Hornstachler - Chris Svartbeck - E-Book

Hornstachler E-Book

Chris Svartbeck

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Beschreibung

Der Bann auf den Drachenbergen ist erloschen. Jahrhundertelang hat er jeden Zauber effektiv verhindert. Jahrhundertelang hat er auch das lauernde Unheil aus den Eisbergen in Schach gehalten. So lange, dass die Menschen fast vergessen haben, dass dieses Unheil existiert. Jetzt ist der Weg wieder frei. Und während die Kinder der Drachenberge versuchen, nach einem langen Krieg ihr Leben neu zu ordnen, sind sie längst in einen neuen Krieg verwickelt, ohne es zu wissen. Dieser Krieg begann weit in der Vergangenheit. Dieser Krieg bedroht ihre Gegenwart. Dieser Krieg kann ihre Zukunft vernichten. Und das einzige, was sie retten kann, wurzelt ebenfalls tief in der Vergangenheit. Nur, dass es überhaupt keinen Grund hat, ausgerechnet Menschen zu retten.

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Spiegelmagie

Band 4

HORNSTACHLER

C. Svartbeck

Hinweis:

Am Ende des Buches finden Sie einen Anhang mit einer Landkarte sowie Erläuterungen zum Land Karapak und seinen Bewohnern.

C. Svartbeck

Machandel Verlag
Neustadtstr.7, 49740 Haselünne

Bildquelle cover: artshtock / Vuk Kostic / www.shutterstock. com

Vignette: Fernando Cortez /shutterstock.comp

2017

ISBN 978-3-95959-317-5

Was bisher geschah

Anmerkung: Sie können das Buch direkt zu lesen beginnen, ohne dass Sie deswegen die ganze Vorgeschichte kennen müssen. Falls es Sie aber doch interessiert oder Sie die ersten Bände nicht mehr so ganz im Gedächtnis haben: Die Grundlagen-Fakten sind in diesem Kurz-Kapitel aufgeführt.

Was gibt es in den ersten drei Bänden zu lesen?

Band 1 - Königsfalke

Ioro, ältester Sohn einer Konkubine König Kanatas (und daher nicht Erbe), ist zum obersten Feldherren bestimmt, sein jüngerer Bruder Tolioro als Sohn der Ersten Gemahlin ist Thronerbe.

Wie das Schicksal so spielt, scheint Ioro mehr Intelligenz und Ehre zu besitzen als Tolioro, was Vater Kanata wohlwollend vermerkt. Ebenso wohlwollend (da er es in seiner Jugend ebenso gehandhabt hat) sieht er allerdings zu, wie Söhnchen Tolioro einen potenziellen Konkurrenten nach dem nächsten aus dem Weg räumt. Und Mutter Iragana beseitigt unauffällig einige Leichen, die Tolioro bei seinen sexuellen Eskapaden produziert.

Da Tolioro auf Ioro eifersüchtig ist, wäre Ioro dem Weg aller Königssöhne in ein frühes Grab gefolgt sein, hätte er nicht in dem angehenden Zauberer Jokon einen tatkräftigen Freund gefunden. Dumm ist halt nur, dass auch Jokon sozusagen auf Messers Schneide lebt.

Band 2 - Falkenkrieger

Sowohl König Kanatas Ehe als auch die seines Sohnes Tolioro, aus Gründen der Staatsraison mit Sirit, der Tochter eines Nachbarkönigs geschlossen, sind unglücklich. Zudem versucht sich die halbe Familie und Schwiegerfamilie gegenseitig zu meucheln.

Am Ende stirbt der König von der Hand seines Sohnes, und Ioro, der jetzt keine Zukunft mehr für sich sieht im Reich, flieht zu den Wüstenkriegern, gegen die das Reich gerade Krieg führt.

Zauberer Jokon, der sich jetzt Jo nennt, hat derweilen einen kapitalen Fehler begangen, ist einer fremden, feindlichen Zauberer-Fraktion auf den Leim gegangen und sitzt im Körper eines Falken fest.

Band 3 - Wüstenkrieger

Ioro kämpft unter seinem neuen Namen Nior mit den Wüstenkriegern gegen seine alte Heimat Karapak. Hauptziel: Vernichtung seines Bruders Tolioro.

Bei diesem speziellen Ziel unterstützt ihn Tolioros Gattin Sirit aus ganzem Herzen.

Und Jo, der ihn im Körper eines Falken begleitet, bekommt dabei kaum mit, dass auch Karapaks Zauberer um ihr Überleben kämpfen, gegen einen Feind, den sie seit 500 Jahren vernichtet wähnten.

Am Ende verbleiben nur 3 der bekannten Akteure auf dem Schachbrett:

Sirit, jetzt Witwe Tolioros und Regentin Karapaks. Ihr Gatte hatte sie geblendet. Da sie einer Zauberin half, hat diese ihr Ersatz-Augen aus Spiegelscherben geschenkt, mit denen Sirit jetzt mehr sehen kann als vorher mit ihren natürlichen Augen. Zum Beispiel Geheimgänge in Mauern.

Weiter verbleiben noch:

Inagoro, ihr minderjähriger Sohn

Jo, der seinen Falkenkörper verloren hat und jetzt in einem Spiegel gefangen ist.

Und es beginnt eine neue Geschichte. Sozusagen „The next Generation“.

Der junge König

„Der König ist zu alt, als das seine Erziehung in der Hand einer Frau bleiben dürfte! Er braucht die Erziehung eines Mannes.“

„Hier gibt es keinen Mann“, erinnerte Sirit ihn sanft. „Außer, Ihr zählt die Eunuchen, Sklaven und Diener mit.“

Der Ratsherr sah die Regentin an, als hätte sie sich soeben in eine Spinne verwandelt. Angeekelt verzog er die Nase. „Dann muss der König den Palast verlassen. Alt genug ist er.“

„Und was“, fragte Sirit, „lernt er außerhalb des Palastes, was er hier nicht lernen kann? Ich habe hervorragende Lehrer für ihn geholt. Er bekommt Waffenunterricht vom Meister der Palastgarde persönlich. Selbst die Priester beteiligen sich an seinem Unterricht und bringen ihm die Gesetzeskunde nahe.“

Bei der Erwähnung der Priester lief ein Schauder über den Körper des Ratsherren, und er zog den Kopf etwas ein. Trotzdem gab der Mann nicht auf. „Der König ist ein Mann. Er braucht entsprechenden, standesgemäßen Umgang.“

„Der König ist ein Kind. Und sein Platz ist ohnehin im Palast. Der Platz des karapakischen Königs ist immer im Palast gewesen.“

Der Ratsherr sah sie mürrisch an. „Wenn der König den Palast nicht verlassen soll, müssen wir eben die Männer in den Palast hineinbringen.“

Sirit hätte fast laut losgelacht. „Im Sommerharem sind Männer, die nicht zur Familie gehören, verboten.“

„Das gilt aber nur für erwachsene Männer!“, trumpfte der Ratsherr auf. „Nicht für Kinder. Wir werden dafür sorgen, dass der König mit anderen Jungen seines Alters zusammen ist. Und ich werde persönlich die Auswahl überwachen.“ Seine Stimme wurde zuckersüß. „Wir wollen schließlich, dass unser junger Herrscher nur die allerbeste Gesellschaft genießt, nicht wahr?

Die allerbeste Gesellschaft war etwas anderes. Sirit jedenfalls hätte die Jungen, die in den nächsten Wochen so nach und nach im Palast eintrafen, nicht unbedingt alle dazugezählt. Rang und Namen hatten sie, oh ja! Niemand im Rat wäre auch nur auf die Idee gekommen, dem jungen Herrscher etwas anderes als die Söhne des Hochadels zuzumuten. Edelstes blaues Blut. Nur, dass diese Jungen sich alles andere als edel benahmen. Mindestens drei waren darunter, die in Bezug auf Benimm und Wortwahl, aber auch in Bezug auf gänzliche Unwissenheit in Belangen der Bildung jedem Gossenjungen Sawateenataris Konkurrenz machen konnten. Zwei andere gehörten zur entfernten Verwandtschaft der Mehmes, ein weiterer, Mauro, war Inagoro sogar relativ nahe verwandt, somit ein potenzieller Thronanwärter und eine direkte Gefahr für den jungen König. Und zudem sechs Jahre älter, also als Spielkamerad eigentlich ungeeignet. Mauro war alt genug, dass er unter normalen Umständen bereits seine Karriere in der Armee begonnen hätte. Dass der Thronrat ihn überhaupt in Betracht gezogen hatte, zeugte von dem großen Einfluss seines Vaters, des Herzogs Komato, eines jüngeren Cousins Kanatas – mochte die Seele des verblichenen Königs für alle Zeiten unbehelligt von den Windgeister ruhen. Und das restliche halbe Dutzend fand es nach der ersten Aufregung, in den Palast zu dürfen, hier nur elend langweilig und heckte folglich einen Unsinn nach dem nächsten aus.

Sirit holte umgehend mehr Lehrer in den Palast. Lehrer für Bildung, aber auch Waffenlehrer und Reitlehrer, die in den Höfen der Palastwachen mit ihren Schützlingen arbeiten konnten. Die jungen Herren mussten beschäftigt werden. Und sie holte zusätzliche Wachen. Schließlich streunten die jungen Herren öfters kreuz und quer durch die Stadt, nachdem sie begriffen hatten, dass ihr Betragen im Palast sich zu ändern hatte. Der Thronrat musste einsehen, dass es unverantwortlich gewesen wäre, diese zukünftigen Würdenträger des Reiches ohne Schutz zu lassen.

Die Regentin sorgte auch dafür, dass diese Wachen neben ihrem regulären Lohn noch eine ordentliche Zulage aus ihrer Privatschatulle bekamen. Für ganz besondere Wachsamkeit. Schließlich wusste man nie, vor wem ein König alles geschützt werden musste.

Einen einzigen, winzigen Vorteil hatte dieses Arrangement. Im Sommerharem war wieder Leben.

*

Sirit sah unwillig von ihrer Kalligraphie hoch. Waren Pinots Freunde auch so laut gewesen? Sie seufzte. Und erkannte in ihrem eigenen Seufzer den ihrer Mutter. Ja, Pinots Freunde waren ebenso laut gewesen. Und vermutlich ihre eigenen Freundinnen auch. Kinder waren laut, selbst in einem Palast. Der einzige, der nicht laut war, war ihr Sohn Inagoro. Der Junge hatte früh lernen müssen, dass nur Schweigen sein Überleben sicherte. Ihr Blick wanderte zu dem schwarzen Schopf, der ganz in ihrer Nähe ebenfalls über ein kalligraphisches Blatt gebeugt war. Nein, sie hatte sich geirrt. Es gab noch jemanden, der so ruhig war wie Inagoro. Ihre adoptierte Tochter Taephe. Sirit dachte an die Konkubine, die Taephe geboren hatte. Taephe hatte so vieles mit ihrer toten Mutter gemeinsam. Mehr als mit ihrem verstorbenen Vater. Das Mädchen war gut erzogen, lernwillig und ehrerbietig. Aber wann hatte Taephe das letzte Mal gelacht?

„Taephe!“

„Ja, Mutter des Königs?“ Der Schopf mit den drei rabenschwarzen Zöpfen hob sich.

„Du hast genug geübt für heute. Geh spielen!“

Das Mädchen zögerte.

„Geh nur. Wenn du magst, kannst du Inagoro fragen, ob du dich seiner Gruppe anschließen darfst.“

„Das wäre nicht schicklich, Mutter des Königs. Ich bin nur ein Mädchen.“

„Das hat weder dich noch Inagoro gestört, bevor die anderen Jungen in den Palast gebracht wurden.“

„Es stört uns auch heute noch nicht, solange wir alleine sind. Oder zumindest nur die Kinder der Diener bei uns sind. Aber die anderen Jungen ziehen Inagoro auf, dass er mit einem Mädchen spielt. Er hat sich sogar schon deswegen mit ihnen geprügelt.“

So, das also war der Grund für die Prügelei gewesen. Inagoro hatte nicht mit der Sprache herausgewollt, als sie ihn gefragt hatte.

Natürlich, Inagoro war König. De jure. Von einem König, egal wie jung er war, erwartete man gewiss nicht, dass er mit Mädchen spielte. Und noch weniger, dass er sich wegen einem Mädchen prügelte.

„Dann sollte ich dir vielleicht auch ein paar standesgemäße Gefährtinnen kommen lassen.“

Taephe zuckte zusammen. „Lieber nicht, Mutter des Königs.“

„Warum nicht?“ Sirit war ehrlich erstaunt.

„Ich habe zwei von ihnen getroffen.“ Taephes Stimme war klar, aber sehr leise. „Als sie die Jungen hierher brachten.Ich habe sie gegrüßt und gefragt, ob sie mit mir zu den Goldfischteichen gehen wollten. Sie haben mich gefragt, wer ich bin. Und als ich es ihnen gesagt habe, haben sie mich ausgelacht und gesagt, dass sie niemals mit der Tochter einer Konkubine, die sich zuvor als Junge verkleidet hatte, spielen würden.“

Sirit seufzte. Der karapakische Adel war gut geschult darin, seine Vorurteile an die nächste Generation weiterzugeben. Wenn sie in Kirsitan gewesen wären …

Sirit spürte eine sanfte Berührung. Taephe war neben sie getreten. „Sorgt Euch nicht, Mutter des Königs. In den Hütten der Diener verlacht mich niemand. Ich habe dort genügend Freunde und Freundinnen, denen ich jederzeit willkommen bin.“

Sirit nickte und entließ Taephe mit einer Handbewegung. Gedankenverloren sah sie dem Mädchen nach, als es in den Garten hinausging. Ein schlanker Körper, ein geschmeidiger Gang. Taephe versprach, eines Tages eine Schönheit zu werden. Einmal abgesehen von der Mehme-Nase, natürlich.

Taephe sah den Jungen zu. Natürlich war es nicht schicklich, dass sie sich als Mädchen außerhalb des Sommerharems aufhielt, aber es war zu verlockend gewesen, weiterhin dem Unterricht zu folgen. Taephe hatte Geschmack am Lernen gefunden, damals … als sie noch ein Junge sein sollte, damals, als ihre Mutter noch lebte. Mittlerweile konnte Taephe ohne Bitterkeit an ihre Mutter denken. Mittlerweile wusste Taephe, wie großherzig die Mutter des Königs in jener Nacht gehandelt hatte.

Der Lehrer ignorierte Taephe. Die Jungen ignorierten sie ebenfalls. Es war, als sei sie überhaupt nicht da. Aber nichts und niemand konnte sie daran hindern, ihre Ohren aufzusperren und zuzuhören.

Na schön, beinahe nichts. Außer natürlich die Langeweile, wenn der Lehrer zum achten oder neunten Mal die gleiche Berechnung erklärte. Was bei den Göttern war so schwierig an einem einfachen Dreisatz? So dumm konnten die Jungen doch nun wirklich nicht sein. Nicht einmal Pokoko, der mit dem krummen kleinen Finger, der gerade noch einmal nachfragte. Taephe entfuhr unwillkürlich ein entnervtes Stöhnen.

Der Blick des Lehrers wanderte missbilligend zu ihr. „Du störst!“, stellte er ungehalten fest. „Wie sollen die jungen Herren sich da konzentrieren? Geh zurück zu deinen Puppen und überlass die Männer ihrer Arbeit!“

Taephe reichte es. „Die jungen Herren können sich nicht konzentrieren, weil sie nur an ihre Wetten bei den Hahnenkämpfen heute Nachmittag denken. Würden sie sich konzentrieren, hätten sie schon längst gemerkt, dass die Buchmacher sie regelmäßig hereinlegen und ihnen niemals die volle Summe gewonnenen Geldes auszahlen.“

Jetzt hatte Taephe die volle Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe.

„Du weißt von den Hahnenkämpfen?“

„Ja.“ Taephe nickte Inagoro zu. „Ich habe sie … früher … auch besucht.“

„Und woher weißt du, dass die Buchmacher uns betrügen?“

„Euch nicht, königlicher Bruder, das würden sie nicht wagen. Aber die anderen schon. Weil sie wissen, dass Eure Freunde nicht richtig nachzählen können.“

„Und das weißt du woher?“ Für einen Moment schien der Lehrer vergessen zu haben, dass er mit einem verachtenswerten Mädchen sprach.

„Die Jungen erzählen es ja laut genug, wie viel sie einsetzen, wie hoch die Quote war, und was sie gewonnen oder verloren haben. Wenn ich diese Zahlen in einen Dreisatz setze, erkenne ich sofort, ob die Wetten ehrlich waren.“

„Interessant.“ Inagoro hatte sich vorgebeugt. Sein Zeigefinger massierte seine Nasenwurzel, wie immer, wenn er nachdachte. „Wenn sie das heute wieder tun, und du kannst das beweisen, dann bekommen wir viel, viel Gold. Und wenn sie uns das nicht geben, lassen wir sie wegen Betrug verhaften.“

„Entschuldigt, mein König!“ Das war wieder der Lehrer. „Ihr könnt unmöglich ein Mädchen aus dem Sommerharem zu den Wettkämpfen mitnehmen. Das schickt sich nicht. Ich selbst werde mit Euch kommen und die Quoten kontrollieren.“

„Nein.“ Inagoro hatte sich entschlossen. „Wenn ein Erwachsener mitkommt, merken sie bestimmt was. Es muss Taephe sein. Sie kann sie sich ja wieder als Junge verkleiden.“

Der Lehrer und Taephe zuckten unisono zusammen. Der Lehrer fuchtelte nervös mit beiden Händen in der Luft herum. „Unmöglich, ganz unmöglich! Das schickt sich nicht, wirklich nicht! Mein König, denkt an die Ehre Eures Hauses!“

„Tue ich doch.“ Inagoro war die Liebenswürdigkeit in Person. „Die Ehre meines Hauses verbietet mir, zuzulassen, dass meine Freunde betrogen werden. Wir werden es so machen, wie ich es will.“

Wenn Blicke töten könnten, wäre Taephe schon bei den Windgeistern gewesen. Der Blick des Lehrers verhieß Gewitterwolken. Die Blicke von Inagoros Freunden waren noch finsterer. Die Jungen schätzten es nicht, dass ausgerechnet ein Mädchen ihre Schwäche erkannt und sie bloßgestellt hatte. Bloß Mauro, der dreizehnjährige Enkel von Herzog Kiomo, dem jüngsten Bruder ihres Großvaters Kanata, lächelte sie an. Taephe lief es kalt über den Rücken. Ein ähnliches Lächeln hatte sie bei ihrem Vater gesehen.

Taephe ging mit zu den Hahnenkämpfen, eingehüllt in die Kleidung und den Umhang eines Jungen. Es war das letzte Mal, dass sie den Palast verließ. Die Jungen bekamen viel Geld an diesem Tag. Taephe bekam heftige Schelte von ihrer Zofe, der Palastwache und einem ekelhaften Ratsherrn, der extra deswegen eine Audienz bei der Regentin eingefordert hatte. Sein Schwabbelbauch hatte mit seiner empörten Stimme um die Wette vibriert. Taephe war die Schelte egal. Nicht egal war ihr der stumme Blick, mit dem die Mutter des Königs sie einige Minuten lang musterte, bevor sie Taephe mit einer Handbewegung entließ und in ihre Gemächer zurückschickte.

Die Jungen mochten Taephe deswegen kein bisschen mehr. Im Gegenteil, es war fast, als hätte sie persönlich jeden einzelnen von ihnen beleidigt. Taephe zog es vor, aus dem Blickfeld der Jungen zu verschwinden. Den Unterricht besuchte sie nie wieder.

Wenige Tage später teilte der Kronrat Sirit mit, dass aus Gründen der Schicklichkeit und eines angemessenen Umgangs der König und seine Freunde nicht länger im Sommerharem nächtigen sollten. Inagoro zog mit seinen Freunden um in die Kasernen der Palastgarde.

*

Sirit wanderte mit raschen, kleinen Schritten durch den Geheimgang. Wie oft war sie diesen Weg schon gegangen? Sirit wusste es nicht mehr. Unhörbar, unsichtbar, ein Geist, von dem niemand wusste. Nur hier war sie frei, nur hier fesselten sie weder Tradition noch Wächter noch Mauern. Hatte sie wirklich geglaubt, als Tolioros Ehefrau überaus eingeschränkt gewesen zu sein in ihrer Freiheit? Eine Regentin war noch stärker eingeschränkt. Eine Regentin war gefesselt in ihrer eigenen Macht.

Nur hier konnte sie sich noch bewegen, ohne jemandem Rechenschaft abzulegen. Die Geheimgänge des Schlosses. Geheimgänge in Tolor, Geheimgänge in Sawateenatari. Geheimgänge schienen ihr Schicksal zu sein.

Ihre Dienerinnen hatten sich daran gewöhnt, dass die Mutter des Königs manchmal in ihren Gemächern verschwand und stundenlang unauffindbar war. Keine von ihnen wagte es, zu fragen, wohin Sirit verschwand und was sie in dieser Zeit tat. Sie war wohl nicht die erste Frau im Sommerharem, die dergleichen tat. Einige der Gänge hatten so ausgesehen, als ob sehr häufig jemand durch sie gegangen war. Gänge, die auch zu ihren ehemaligen Räumen als Tolioros Gemahlin führten. Sirit konnte sich nur eine einzige Frau vorstellen, die dafür infrage kam: Iragana. Welch eine Ironie, dass ihre Feindin die gleichen Wege gegangen war wie sie selbst.

Sicheren Schrittes bog Sirit in einen abzweigenden Gang. Es war dunkel, wie überall in den Gängen, aber Sirit war diesen Weg so oft gegangen, dass sie ihn auswendig kannte und selbst dann sicher an ihr Ziel gelangt wäre, wenn ihre Zauberaugen ihr nicht freien Blick durch Dunkelheit und Mauern gegeben hätten.

Hier begannen die Kasernen der Palastgarde. Sie schaute durch die Wand hinaus. Der Junge schlief, alleine, wie es sein Vorrecht war. Sirit tastete über die Wand und drückte den verborgenen Riegel. Lautlos glitt ein Segment der Wand zurück. Sirit trat in das Zimmer und ging zu dem Bett. Behutsam, um den schlafenden Jungen nicht zu wecken, setzte sie sich an den Rand des Lagers. Inagoro atmete gleichmäßig. Sein Gesicht war entspannt, wirkte fast glücklich. Sirit konnte nicht widerstehen. Sanft strich sie mit ihrer Hand über seine Wange. Der Junge öffnete schlaftrunken die Augen.

„Mutter?“

„Sssssh, ruhig, schlaf weiter, du träumst nur.“

Gehorsam schloss der Junge die Augen wieder.

Wie schon so oft in den letzten Monden, begann Sirit zu reden, ein leises, gleichmäßiges Murmeln. „Du bist der König“, begann sie, wie jedes Mal. „Als König trägst du Verantwortung. Als König musst du in den Gesichtern der Menschen lesen und in ihre Herzen sehen. Lass dich nicht von Worten täuschen. Ich weiß, dass Ratsherr Takovra dir heute versichert hat, dass er und seine ganze Familie hinter dir stehen, immer schon hinter dem Haus Mehme gestanden haben. Glaube ihm nicht. Takovras Sippe gehörte zu jenen, die im Rat immer wieder gegen deinen Großvater gestimmt haben. Und das Haus Nimxa ist mit ihnen verbunden …“

Inagoro kuschelte sich gegen Sirits Hand, während sie ihren Monolog fortsetzte. Wer wusste schon, was er hörte. Sirit redete, weil auch ihre Mutter so mit ihr und ihren jüngeren Geschwistern geredet hatte. Weil ihre Mutter immer gesagt hatte, dass die Seelen der Kleinen im Schlaf begieriger das Wissen aufsaugten als im Wachen. Inagoro brauchte dieses Wissen. Und da die Männer offensichtlich nicht willens waren, es ihm zu geben, hatte Sirit diesen Part übernommen. Gut, er war Tolioros Sohn. Aber er war auch ihr Kind. Soviel war sie ihm schuldig.

Einen Augenblick überlegte sie, was wohl aus diesem Kind geworden wäre, hätte sie es in Kirsitan, der Heimat ihrer Mutter, aufziehen können. Oder in Tolor, beim Volk ihres Vaters. Nein. Sirit schob den Gedanken energisch wieder zur Seite. An diesem Kind war nichts, was auf seine Berg-Abstammung hindeutete. Keine hellere Haut, keine helleren Haare, keine helleren Augen. Braun, schwarz und braun war dieses Kind, ein Ebenbild seines Vaters, bis hin zu der Falkennase der Mehmes. Wenigstens hatte der Junge nicht Tolioros Boshaftigkeit geerbt. Sirit war den Göttern aufrichtig dankbar dafür.

Erwachender Zauber

Weit entfernt in den Drachenbergen beobachtete jemand ebenfalls etwas Schlafendes. Der Mann hatte Geduld. Viel Geduld. Er beobachtete das Wesen, das aus dem Gespinst hervorgekommen war und jetzt reglos zwischen den feinen Fäden kauerte, schon seit vielen Monden. Der Mann rührte sich nicht. Das Wesen rührte sich auch nicht.

Eine massige Wolke schob sich über den nahen Schneegipfel.Die Sonne verschwand, der Himmel wurde dunkel. Es begann zu schneien.

Der Mann rührte sich nicht. Das Wesen rührte sich auch nicht. Die Zeit war noch nicht reif.

*

Die zweite Kristallkammer war vernichtet. So weit, so gut. Nur, dass Großmeister Ro trotzdem das nagende Gefühl hatte, etwas übersehen zu haben.

Mit gerunzelter Stirn deaktivierte er den Sichtschutz seines Turmes. Schlagartig erhellte vielfarben gleißendes Sonnenlicht den Raum. Um ihn herum strebten die Türme seiner Kollegen in den wolkenfreien Himmel über Sawateenatari. Hohe, schlanke Kristallnadeln. Natürlich war keine davon höher als sein eigener Turm. Er war nicht umsonst Großmeister.

Ro seufzte.

Es waren weniger Türme als früher. Deutlich weniger. Er musste sie nicht zählen, um das zu wissen. Kriege bedeuteten Verluste.

Sein Blick wanderte zu Aks Turm. Ein Turm, der leer stand, wie ihm schmerzlich bewusst war. Ak war verschwunden, einfach so, nach dem Sieg, noch während der letzten Aufräumarbeiten. Nicht einmal ihre Freundin Pi wusste Näheres über ihren Verbleib.

Wenigstens lebte sie noch, ihr Turm stand unerschütterlich.

Sein Blick glitt weiter zu dem zweiten leerstehenden Turm. Jos Turm. Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, was aus dem jungen Zauberer geworden war. Aber sein Turm hatte nicht nur Bestand, es schien ihm sogar manchmal, als ob er noch wüchse. Ro schüttelte sich unbehaglich. Dieser Jo … Er tauchte in keiner Prophezeiung auf. Er fügte sich keiner Regel. Es war, als hätten die Götter einen Stein in die Schale geworfen, der keinen Regeln gehorchte.

Ro aktivierte den Sichtschutz wieder.

Dieser Jo war ihm nicht geheuer.

*

Zum gefühlt zehntausendsten Mal schritt Jo die Grenzen seines Gefängnisses ab. Es gab diese Lücke, verdammt noch mal, er wusste es, da musste sie doch irgendwo zu finden sein! Zum gefühlt zehntausendsten Mal kam er wieder bei der Markierung an, von der aus er gestartet war. Nichts. Absolut nichts. Der Rand war fugenlos wie immer. Frustriert schlug er mit der Faust gegen die verschwommen durchsichtige Masse, die sein Gefängnis begrenzte. Nichts passierte. Und so hart er auch schlug, seine Faust verspürte keinen Schmerz.

Aber draußen war es noch immer hell, konnte er noch immer die Bibliothek sehen, in die Skane ihn gelockt hatte. Und er wusste mit absoluter Sicherheit, dass er selbst dieses Licht außerhalb des Spiegels geschaffen hatte. Wusste es, weil das Licht auf ihn reagierte. Er konnte es heller werden lassen, dunkler, er konnte es sogar zu verschiedenen Plätzen in der Bibliothek lenken. Die Lücke war real. Warum, bei allen Winddämonen, konnte er sie nicht finden?

Wie war seine Magie aus dem Spiegel herausgelangt?

Hm Wenn er den Weg nicht fand, der hinausführte … was passierte, wenn er seine Energie zurückrief? Das war ein Gedanke. Wenn er die Energie im Auge behielt und sie tatsächlich zu ihm zurückkehrte, dann musste sie doch auf dem Rückweg die gleiche Lücke passieren wie auf den Hinausweg.

Und wenn nicht? Wenn der Spiegel sie einfach einsog, wie Spiegel es eben zu machen pflegten? Dann war es draußen dunkel. Dann war er wieder vollständig auf den Spiegel beschränkt. Möglicherweise gelang es ihm kein zweites Mal, seine Magie hinauszuschicken.

Frustriert stampfte er auf. Das brachte doch alles nichts. Hätte, könnte, sollte, mochte … wenn er es nicht probierte, würde er nie eine Antwort finden. Jetzt. Bevor er endgültig in unschlüssiger Apathie erstarrte.

Jo rief seine Magie.

Das Licht in der Bibliothek flackerte kurz auf, dann schwebte es zu dem Spiegel, der Jo gefangen hielt. Einen kurzen Moment hielt Jo inne. Dann befahl er dem Lichtball, langsam, ganz langsam zu ihm zurückzukehren. Das Licht sank herab. Es berührte die Sphäre. Den Bruchteil einer Sekunde gleißte sie auf, dann spürte Jo den Energiestoß, als das Licht in ihn zurückkehrte.

Das war verdammt schnell gegangen. Aber zum Glück nicht zu schnell. Der Bruchteil jener Sekunde hatte gereicht, um Jo die Schwachstelle zu zeigen. Sie befand sich direkt über ihm, im Zenit der Kuppel. Unerreichbar. Jo fluchte mit allem, was er an Verwünschungen von der Armee Karapaks und den Wüstenreitern gelernt hatte.

Die Regentin

Audienzen waren langweilig. Und der Thron war unbequem. Natürlich, er war für einen erwachsenen Mann gedacht, nicht für einen achtjährigen Jungen, der gerade mal so groß war, dass er über das königliche Pfauenfeder-Zepter gucken konnte. Inagoro rutschte auf dem Thron hin und her. Nur ein ganz kleines bisschen, damit es niemand merkte. Viel lieber würde er jetzt mit seinen Freunden spielen. Noch lieber mit seiner Schwester Taephe. Mit der konnte man nicht nur prima Bogenschießen, mit der konnte er sich auch prima unterhalten. Taephe war schlau, und sie kannte alle wichtigen Dinge und Personen im Palast. Taephe konnte man immer fragen.

Natürlich gehörte sich das nicht. Seine Lehrer hatten ihm das immer wieder gesagt. Ein König holte sich keinen Rat bei einer Frau. Nur bei seiner Mutter machten sie eine Ausnahme, weil die so komische Zauberaugen hatte. Manchmal fürchtete Inagoro sich sogar ein bisschen, wenn er diese Augen sah. Aber wirklich nur ein bisschen. Sie war schließlich seine Mutter.

Die Lehrer hatten auch gesagt, er solle statt seiner Schwester lieber seine Freunde um Rat fragen. Besonders Mauro. Schließlich würde sein entfernter Cousin eines Tages sein Erster Feldherr werden, weil er keinen Bruder hatte, der diese Stelle einnehmen konnte. Seinen ersten Feldherren durfte ein König fragen. Mauro wusste auch viele Antworten. Mauro hatte schließlich Erfahrung. Die anderen Jungen waren alle etwas älter als Inagoro, und Mauro war der Älteste von ihnen. Da musste er ja wohl auch am besten Bescheid wissen.

Das Problem war nur, dass Inagoro Mauro nicht traute.

Sirit saß hinter dem seidenen Wandschirm und fächelte sich Luft zu. Zuerst hatte sie es hinderlich gefunden, dass die Regentin für die Mitglieder des Thronrates unsichtbar bleiben musste. Mittlerweile allerdings hatte sie gelernt, dass dieses Arrangement seine Vorteile hatte. So war es bedeutend einfacher, die Kontrolle zu behalten. Sie schrieb ihre Worte auf, und ihr Sprecher trug sie vor. Das gab ihr Zeit, überlegt zu formulieren, und verhinderte ausgesprochen effektvoll, dass die Männer, die auf der anderen Seite des Wandschirmes saßen, sofort wussten, woran sie mit ihr waren.

Nichtwissen erzeugte Furcht. Furcht erzeugte Gehorsam.

Bis zu einem gewissen Grad allerdings nur. Sie war immer noch eine Frau, und die auf der anderen Seite waren Männer. Diese Männer dort würden nie damit zufrieden sein, dass eine Frau genauso gut regieren konnte wie sie. Sirit wusste genau, dass sie nur dank der Unterstützung der Priester Regentin war. Die Männer wussten es ebenso. Und jeder von ihnen fragte sich, warum die Priester das so gewollt hatten.

Sirits Gedanken wanderten nach Tolor. Wie konnte es nur sein, dass diese beiden Länder so unterschiedlich waren? Was hatten die Karapakier gegen Frauen, dass sie ihnen so wenig zutrauten? Es war ja nicht so, dass die karapakischen Frauen dümmer waren als die tolorischen. Sirit dachte an Raina. Die Gildeherrin hatte ihre Gilde besser geführt als mancher Mann. Und trotzdem zählte ihre Stimme bei den Händlern nur, wenn es gar nicht anders ging. Warum nur hatten die Götter beschlossen, dass die Frauen in Karapak nichts zählten?

Ein leises Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Paschko, der Eunuch, der ihre Verbindung war zwischen dem Raum vor dem Schirm und ihrem Platz hinter dem Schirm, hatte sich umgedreht und gab ihr jetzt vollmundig eben jene Frage weiter, die sie doch gerade selbst mit eigenen Ohren gehört hatte. Und die sie nicht mit eigener Stimme beantworten durfte.

Sirits Pinsel flog über das Papier. Dann reichte sie Paschko ihre Antwort.

*

Der König musste einer Audienz beiwohnen. Sehr gut. Sein aufgezwungener Spielgefährte nutzte die Zeit, um sich außerhalb des Palastes in der Stadt zu vergnügen. Gefährlich war das nicht, weil er immer ein paar Palastwachen als Begleitschutz hatte. Allerdings war dieser Begleitschutz lästig, wenn man gewisse Dinge erledigen wollte.

Mauro steuerte ein Bordell an. Dort hinein würden ihm die Wachen nicht folgen. Sie würden auch nichts dabei finden, dass ein Vierzehnjähriger längere Zeit in so einem Haus blieb.

Mauro marschierte in das Haus hinein, durch einen langen Gang, und geradewegs am anderen Ende wieder hinaus. Wie immer wartete dort bereits der Bordellwirt, wie immer warf Mauro ihm ein Silberstück zu und verschwand dann in der angrenzenden Gasse. Es zahlte sich aus, wenn man gut schmierte.

Vier Straßen weiter bog er in einen unordentlichen Hinterhof ein, umrundete einen Schweinekoben und steuerte auf eine niedrige Tür zu. Sie öffnete sich in einen fensterlosen Raum. Als die Tür hinter Mauro zufiel, war es zunächst dunkel. Dann knisterte es, und eine kleine Öllampe leuchtete auf. Mauro schnappte erstaunt nach Luft. Dort am Tisch stand nicht der gewohnte Bote, nein, heute war sein Vater selbst gekommen!

„Und, wie läuft es?“

Mauro zuckte mit den Achseln. „Der König ist noch sehr jung. Ein richtiges Kind halt. Ich denke, er versteht überhaupt noch nicht, was ich ihm sage. Immerhin akzeptiert er, dass ich älter bin und mehr weiß, und tut deshalb meist, was ich ihm rate.“

„Er ist ein Enkel meines Cousin Kanata“, knurrte sein Vater. „Und der Sohn Tolioros. Wenn der wirklich so dumm ist, wie du meinst, würde mich das sehr wundern. Pass auf, was du sagst, übertreibe es nicht. Und geh kein Risiko ein. Solange der Junge im Palast bleibt, darfst du ihm kein Haar krümmen. Wenn ihm etwas passiert, wird der Verdacht automatisch zuerst auf dich fallen. Du wärst derjenige, der den größten Vorteil aus seinem Ableben ziehen würde. Also, halt dich zurück.“

Mauro schon die Unterlippe vor. „Muss ich denn die ganze Zeit vor diesem Bengel buckeln?“

„Blödsinn!“ Sein Vater trat näher und beugte sich etwas vor. Seine Augen glitzerten wie nasse Steine im Licht der Lampe. „Du sollst nicht buckeln. Du darfst ihm durchaus widersprechen. Du darfst nur nie vergessen, wer welchen Rang hat.“

„Und wenn ich nie eine passende Gelegenheit zu mehr bekomme?“

„Solange du im Palast bist, kannst du auch auf eine Gelegenheit warten. Früher oder später wird sich eine ergeben. Das tut es immer.“ Die Hand seines Vaters schoss vor und packte schmerzhaft in Mauros Haare. Der Junge keuchte auf. „Du wirst nur dann keine Gelegenheit bekommen, wenn du aus dem Palast verwiesen wirst.“ Die Stimme seines Vaters klirrte jetzt vor Kälte. „Sollte das je passieren, weiß ich, dass du einen Fehler gemacht hast. In unserer Familie macht niemand einen Fehler. Niemand! Solltest du je einen Fehler machen, bist du nicht mehr mein Sohn. Dann werde ich dich häuten, in kleine Stücke schneiden und den Vögeln zum Fraß vorsetzen. Dann mögen die Windgeister dich für alle Ewigkeiten um die Welt schleifen.“

Er ließ los. Mauro taumelte mit aschfahlem Gesicht zurück.

„Und glaub nicht, dass ich meine Meinung ändere, nur weil du mein ältester Sohn bist. Ich habe andere Söhne, die nur zu bereitwillig deinen Platz einnehmen werden.“

Mauro starrte blicklos auf die Wand. Er hörte, wie sein Vater hinausging. Einen Moment leuchtete eine breite Bahn Sonnenlicht in den Raum. Dann fiel die Tür wieder zu, und nur das Lämpchen auf dem Tisch spendete noch flackernd etwas Helligkeit. Der Lichtkreis war klein. Sehr klein. Mauro stand im Dunkeln. Es war niemand da, der sehen konnte, dass er zitterte.

*

Taephe lehnte im Laubengang hinter einer Säule und beobachtete die Jungen unten im Übungshof. Seit fast einem Jahr hatte sie jetzt nur noch zusehen können. Wie sie die Jungen beneidete! Fast schmerzhaft wach war ihre Erinnerung an jene Zeit, als sie ein Junge gewesen war und selbst im Übungshof hatte lernen dürfen. Noch immer zuckte es sie förmlich in den Fingern, sobald sie einen Bogen sah. Aber die einzigen spitzen Gegenstände, die man einer Palastfrau zumutete, waren Federkiele und Nähnadeln.

Gerade gab es Unterricht im Schwertkampf. Die Jungen übten in ständig wechselnden Zweiergruppen. Inagoro war der kleinste und damit auch der schwächste unter den Jungen. Alle anderen konnten schon besser kämpfen. Kunststück, sie waren ja auch alle mindestens ein oder zwei Jahre älter. Trotzdem gewann Inagoro immer wieder. Die anderen ließen ihn mit Absicht gewinnen. Taephe war sich absolut sicher, dass Inagoro das wusste, und dass es ihn gewaltig wurmte. Sie hatte ihn vor zwei Tagen alleine üben sehen. Inagoro hatte fest vor, eines nicht allzu fernen Tages besser zu sein als sie alle, und zwar aus eigener Kraft.

Gerade hatte der größte der Jungen, Mauro, seinen Gegner entwaffnet. Mauro stand hinter Inagoro. Und Mauro hatte sein Schwert nicht gesenkt, wie man es normalerweise nach einem Kampf tat. Er hielt es immer noch erhoben. Warum? Was tat Mauro da? Einen schrecklichen Moment lang dachte Taephe, Mauro würde Inagoro von hinten anfallen und ihm sein Schwert durch den Schädel treiben. Aber dann bellte der Lehrer einen Befehl, und alle Jungen senkten ihre Schwerter. Auch Mauro. Taephe atmete tief durch und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen.

Als die Jungen sich nach dem Unterricht zerstreuten, um sich umzuziehen, passte Taephe ihren Bruder ab.

„Große Schwester!“ Über Inagoros Gesicht glitt ein Leuchten, als er sie sah. „Ich dachte, du bist im Palast?“

„Ich habe euch zugesehen.“

Das Leuchten erlosch schlagartig. „Dann weißt du auch, dass sie mich absichtlich gewinnen lassen. Nur weil ich der König bin. Ich bin einfach ein sehr schlechter Kämpfer.“

„Du bist ein sehr junger Kämpfer“, korrigierte Taephe ihn sanft. „Und deine Gegner sind alle älter und größer als du. Deine Technik ist gut. Dir fehlt nur noch die Kraft. Noch drei oder vier Regenzeiten, und du besiegst sie alle.“

„Glaube ich nicht. Dann sind die anderen nämlich auch alle entsprechend älter. Vielleicht schaffe ich es, ein besserer Kämpfer zu werden als ein paar von ihnen. Aber die wirklich guten, wie Mauro, die werden mich immer übertrumpfen.“

„Über Mauro wollte ich sowieso mit dir sprechen.“

Taephe zog Inagoro neben sich auf einen Sims und berichtete ihm, was sie gesehen hatte.

Inagoro nickte gedankenvoll. „Ich habe ihm nie getraut. Vermutlich ist es besser, wenn ich ihm in Zukunft nicht mehr den Rücken zudrehe.“

„Du bist doch der König. Kannst du ihn nicht einfach wegschicken?“

„Kann ich nicht, und das weißt du.“ Inagoro sah sie mit einem Blick an, der älter war als seine acht Jahre. „Der Thronrat hat das Sagen. Wenn Mutter nicht wäre, würden sie machen, was sie wollen, und ich wäre vollkommen machtlos.“

„Ich könnte mit deiner Mutter reden. Vielleicht fällt ihr etwas ein, wie wir Mauro aus deiner Nähe entfernen können.“

„Das wäre nicht schlecht.“ Inagoro rutsche vom Sims herunter. „Ich muss leider los, große Schwester, sonst bin ich nachher für den Taktik-Unterricht zu spät dran.“ Er umarmte sie kurz. „Ich liebe dich, große Schwester!“

Taephe sah ihm nach, als er den Gang entlanglief. „Ich dich auch, kleiner Bruder“, sagte sie leise.

Mauro wartete, bis Taephe sich in Bewegung setzte. Dann löste er sich aus dem Schatten der Nische, in dem er unerkannt gelauscht hatte.

Diese kleine Schlange! Wollte ihn bei der Mutter des Königs anschwärzen! Vermutlich sogar mit Erfolg. Mauro konnte sich lebhaft vorstellen, wie die verdammte tolorische Regentin mit ihren Zauberaugen den ganzen Thronrat verhexte, für seinen Rauswurf und damit für sein sicheres Ende sorgte. Das durfte auf keinen Fall passieren! Soviel wusste Mauro, sein Vater sprach niemals leere Drohungen aus. Er musste das Mädchen aufhalten.

Was nicht allzu schwierig war. Seine Schritte waren länger, und er wurde nicht durch wallende Kleidung behindert. Mauro machte einen kleinen Umweg, sodass er von der Seite kam. Da war auch schon Taephe. Mauros Arm schoss vor, und bevor die kleine Schlampe auch nur quieken konnte, hatte er sie bereits in den Nebengang und in eine Nische gezogen.

„Miststück!“, zischte er. „Glaubst wohl, dass du mit mir umspringen kannst wie diese tolorische Hure, die unsere Regentin ist. Das kannst du vergessen! Das lasse ich nicht mit mir machen!“

Das Mädchen starrte ihm aus weit aufgerissenen Augen an. Er konnte die Ader an ihrem Hals erregt pochen sehen. Ha, damit hatte sie nicht gerechnet!

„Ihr hättet ein wenig vorsichtiger sein sollen, wo ihr euch unterhaltet, dein Halbblut von einem Bruder und du!“

Mauro spürte, wie ein Zittern durch ihren Körper lief. Trotzdem wagte sie es, den Mund aufzumachen.

„Wie redest du von deinem König! Und überhaupt, du bist derjenige, der sich vorsehen sollte. Du hast versucht, den König zu ermorden!“

„Unfug!“

„Ich habe gesehen, dass du hinter ihm gestanden hast mit erhobenem Schwert!“

„Du hast gar nichts gesehen. Du bist nur ein Mädchen, das vom Kämpfen keine Ahnung hat. Und wenn du das sagst, steht dein Wort gegen meines. Niemand sonst hat etwas gesehen, die andern Jungen nicht, nicht einmal der Lehrer. Niemand wird einem bloßen Mädchen glauben.“

„Inagoro glaubt mir“, sagte Taephe leise.

„Und? Er hat auch nur dein Wort. Er hat nichts selbst gesehen. Vor dem Thronrat würde das nicht gelten.“

Mauros Hand legte sich um ihre Kehle. „Natürlich ist es sicherer, wenn ich dafür sorge, dass du deine Lügen gar nicht erst weiter verbreiten kannst.“

Das Mädchen zitterte stärker. Aber nicht einmal jetzt war sie bereit, den Mund zu halten. „Das wagst du nicht!“, presste sie hervor.

„Und warum nicht?“, höhnte Mauro.

„Wir sind im Palast!“

„Ich bin über eine Dienerin gestolpert, die sich in einer Ecke sehr verdächtig herumdrückte. Es hat ein Handgemenge gegeben, und ich war leider etwas zu gründlich mit meiner Reaktion.“ Mauro drückte versuchsweise etwas zu. Taephes Gesicht lief dunkel an. Er lockerte die Hand noch einmal. „Überaus schade, dass es die Halbschwester unseres geliebten jungen Königs erwischte, aber konnte ich ahnen, dass sie sich außerhalb des Sommerharems aufhalten würde? Niemand wird es wagen, mir daraus einen Vorwurf zu machen.“

„Niemand außer Inagoro“, quetschte Taephe aus ihrer zusammengepressten Kehle mühsam hervor.

„Hm.“ Mauro überlegte kurz. „Vermutlich hast du Recht. Aber wer weiß schon, ob unser junger König überhaupt alt genug wird, um mir Ärger zu machen? Du dagegen … du machst mir jetzt schon Ärger.“

Taephes Stimme war kaum noch zu hören. „Der König wird deinen Kopf fordern. Und die Regentin wird ihn unterstützen.“

Mauro starrte das renitente Geschöpf an. Was, wenn sie recht hatte? Er ließ los. Taephe taumelte zurück gegen die Wand. Und jetzt? Die kleine Schlampe konnte immer noch reden. Und wenn er Pech hatte, fand sie tatsächlich ein offenes Ohr. Frauen sollten wissen, wo ihr Platz war. Das musste er ihr irgendwie zeigen.

Er packte Taephe erneut und zerrte sie mit sich den Gang entlang. Da war ein kleiner, sehr versteckter Erker, der für das, was ihm vorschwebte, ideal geeignet war. Das Mädchen machte schon wieder den Mund auf. Bevor sie schreien konnte, riss er ihre Tunika hoch und verknotete die Enden über ihrem Kopf. Sie zappelte wie wild, aber der schwere Brokatstoff dämpfte ihre Schreie effektiv, wie er gehofft hatte. Mauro grinste. „Ruhig, oder es setzt was!“

Taephe erstarrte und verstummte.

Mauro griff nach einer der Lampen, die bereits für den Abend mit Öl gefüllt worden waren, und zündete sie an. Dann packte er Taephes Hand und hielt sie über die Flamme. Kurz nur, aber es reichte. Er konnte spüren, wie sie vergeblich ihre Muskeln anspannte, um die Hand zurückzuziehen. Er brachte seinen Kopf ganz dicht an den ihren, sodass sie ihn trotz des dicken Stoffes zwischen ihnen gut hören konnte. „Ihr Frauen, ihr tragt immer diese langen, flatternden Gewänder. Was glaubst du, was passiert, wenn dein Gewand – rein zufällig, versteht sich – zu lange in Kontakt mit einer Flamme kommt? Wäre das nicht ein wirklich tragischer Unglücksfall?“

Er hielt ihre Hand wieder über die Flamme, dieses Mal lange genug, um sie ein winziges bisschen zu versengen. Vielleicht auch etwas mehr als nur ein kleines bisschen. Ein gedämpfter Schmerzensschrei kam von dem in Brokat verpackten Kopf.

Mauro nickte zufrieden. „Das sollte reichen, oder? Ich nehme an, du weißt jetzt, was dich erwartet, wenn du dich weiter in Männer-Angelegenheiten einmischst. Beim nächsten Mal werde ich mich nicht so zurückhalten.“

Er bückte sich, entknotete die Tunika, schob den Stoff wieder herunter, so dass er ihr Gesicht sehen konnte. Die Augen des Mädchens waren schmale, zitternde Schlitze in einem verängstigten, kalkweißen Gesicht.

„Und wenn du es wagst, dich bei irgendjemandem über mich zu beklagen …“

An der Art, wie sie zusammenzuckte, erkannte Mauro, dass er nichts dergleichen befürchten musste. Die Kleine hatte ihre Lektion gelernt.

„Aber dir wird ohnehin niemand glauben. Du bist ja nur ein Mädchen. Hau ab, ich will dich nicht mehr sehen!“

Schweigend richtete Taephe sich auf, unsicher schwankend, weil ihre Kleidung immer noch am falschen Platz war. Mit zitternden Händen versuchte sie, den Stoff wieder nach unten zu streichen. Als es ihr endlich geglückt war, verließ sie ohne einen Laut den Erker. Ihre Bewegungen waren wie die einer hölzernen Marionette.

Mauro sah ihr zufrieden nach. Von der Seite hatte er nichts mehr zu befürchten.

*

Sirit wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Nicht nur, dass Taephe ungewohnt schweigsam bei ihr erschienen war, ihre ganze Haltung wirkte gedrückt und ängstlich. Sie wartete geduldig. Aber selbst, als der Kalligrafie-Unterricht zu Ende war und sie beide wie gewohnt eine Tasse Früchtetee tranken, sagte Taephe kein Wort. Und das, was Sirits Spiegelaugen sahen, schrie förmlich nach Verletzung. Eine Verletzung, die vermutlich eher seelisch als körperlich war.

Sirit seufzte. Dann rückte sie zu Taephe, nahm sie in den Arm und strich ihr sanft über das Haar. Taephe brach in Tränen aus.

Es dauerte, bis Sirit imstande war, eine einigermaßen brauchbare Version der Geschehnisse aus dem Mädchen herauszubekommen. Sie ballte die Fäuste. Fitor, Tolioro … Ihre eigenen Erinnerungen an männliche Grausamkeiten waren immer noch so frisch wie am ersten Tag. Und jetzt Taephe und Mauro. Was war das nur, das Männer bewog, Schwächere derart zu quälen? Sie wusste nur zu genau, wie erniedrigt sie sich damals gefühlt hatte. Und sie war eine erwachsene Frau gewesen. Taephe dagegen war nichts als ein junges Mädchen, das noch mit seinen Puppen spielte.

„Das wird kein zweites Mal passieren“, sagte sie hart.

„Mauro … Mauro sagte, dass mir ohnehin niemand glauben wird“, flüsterte Taephe.

„Ich glaube dir. Das reicht. In einem hat Mauro Recht. Der Thronrat wird ihn nicht zur Rechenschaft ziehen. Mauro hat schließlich nichts Irreparables getan, deinen Heiratswert nicht angetastet. Er hat dich nur auf deinen Platz verwiesen, nach dem Verständnis dieser Männer. Sie werden ihn also ganz sicher nicht bestrafen, noch nicht einmal tadeln. Inagoro ist noch zu jung, um etwas tun zu können. Ich denke, wir sollten ihm diesen Vorfall überhaupt verschweigen. Mauro wird sein erster Feldherr. Die beiden verstehen sich ohnehin schon nicht sehr gut. Ein König, der seinen ersten Feldherren nicht leiden mag, ist schlimm genug, einer, der seinen ersten Feldherren hasst, wäre eine Katastrophe. Aber ich werde dafür sorgen, dass du das nächste Mal nicht hilflos bist. Dich wird nie wieder ein Mann straflos derart behandeln, das schwöre ich bei der Flammenden Göttin! Und auf Mauro werde ich ein besonderes Auge haben.“

Taephe sagte nichts, aber ihr Gesicht drückte Dankbarkeit aus, und ihre kleine Faust entspannte sich in Sirits Hand.

Ein Brief in die Provinz

Ein Brief aus Karapak. Seit Sirit dort Regentin war, hatten sich die Beziehungen zwischen Karapak und Kirsitan weit genug entspannt, dass solche Nachrichten möglich geworden waren. Die Duka lächelte. Dass die karapakische Regentin ihre Cousine war, war an dieser Entspannung nicht ganz unschuldig. Sie öffnete den Brief. Las ihn verwundert.

Schwester meiner Mutter,

ich schreibe, um Euch um einen Gefallen zu bitten. Mein verstorbener Gatte hat mir eine Tochter hinterlassen, das Kind seiner Ersten Konkubine. Das Mädchen wird in Karapak aufwachsen und leben. Bereits jetzt ist der Thronrat auf der Suche nach einem passenden Ehemann für sie, obgleich sie kaum mehr als elf Regenzeiten zählt. Ich stelle fest, dass ich eine gewisse Sympathie zu dem Mädchen fühle, seitdem ich sie in meine Familie aufgenommen haben. Nach allen Erfahrungen, die ich gemacht habe, widerstrebt es mir, sie, wenn es soweit ist, dass sie heiraten muss, ohne Ausbildung und ohne Schutz aus dem Palast zu schicken. Ich selbst kann eine solche Ausbildung nur begrenzt übernehmen, ich werde vom Thronrat scharf beobachtet. Wäre es eventuell möglich, dass eine der Frauen unserer Sippe zu mir in den Palast kommt und sich um Taephe kümmert? Eine Dienerin und ein Mädchen, das kaum von Bedeutung ist, wird man nicht so scharf kontrollieren wie die Regentin.

Sirit (die immer noch von den Bergen und den blauen Blumenwiesen träumt)

Die Duka starrte auf das Papier. Sirit musste gute Verbindungen haben, dass so ein Brief unbeschadet durch die Zensur und nach Kirsitan kam. Soso, Ausbildung brauchte das junge Prinzesschen. Kirsitanische Ausbildung. Die sollte sie haben, Die Duka sah keinen Grund, einer lieben Verwandten einen kleinen Freundschaftsdienst zu verweigern. Gut, dass man in Karapak ignorierte, dass zur Ausbildung kirsitanischer Frauen auch der Umgang mit Waffen gehörte.

Nur eines machte der Duka Sorgen. Weshalb träumte Sirit ausgerechnet von den blauen Blumenwiesen der Drachenberge?

Sie trat zum Fenster und sah hinaus. Weit hinten gleißten die Eiswipfel der Drachenzahnberge in der Sommersonne. Dort musste mittlerweile der lange Bergwinter auch vorbei sein. Mit einem nicht ergründbaren Unbehagen erinnerte sich die Duka daran, dass um diese Zeit die Bergglockenblumen in den nördlichen Drachenzahntälern zu blühen begannen. Aber das konnte Sirit eigentlich überhaupt nicht wissen.

*

Drei Jahre hatte es gedauert, bis der Südwind wieder seinen Weg in die Drachenzahnberge fand. Drei Jahre, in denen die Sommer zu kühl und die Winter zu lang waren, drei Jahre, in denen die feinen Samen im Boden schliefen. Doch jetzt waren sie erwacht,

Von dem warmen Wind geweckt, entfaltete das Wesen überlange Gliedmaße und machte einen taumeligen Schritt in die neuerdings blaue Bergwiese. Verwundert zog es seinen Fuß wieder zurück, als es die nickenden Blütenköpfe berührte, und beugte sich interessiert hinab. Einen Moment bildete sich an seinem Kopf eine Öffnung, eine lange Zunge schnellte heraus und tastete vorsichtig über die Blüten. Die Zunge verschwand, der Rachen schloss sich wieder, das Wesen hob fragend den Kopf. Der Mann, der mit dem Südwind wieder aufgetaucht war und jetzt näher herankam, sagte freundlich: „Das sind nur Blumen. Pflanzen. Es schadet nicht, wenn man auf ihnen geht.“ Wie zum Beweis seiner Worte machte er ein paar weitere Schritte durch das blaue Blütenmeer und stand nun direkt vor dem Wesen.

Das Wesen sandte eine wortlose Frage.

„Wir sind … verwandt“, sagte der Mann. „Deshalb bin ich bei dir.“

Die Frage wurde drängender.

Der Mann lächelte. „Es gibt so etwas wie Worte, weißt du? Damit kann man Fragen sehr viel genauer formulieren als nur mit Gefühlen. Hier, sieh dir an, wie ich es mache.“ Und er öffnete seinen Geist.

Das Wesen sah, was der Mann tat, und wie er es tat, und eignete sich dieses Wissen an. Dann sandte es erneut eine Frage, dieses Mal aber in Worte gekleidet. Warum bist du alleine hier?

„Die Frau, die dich gebar, ist zu weit fort. Nicht nur das, sie ist zudem völlig unwissend.“

Das Wesen drückte zweifelndes Bedauern aus. Kannst du sie nicht wissend machen?

Der Mann schüttelte den Kopf. „Das hätte eine andere machen müssen.“ In seinem Geist formte sich das Bild einer Frau, die nicht die Frau war, die das Wesen geboren hatte.

Das Wesen zuckte zusammen und zischte.

Der Mann wartete.

Das Wesen beruhigte sich wieder. Bring mich zu jener anderen.

„Willst du das wirklich?“

Ja.

Der Mann sah das Wesen an.

Das Wesen sah den Mann an.

Der Mann seufzte. „Dann wirst du dich noch einmal wandeln müssen“, sagte er. „In eine … gebräuchliche … Gestalt.“

Das Wesen sandte eine wortlose Frage.

Der Mann überlegte kurz. „Die Frau, die dich geboren hat, gebar noch andere Kinder. Deine Brüder. Das gleiche Blut verbindet euch. Taste dich an dem entlang, was dich mit ihr verbindet, bis zu dem, was sie mit deinen Brüdern verbindet. Dann nimm dir ihre Gestalt.“

Das Wesen gehorchte.

Als es fertig war, stand ein nackter Junge von vielleicht acht Wintern auf der Bergwiese. Ein Junge, der die Gestalt seiner Brüder hatte. Ein Junge, dessen Haut und Haare fast so hell waren wie das Gespinst, und dessen Augen farblos waren wie Eis.

Der Junge sandte eine weitere Nachricht.

Wer bin ich?

Der Mann lächelte. „Du bist ihr Sohn. Du bist mein Sprössling. Ich werde dich also ebenfalls als meinen Sohn bezeichnen. Vorerst. Du wirst leben und wachsen und lernen, und irgendwann wirst du deinen wahren Namen finden. Dann wirst du wissen, wer du bist. Bis dahin werde ich dich Grau nennen. Und du wirst lernen müssen, zu reden. Die Menschen werden dich sonst nicht verstehen.“

Einen Moment schien es, als ob der Junge protestieren wollte. Aber aus seinem Mund kam kein Laut. Dann sandte er:

Ich habe Hunger.

Der Mann nickte nur. „Komm.“

Er ging fort, ohne sich umzusehen.

Der nackte Junge trottete hinter ihm her.

Das erste Jahr der Duka

Es kribbelte in ihrem Nacken. Jemand beobachtete sie. Die Duka hielt inne, ihre Hand, die gerade die Schoten abstreifte, sank auf die geflickte Schürze. Sie sah hoch. Und sah genau in ein paar eishelle Augen, die sie einen Moment intensiv musterten und dann schnell abschweiften.

Schon wieder dieser Junge. Die Duka war sich nicht sicher, weshalb, aber irgendwie beunruhigte der Junge sie. Strich ständig um die Koppeln und Hundezwinger, mit einem irgendwie hungrigen Ausdruck.

Der Junge gehörte zu dem Mann aus den Eisbergen, der seit einigen Tagen in der Stadt weilte, um Pelze zu verkaufen. Soviel hatte die Duka bereits herausgekriegt. Die beiden behauptete, Vater und Sohn zu sein, auch wenn sie sich nicht sehr ähnlich sahen. Das heißt, irgendwo waren sie sich schon ähnlich. Nicht im Aussehen, wenn man von ihrer auffallend hellen Färbung absah, vielleicht aber in der Art, wie sie redeten, oder besser gesagt, meist nicht redeten, und wie sie sich bewegten. Die Duka war nicht umsonst, was sie war. Der Mann war gefährlich. Der Junge vermutlich auch.

Die Duka beschloss, die beiden besonders überwachen zu lassen.

Der Junge sah das Mädchen zur Quelle gehen. Sie bewegte sich, als ob sie tanzen wollte, und summte dabei ein Lied. Der Junge mochte das Lied. Langsam schob er sich näher.

Das Mädchen füllte den großen Wasserkrug. Er musste sehr schwer sein, denn als sie ihn hochheben wollte, hielt sie einen Moment inne und setzte ihn wieder ab. Der Junge verhielt unschlüssig. Dann ging er zu ihr „Ich kann dir helfen.“

Das Mädchen sah ihn mit einem nachsichtigen Lächeln an. „Kleiner, du bist kaum halb so groß wie ich. Danke für dein Angebot, aber meine Arbeit mach ich besser selbst.“

Statt zu antworten, griff der Junge nach dem Krug und hob ihn hoch. Es war einfacher, als er gedacht hatte. Der Krug war sogar ziemlich leicht. Der Junge überlegt kurz, dann begriff er. Die Menschen mussten deutlich schwächer sein als seinesgleichen. Was auch immer seinesgleichen war. Er würde entsprechend aufpassen und seine Kraft sparsam einsetzen müssen.

„Oh!“ Das Mädchen sah ihn überrascht an. „Du bist entschieden kräftig für dein Alter. Sag mal, ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Zu welcher Sippe gehörst du, und wie heißt du?“

„Ich heiße Grau. Ich gehöre zu keiner eurer Sippen. Mein Vater und ich, wir sind hierher gekommen, um zu handeln.“

Das hatte ihm der Mann eingetrichtert. Nur das sollte er sagen, und sonst nichts.

„Und wer ist dein Vater?“

„Mein Vater ist … mein Vater.“

Ihre Lippen kräuselten sich ein wenig, aber ihre Stimme blieb ernst.

„Dann danke ich dir für deine Hilfe, Grau, Sohn eines namenlosen Händlers.“

Sie ging zurück in Richtung ihres Sippenhauses. Grau trottete nebenher, den Wasserkrug in den Armen.

„Woher kommt ihr überhaupt?“

Grau zuckte mit den Achseln, was mit dem Krug im Arm unbequem war. „Von dahinten, wo die Berge höher sind.“

„Da würde ich gerne einmal hingehen“, sagte sie. „Die Berge sehen so schön aus, wenn die Sonne sie erleuchtet.“

Der Junge dachte an die Berge. Die Berge … waren die Berge. Felsen, die man nicht essen konnte. Was war daran schön?

„Leider hat meine Großmutter es verboten“, fuhr das Mädchen fort. „Sie meint, ich sei noch zu jung, und die Berge seien zu gefährlich.“

„Ich könnte dich begleiten“, bot der Junge an. „Für mich sind die Berge nicht gefährlich. Ich lebe dort. Ich kann dich beschützen.“

Jetzt lächelte sie wieder. „Vielleicht später. Wenn du etwas größer bist. Und wenn ich etwas älter bin. Wenn ich jetzt gehen würde, wäre meine Großmutter zu Recht verärgert. Niemand verärgert meine Großmutter. Ich auch nicht. Schließlich ist sie die Duka.“

Der Junge erinnerte sich an das, was ihm der Mann erzählt hatte.

„Dann werde ich warten“, sagte er. „Vielleicht nächstes Jahr, wenn ich wiederkomme.“

„Vielleicht.“

Sie hatten das Sippenhaus erreicht.

„Willst du mit hereinkommen?“, fragte das Mädchen. „Wir haben gerade einen leckeren Hammeleintopf auf dem Feuer. Du kannst nachher mit uns essen.“

Der Junge zögerte. „Ich glaube, ich sollte erst meinen Vater fragen.“

„Mach das. Ich würde mich freuen, wenn du nachher wieder zu uns kommst.“

Sie nahm ihm den Krug ab. Ihren verkrampften Händen nach musste sie den Krug wirklich sehr schwer finden.

„Übrigens, ich heiße Marle“, sagte sie.

Der Junge lächelte scheu und wandte sich zum Gehen.

„Bleibt ihr länger?“, rief sie ihm hinterher.

Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Keine Ahnung. Mein Vater hat nichts gesagt.“

Grau kam zum Essen. Verblüfft sah Marle zu, wie viel Fleisch der kleine Kerl in sich hinein schaufelte. Der musste doch beinahe platzen!

„Womit handelt ihr eigentlich?“

„Wir haben Pelze. Schöne, warme Pelze.“

„Die würde ich mir gerne einmal ansehen.“ Marle tastete nach dem Pelzbesatz ihres Rockes. Zum Winter wollte sie sich ein neues Tanzkleid nähen.

„Du kannst ja nachher mit zum Markt kommen.“

„Da musst du mich etwas später abholen. Ich muss erst noch hier meine Arbeit erledigen.“

Der Junge nickte nur.

Nach dem Essen trottete er ohne ein weiteres Wort davon.

Marle erhob sich mit einem Seufzer und begann, das dreckige Geschirr nach draußen zum Wasserbecken zu schaffen.

Jemand trat ihr in den Weg. Verblüfft sah sie auf. Großmutter!

„Du wirst ihn nicht wieder treffen.“

Marle sah die Duka überrascht an. „Warum nicht?

„Dieser Junge…“

„Grau“, unterbrach Marle sie. „Er heißt Grau.“

„… dieser Junge könnte gefährlich sein.“

„Großmutter! Er ist vielleicht neun Winter alt, und ich bin fast eine erwachsene Frau! Wie soll mir dieser Junge gefährlich werden?“

Die Duka starrte ihre Enkelin an. „Ich habe ein schlechtes Gefühl bei ihm“, sagte sie schließlich. „Und mein Gefühl hat mich noch nie getrogen. Bleib weg von ihm!“

„Ich habe aber ein gutes Gefühl bei ihm“, trotzte Marle. „Sagst du nicht immer, eine Frau soll ihrem eigenen Urteil vertrauen?“

„Nur, solange sie dabei auch ihren Verstand einsetzt. Was weißt du über den Jungen oder seinen Vater? Vermutlich so viel wie ich, nämlich nichts. Wie kannst du jemandem vertrauen, über den du nichts weißt?“

„Ich weiß, dass er mir geholfen hat. Und dass er ein freundliches Lächeln hat.“

„Das ist nichts. Das ist nur seine Oberfläche. Du weißt nicht, was er denkt, kannst es gar nicht wissen. Er könnte ein Feind sein, der dir bei nächste Gelegenheit mit eben diesem freundlichen Lächeln ein Messer zwischen die Rippen stößt. Du wirst nach mir die Duka sein. Als Duka musst du auch an solchen Möglichkeiten denken. Du darfst dich nicht von einer glatten Oberfläche täuschen lassen. Versprich mir, dass du ihn nicht wieder triffst.“

Marle senkte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich habe ihm versprochen, mit ihm zum Markt zu gehen. Ich breche mein Versprechen nicht.“

Die Duka spürte den Hauch des Unheils. Fern noch, aber es war da. „Dann versprich mir wenigstens eins, Tochter meiner Tochter. Versprich mir, dass du vorsichtig bist. Dass du weder ihm noch seinem Vater aus dem Ort hinaus folgst. Dass du weder ihm noch seinem Vater Dinge verrätst, die uns gefährden könnten. Versprich mir, dass du deine Zunge hütest und mit deinem Verstand denkst, nicht mit deinem Herzen.“

Marle nickte sehr ernst. „Das verspreche ich, Großmutter.“