur Seite.

„Nicht zu schnell, Soldat”, sagte sie. „Du holst dir den Tod, wenn du jetzt zu schnell zu viel trinkst.” Sie lachte leise auf. „Vielleicht doch nicht den Tod, aber es dürfte dir dann sehr, sehr schlecht gehen.”

Ioro nickte benommen.

„Geh mit ihr”, sagte der Schamane.

Ioro blinzelte. Wo kam der Alte so plötzlich her?

„In ihrem Zelt ist noch Platz für einen Krieger.” 

Der Schamane verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war.

Die Frau nahm Ioro bei der Hand und zog ihn zu einem der Zelte. Der Boden im Zelt war von einem weichen, mit Arabesken verzierten Teppich bedeckt. Die Frau wies ihn an, sich zu setzen.

Tat das gut! Ioro fühlte sich erschöpft wie schon lange nicht mehr. Ob er sich einen Moment hinlegen sollte? Noch während er das dachte, berührte sein Kopf schon den Boden. Im nächsten Moment schlief er tief und fest.

*

Jemand stupste ihm vorsichtig in die Rippen und sagte etwas Unverständliches. Eine Frauenstimme antwortete, genauso unverständlich. Hatte sein Vater schon wieder eine neue Konkubine? Es wurde Zeit, dass er hier verschwand. Sein Vater mochte es nicht, wenn seine erwachsenen Söhne im Sommerharem schliefen. Ioro richtete sich auf. Das heißt, er wollte sich aufrichten. Weit kam er nicht. Nach dem ersten Zentimeter stellte er zwei Dinge fest, nein, drei: sein Kopf schmerzte zum Zerspringen, er hatte rasenden Durst, und er fühlte sich schwach wie nach einem heftigen Fieber.

„Trink dies!”, sagte eine Frauenstimme. Diese Stimme hatte er doch schon einmal gehört? Ioro versuchte zu blinzeln. Eine schlicht gekleidete Frau von vielleicht dreißig Regenzeiten tauchte in seinem Gesichtsfeld auf, mit hager geschnittenen Gesichtszügen, deren Schärfe durch ein mütterliches Lächeln gemildert wurde. Die Frau hielt ihm eine Schale mit Flüssigkeit entgegen. Ioro trank. Es schmeckte leicht bitter, aber durchaus trinkbar. Schon nach kurzer Zeit ließen seine Kopfschmerzen nach und er war wenigstens fähig, sich aufzusetzen.

Dies war nicht der Sommerharem. Wo, bei der Göttin, war er?

Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Sein Vater, König Kanata, war tot. Er selbst hatte ihn getötet. Und dies hier, das war ein Zelt der Wüstenkrieger. Er war bei seinen Todfeinden. Und er litt unter den Nachwirkungen eines einzigen Tagesrittes mit eben diesen Wüstenkriegern. Wenn seine weitere Zukunft sich ähnlich gestalten würde ...

Die Frau holte eine weitere Schale. Eine Art Körnerbrei war darin und ein Löffel. „Du musst etwas essen”, sagte sie freundlich.

Ioro löffelte gehorsam.

Die Zeltklappe bewegte sich. Ein kleiner dunkler Lockenkopf schob sich herein. Das musste das Kind sein, das ihn vorhin angestupst hatte. Ioro lächelte vorsichtig. Der Junge schlüpfte ins Zelt und sah ihn mit großen Augen an. Er mochte acht oder neun Regenzeiten zählen. Wieder sagte die Frau etwas in der fremden Sprache. Der Sprache der Wüstenstämme, wie Ioro verspätet feststellte. Und jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, bekam er auch mit, was sie sagte. „Sei höflich, starr unseren Besucher nicht so an!”

Zurück zu Ioro gewandt, fügt sie auf Karapakisch hinzu: „Er kennt leider nur wenig von meiner Sprache. Er lebt erst seit wenigen Monden bei mir.”

„Er ist nicht dein Sohn?”, fragte Ioro verdutzt.

„Er ist der Sohn der Schwester meines verstorbenen Mannes”, gab die Frau zurück. Sie musste wohl die Fragezeichen in Ioros Augen erkannt haben, denn sie fuhr fort: „Die Schwester meines Mannes ist zu den Kriegern gegangen. Es ist Sitte hier, dass Kinder immer zu den nächsten weiblichen Verwandten gehen, wenn ihre Eltern die Zelte verlassen.”

„Aha”, murmelte Ioro. Merkwürdige Sitten. Warum schickten sie die Kinder nicht zu ihren nächsten männlichen Verwandten? Aber zunächst brannte ihm eine ganz andere Frage auf dem Herzen. „Wo hast du so gut Karapakisch gelernt? Ich höre kaum einen Akzent!”

Die Frau lächelte. „Ich bin Karapakierin von Geburt, aus dem Dorf Motogawitere.”

Ioro starrte sie entgeistert an. „Karapakierin? Aber … wieso lebst du dann hier? Und wie lange lebst du hier schon? Bist du eine Sklavin?”

„Hier gibt es keine Sklaven”, sagte die Frau. Es klang, als ob sie sich darüber freute. „Keine Sklaven, und keine Diener, und keine Männer, die über das Leben einer Frau bestimmen. Wenn du’s genau wissen willst, ich war in Motogawitere verheiratet, mit einem Bauern, seit ich fünfzehn war, und zwei Jahre später hatte ich zwei Kinder von ihm geboren, die beide ihr erstes Lebensjahr nicht überlebten, weil ich zu wenig Milch für sie hatte. Dann kam eines Tages einer der Wüstenreiter ins Dorf, um etwas Eisen zu erhandeln, und sah mich an. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser Mann der einzige weit und breit war, der mich nicht als Zuchtvieh sah oder als Arbeitstier, der wirklich eine Frau, eine begehrenswerte Frau in mir sah. Ich versteckte mich außerhalb des Dorfes. Und als er auf dem Rückweg vorbeikam, trat ich seinem Pferd in den Weg und sagte ihm, dass ich mit ihm reiten wollte. Er nahm mich ohne ein Wort zu sich auf den Pferderücken. So habe ich meinen wahren Mann kennengelernt. Er hat mir dieses Zelt genäht und es mir geschenkt. Und seitdem lebe ich hier.”

„Hast du nie versucht, zurückzukehren?”

„Wozu?” Die Frau schien aufrichtig erstaunt. „Hier geht es mir besser, als es mir in Karapak je ging. Ich werde geachtet, kann frei entscheiden, was ich tun will und wo ich leben möchte, und das Leben ist sehr viel schöner und unbeschwerter als in Motogawitere.”

„Hat es denn niemanden hier gestört, dass dein Mann eine Karapakierin mitbrachte als seine Frau?”

„Weshalb sollte es?”, fragte die Frau zurück. „Viele hier in den Zelten stammen aus Karapak. Frauen und auch Kinder. Wenn die Krieger der roten Zelte nach Karapak einfallen, töten sie höchstens die Männer. Die Frauen und Kinder lassen sie leben, und wer immer es möchte, ist in ihren Zelten willkommen und wird in ihr Volk aufgenommen.”

So also hatte der Schamane das gemeint. Die Wüstenstämme töteten wirklich keine Frauen und Kinder. Aber an der Grenze hatte er tote Frauen und Kinder gesehen. Und nicht gerade wenige. Wer, wenn nicht die Wüstenstämme, hatte sie dann getötet?

 

Darüber konnte er später nachdenken. Zunächst einmal hatte Ioro ein ganz anderes, viel akuteres Problem. Und wegen dem würde er garantiert nicht die Frau fragen. Jetzt kamen ihm seine Kenntnisse aus dem Wüstenfeldzug zupass. Ioro wechselte zu der Sprache der Wüstenstämme und wandte sich an den Jungen. „Ich hab das Gefühl, meine Blase platzt fast”, sagte er. An dem breiten Grinsen des Jungen konnte er sehen, dass der ihn gut genug verstand. „Zeigst du mir bitte, an welchem Ort ich mich erleichtern kann?”

Der Junge nickte beflissen und sprang hoch. Ioro folgte ihm, langsam, vorsichtig, mit immer noch schmerzenden Muskeln und steifen Gelenken.

 

Eine Unterhaltung unter Zauberern

Der Schamane sah zu dem Zeltpfahl herüber. Der Falke saß reglos darauf und döste in der Sonne. Es wurde Zeit für eine ernsthafte Unterhaltung, von Zauberer zu Zauberer.

*

„Du-im-Falken, wach auf!”

Jo öffnete ein Auge. Dann das zweite Auge. Direkt vor ihm befand sich ein Gesicht. Ein ihm durchaus bekanntes Gesicht.

„So lernen wir uns also endlich näher kennen”, sagte der Schamane.

Jo blinzelte. Er schlug mit den Flügeln. Das heißt, er wollte mit den Flügeln schlagen. Aber da waren nur Arme.

Wieso Arme? Warum war er wieder in Menschengestalt? Wo war er?

Jo sah sich um. Sand, eine glatte, endlose Fläche grauer Sand. Darüber ein ebenso grauer Himmel.

Nein, das war nicht die reale Welt. Der Schamane musste ihn in eine Spiegelwelt gelockt haben. Aber hatte der Schamane nicht zu Ioro gesagt, er würde keine Spiegel benutzen?

„Dies ist keine Spiegelwelt.”

Konnte der Schamane Gedanken lesen?

„Natürlich lese ich deine Gedanken. So, wie du meine Gedanken liest. Wir sind in einer Gedanken-Welt, genauer gesagt, in einem Traum. Meinem Traum.”

„Wie komme ich in deinen Traum?”

„Ganz einfach.” Der Schamane lächelte. „Ich habe dich gerufen. Eine ganz primitive Prozedur. Der Vogel schlief, und du hast geträumt. Es ist ziemlich einfach, einen Träumer zu rufen.”

„Könnte ich”, fragte Jo langsam, „meinerseits auch ohne Spiegel jemanden in meine Träume rufen?”

„Das könntest du”, bestätigte der Schamane. „Wenn du weißt, wie.”

„Könntest du … es mich lehren?”

„Warum sollte ich das tun? Ihr Spiegel-Zauberer habt mehr als genug Unheil über diese Welt gebracht. Weshalb sollte ich einen Spiegel-Zauberer irgend etwas lehren?”

„Weshalb hast du mich gerufen, wenn du mich nichts lehren willst?”

„Die Runde geht an dich.” Der Schamane lächelte wieder. „Du bist wirklich ein intelligenter Junge.”

„Also weshalb bin ich hier?”

„Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen. Sozusagen einen Dienst auf Gegenseitigkeit.”

Jo wartete.

„Du benötigst einen Weg, deiner Gefangenschaft zu entgehen. Schau nicht so verblüfft, ich weiß, dass du in einem Spiegel gefangen bist. Deine Signatur brüllt es ja förmlich heraus.

Und ich benötige einen Weg, die zweite Kristallkammer zu vernichten.”

„Was?”, fuhr Jo auf. „Die zweite Kristallkammer? Es gibt noch eine andere?”

„Du hast doch bestimmt von dem Aufstand gegen die Kristallkammer gehört.”

„Ja, allerdings.”

„Die Aufständischen wurden vernichtend geschlagen, damals. Aber einige von ihnen überlebten. Ich vermute, du hast das bereits aus erster Hand erfahren.”

„Ja”, bestätigte Jo. „Es waren fremde Zauberer, die mich in einen Spiegel schlossen.”

„Die Überlebenden zogen sich hinter die Wüste zurück. Dort, wo die Wüste ihre geringste Ausdehnung hat, am unteren Ende des Drachenschwanzes, dort bauten sie sich eine Zuflucht. Dort gründeten sie eine zweite Kristallkammer.”

Jo begriff. Das also war der Ort gewesen, an den Skane ihn geführt hatte!

„Und diese Kristallkammer in der Wüste macht dasselbe wie die in Sawateenatari”, fuhr der Schamane fort. „Sie sammelt Energie. So viel sie kann. Um dieses Zauberer-Versteck herum ist die Wüste tot. Und ich meine wirklich tot. Nicht einmal die Skorpione überleben dort. Eure Kristallkammer kann Sawateenatari unbemerkt auszehren, weil dort so viele Menschen leben. Jeder verliert etwas Energie, aber nicht genug, dass die Leute es merken. Es treten einfach nur ein paar Krankheiten mehr auf, sie sterben ein wenig früher, und es werden weniger Kinder geboren.”

Jo erinnerte sich an seine Besuche in der Stadt. In der Tat gab es dort weniger Kinder als auf den Dörfern. Aber er hatte das nie hinterfragt. Der einzige Ort in der Hauptstadt, an dem reichlich Kinder vorhanden waren, war der Palast.

„Und der hat den Schutz seiner verzauberten Mauern”, ergänzte der Schamane seinen Gedankengang. „Die alten karapakischen Könige wussten, warum sie seinerzeit auf diesem Schutzbann bestanden. Die heutigen wissen es nicht mehr. Aber nur durch den Bann ist gewährleistet, dass das karapakische Königshaus stark und vital bleibt.”

Das erklärte vieles. Das erklärte auch die merkwürdig toten Straßen in der direkten Umgebung der Kristallkammer. Wahrscheinlich schreckten die Leute instinktiv davor zurück, dort zu leben.

„Und die zweite Kristallkammer?”

„Wir haben keine Städte.” Der Schamane sah ihn an. „Wir haben nur unsere Zelte. Und wir sind wenige. Du weißt das, du hast unsere Zelte gezählt, als Falke. Die zweite Kristallkammer zehrt mein Volk aus. Wir bekommen kaum noch Kinder und von denen, die geboren werden, erleben nicht viele ihre Reife.”

Das also war der Grund, weshalb bei den Nomaden nichtkämpfende Frauen und alle Kinder tabu waren. Der Grund, weshalb der Schamane auf Kanatas Friedensbedingungen unmöglich hatte eingehen können. Der Grund, weshalb die Wüstenkrieger es als so ungeheuren Frevel ansahen, dass die karapakischen Soldaten ihre Frauen und Kinder angegriffen und ermordet hatten. Und der Grund dafür, dass die Wüstenkrieger Frauen und Kinder ihrer Feinde nicht töteten, sondern liebevoll in ihre Stämme aufnahmen und integrierten.

„Ich brauche deine Mitarbeit”, sagte der Schamane. „Ich weiß, dass du irgendwie mit Ioro reden kannst.”

„Nur mit direktem Kontakt”, gab Jo mürrisch zurück. Er konnte förmlich sehen, wie es bei dem Schamanen klickte. Der bevorzugte Sitzplatz des Falken auf Ioros Schulter.

„Aber du benutzt keinen Spiegel!”, platzte der Schamane verwirrt heraus.

„Na und?” Jo gab sich betont gleichgültig. „Mal abgesehen davon, dass das nicht geht, weil ich selbst praktisch ein Spiegel bin – ein richtiger Spiegel bei diesen ständigen Kontakten wäre ja wohl kontraproduktiv.”

„Warum … Oh!” Der Schamane begriff. „Ein starker Spiegelzauberer auf der einen Seite und auf der anderen ein ungeübter, ungeschützter Zauberschüler – du hättest ihn ausgesogen.” Er wanderte ein paar Schritte auf dem Geistersand hin und her. Dann sah er Jo wieder an. Staunen lag in seiner Miene. „Offensichtlich seid ihr mehr als nur Partner. Ihr seid Freunde!”

„Ja und?”

„Wie ungewöhnlich! Ein karapakischer Bauer, auch wenn er ein Zauberer ist, und befreundet mit einem karapakischen Königssohn! Ich dachte immer, so etwas sei nicht möglich.”

Jo schwieg. Das war nicht unbedingt ein Thema, das er vertiefen wollte. Der Schamane nickte und griff sein anfängliches Thema wieder auf.

„Wie ich vorhin schon sagte, es würde sich anbieten, dass wir zusammenarbeiten. Hilfe für mein Volk, Freiheit für dich. Wir haben einen gemeinsamen Feind.”

„Und den sollen wir wie angreifen? Mit Falkenkrallen und ein paar Messern?”

„Tsk.” Der Schamane warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Glaubst du, ich bin so blöd, einen direkten Angriff zu planen? Sehe ich aus wie ein Selbstmörder? Nein. Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir es irgendwie schaffen, die eine Kristallkammer gegen die andere auszuspielen. Und das möglichst, ohne die ganze restliche Welt dabei zu vernichten.”

Er machte eine Handbewegung. „Und jetzt schwirr ab. Zurück in den Falkenkörper, bevor dein Freund sich wundert, dass sein geflügelter Begleiter plötzlich so schwerhörig ist und keinen Weckruf mehr hört.”

*

Ioro schickte den Falken mit einer Handbewegung in den Wüstenhimmel. Irgendwo zwischen den weidenden Herden würde er schon Futter finden. Gut, dass er wenigstens Jo noch hatte. Sein vertrauter Berater. Sein Zauberer-Freund war die letzte Verbindung, die er jetzt noch zu seinem alten Leben hatte. Und sein einziger Freund in diesem neuen Leben.

Und jetzt musste er zu dem Schamanen. Die Götter mochten wissen, warum. Wahrscheinlich wollte der nur militärische Auskünfte. Aber Jo hatte gesagt, er könne dem Alten vertrauen. Einem Zauberer vertrauen … War nicht auch Jo ein Zauberer? Ioro seufzte. Er hatte ohnehin keine Wahl. Entweder er ging zu dem Schamanen oder er legte sich mit den Kriegern an, die ihn ständig beobachteten.

Vor dem Zelt des Schamanen zögerte er noch einmal und blickte zurück. Der stämmige Krieger namens Chirgot zuckte zusammen, als der Falke eine enge Kurve um seinen Kopf flog. Ioro vermerkte es zufrieden. Gut so! Diesen Wüstenkriegern gegenüber musste man Stärke zeigen. Einen winzigen Moment lang war er mit sich und der Welt zufrieden, dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war. Der Schamane wollte ihn sprechen. Ioro zog mit einem Seufzer den Kopf ein und trat durch den niedrigen Zelteingang.

Es roch merkwürdig. Und es sah merkwürdig aus. Ioro schaute sich neugierig um. An den Zeltstangen hingen Kräuterbündel und getrocknete Körperteile von Tieren. Für welchen Zauber waren die nötig?

„Alles ganz normale Heilmittel”, hörte er den Schamanen sagen, der gerade hinter einer Abtrennung zum Vorschein kam. Konnte der Alte Gedanken lesen?

Der Schamane lächelte belustigt. „Gedanken lesen ist bei dir unnötig, junger Freund, deine Körpersprache schreit förmlich heraus, was du denkst.” Er deutete auf einen Stapel Ziegenfelle neben der Feuerstelle. „Setz dich!”

Ioro gehorchte steif.

„Hast du dir schon überlegt, was du jetzt tun willst?”, fragte der Schamane.

Ioro schüttelte den Kopf. Nein, er hatte noch nichts überlegt. Seine eigene Handlung hatte ihn vollkommen überrascht. Und jetzt wusste er einfach nicht weiter.

„Du hast drei Optionen.” Der Schamane musterte ihn. „Du kannst nach Karapak zurückkehren. Dann stirbst du mit Sicherheit. Du kannst hierbleiben. Dann stirbst du vielleicht. Oder du kannst noch weiter weggehen von Karapak. Dann lebst du vielleicht. Vorausgesetzt, du überlebst den Weg durch die Wüste.”

Ioro schwieg. Wenn er Option eins gewollt hätte, wäre er jetzt nicht hier. Was die anderen beiden Alternativen anging, sah keine davon besonders verlockend aus. Dieser Chirgot wartete nur auf einen Grund, ihm sein Messer zwischen die Rippen zu rammen. Und die Länder jenseits der Wüste? Falls da Länder waren. Nach allem, was er wusste, konnte dort das Ende der Welt auf ihn warten. Die große Mauer, die alles begrenzte. Zumindest hatte ihm das früher seine Amme immer erzählt.

„Gibt es etwas, was dich dazu bewegen könnte, es mit uns zu versuchen?”, fragte der Schamane.

Ein lachendes Gesicht schob sich in Ioros Gedanken. Die Frau aus Karapak, die ihn beherbergte. Die Frau, die das Leben in den Roten Zelten so viel besser fand als in Karapak. „Ich denke, ja”, sagte er langsam.

*

Seit vier Monden war jetzt Ruhe an der Grenze. Die karapakischen Truppen hatten sich zurückgezogen. Ioro rechnete nach. Gut sechsundzwanzig Tage benötigte eine Karawane mit einer Bahre, um von der Grenze aus die Hauptstadt zu erreichen. Die Feierlichkeiten für das Begräbnis dauerten gut einen Mond, ein weiterer Mond würde verstrichen sein, bis der neue König offiziell gekrönt war. Dann noch die übliche Zeit, bis sich Verwaltung und Finanzen konsolidiert hatten und alle notwendigen Verwaltungsposten ausgetauscht worden waren. Und dann würde der Krieg von Neuem beginnen.

Er war sich dessen absolut sicher. Tolioro würde nicht aufgeben. Nicht, solange er vermutete, dass sein Bruder Ioro noch lebte.

Die Wüstenstämme würden vielleicht noch zwei oder drei Monde Atempause bekommen. Höchstens. Und wenn sie eine Chance haben sollten, die nächste Phase des Krieges zu überleben, mussten sie auf ihn hören.

Er hatte mit dem Schamanen gesprochen. „Vergiss es”, hatte der gesagt. „Sie werden auf keinen Fremden hören.”

Dann gab es nur eine Lösung. Er selbst musste zu einem Wüstenkrieger werden.

*

„Bist du sicher?”, fragte der Schamane.

„Ich lebe in euren Zelten. Eine eurer Frauen kocht mir mein Essen und wärmt mein Lager in der Nacht. Eines eurer Kinder lacht, wenn es mich sieht. Ja, ich bin sicher.”

„Gut.” Der Schamane wirkte sichtlich zufrieden. „Aber wenn du einer von uns werden willst, dann musst du dich als Krieger beweisen.”

„Ich führe seit Jahren das karapakische Heer an”, knurrte Ioro. „Sollte das nicht reichen?”

„In Karapak belohnen sie Abstammung mit Titeln.” Der Schamane sah ihn nicht an. „Bei uns musst du beweisen, was du kannst.”

Einen winzigen Moment lang war Ioro versucht, einfach aufzustehen und das Zelt des Schamanen zu verlassen. Aber dann sah er wieder das lachende Gesicht des Jungen vor sich. „Sag mir, was ich tun muss.”

*

Die Frau lächelte breit, als Ioro von dem Zelt des Schamanen zurückkehrte. War sie glücklich, dass er sich entschieden hatte, bei ihr zu bleiben? Ioro wusste es nicht. Er wusste immer noch so vieles nicht.

Im Zelt duftete es nach Karass und Ziegenfleisch. Die Frau gab eine ordentliche Portion von dem Eintopf in eine Schale und reichte sie ihm. Er musterte ihre Züge. Ein wenig grob waren sie, nicht so fein wie die der Palastdamen, die Züge einer Bäuerin eben. Aber sie strahlte Wärme aus. Etwas, was er nicht einmal bei seiner Mutter gespürt hatte. „Wie heißt du überhaupt?”, fragte er.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich dachte schon, du fragst mich nie!” Sie setzte sich ihm gegenüber. „Mein Name ist Sua.”

„Sua”, wiederholte Ioro. „Ich habe dich nie gefragt, Sua, warum du mich in dein Zelt aufgenommen hast. Hat man es dir befohlen?”

„Nein.” Sie wurde ernst. „Niemand befiehlt hier einer Frau, wen sie in ihr Zelt holt. Und es gibt leere Zelte, für Gäste. Eigentlich wollten die Krieger dich in ein Gästezelt stecken. Aber als ich dich gesehen habe … Sagen wir mal, du siehst nicht schlecht aus, mein Zelt hatte schon einige Zeit keinen Mann mehr gesehen, und ich hatte einfach wieder Lust, ein wenig meine alte Heimatsprache zu hören.”

Eine Weile schwiegen sie beide, und Ioro löffelte sein Essen.

„Wenn du willst, kannst du in meinem Zelt bleiben”, sagte sie dann.

„Hätte ich Alternativen?”

„Sobald du einer von uns bist”, bestätigte sie. „Du könntest in das Zelt der ledigen Männer gehen. Oder zu dem Schamanen. Ich habe gehört, er würde dich gerne ausbilden.”

Ioro schauderte. Unter all diesen Zauberdingen zu wohnen … „Ich bleibe lieber hier.”

Ihr Lächeln erschien wieder. Sie wirkte beinahe schön.

*

Chirgot überlegte düster, wem er zuerst die Kehle durchschneiden sollte: dem Schamanen oder dem Karapakier Ioro. Vermutlich dem Schamanen. Nur der konnte die beschissene Idee gehabt haben, den Karapakier in die Roten Zelte adoptieren zu wollen.

Was sagte der Alte da gerade?

„… und ich erwarte, dass ihr ihm nicht mehr Steine in den Weg legt als einem, der in den Roten Zelten geboren wurde.” Der Schamane starrte die versammelten Krieger der Reihe nach an. Einer nach dem anderen senkte den Blick. Chirgot nicht.

„So, wie es bei uns immer schon Brauch war!”, setzte der Schamane mit Nachdruck hinzu.

„Warum sollen wir einen Verräter in unseren Reihen willkommen heißen?”, fragte Chirgot. „Wer garantiert uns, dass er nicht als Nächstes uns verrät?”

„Er hat sein Volk nicht verraten”, erwiderte der Schamane. „Sein Volk hat ihn verraten. Sein Volk hat seine Ehre verraten.”

„Und wenn er es sich anders überlegt? Ich traue ihm nicht!”

„Er wird es sich nicht anders überlegen. Für ihn gibt es keinen Weg zurück. Er hat den König von Karapak getötet.”

„Er hat also den König von Karapak getötet”, knurrte Chirgot. „Na und? Jeder von uns hätte dasselbe getan, hätte er nur die Gelegenheit gehabt.”

„Das glaube ich nicht”, sagte der Schamane. „Der König war sein Vater.”

*

Ioro wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Pflegesohn seiner Zeltgefährtin, Mugo, entblößte grinsend seine Zahnlücke. Verdammt noch eins, der kleine Bastard war besser im Training als ein karapakischer Feldherr! Kein Wunder, dass die Wüstenkrieger so gute Kämpfer waren. Wenn seine Soldaten ihn jetzt sehen würden … Ein Feldherr, der mit den Kindern üben musste. Die feixenden Stammeskrieger, die ihm zusahen, waren auch nicht gerade eine Hilfe. Ioro fluchte.

„Fluch nicht!”, beschied ihm sein kleiner Ausbilder. „Wenn du unnötig redest, verlierst du nur Wasser. Das kannst du dir in Karapak leisten, aber nicht in der Wüste.”

Ioro nickte düster. Das konnte ja heiter werden!

*

Der Geistervogel kreiste über ihm. Chirgot beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Konnte dieses vermaledeite Biest nicht woanders jagen? Immer, wenn er den Vogel sah, erinnerte er sich an die Niederlagen, die das Volk durch die karapakische Armee erlitten hatte. Und nur wegen diesem Vogel.

Es sah dem Schamanen ähnlich, dass er den Karapaki und seinen Vogel unbedingt im Lager behalten wollte. Kriegstaktik, pah! Als ob die Stämme nicht imstande waren, selbst ihre Kriege zu planen. Mit Sicherheit wäre es vernünftiger gewesen, den Karapaki gleich einen Kopf kürzer zu machen und seinen Schädel auf eine der Zeltstangen zu spießen. Den Vogel am besten gleich mit. Der Falke war einfach nicht normal.

Und wenn er den Falken erlegte? Ein gut geschleuderter Stein ... So ein Vogelkörper hielt nicht viel aus. Und einem Stein sah niemand an, wer ihn geschleudert hatte. Chirgot bückte sich unauffällig und schloss seine Hand um einen gut eigroßen Kiesel. Jetzt musste der Geistervogel nur noch in seine Nähe kommen. Chirgot wartete.

Der Falke kreiste weiter über der Herde und hielt Ausschau nach Beute. Wo große Tiere lebten, gab es immer auch kleine Beutetiere. Wüstenratten oder Mäuse. Da! Der Falke ging in den Sturzflug über. Gleich darauf hörte Chirgot ein entsetztes Quieken, das abrupt abbrach. Jetzt! Das war seine Chance! Er pirschte sich rasch auf Wurfweite an. Der Falke saß auf einer feisten Maus und war schwer damit beschäftigt, sie in seinen Schlund zu würgen. Mit routinierter Bewegung schwang Chirgot seine Schleuder. Der Stein flog geradlinig auf den nichtsahnenden Vogel zu.

Und zerbarst in der Luft.

Der Falke drehte seinen Kopf und sah Chirgot mit seinen bernsteingelben Augen an. Chirgot hatte das bestimmte Gefühl, dass der Falke gerade überlegte, ob er ihn in eine Maus verwandeln und ebenfalls verfrühstücken konnte. Zitternd wich er zurück.

Und wurde von einer harten Hand aufgehalten. Die Stimme, die dicht neben seinem Ohr ertönte, kannte Chirgot mittlerweile nur zu gut.

„Vogeljagd?” Ioros Stimme war rostiges Eisen. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass das ein sehr gefährlicher Zeitvertreib ist, mein Freund?”

„Ich bin nicht dein Freund!”, zischte Chirgot und schüttelte die Hand ab.

Ioro legte ihm erneut eine Hand auf seine Schulter. „Aber, aber, hat nicht der Schamane gesagt, dass wir uns brav vertragen sollen?”

Chirgot wich wütend zur Seite aus. „Kindermörder! Frauenschlächter!”

Ioros Gesicht erstarrte.

„Verräter! Weshalb sollte ich jemandem trauen, der sein eigenes Volk verraten und seinen eigenen Vater getötet hat?”

Jetzt blinzelte Ioro nicht einmal mehr.

„Und ein Feigling bist du noch dazu!”, höhnte Chirgot. „Versteckst dich hinter dem Schamanen und deinem Geistervogel!”

Er hatte die Worte noch nicht ganz beendet, als Ioros Faust in seinem Gesicht landete. Das war’s. Wenn der verdammte Karapaki dachte, er konnte ... Chirgot überlegte nicht weiter. Seine Hand flog zum Messer. Und löste sich sofort wieder. Ein Angriff mit der Waffe auf einen Gast der Roten Zelte – undenkbar. Mit der Waffe angreifen dufte er auf keinen Fall. Aber über eine ordentliche Tracht Prügel sagte das Gastrecht nichts. Chirgot hob die Fäuste und griff seinerseits an.

Der Karapaki war schnell, das musste Chirgot ihm lassen. Er bewegte sich mit einer geradezu aufreizenden Gelassenheit und Sicherheit. Als Reiter und Bogenschütze mochte er eine Niete sein, im Faustkampf waren die Gewichte anders verteilt. Chirgot hatte Mühe, überhaupt einen Treffer zu landen. Argh! Ioros Faust war in seinem Magen gelandet. Chirgot warf sich zur Seite. Die zweite Faust traf ihn voll ins Gesicht. Chirgot schmeckte Blut. Er duckte sich, wich ein Stück zurück. Ioro folgte ihm, setzte eine ganze Serie kleiner, harter Schläge gegen seine Brust und seine Arme. Chirgot fühlte, dass ihm die Luft wegblieb. Verdammt! Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Das Gesicht vor ihm blieb versteinert. Ein weiterer Treffer. Eine Rippe brach. Irgendein Teil von Chirgot stellte es beinahe sachlich fest. Lange hielt er das nicht mehr durch. Aber aufgeben? Gegenüber dem karapakischen Frauenschlächter? Auf keinen Fall. Als ihn der nächste Hieb traf, krümmte Chirgot sich zusammen und wich zwei Schritte zurück. Seine linke Hand wischte über den Boden, nahm etwas von dem Sand auf. Ioro holte zum nächsten Schlag aus. Chirgot schleuderte den Sand. Genau in die kalten, unbarmherzigen Augen seines Gegners. Einen Moment wich dieser geblendet zurück. Chirgot schlug zu. Mit einem satten Geräusch traf seine Faust mitten in Ioros Gesicht. Ein dünner Sprühregen von Blut blühte auf, Knorpel barsten. Der Karapaki ging taumelnd zu Boden. Chirgot hob die Faust ein zweites Mal.

„Genug!” Der Schamane stand plötzlich neben ihm. Chirgot sah sich verwirrt um. Erst jetzt registrierte er, dass sich fast das halbe Lager um den Kampfplatz versammelt hatte. „Seid ihr Krieger oder Kinder, dass ihr euch prügeln müsst?” Die Missbilligung in der Stimme des Schamanen war nicht zu überhören. Chirgot gab keine Antwort.

Ioro hob den Kopf. Ein breites Blutrinnsal kleckerte aus seiner zerquetschten Nase. Er atmete durch den Mund, hastig, in Stößen.

„Ich entschuldige mich”, sagte er, als er unsicher wieder auf den Beinen stand. „Ich schätze, für einen Gast habe ich ein sehr ungehobeltes Benehmen gezeigt.”

Chirgot starrte ihn verwundert an. Der Karapaki entschuldigte sich? Obwohl er, Chirgot, die ganze Sache letzten Endes angefangen hatte?

„Ich entschuldige mich auch”, sagte er endlich. Steif fügte er hinzu: „Es wird nicht wieder vorkommen.” Ein Blick hinüber zum Falken, der jetzt in großen Kreisen über ihnen flog: „Das gilt auch für deinen Geistervogel.”

Ioro nickte nur. Die Starre war aus seinem Gesicht verschwunden.

Plötzlich grinste Chirgot. „Bei den Winddämonen, Karapaki, für einen verwöhnten Prinzen hast du einen verdammt guten Schlag!” Ein dicker Knoten, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte, löste sich in ihm.

*

Ioro war schon wieder vom Pferd geflogen. Jo gestattete sich einen winzigen Moment der Belustigung. Das, was die Karapakier als Reiten bezeichneten, betrachteten die Wüstenstämme bestenfalls als dösiges Herumsitzen im Sattel. Zum ersten Mal seit seiner Rekrutenzeit wurde Ioro wieder richtig rangenommen. Jo lenkte den Falkenkörper tiefer. Ioros Flüche schallten bis hinauf zu ihm. Das Schauspiel würde er sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Ioro verspürte Mordgelüste. Diese kleine braune Bestie in Pferdegestalt stand da, als ob sie kein Wässerchen trüben konnte. Wie hatte das verdammte Viech ihn so schnell wieder von seinem Rücken geworfen? Mit einem Ächzen stemmte er sich hoch. Sein Brustkorb fühlte sich an wie ein einziger blauer Fleck und bei jedem Atemzug stach es in seiner linken Seite. Er musterte die Zuschauer, unter ihnen der unvermeidliche Chirgot. Nein, er konnte auf keinen Fall aufgeben. Nicht, solange der zusah. Ioro bewegte seine schmerzenden Glieder und schob sich vorsichtig wieder auf das Pferd zu.

Chirgot revidierte seine Ansichten nur zähneknirschend, aber er wusste, was er sah. So ungern er es zugab, der Karapaki hatte tatsächlich das Zeug zu einem echten Krieger. Er war zäh, er nahm Schmerzen schweigend in Kauf, und er gab nicht auf. Und wenn er wirklich den Roten Zelten beitreten wollte? Der Schamane hatte Mittel und Wege, festzustellen, ob jemand seinen Schwur ernst meinte. Hm. Jemand wie den Karapaki an seiner Seite zu sehen … Womöglich zusammen mit dem Geistervogel? Chirgot befand, dass er sich mit dem Gedanken anfreunden konnte.

*

Das war er, der Tag aller Tage. Ioro fror. Vor Sonnenaufgang war es in der Wüste verdammt kalt, und der Alte hatte ihm keinen Fetzen Kleidung erlaubt. Es sei nicht üblich, hatte er nur gesagt. So streng, wie die Wüstenkrieger auf ihre Traditionen achteten, hatte es wohl keinen Zweck, zu widersprechen. Ioro fühlte sich komisch. Er, der oberste Feldherr, nein, der ehemalige oberste Feldherr des karapakischen Heeres, sollte hier in der Wüste eine Prüfung absolvieren, die unter den Wüstenkriegern bereits halbwüchsige Kinder machten. Jene Prüfung, mit der die Jungen bewiesen, dass sie Krieger waren, mit der sie zum Mann wurden. Nur so, hatte der Schamane erklärt, würde es Ioro möglich sein, wirklich zu einem Krieger der Roten Zelte zu werden. Nur so würde die Weißspuren-Sippe, die diesen Teil der Wüste ihre Heimat nannte, Ioro als vollwertigen Menschen sehen. Weißspuren-Sippe! Namen hatten die! Wie kamen Menschen zu so komischen Namen? Die Roten Zelte, klar, so nannten sie sich, weil ihre Zelte aus rotem Ziegenhaar waren. Aber Weißspuren? Jede Spur in dieser verdammten weißsandigen Wüste war weiß!

Der Schamane tauchte neben ihm auf. „Bist du bereit?” Er musterte Ioro abwägend.

„So bereit, wie ich nur sein kann”, brummte Ioro. „Außerdem kann ich nicht länger warten.”

Einen Moment sah der Schamane aus, als ob er ihn fragen wollte, warum. Aber dann zuckte er nur die mageren Schultern, drehte sich um und deutete in die Wüste hinaus. Jenseits des Flammenringes, den die Wachfeuer um die Zelte und die Herden bildeten, war es noch stockfinster.

„Du kennst deine Aufgaben”, sagte der Schamane. „Du läufst zur Felsennadel. Dort fängst du einen blauen Skorpion. Lebend. Dann suchst du die Quelle in den tausend Schluchten. An ihrem Ufer steht ein Birfa-Strauch. Von dem nimmst du einen Zweig. Und dann bringst du den Zweig und den Skorpion zur großen Felsenwand. Du hast Zeit bis zum nächsten Sonnenaufgang. Wenn du pünktlich kommst, wirst du auf der großen Felsenwand die aufgehende Sonne des neuen Tages begrüßen. Wenn nicht, bist du tot.”

Der Falke, der die ganze Zeit reglos auf dem First des Schamanenzeltes gesessen hatte, gab einen heiseren Schrei von sich.

„Du wirst dich da raushalten!”, befahl der Schamane. „Diese Prüfungen muss Ioro aus eigener Kraft bestehen. Sonst haben sie keinen Wert. Nicht für den Stamm und nicht für ihn selbst.”

Der Falke schlug mit den Flügeln.

*

Noch bevor er die Wachfeuer hinter sich gelassen hatte, setzte die kurze Dämmerung ein. Als er das Ende der Weideflächen erreichte, ging die Sonne bereits auf. Einige wenige Augenblicke freute Ioro sich über die Wärme. Dann verfinsterte sich sein Gesicht. Er trug keine Kleidung. Absolut keine. Und er wusste, wie verdammt empfindlich seine Brandnarbe auf Sonne reagierte. Das konnte heiter werden. Aber es gab kein Zurück. Jetzt nicht mehr. Er konnte nur zusehen, dass er seine Aufgaben so schnell wie möglich erledigte. Ioro lief los.

Eine Kerze später lief er nicht mehr. Der Sand war tief und heiß. Seine Füße fühlten sich an, als ob sie gebraten wurden. Und seine Brandnarbe brannte mit ihnen um die Wette. Sie war jetzt schon knallrot. Ioro setzte einen Fuß vor den anderen. Bedächtig, stur, zielstrebig. Er würde diese verdammte Felsennadel erreichen. Was zwölfjährige Jungen schafften, sollte ein karapakischer Feldherr auch können.

Am späten Vormittag kochten nicht nur seine Füße und seine Brandnarbe, sondern auch sein Gehirn. Ioro war mehr als erleichtert, als er endlich in den Schatten der Felsennadel tauchen konnte. Er gestattete sich einen kurzen Moment zum Ausruhen – nur um nach wenigen Augenblicken entsetzt wieder hochzufahren. Er war beinahe eingeschlafen! Tagsüber in der Wüste einzuschlafen, ohne Schutz, ohne Kleidung, ohne Wasser, etwas Dümmeres konnte er kaum tun. Wie war noch die erste Aufgabe? Es dauerte einen Moment, bevor sie seinem benebelten Gehirn wieder einfiel. Ach ja. Der Skorpion. Er begann, Steine umzudrehen.

Es war nicht weiter schwierig, einen Skorpion zu finden. Unter jedem zweiten Stein lauerte einer. Womit Ioro allerdings nicht gerechnet hatte: Die Biester waren aggressiv. Sie sprangen sofort auf ihn los. Jeden hatte er bislang verdammt schnell mit genau dem Stein erschlagen müssen, unter dem er sie herausgelockt hatte. Wie sollte er einen lebendigen Skorpion einfangen und transportieren? Ioro sah sich um. Irgendetwas musste es hier geben, das er gebrauchen konnte. Die Aufgabe musste irgendwie lösbar sein. Systematisch suchte er den Fuß der Felsnadel ab. Aber da gab es nichts, außer ein paar Federn von irgendeinem Vogel, der anscheinend auf der Felsnadel sein Nest hatte. Aasgeier, vermutlich, die Federn waren groß. Ioro ging weiter – und hielt inne. Verdammt, ja doch, die Federn. Eilig kehrte er zurück, untersuchte seinen Fund näher. Die Skorpione waren klein, die Federn groß und kräftig. Groß genug für einen Käfig. Er hockte sich in den Sand und begann, Federn zu verflechten.

Zwei Kerzen später hatte er es geschafft. In einem Federball, der an einer Federschnur hing, steckte ein aufgeregter kleiner, blauer Skorpion.

Ioro sah sich zufrieden nach seiner nächsten Aufgabe um. Eine Quelle war genau das, was er jetzt brauchte. Sein Durst war kaum noch auszuhalten.

Es war fast zu einfach. Die tausend Schluchten begannen direkt hinter der Felsennadel und er brauchte nur dem Gefälle zu folgen, um zu der Quelle zu finden. Zudem war es schattig in den Schluchten und die Quelle bot herrliches, trinkbares Wasser. Auch der Birfa-Strauch bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Breitästig stand er neben der Quelle und wartete förmlich darauf, dass Ioro sich bediente. Was sollte das für eine Probe sein?

Drei Kerzen später kannte Ioro die Antwort.

Nicht das Finden der Quelle oder des Strauches stellte die Schwierigkeit dar. Die Probe bestand darin, aus den tausend Schluchten wieder herauszufinden. Natürlich hatte er sich den Weg nicht gemerkt. Und natürlich landete er immer und immer wieder in einer Sackgasse. Die Wände waren zu mürbe, um daran hochzuklettern, seine Versuche endeten jedes Mal in einer Sand- und Felslawine. Irgendwann stand er zum dritten Mal vor einer mittlerweile wohlbekannten Felswand mit einem charakteristischen weißen Streifen in dem rötlichen Gestein.

Nein, bloßes Herumirren würde ihn hier nicht herausbringen. Er musste es taktisch angehen. Konnten ihm seine eigenen Spuren helfen?

Leider nicht. An den meisten Stellen hatte der ständig wehende Sand, der über die Ränder der Schluchten hinab wehte, jede Fährte verschüttet. Und da, wo noch etwas zu sehen war, hatte er durch seine Herumlauferei selbst jede Möglichkeit verwischt, den richtigen Weg zu finden.

Konnte er die Wände irgendwie markieren? Er versuchte, mit einem Stein den Fels anzuritzen. Es war mühsam und dauerte, bevor auch nur ein einziger Strich tief genug war, um deutlich sichtbar zu sein. Nein, so ging das nicht. Die Zeit lief ihm davon. Ioro setzt sich neben die Quelle und dachte nach. Wie konnte er sicher stellen, einen Weg nicht zweimal zu gehen?

Die Sonne stand schon sehr tief, als er endlich die Lösung fand. Er musste nur zusehen, dass er mit einer Hand immer am Felsen blieb. Das verhinderte zwar nicht, dass er in einer Sackgasse landete. Aber er brauchte keine Schlucht ein zweites Mal zu erkunden.

Die Methode funktionierte, wenn auch mühsam. Ioro wanderte systematisch eine Schlucht nach der nächsten ab. Mindestens fünfmal kam er zurück zur Quelle, nur um von dort aus in die nächste Schlucht einzutauchen. Seine Füße schmerzten mittlerweile nicht mehr, sie bluteten und fühlten sich fast taub an. Die Sonne war längst untergegangen. Ioro hätte einiges für ein gemütliches, sicheres Feuer gegeben, das ihn wärmte und vor den Windgeistern schützte. Aber er besaß nichts, womit er Feuer machen konnte. Und selbst wenn, er hätte an keinem Feuer verweilen können. Nicht, wenn er es noch rechtzeitig zu dem Schamanen zurückschaffen wollte. Über seine kalte Haut strich noch kälterer Wind. Geisterwind. Ioro fühlte einen unheimlichen Druck auf seiner Brust, den er betroffen als Angst identifizierte. Die kleinste Fackel, ja sogar eine winzige Kerze wäre ihm jetzt mehr als willkommen gewesen. Überall um ihn herum raschelte und rieselte es und er konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Bis in die Schluchten reichte das Sternenlicht nicht. Er fühlte seinen Weg mehr, als dass er ihn sah. Hoffentlich hatte der blaue Skorpion, der immer noch in seinem Federball saß, hier keine freilaufenden Brüder. Ioro lief und lief.

Irgendwann fiel ihm auf, dass er die Steine auf dem Boden erkennen konnte. Ioro schaute hoch. Der Schluchtrand war fast in Augenhöhe. Er hatte endlich einen Weg aus den tausend Schluchten gefunden.

Der Rest war verhältnismäßig einfach. Nach der Dunkelheit in den Schluchten wirkten die Sterne fast wie helle Fackeln, die ihm den Weg erleuchteten. Die fürchterliche Kälte der Wüstennacht allerdings war nicht einen Deut besser als die brennende Sonne tagsüber. Mit einem Körper, der steif und halb betäubt vor Kälte war, setzte Ioro mechanisch Fuß vor Fuß und kämpfte sich beharrlich bis zur großen Felsenwand hinter dem Lager durch. Von Ferne blinkten fröhlich und einladend die Lagerfeuer. Ioro schaute weg. Noch nicht. Noch ein letztes Hindernis galt es zu überwinden.

Er war fast enttäuscht, wie leicht der Aufstieg war. Die große Klippe sah zwar steil aus, war aber verwittert genug, um ein fast bequemes Klettern zu ermöglichen. Gut, er musste den Zweig und den Federball mit dem Skorpion mit den Zähnen festhalten, aber das war eine verhältnismäßig kleine Unannehmlichkeit. Solange der Skorpion nicht versuchte, ihn durch die Federwand hindurch zu stechen … Es dauerte. Die Klippe war hoch. Sehr hoch. Aber es war nicht wirklich schwierig. Ioro erreichte die Kante, als der Himmel gerade begann, sich aufzuhellen.

Der Schamane stand genau da, wo Ioro über den Klippenrand kletterte. Er streckte stumm die Hand aus. Ioro übergab ihm den Zweig und den Skorpion. Der Schamane zog eine Augenbraue hoch, als er die Federkugel sah, sagte aber nichts. Er winkte Ioro, ihm zu folgen, und marschierte ein Stück den Klippenrand entlang. Der Weg stieg noch ein gutes Stück an. Hier war die Klippe wilder, der Rand unregelmäßiger. Ioro konnte vor sich eine große Einbuchtung erkennen und dahinter einen noch größeren, gezackten Vorsprung. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein, der Himmel wurde bereits hell. Jetzt endlich machte der Schamane den Mund auf.

„Du gehst zum Rand der Klippe, so weit, wie du dich wagst. Dann begrüßt du die Sonne.” Der Schamane deutete auf den gezackten Vorsprung, der wie eine Pfeilspitze in die Leere über dem Abgrund ragte. „Dort, auf diesem Felsen.”

Na schön. Wenn’s denn sein musste. Zum Glück litt er nicht unter Höhenangst. Ioro ging los. Der Schamane folgte ihm in wenigen Schritten Abstand.

Der Vorsprung war schnell erreicht. Er war größer, als er von ferne ausgesehen hatte, und er stieg noch ein ganzes Stück an, bevor er sich in der zweiten Hälfte etwas nach unten neigte. Ioro ging bis zum Beginn der Neigung. Bis hierher bestand keine Gefahr. Dahinter musste er aufpassen. Wenn er auf der Neigung ausrutschte, würde er abstürzen. Er schnob wütend. … so weit, wie du dich wagst. Wollte der Schamane ihm damit unterstellen, dass er ihn für wenig mutig hielt? Dem würde er das Gegenteil beweisen, ha! Er ging weiter. Die Neigung war nur gering. Bis zwei oder drei Schritte vor die Abbruchkante sollte er es ohne große Mühe schaffen. Dämliche Mutprobe. 

Ioro hielt inne. Was immer der Schamane war, dämlich war er nicht. Diese spezielle Mutprobe musste irgendeinen besonderen Zweck erfüllen. Er lauschte. Weit weg schrie ein Falke. Jo? Er wollte weitergehen. Zögerte. Etwas fühlte sich nicht richtig an. Unsinn. Das bildete er sich nur ein. Ioro lauschte wieder. Da war nichts. Absolut nichts. Er ließ sich von nichts ins Bockshorn jagen. Ein schöner Krieger war er!