Falkenkrieger - Chris Svartbeck - E-Book

Falkenkrieger E-Book

Chris Svartbeck

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Beschreibung

Ihre königliche Schwiegermutter hält sie für einen halbwilden Bergtrampel. Ihr königlicher Schwiegervater nimmt sie kaum zur Kenntnis. Und was ihren Gatten Tolioro angeht, wäre Sirit heilfroh, würde er dem Beispiel seines Vaters folgen. Zu allem Überfluss scheint sie unfähig zu sein, dem Land den heißersehnten Thronfolger zu schenken. Alles, was Sirit gebärt, sind Töchter. Unerwünschte Töchter. Ioro, der einzige in der königlichen Familie, der ein gutes Wort für sie erübrigt hat, ist weit weg und führt das Heer Karapaks gegen die Wüstenstämme. Wie kann eine kleine, schwache Frau, die noch dazu im Harem eingesperrt ist, in dieser Lage einen Krieg verhindern – oder entfachen?

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Spiegelmagie

Band 2

FALKENKRIEGER

C. Svartbeck

Hinweis:

Am Ende des Buches finden Sie einen Anhang mit einer Landkarte sowie Erläuterungen zum Land Karapak und seinen Bewohnern.

C. Svartbeck
Machandel Verlag Neustadtstr.7, 49740 Haselünne
Bildquelle cover: Raisa Kanareva und tobibandi / www.shutterstock. com
2016

 

Bestandsaufnahme

Der Wind roch nach kaltem Brand. Der beißende Gestank des Versengtem hing in allen Kleidungsstücken. Selbst das Essen roch nach Feuer und Verkohltem.

Karados wiegte Anai sanft in seinen Armen. Das kleine Mädchen war erschöpft vom Weinen eingeschlafen. Unter seinen Fingern konnte er die Rippen fühlen. Das Feuer hatte fast alle Vorräte vernichtet. Und das wenige, was sie noch hatten, stank nach Rauch. Sicher, da war noch das Fleisch der toten Ochsen. Aber den meisten Kindern wurde schlecht, wenn sie gebratenes Fleisch nur rochen. Zwei Tage lang hatten die Totenfeuer im Hof gebrannt. Selbst Karados war im Moment nicht nach Fleisch zumute.

Meister Os aus der Nachbarprovinz hatte ihnen Hilfe und Lebensmittel angeboten. Im Tausch gegen fünf Kinder. Meister Jo hatte abgelehnt. Typisch jugendlicher Starrsinn. Ah, dieser junge Meister! Wenn er die Regeln beherrscht hätte, wäre dieses schreckliche Unglück nie passiert. Ein Zweikampf ohne den Schutz der Arena! Ein Wunder, das überhaupt jemand überlebt hatte. Karados sah zum Turm herüber. Das Dach war weg, aber der Turm stand noch, ein Symbol der Stärke des neuen Meisters. Doch egal, wie stark Meister Jo war, auch er konnte keine Lebensmittel aus der Luft herbeizaubern. Früher oder später würde er auf Meister Os Angebot eingehen müssen. Nur dass Os dann mit Sicherheit mindestens ein oder zwei Kinder mehr verlangen würde. Wenn bloß Marade noch da wäre, die hätte gewusst, was zu tun war. Leider war die Haushälterin des alten Meisters ebenfalls in dem brennenden Haus umgekommen. Ohne den eisernen Beschlag ihres Stocks hätten sie noch nicht einmal ihre Leiche identifizieren können.

Karados legte Anai sanft hin und erhob sich ächzend. Da waren noch mehr Kinder, um die er sich dringend kümmern musste.

***

Leise Unterhaltung plätscherte durch den Raum. Ioro öffnete die Augen und versuchte, den Kopf etwas zu drehen. Selbst diese winzige Bewegung reichte, um ihm einen kleinen Schmerzensschrei zu entlocken. Seine linke Körperseite brannte wie Feuer. Direkt vor sich sah er das besorgte Gesicht eines graubärtigen Mannes. Dunkelbraune Augen blinzelten, die Lachfältchen in den Augenwinkeln vertieften sich, eine fröhliche Stimme begrüßte ihn. „Mein Prinz, wie schön, dass Ihr wieder unter uns seid!“

Das war doch Mane, der Leibarzt seines Vaters? Wie kam der hierher? Überhaupt, wo war hier? Dies war nicht sein Zimmer in der Wachkaserne. Den Säulen nach befand er sich im inneren Palast. Zuletzt ... Das Letzte, woran Ioro sich erinnerte, waren die Flammen, die aus dem Scheiterhaufen nach ihm gegriffen hatten, und der Falke, der mit ausgestreckten Klauen auf ihn zugeschossen kam.

Mane bückte sich kurz und kam mit einer kleinen Flasche in der Hand wieder hoch. Er setzte sie Ioro an die Lippen. „Trinkt, mein Prinz. Das wird Euch gegen die Schmerzen helfen.“

Der Trank war bitter und hatte einen schleimig-süßlichen Nachgeschmack. Ioro trank ohne Widerrede. Sein Kopf hämmerte, sein Körper brannte, alles schmerzte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Was ist passiert?“

Manes Gesicht verlor sein Lächeln. „Mein Prinz, die Göttin selbst hat Euch gerettet und damit Eure Unschuld bewiesen. Sie kam in Form eines Falken zu Euch ins Feuer und löschte es mit ihren Tränen.“

Der Falke? Das musste Jok gewesen sein. Aber was hatte es mit diesen mysteriösen Tränen auf sich? Egal, das konnte er später klären. Etwas anderes war vorrangig. „Dann bin ich begnadigt?“

Manes Lächeln kehrte zurück und leuchtete über sein ganzes Gesicht. „Nicht nur begnadigt, mein Prinz! Euer Vater, König Kanatamehme – die Göttin möge ihn und sein Haus segnen – hat offiziell verkünden lassen, dass das Urteil gegen Euch aufgehoben wurde und Ihr vollständig rehabilitiert seid. Ihr wurdet in allen Ehren wieder in das Haus Mehme aufgenommen.“

Ioro war, als ob eine schwere Last sich von ihm hob. Seine Ehre war wieder hergestellt! Alles andere war zunächst unwichtig. Er beendete das Gespräch, indem er seine Augen schloss. Hoffentlich würde Manes Gebräu seine Schmerzen bald lindern.

*

König Kanata von Karapak, in gerader Linie neunter Herrscher aus dem ehrwürdigen Haus Mehme, Erbe des Falkenthrons von Sawateenatari, starrte in die Dunkelheit seines Schlafgemachs. Neben ihm lag eine junge Frau und schlief. Ihr sanfter Atem kitzelte ihn am Arm. Kanata vermisste Miomio. Mit ihr hätte er jetzt reden können. Sie war die Einzige unter all seinen Frauen und Konkubinen gewesen, die mehr Geist als Schönheit besessen hatte. Und Miomio war sehr schön gewesen. Zu schade, dass sie sich auf seinen Befehl hin das Leben genommen hatte. Was hätte er denn auch tun sollen? Ihr gemeinsamer Sohn Ioro war als Hochverräter zum Scheiterhaufen verurteilt worden. Nach den Gesetzen Karapaks war es ihm damit unmöglich gewesen, Ioros Schwestern und Mutter zu verschonen.

Kanata schloss die Augen und wartete. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und führten ihn letzten Endes immer wieder zu der gleichen Frage: Hatte Ioro mit dem Attentat zu tun oder nicht? Ioro war eindeutig mit dem Dolch in der Hand auf ihn zugestürzt. Angeblich, um ihn vor einem tödlichen Zauber zu schützen. Aber wieso hatte nur Ioro diesen Zauber erkannt? Wie hatte er ihn brechen können? Inwieweit war sein ältester Sohn in die Machenschaften der Kristallkammer verwickelt? Welcher Zauberer hatte ihm geholfen? Diese Sache mit dem Scheiterhaufen – das Wunder der Göttin, das Ioro gerettet hatte, stank zehn Meilen gegen den Wind nach Zauberei. War die Kristallkammer direkt involviert? Hatte dieses angebliche Wunder damit zu tun, dass die Kristallkammer schon bei Ioros Geburt bemüht gewesen war, den Sohn seiner Konkubine in die Thronfolge einzubringen? Was verband Ioro mit den Zauberern?

Und wenn tatsächlich nicht Ioro der Attentäter gewesen war, wer dann? Am nächstliegendsten wäre sein zweiter Sohn und Thronerbe Tolioro. Aber der hatte sich die ganze Zeit neben ihm aufgehalten und keine verdächtige Bewegung gemacht. Wer, bei der Göttin, konnte es bloß gewesen sein?

*

Tolioro kochte vor Wut. Nicht nur, dass sein älterer Bruder das Attentat auf ihren Vater vereitelt hatte, nein, Ioro war auch noch durch göttliche Hilfe gerettet worden! Die Bewohner Sawateenataris feierten ihn seitdem als Liebling der Göttin. Es wurden sogar schon Stimmen laut, wonach Ioro besser den Thron erben sollte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!

In dieser ganzen Misere gab es nur einen einzigen Lichtblick: niemand verdächtigte ihn. Außer seiner Mutter und ihm wusste keiner, wodurch das Attentat ausgeübt worden war, und seine Mutter war vorsichtig gewesen. Es gab keine Spur, die auf ihn oder Iragana hindeuten konnte.

In Zukunft würden sie noch vorsichtiger sein müssen. Zu schade. Es war die perfekte Gelegenheit gewesen.

Ein winziger Lichtblick blieb ihm aber: Ioro hatte offen gezeigt, dass er mit Zauberei zu tun hatte. Tolioro wusste genau, wie sehr sein Vater die Zauberer und ihre Machenschaften verabscheute. Blieb abzuwarten, ob er daraus Kapital schlagen konnte.

*

Iragana, erste Gemahlin König Kanatamehmes und Mutter des Thronerben, stickte behutsam einen kleinen goldenen Schmetterling auf das grüne Seidentuch. Sie konzentrierte sich. Ein kleiner Stich, ziehen, ein weiterer Stich. Ihre Hände durften nicht zittern. Bei allen Göttern – wäre sie nicht so vorsichtig gewesen, würden Tolioros und ihr Kopf jetzt zu Asche verbrennen. Jemand hatte ihre fein ausgetüftelten Pläne elegant durchkreuzt. Hoffentlich waren ihre Spitzel bald in der Lage, ihr Näheres zu erzählen. Sie musste unbedingt wissen, wer ihr Gegenspieler war. Eine der anderen Gemahlinnen? Die Zweite Gemahlin Scholinte hatte einen Sohn, der etliche Regenzeiten jünger als Tolioro war und als nächster in der Erbfolge stand. Darüber hinaus war Scholinte die Tochter des einflussreichen Herzogs Noredo und erfahren in Hofintrigen. Sie war die wahrscheinlichste Kandidatin. Es gab Möglichkeiten … Iragana hatte Erfahrung mit gewissen Dingen. Ob ihr Verbindungsmann zu den Zauberern bereit sein würde, ihr ein gutes Gift zu besorgen?

Der goldene Schmetterling war fertig. Iragana bewunderte lächelnd ihr Werk.

 

Die Fäden werden aufgenommen

 

In der Kristallkammer hatte man eine dringliche Sitzung anberaumt. Großmeister Ro, der oberste Zauberer des Reiches, dessen Haar bereits vollständig weiß war und dessen Alter sich im Dunkel der karapakischen Geschichte verlor, leitete die Versammlung.

„Wir stehen vor zwei Problemen, die an Dringlichkeit einander ebenbürtig sind“, begann er. „Ad eins ist zu klären die wundersame Rettung des Prinzen Ioro vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen durch ein vorgebliches göttliches Wunder. Wie wir bereits verifiziert haben, war an diesem Wunder eindeutig ein Spiegelzauber beteiligt. Die Signatur dieses Zaubers ist unbekannt. Wir haben es also mit einem unbekannten Zauberer von ebenfalls unbekannter Stärke zu tun, der im Bereich der Kristallkammer unkontrolliert agiert. Wir sind nicht einmal sicher, ob es ein karapakischer Zauberer ist.

Ad zwei hat es gravierende Verschiebungen im Machtgefüge der Häuser der mittleren Provinzen gegeben. Go wurde durch einen seiner Adepten besiegt.“

Leises Murmeln lief durch den Saal.

„Kollege Os war vor Ort und hat sich ein Bild von der Lage gemacht. Ich ersuche ihn, uns jetzt einen Bericht zu geben.“

Os erhob sich und zückte seinen Spiegel. „Ich habe die Veränderung in den Kraftstrukturen unmittelbar bei Eintreten bemerkt. Alle Anzeichen deuteten auf einen Kampf außerhalb einer Arena hin. Dies habe ich vorgefunden.“

Mit einer Handbewegung schuf er über seinem Spiegel eine dreidimensionale Projektion. Schweigend musterte die Versammlung das Bild der Verheerungen.

„Dies war das Haus von Kollege Go. Er wurde in einen Seelenspiegel integriert.“ Os wandelte das Bild. Jetzt war das Innere des Turms zu sehen. Ein junger Mann stand vor den Spiegeln, die rote Robe verdreckt und zerrissen, die ungekämmten schwarzen Locken wirr im Gesicht, blass und mit Ringen unter den Augen. „Wie ihr sehen könnt, ist der derzeitige Inhaber des Turmes dieser Jo, bis dato Adept im ersten Jahr.“

Erstauntes Murmeln lief durch den Saal.

„Der junge Mann war noch nicht einmal ausreichend geschult, um zu wissen, dass eine Meister-Kampfforderung nur in einer Arena ausgetragen werden darf“, fuhr Os fort. „Offenbar hat ihn das Ergebnis überrascht. Darüber hinaus ist er anscheinend weder fähig, mit der derzeitigen Lage ohne Hilfe umgehen zu können, noch kann man ihn in irgendeiner Weise als fertig ausgebildeten Zauberer betrachten. Damit stellt er eine potenzielle Gefahr für sich und andere da, was umso schlimmer ist, als er seinen Kräften nach bereits mindestens ein Zauberer der vierten Klasse ist, wenn nicht sogar schon der dritten, mit Potenzial zu einem Zauberer erster Klasse.“

Er setzte sich wieder. Diesmal brandete ein Gewirr von Stimmen im Saal auf. Alle der vierundneunzig Anwesenden wussten, was das zu bedeuten hatte.

Ro wartete, bis seine Kollegen wieder zur Ruhe kamen. Dann fasste er den einzigen Zauberer ins Auge, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. „Kollege Na! Du hast bei Go gelernt und solltest somit diesen Jo kennen. Hast du eine Erklärung für uns?“

Die Blicke aller Anwesenden wanderten zu dem jüngsten Mitglied der Versammlung.

Der zuckte mit den Achseln. „Jo war immer sehr impulsiv. Vielversprechend, aber eigenwillig. Und sehr experimentierfreudig. Ich kenne Typen wie ihn. Leute, die immer aus der Reihe tanzen. Ich habe meinen damaligen Meister Go vor ihm gewarnt. Anscheinend hat Go ihn trotzdem unterschätzt.“

„Ist er ehrgeizig?“

„Genug, um gefährlich zu sein.“

„Besondere Fähigkeiten?“

„Er hat eine hohe Affinität zu Seelenspiegeln.“

Diesmal durchzog die Versammlung ein kollektiver Seufzer.

„Das sind die Schlimmsten. Er könnte uns allen großen Schaden zufügen. Wir müssen ihn unbedingt hierherholen und vernünftig schulen.“

„Aber dann bleibt sein Haus ohne Meister zurück!“

„Nein. Du wirst das Haus solange übernehmen.“

Na zuckte zusammen. Gerade jetzt aus der Hauptstadt versetzt zu werden, wo es hier richtig interessant wurde? „Ich bin doch selbst kaum länger Meister als Jo. Könnt ihr nicht einen Erfahreneren schicken?“

Nach kurzer Diskussion einigte sich die Runde. Ak, eine der nur vier Zauberinnen im ganzen Reich, würde die Verwaltung von Jos Haus übernehmen. Ak hatte Erfahrung im Wiederaufbau, sie war eine der wenigen Überlebenden sowohl der Zaubererkriege als auch der Aufstände gegen die Kristallkammer.

Ro rief zurück zur Tagesordnung. Da war immer noch der ungeklärte Zauber im Zusammenhang mit der Rettung des Prinzen Ioro. Mangels besserer Alternativen einigte man sich darauf, den Prinzen stärker im Auge zu behalten. Auch wenn ihnen selbst der Palast verschlossen blieb, hatten die Zauberer Mittel und Wege, ihre Augen und Ohren dort einzuschleusen.

Na hielt sich weiterhin bedeckt. Er hatte seine eigene Theorie zu der Sache. War es nicht Jo gewesen, der noch vor ihm von seiner Mitschülerin Thealina gelernt hatte, durch Geisteskraft einen Falken zu leiten? Und hatte nicht ein Falke Ioro gerettet? Es sah ganz danach aus, dass Jo hier seine Hand im Spiel hatte. Aber das musste er seinen Kollegen ja nicht gleich auf die Nase binden. Es hatte Vorteile, der Jüngste zu sein. Keiner der Älteren traute ihm Wissen und Fähigkeiten zu, die sie selbst nicht besaßen. Na war nicht umsonst ein Sohn des Hauses Kirasa-Poetoni. Adelige Karapakier sogen Intrigen und Strategien bereits mit der Muttermilch auf. Er würde dafür sorgen, dass er immer einen angemessenen Wissensvorsprung behielt. Nur so konnte er zu gegebener Zeit seine Position verbessern.

Abgesehen davon war er natürlich neugierig, was Jo eigentlich bezweckte.

*

Bei allen Windgeistern! Jo schleuderte das Buch wütend in die Ecke. Er hatte den alten Meister Go sehr unterschätzt. Von wegen, er konnte einfach alles Notwendige in Gos Büchern finden. Was immer Go in seine Bücher geschrieben hatte, Zauberer-Weisheiten waren es nicht. Statt dessen – Rezepte. Go hatte Kochbücher geschrieben. Ausgerechnet Kochbücher! Was bei den Drachenzahnbergen hatte Go bewogen, ausgerechnet Kochbücher zu verfassen? Nicht, dass er sie je gebraucht hätte, die Küche war seit jeher ausschließlich eine Domäne der Diener.

Und wenn doch mal auf irgend einem Pergamentfetzen ein Zauberspruch auftauchte, funktionierte er nicht. Nach wie vor blieb Jo nichts anderes übrig, als jeden Zauber mühsam über Versuch und Irrtum selbst auszutüfteln. Eine sehr zeit- und vor allem energieraubende Aktion. Kochbücher. Das konnte einfach nicht alles sein. Irgendwo musste Meister Go noch andere Aufzeichnungen verborgen haben. Und die restlichen Bücher in der Turmstube – nichts davon konnte er gebrauchen. Entweder es war Geschichte oder Viehzucht oder Gartenbau oder vollkommen unleserliches Gekrickel längst vergangener Zauberer-Generationen. Es war der pure Frust. Eine ganze Bibliothek mit nichts Brauchbarem darin.

***

Kanatas Hände umklammerten das hölzerne Gesims. Er könnte spüren, wie das feine Schnitzwerk unter seinen Fingern zerbröselte. Er verstärkte den Druck. Kleine Splitter bohrten sich in seine Handflächen. Verdammt! Wie sollte ein König regieren können, der Zauberer und Priester zugleich gegen sich hatte?

Hinter ihm räusperte sich der Hofmarschall. „Euer Majestät, wie ich bereits sagte, der Seher ist da. Natürlich will ich Euch nicht drängen, nur ... Er ist ein alter Mann, schwach und hinfällig. Wenn er noch lange warten muss, kann es sein, dass er heute nicht mehr in der Lage ist, die Geister für Euch zu befragen.“

Einen Moment lang schloss Kanata die Augen. Als er sich umdrehte, hatten sich seine Gesichtszüge wieder geglättet. „So ruft ihn.“

 

Der Seher betrat den Balkon unter Knochengeklapper. Knochenschnüre umschlangen seine Handgelenke, Knochenschnüre umschlangen seinen zum Erbarmen mageren Rumpf. Ein schmutziges braunes Tuch bedeckte notdürftig seinen Unterleib. Eine Halskette mit kleinen Steinchen und Tierkrallen baumelte auf seiner Trichterbrust. Er bewegte sich vorsichtig, suchend, den Kopf mit dem dünnen Kinnbärtchen vorgestreckt wie ein Geier. Die Wachen, die hinter dem Greis auf den Balkon treten wollten, hielt der Hofmarschall mit einer Handbewegung zurück. Sie verschwanden wieder im Gebäude und verschlossen die Türe fest hinter sich.

Kanata musterte den Seher. Trübe, altersblinde Augen sahen ihn an, Augen, die kaum durch das Gewirr tiefer Falten und zotteliger weißer Haarsträhnen hindurchschienen. Der Mann sah aus, als ob ihn jeder sanfte Morgenwind umblasen konnte. Dennoch ... trotz seiner unbestreitbaren Gebrechlichkeit strahlte der Seher Autorität aus. Autorität und Gefahr. Einen Moment lang zögerte der König. Aber es gab keinen anderen Weg. Er brauchte die Information.

„Du weißt, weshalb du hier bist?“

Der Seher legte den Kopf schief. „Sagt Ihr es mir, Majestät.“

„Du hast von dem Anschlag auf mich gehört.“

Der Seher nickte nur. Natürlich hatte er davon gehört. Wenn der älteste Sohn des Königs ein Attentat auf seinen Vater verübte, redete das ganze Königreich darüber. Noch dazu, wenn dieser Sohn gegen alle Wahrscheinlichkeit seine Unschuld beteuerte und durch das Urteil der Götter vor dem Scheiterhaufen gerettet und damit rehabilitiert wurde.

„Die Götter haben bezeugt, dass mein Sohn Ioro mich nur verteidigen wollte, als er mit dem Dolch auf mich lossprang.“ Kanata musste einen Moment innehalten. Wann immer er an diesen Augenblick dachte, schwoll ein Kloß in seiner Kehle. Ioro im Sprung, den Dolch in der Hand, und dann der Zauber. Ausgerechnet Ioro, dem er als einzigem seiner Söhne vollkommen vertraute, ausgerechnet Ioro hatte sich mit den verhassten Zauberern eingelassen.

„Um das bestätigt zu bekommen, braucht Ihr mich nicht.“ Die Stimme des Sehers war ausdruckslos.

„Nein.“ Wenn überhaupt, dann war Kanatas Stimme noch ausdrucksloser. „Ich will etwas anders von dir wissen. Die Zauberer haben eindeutig ihre Finger im Spiel. Und so eifrig, wie die Priester sich nach dem Gottesurteil auf Ioros Seite geschlagen haben, kann ich auch ihnen nicht trauen. Deshalb frage ich dich. Ich muss wissen, wer hinter dem Anschlag steht, und von welcher Person in der Zukunft unmittelbar eine Gefahr für mein Leben ausgeht.“

Der Seher zuckte die Achseln. „Die Götter haben mir nichts offenbart.“

„Dann frage sie!“

„Sie antworten auch mir nicht auf Kommando.“

Kanatas Hand fuhr zum Dolch. „Frage! Ich weiß, dass du eine Antwort erzwingen kannst!“

Der Seher zitterte kaum merklich. „Es ist möglich“, murmelte er. „Aber der Preis ist hoch!“

„Ich zahle, was immer du willst.“

„Nicht Ihr allein werdet den Preis zahlen“, murmelte der Seher noch leiser.

„Frage!“ Kanatas Stimme trug den Groll der Winterstürme in sich.

Der Seher verneigte sich ehrerbietig. Dann setzte er sich. Mit zitternden Fingern nestelte er eine Tierklaue von seiner Halskette und legte sie auf seine offene Handfläche. Dann begann er zu summen. Kanata blinzelte. Die Tierklaue bewegte sich und begann, sich zu vervielfältigen. Die Klauen verschmolzen mit den Fingern. Der Seher streckte die Hand aus. Vier scharfe Krallen blitzten in der Sonne. Dann schlug die Hand zu. Rotes Blut spritzte über die meerblauen Glasfliesen. Während sein Leben aus dem zerfetzten Oberschenkel pulste, begann der Seher zu reden.

Seine Stimme klang leise, wie von weit her, aber trotz ihrer geringen Lautstärke schien jedes Wort in Kanatas Ohren zu hallen. „Du hast deine Frage falsch gestellt, Königsfalke. Falsch gestellt … Es ist nicht nur einer, der dir nach dem Leben trachtet, es sind mehrere. Ein Krake, der hundert Köpfe hat und tausend Arme. Schlage einen Arm ab, so kommen die anderen umso weiter.“

Kanata erschauderte. Das war schlimmer, als er gedacht hatte. „Aber wer sind die Köpfe? Sind es Zauberer? Sind es Priester? Sind es Adelige? Kaufleute? Mitglieder meiner Familie?“

„Ja, ja, ja, ja, ja“, flüsterte die heisere Stimme des Sehers.

„Was ja? Wer ist es denn nun?“

„Du stellt immer noch deine Fragen falsch!“ Der Spott war jetzt unüberhörbar.

Kanata zwang sich zur Ruhe. „Sind es Zauberer?“

„Ja“

„Sind die Priester darin verwickelt?“

„Ja.“

„Adelige?“

„Ja.“

„Kaufleute?“

„Ja.“

„Mitglieder meiner Familie?“

„Ja.“

Kanata spürte, wie ihn ein Zittern überlief. Hatte sich denn die ganze Welt gegen ihn verschworen?

„Alle?“, fragte er ungläubig.

„Dummkopf“, zischte der Seher. „Einige von ihnen. Einige aus jeder Gruppe. Und überlege besser, was du fragst, Königsfalke. Die Götter werden nur wenige Fragen beantworten. Du hast dein Kontingent fast verbraucht.“

Kanata überlegte fieberhaft. Was war ihm am wichtigsten? „Wer von meiner Familie ist es?“

„Einer deiner Söhne.“

„Welcher?“ Eine hastige, fast verzweifelte Frage.

„Das steht noch nicht fest.“

„Was?“ Kanata prallte zurück und sah den Seher ungläubig an. „Wieso? Müssen die Götter das nicht wissen?“

„Die Zukunft steht nicht immer fest. Sie wird von unseren täglichen Entscheidungen beeinflusst. Niemand, nicht einmal die Götter, kann genau vorhersehen, was geschehen wird.“ Erneut war der Spott in der Stimme des Sehers unüberhörbar, auch wenn sie noch leiser war als zu Beginn.

„Dann sag mir wenigstens eines.“

Kanata fror und schwitzte zugleich.

„Hat Ioro mich bei dem Attentat angegriffen oder gerettet?“

„Zu spät, Königsfalke.“ Die Stimme des Sehers war kaum noch vernehmbar. „Die Götter haben sich bereits zurückgezogen.“ Die Gestalt des Sehers sackte auf dem Boden zusammen. Müde murmelte er: „Ich kann dir nur sagen, dass Ioro derjenige deiner Söhne ist, der Karapak gegenüber immer loyal handeln wird.“

Dann verstummte er. Im selben Moment hörte sein Blut auf zu fließen.

Kanata wagte nicht, sich zu rühren. „Ist er ... tot?“, fragte er.

Der Hofmarschall trat zu der reglosen Gestalt. Mit sichtbarer Überwindung kniete er sich nieder und fühlte den Puls am Hals des Alten. „Er lebt noch, Euer Majestät. Er lebt noch, aber sein Lebensfaden ist schwach, kaum noch spürbar. Ich bin nicht sicher, ob er den morgigen Tag noch erleben wird.“

„Schaff ihn fort.“

Kanata drehte sich brüsk um. Ein weiterer Reinfall, dieser Seher. Er war kein Stück weiter gekommen. Wie um alles in der Welt sollte ein König regieren, der niemandem mehr trauen konnte?

*

Ioro schrak aus seinen Fieberträumen hoch. Der schrille Schrei gellte immer noch in seinen Ohren. Da! Schon wieder! Nein, das hatte er nicht geträumt. Irgendwo ganz in seiner Nähe schrie ein Falke. Ioro öffnete den Mund, versuchte, seinerseits zu rufen, aber außer einem heiseren Krächzen drang nichts aus seiner Kehle.

„Wartet, mein Prinz!“ Da war Mane schon wieder, in der Hand einen Becher.

Ioro trank, einen Schluck nur, schmeckte die Bitterkeit der Medizin. Dann hob er abwehrend die Hand. Der eine Schluck hatte zumindest gereicht, seine Kehle wieder anzufeuchten, denn jetzt kamen tatsächlich vernehmbare Worte aus seinem Mund.

„Mane, ich habe einen Falken gehört ...?“

„Ganz richtig, mein Prinz“, bestätigte der Hofarzt. „Der Falke, der Euch gerettet hat, wurde ebenfalls durch die Flammen versengt. Er ist derzeit unfähig zu fliegen. Wir haben ihn deshalb ins Nebenzimmer gebracht.“

„Seit wann kümmert Ihr Euch auch um tierische Patienten? Reicht Euch der Lohn für die Behandlung der königlichen Familie noch nicht?“, versuchte Ioro zu scherzen.

Manes Gesicht bliebt ernst. „Genaugenommen gehört der Falke zur königlichen Familie“, gab er zurück, „und damit ist er wohl auch mein Patient.“

Ioro hörte das unausgesprochene „Aber“ in Manes Satz. „Ihr habt Schwierigkeiten mit dem Falken?“, fragte er.

„Nun“, Mane zögerte, „im Grunde fehlt dem Falken nichts, er hat nur ein paar verbrannte Federn, die nach der nächsten Mauser nachwachsen werden. Aber bis dahin muss er bei uns bleiben. Und, mein Prinz, er ist ganz offensichtlich nicht glücklich darüber.“

„Hackt er nach Euch?“ Ioro versuchte ein Lächeln, ließ es aber gleich wieder, als eine feurige Schmerzwelle über seine Wange strich.

„Der Falke frisst nichts“, gestand Mane. „Was immer wir ihm vorsetzen, er frisst nichts. Die königlichen Falkner geben ihm noch ein oder zwei Tage, bevor er an Entkräftung stirbt.“

„Und das“, murmelte Ioro, „wäre wahrlich ein schlechtes Omen.“

„Ihr sagt es, mein Prinz.“

Ioro dachte nach. Der Falke war nie gezähmt worden. Das Tier hatte aber – mit Joks Geist in seinem Körper – viele Stunden in seiner Gegenwart verbracht und war ihn gewöhnt. Hatte er den Falken nicht auf der einen oder anderen Jagd schon von Hand gefüttert?

„Bringt den Falken zu mir.“

Mane verbeugte sich schweigend und holte den Falken.

 

Der Vogel saß auf einer kurzen Holzstange, die von einem Dreibein gestützt wurde. Jettschwarze, von bernsteinfarbener Haut umgebene Augen starrten Ioro an. Ioro starrte zurück. Der Falke legte den Kopf etwas schief, als ob er den Menschen vor sich begutachtete. Ioro verlangte Fleisch. Mane reichte ihm, immer noch schweigend, eine kleine Schale. Ioro griff nach einem der kleingeschnittenen Fetzen rohen Fleisches und hielt es dem Falken hin. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als sich die Muskeln seines misshandelten Körpers unter der verbrannten Haut bewegten. Seine Hand reichte nicht ganz bis zum Schnabel des Falken hoch. Der Falke starrte. Ioro wartete. Nach einer fast endlos scheinenden Zeit bewegte sich der Vogel. Mit einer ruckartigen, zielsicheren Bewegung beugte er sich vor und schnappte den Fleischfetzen aus Ioros Fingern, warf den Kopf zurück, schluckte, und starrte erneut. Ioro griff nach dem nächsten Fleischstückchen.

*

In den nächsten Tagen fütterte Ioro den Falken regelmäßig. Er war und blieb der einzige, von dem der Vogel Nahrung annahm. Die Diener flüsterten und betrachteten den Vogel verängstigt. Der Falkner, der jeden Tag einen Kontrollbesuch machte und nach den verbrannten Federn sah, musterte sowohl Ioro als auch den Falken ungläubig. Nur Mane schien es vollständig normal zu finden, dass der Vogel der Göttin, das Wappentier des Hauses Mehme, eine so enge Bindung zu Ioro zeigte.

***

Jo, derzeit jüngster Zauberer-Meister im karapakischen Reich, starrte die Zauberin an, die vor ihm im Turmzimmer stand. Ak lächelte schmallippig. Sie hatte schon mehr als ein rebellisches Kind zur Räson gebracht. Und mehr als ein Kind war dieser Jo nicht, nicht einmal nach menschlichen Maßstäben.

„Ich werde in der Zwischenzeit deinen Turm verwalten, die Schäden beheben und alles wieder aufbauen“, wiederholte sie. „Natürlich zu den normalen Bedingungen. Ich bekomme 10 Prozent vom allgemeinen Ertrag des Turmes, solange ich hier weile, und den vollen Ertrag von jeden Auftragszauber, den ich in dieser Zeit annehme.“

Jo schob die Unterlippe trotzig vor. „Und wenn ich das nicht will?“

Ak richtete sich noch ein wenig höher auf. Die Goldmünzen an ihrer Halskette klimperten melodisch. Es waren alte Münzen, mit den Gesichtern von Herrschern darauf, die bereits vor mehreren hundert Regenzeiten gestorben waren. „Die Kristallkammer könnte auch auf die Idee kommen, dir ganz einfach den Turm abzunehmen. Nicht jeder Zauberer muss einen Turm besitzen.“

Jos Gesicht verfinsterte sich. „Ich würde um meinen Turm kämpfen.“

„Ja. Das sehe ich.“ Ak sah sich betont in dem Durcheinander um. „So wie beim letzten Mal, nehme ich an?“

Jo sackte zusammen wie ein Teigballen beim vorzeitigen Öffnen des Ofens. „Ich habe das nicht gewollt. Nicht so, jedenfalls.“

„Und genau deshalb musst du dringend geschult werden. In der Kristallkammer.“

Jo nickte in dumpfer Ergebenheit. Auch wenn er zehnmal nicht einverstanden war, eines würde er ganz gewiss nicht tun: Durch einen Kampf das Leben weiterer Kinder in seinem Turm unnötig gefährden. In einem Kampf, den er mit absoluter Sicherheit nur verlieren konnte. Er erinnerte sich nur zu gut an Meister Gos Ausführungen, warum so wenige Frauen zu Zauberinnen wurden. Jede einzelne Frau, die dieses Ziel erreichte, musste nicht nur eine herausragende Zauberin sein, sondern darüber hinaus auch absolut gleichgültig gegenüber dem Schicksal anderer Menschen. Diese so jung aussehende Frau, die ihm im Auftrag der Kristallkammer ein Ultimatum stellte, war wahrscheinlich imstande, alles um sich herum mit einem einzigen Zauber in Schutt und Asche zu legen und alle Bewohner seines Turms damit umzubringen.

Ak zeigte ein schmallippiges, wissendes Lächeln.

*

Der Ochsenkarren stand angeschirrt vor dem Tor. Jo hob den Beutel an, der seine beiden wichtigsten Spiegel enthielt. Ak runzelte die Stirn. „Moment mal, junger Kollege, nicht so eilig. Ich benötige noch das Zugangszeichen für die Arena und für die Meister-Gemächer.“

„Zugangszeichen?“, echote Jo entgeistert.

„Sag bloß, du kennst es nicht?“ Ak konnte ein ungläubiges Schnauben nicht unterdrücken. „Wie, bei den Sanddämonen, hast du es bloß geschafft, deinen Meister mit so wenig Ahnung zu besiegen?“

„Ich habe nach dem Kampf noch gar nicht den Versuch gemacht, die Arena zu betreten“, gestand Jo kleinlaut. „Und die privaten Gemächer? Was meinst du damit? Ich dachte, die Turmstube, das wären Meister Gos private Gemächer ...“ Seine Stimme verlor sich.

Ak lachte laut auf. „In so einer primitiven Behausung würde nicht einmal der einfachste Landzauberer leben wollen. Und Go war alles andere als ein Landzauberer. Er stammt aus einer alteingesessenen Adelssippe.“

„Aber ... da sind sonst keine Gemächer.“

Ak musterte ihn wie einen besonders begriffsstutzigen Esel. „Komm mit“, befahl sie, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zum Turm. Wohl oder übel folgte Jo ihr.

 

Oben in der Turmkammer drehte Ak sich einmal suchend im Kreis. Dann lächelte sie und deutete auf einen schmalen dunklen Strich in der Wand. „Dort ist der Eingang“, sagte sie. „Lass sehen, ob du hineinkommst.“

Jo griff nach seinem Arbeitsspiegel und untersuchte die Wand. Wo sollte da ein Eingang sein? Da war doch nur das übliche statische Rauschen, das jede Wand der Zauberschule und des Turmes durchzog. Das hieß, nicht ganz. Irgend etwas war anders an dieser Stelle. Eine Art Muster, gut verborgen unter dem Rauschen. Er griff mit dem Spiegel nach dem Muster. Es entglitt ihm. Er fischte erneut danach. Das Muster zerrann unter seinen Gedanken. Zerrann … Wasser! Es verhielt sich wie Wasser! Und wie fing man Wasser ein? Mit grimmigem Lächeln warf Jo Kälte gegen die Wand. Fror das Rauschen ein und mit ihm das Muster. Jetzt konnte er es greifen und studieren.

Das half ihm allerdings auch nicht weiter. Er kannte das Muster nicht, konnte mit Meister Gos Zauber nichts anfangen. Gut. Wenn er den Zauber nicht entschlüsseln konnte, dann half nur eines: brutale Gewalt. Mit aller Kraft schlugen Jos Gedanken auf das eingefrorene Muster. Es zerbarst in tausend Splitter.

Im selben Moment, in dem das virtuelle Muster zerbarst, erschien in der Turmwand eine Tür.

 

Ak zuckte zusammen. Offenbar hatte sie den jungen Zauberer unterschätzt. Na lag wohl richtig mit seiner Einschätzung. Jo war gefährlich – er war bereits jetzt ein Zauberer dritten Grades und eindeutig steigerungsfähig. Es wurde allerhöchste Zeit, dass der junge Bursche eine vernünftige Ausbildung bekam.

 

Jo ignorierte die Abgesandte der Kristallkammer. Im Moment fand er die Tür viel, viel interessanter. Er stieß sie auf. Vor ihm öffnete sich eine weite, lichtdurchflutete, luxuriös eingerichtete Wohnung. Wo immer die sich befand, im Turm lag sie nicht. Er trat hinein und sah sich staunend um. Buch um Buch standen die gelehrten Werke der Zauberei auf schweren Regalen an den Wänden. Hier war der Wissensschatz, den er vergeblich gesucht hatte. Und den er, wie ihm mit jäh aufsteigender Wut bewusst wurde, vorerst dieser fremden Zauberin überlassen musste. Er ballte die Fäuste. Atmete tief ein. Es hatte keinen Sinn, ausgerechnet jetzt Ärger zu machen. Sein Blick fiel auf ein aquamarinblau leuchtendes Büchlein. Klein und schmal stand es zwischen den dicken, dunkelbraunen Leder-Folianten. Er trat an das Bord, griff sich das Bändchen heraus und steckte es ein. Ak sah ihm schweigend zu, Missbilligung förmlich ins Gesicht geschrieben. Aber dies war sein Turm! Er hatte ihn rechtmäßig erobert! Wenigstens dieses eine Buch würde er zu seiner weiteren Ausbildung mitnehmen, egal, was es enthielt. Und wenn es wieder nur Kochrezepte waren.

Mit hoch erhobenem Kopf marschierte Jo an Ak vorbei und zu dem wartenden Ochsenkarren.

***

Iragana schlug behutsam das Seidenpapier zurück. Ein Geschenk für die Erste Gemahlin des Königs von der Webergilde war immer etwas Besonderes, selbst für ihren verwöhnten Geschmack. Der Stoff, der rosenduftend zum Vorschein kam, schimmerte irisierend grün auf Purpur. Winzige goldene Blüten schmückten ihn. Iragana seufzte bewundernd. Eine meisterliche Arbeit. Sie schüttelte den hauchdünnen Schal aus. Blütenblätter fielen herab. Samtene goldfarbene Gebilde, die kleine dunkle Flecken aufzuweisen schienen. Aber niemand würde wagen, der ersten Gemahlin verdorbene Blütenblätter zu schicken. Iragana griff rasch nach ihnen, sammelte sie auf. Ihre Hofdamen durften diese spezielle Gabe nicht zu Gesicht bekommen. Vorsichtig breitete sie die zarten Gebilde vor sich aus, schob sie ein wenig herum, bis die Reihenfolge stimmte und sie den Brief lesen konnte.

„Verzeiht die ungewöhnliche Art der Kontaktaufnahme. Die Wachen um den Palast sind verstärkt, ebenso wurde der Schutzbann durch einen Blutzauber aufgefrischt, ich kann daher zurzeit nicht selbst kommen.“

Nun, das war ihr durchaus bekannt.

„Wir empfehlen Euch, vorerst nichts weiter zu unternehmen. Die Lage ist zu unsicher.“

Als wenn sie das nicht wüsste ...

„Insbesondere Euer Sohn sollte seinen üblichen Beschäftigungen nur mit äußerster Vorsicht nachgehen.“

Auch das war ihr bewusst. Nur ihrem Sohn nicht. Erst gestern hatte sie wieder eine tote Dienerin in seinen Gemächern gefunden ...

„Wir müssen die Hochzeit abwarten. Erst danach werden sich wieder gute Chancen bieten, Eure Pläne zu verwirklichen. Bis dahin sollte auch der Blutzauber abgeklungen sein, sodass ich wieder persönlich zu Euch gelangen kann.“

Nichts wirklich Neues. Den Brief hätte sich ihr Kontaktmann sparen können. Iraganas Blicke wanderten zu dem wunderschönen Schal. Nein, vielleicht hätte er ihn sich doch nicht sparen können. Der Schal sah wirklich einzigartig aus.

Sie nahm das erste Blütenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger und rollte es, bis es zu einem unscheinbaren matschigen Klümpchen geworden war. Systematisch ließ sie die anderen folgen. Kein einziges Blatt durfte zurückbleiben.

Die Klümpchen schüttete sie vorsichtig in den Goldfischteich. Zufrieden sah sie zu, wie die Fische behäbig Blatt um Blatt von der Wasseroberfläche zupften und fraßen.

*

Ioro biss die Zähne zusammen. Nicht nur, dass seine linke Seite immer noch höllisch schmerzte, seine Beine schienen weich wie Wachs zu sein.

„Seid Ihr sicher ...“, begann Mane.

„Ich bin sicher!“, fauchte Ioro. „In zwei Monden soll mein Bruder heiraten. Wer, wenn nicht ich, soll wohl seine Braut nach Sawateenatari geleiten?“

Mane verkniff sich eine Antwort. Er konnte nur hoffen, dass die Genesung Ioros mit dessen Willenskraft Schritt hielt.

Der Falke schrie, als Ioro die Tür öffnete. Ioro verharrte. Sah zurück zu dem Falken, der vergeblich versuchte, sich mit seinen verbrannten Flügeln in die Luft zu erheben. Dann wankte er mühsam, Schritt um Schritt, zurück ins Zimmer und streckte die Hand nach dem Falken aus. Einen Moment lang regte sich niemand. Dann krächzte der Falke und sprang mit einem ungelenken Satz auf Ioros Hand. Ioro setzte ihn behutsam auf seiner gesunden Schulter ab. Die Falkenkrallen bohren sich durch seine Haut, als der Vogel nach Halt suchte. Ioro wartete, bis der Falke sein Gleichgewicht gefunden hatte. Dann arbeitete er sich entschlossen wieder zur Tür.

*

Kanata hörte das Klicken der Krücken auf dem Marmorboden. Ioro kam. Schon wieder. Sein ältester Sohn zeigte sich überaus besorgt um das politische Geschehen und die baldige Heirat seines Bruders. Zu besorgt. Der Seher hatte gesagt, Ioro sei loyal gegenüber dem Reich. Von seinem Vater und König hatte der Seher nicht gesprochen.

Erneut verfluchte Kanata das Schicksal. Ein Thronerbe, dessen Lebensinhalt darin zu bestehen schien, andere Lebewesen zu quälen und zu töten, und ein oberster Feldherr, der lahm war und mit Zauberern konspirierte. Beide Söhne hatten ihn enttäuscht. Wobei er immer noch nicht sicher war, welcher von beiden ihm zu schaden trachtete. Womöglich alle beide. Bei den Sanddämonen! Hätte nicht ein anderer seiner Söhne die Kindheit überleben können?

Aber natürlich wusste er die Antwort. Mit Tolioro im Palast hatte keiner der anderen Jungen auch nur den Hauch einer Chance gehabt, jemals erwachsen zu werden. Und er selbst hatte Tolioro gewähren lassen, eingedenk der Tatsache, dass auch er selbst etliche seiner Brüder hatte töten müssen, um den Thron zu ergattern. Etliche. Aber nicht alle. Tolioro war gründlicher. Tolioro war selbst ihm unheimlich.

 

Ioro verbeugte sich mühsam. Sein linkes Bein wollte sich nicht biegen, die dicken Narben spannten noch zu sehr. Kanata sah ihn kaum an. Ganz offensichtlich war sein Vater noch nicht bereit, ihm zu vergeben, was immer er auch in der Öffentlichkeit sagen mochte. Ioro wartete.

„Komm näher.“ Kanatas Stimme klang kalt. „Die Brautkarawane wird in zwei Tagen aufbrechen. Wir müssen einen geeigneten Anführer suchen.“

Ioro zuckte zusammen. „Aber traditionell führt diese Karawane der Heerführer des Bräutigams. Habt Ihr mir diesen Posten nicht wieder zugestanden?“

Sein Vater verzog keine Miene. „Ich kann keinen Krüppel an die Spitze der Brautkarawane setzen. Das könnte König Dacas von Tolor als Beleidigung auffassen.“

„Ich bin kein Krüppel!“

Kanatas Blick wanderte betont zu den Krücken in Ioros Händen.

Ioro warf sie mit zorniger Bewegung fort und richtete sich kerzengerade auf. Schmerz stach grellweiß durch seine vernarbte Seite, aber er ignorierte ihn. „Manes Idee“, sagte er. „Ihr solltet ihn kennen, Vater, schließlich ist er Euer Leibarzt. Er ist einfach übervorsichtig.“

„So“, sagte Kanata ausdruckslos. „Nun gut, dann wirst du die Brautkarawane leiten, wie geplant. Wir müssen noch einige Details besprechen. Schreiber!“

Der Schreiber wieselte dienstbeflissen heran. Ioro ging mit hölzernen Schritten zum Tisch. Eine falsche Bewegung und er fiele hin. Diese Blöße durfte er sich auf keinen Fall geben.

Und während Kanata diktierte, stand Ioro vor dem Tisch und wartete geduldig, den Schmerz weiterhin ignorierend.

 

Hochzeit auf karapakisch

Endlich Abend. Ioro stützte sich unauffällig am Sattelknauf ab. Ein ganzer Tag im Sattel forderte seinen Tribut. Mane hatte recht gehabt, er war noch nicht vollständig genesen. Eigentlich hätte er den Brautzug nicht anführen dürfen in seinem Zustand. Aber das würde er ganz bestimmt nicht zugeben. Der Weg nach Tolor war lang. Bis er dort eintraf, sollte er seine alte Kraft wieder hergestellt haben.

Auf seiner Schulter schrie der Falke und schlug kurz mit seinen verstümmelten Flügeln. Der Vogel würde es wohl nicht schaffen, bis zu ihrem Eintreffen in Tolor wieder fliegen zu können. Die nächste Mauserzeit lag noch in etlichen Monden Entfernung. Und der Falkner war sich nicht sicher gewesen, ob in dieser Mauser wieder gesunde Federn nachwachsen würden. Möglicherweise blieb der Falke für immer verkrüppelt.

Aber egal. Er war wieder draußen, raus aus der Stadt, raus aus dem Palast, raus aus der erstickenden Verehrung der Diener und dem lähmenden Misstrauen seines Vaters. Und vor allem weit, weit weg von Tolioro.

***

Jo versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Irgendwie war so eine Stadt doch wesentlich beeindruckender, wenn man als Mensch darin stand, als wenn man sie als Falke von oben sah. Den Kristallpalast hatte er sich irgendwie kompakter vorgestellt. Ein wenig so wie Meister Gos Turm. Aber das, was da vor ihm emporragte, war alles andere als kompakt. Höher als selbst der Königspalast, eine eisklare, glatte Fassade ohne ein einziges Fenster, die oben in einer Vielzahl kleiner, scheinbar nadeldünner Türme auslief. Den Vögeln nach zu urteilen, die als winzige Punkte um diese Turmnadeln kreisten, waren sie allerdings wohl gar nicht so klein und dünn. Ein Tor war auch nicht zu sehen. Der Ochsentreiber hatte einfach an diesem Punkt der Fassade halt gemacht, ihn ausgeladen mitsamt seinem Gepäck, und war verschwunden. Andere Menschen waren keine zu sehen. Überhaupt wirkte die Stadt in direkter Nähe des Kristallpalastes wie tot. Etliche Häuser zeigten deutliche Verfallserscheinungen. Nicht einmal Bettler oder Gassenkinder waren irgendwo zu sehen. Und Jo hatte nicht die geringste Ahnung, was er jetzt machen sollte.

Probehalber trat er an das Mauerwerk heran und berührte es. Nein, Mauerwerk war irgendwie auch nicht der richtige Ausdruck. Das war zwar so etwas wie Stein, aber er konnte keinerlei Fugen entdecken. Nahtlos glatt zog sich die Masse unter seinen Fingern hin. Eigentlich sah sie auch nicht wie Stein aus. Eher wie Glas, Glassteine. Glaskristalle. Hieß die Wohnstätte der karapakischen Zauberer etwa darum Kristallkammern? Und in der Mauer pulsierte Magie. Deutlich mehr als bei Meister Go. Wo der alte Turm ein beständiges Rauschen erzeugt hatte, dröhnten diese Mauern fast. Jo nahm hastig die Hand zurück.

Ein Tor hatte er aber auch mit seinen magischen Sinnen nicht spüren können.

Na und Uk beobachteten den jungen Zauberer. Sie waren als Empfangskommando abkommandiert worden.

„Warum kommt er nicht herein? Will er uns absichtlich warten lassen?“

„Glaube ich nicht“, gab Na zurück. „Ich denke, er weiß einfach nicht, wie man hereinkommt.“

„Was? Das kann doch jeder Adept im zweiten Lehrjahr!“

„Soweit ist Jo als Adept nie gekommen!“, erinnerte Na ihn. „Und jetzt ist er Zauberer, aber ein extrem schlecht ausgebildeter. Ich fürchte, wenn wir ihn nicht holen, steht er morgen noch dort.“

Die beiden Zauberer wechselten einen amüsierten Blick. Dann gaben sie der Wand das Kommando, sich zu öffnen.

Die Wand vor ihm schien zu zerfließen. Ein großer Tunnel öffnete sich, an seinem Ende erwarteten ihn zwei Männer. Einen davon kannte er: Na. Jo sammelte seine Habseligkeiten ein und marschierte forsches Schrittes in den Tunnel. Hinter ihm schloss sich die Fassade wieder zu einem undurchdringlichen Panzer.

Na zeigte ein irgendwie süffisantes Lächeln. Sein ehemaliger Lehrer sah beinahe unverschämt gut aus. Das Leben in der Kristallkammer schien ihm zu bekommen. Jo musterte ihn mit gemischten Gefühlen. Einerseits war es schön, wenigstens ein bekanntes Gesicht hier zu sehen. Andererseits ... Na hatte sich nicht gerade wie ein Freund verhalten. Noch nicht einmal wie ein Lehrer. Eher wie ein erbitterter Rivale. Jo blieb stumm und wartete.

„Ich bin Uk“, stellte sich der zweite Zauberer vor. Auch er sah jung aus. Aber das taten sie alle. Soweit Jo wusste, konnte Uk genauso gut mehrere Jahrzehnte alt sein wie mehrere Jahrhunderte.

„Na und ich, wir werden dich hier einführen und mit dem Leben in der Kristallkammer bekannt machen. Lass dein Gepäck hier liegen, darum kümmert man sich.“

Jo nickte stumm, behielt aber das Bündel mit seinen Spiegeln und dem kleinen blauen Buch in der Hand. Sicher war sicher.

So imposant die Kristallkammer von außen aussah, so langweilig war sie im Inneren. Eintöniges Weiß überall. Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke. Ein ringförmiger Korridor ohne erkennbare Türen, der einmal um den zentralen Saal herumführte. Und in diesem Saal gab es ein paar kreisförmig angeordnete Sitzreihen. Nicht viele. Jo schätzte den Raum auf ungefähr acht Dutzend Plätze. Höchstens. Einige Kristalle waren auch zu sehen, aber nicht mehr und nicht imposanter als in Meister Gos Arena.

Irgendwie enttäuschend.

Eine Etage höher war der Korridor breiter und gesäumt von Büchern. Große, schwerbeladene Regale, die genauso strahlend weiß aus der fugenlosen Wand wuchsen wie alles andere in diesem Bau. Zwischen den Regalen lagen versteckt Türen, die ein Bann schützte.

„Das“, erklärte Na, „sind die privaten Türme der Zauberer. Jeder Zauberer im karapakischen Reich hat hier seinen eigenen Turm.“

„Und auch einige Zauberer aus den angrenzenden Reichen“, ergänzte Uk. „Zwei sind hier aus den Nordlanden und einer von den Inseln. Je höher der Turm, desto wichtiger der Zauberer.“ Er grinste. „Na und ich, wir gehören zu den kleinen Türmen. Du auch, selbstverständlich.“

Jo nickte. Dass er in der Hackordnung ganz unten stand, war ihm ohnehin klar. „Woher kommt das Licht?“, wollte er wissen.

„Das Material ist so eingestellt, dass es Licht von draußen aufnimmt, speichert und über den ganzen Tag gleichmäßig abgibt.“

„So. Und was mache ich, wenn ich es zum Schlafen dunkel haben will?“

„Du kannst selbstverständlich die Helligkeit in deinem Turm regulieren.“

„Wo ist überhaupt mein Turm?“

Uk und Na führten ihn zu einer kleinen, unscheinbaren, ungeschützten Tür zwischen den Regalen mit Büchern über „Fischerei in den Nordmeeren“ und „Rufzauber für Fischer“ auf der einen Seite und „Empfängnisverhütende Zauber für Geflügel“ auf der anderen. Ganz offensichtlich hatte man ihn in die unwichtigste Ecke der Kristallkammer verfrachtet. Und die Tür würde er wohl selbst schützen müssen. Was bedeutete, dass vermutlich jeder stärkere Zauberer seinen Schutz nach Belieben knacken konnte. Und stärker waren hier alle.

Uk und Na erklärten ihm noch, wie er sie rufen konnte, dann ließen sie ihn mit seinem neuen Zuhause allein. Jo stieß die Tür auf. In einem kurzen, engen Korridor standen seine Sachen. Diener gab es hier also offensichtlich auch. Wo mochten sie leben? So, wie die Kristallkammer aufgebaut war, wahrscheinlich im Untergrund. Oder in der Stadt. Aber irgendwie konnte Jo sich nicht vorstellen, dass die Zauberer ihren Dienern erlauben würden, mehr Zeit als unbedingt nötig in der Stadt zu verbringen. Er schnappte sich sein Bündel und stieß die nächste Tür auf. Ein kleiner, runder Raum, in dessen Mitte eine Wendeltreppe nach oben führte. Dem Mobiliar nach so etwas wie ein Esszimmer.

Die Treppe führte in ein weiteres rundes Zimmer. Eindeutig ein Schlafraum. Eine weitere Etage. Hier endete die Treppe. Der Raum war gesäumt von leeren Bücherregalen und Arbeitstischen. An der Wand hingen ebenso leere Haken. Jo packte seine beiden Spiegel aus. Gotetuli bekam den Platz direkt hinter der Treppe. Er verhängte ihn sorgsam. Dann griff er nach seinem Arbeitsspiegel. Zwei Dinge waren jetzt wichtig. Jo konzentrierte sich. Zuerst der Schutzzauber. Der Einfachheit halber zog er ihn durch die ganze Wand seines neuen Turms, inklusive der Tür. Dann ein zweiter Schutzzauber. Wer immer in seinem Arbeitszimmer spionieren wollte, sollte ins Schwitzen kommen. Jo legte alle seine Kenntnisse hinein. So. Das war geschafft. Und jetzt noch ein kleiner Überblick. Er befahl seinen Wänden, durchsichtig zu werden. Der Turm gehorchte. Wörtlich. Nicht nur die Wände, auch der Fußboden wurde durchsichtig. Einen schrecklichen Moment lang hatte Jo den Eindruck, in die Tiefe zu stürzen. Dann fing er sich wieder. Göttin, waren seine Nerven schlecht!

Ein flüchtiger Blick rundum überzeugte ihn, dass die Aussicht sich nicht lohnte. Sein winziger Turm stand in einem Talkessel zwischen drei mächtigen Türmen, deren Wucht ihn fast erdrückte. Von der Stadt konnte er nichts sehen. Bei so einer Aussicht würde er trübsinnig. Jo befahl der Wand, wieder undurchsichtig zu werden.

***

Dacas wischte verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Es war lächerlich. Ein König sollte nicht weinen, wenn seine Tochter den Thronerben des Nachbarlandes heiratete. Auch nicht, wenn es seine Lieblingstochter war. Selbst dann nicht, wenn diese Tochter das Ebenbild ihrer innig geliebten Mutter war.

Wenn er wenigstens sicher sein könnte, dass Sirit glücklich würde. Aber der karapakische Erbe hatte etwas an sich, was ihn unheimlich erscheinen ließ. Und Dacas Menschenkenntnis hatte ihn selten getäuscht. Ein schöner junger Mann, intelligent und gesund, daran bestand kein Zweifel. Ein wenig eitel und sehr von sich eingenommen, aber welcher junge Mann würde sich anders verhalten, schon gar, wenn er ein Prinz war? Und trotzdem, so, wie er sich bei seinem Besuch den Dienern gegenüber benommen hatte, insbesondere den Dienerinnen … Dacas konnte den Finger nicht genau auf das legen, was ihn warnte, aber es war da. Ein kleines, nagendes Gefühl.

Sirit schien dieses Gefühl zu teilen. Die junge Braut sah aus, als ob sie zu einer Totenfeier musste, statt zu ihrer Hochzeit. Außer, dass sie keine Träne vergoss. Steif stand sie da in der üppigen blauroten Pracht ihrer Brautgewänder und starrte dem karapakischen Brautzug entgegen, der sich gerade mit zweihundert Berittenen, fünfhundert Fußsoldaten, einem Dutzend Gauklern und Musikanten, mehreren Ochsenkarren und etlichen Sänften durch die Straßen Tolors auf den Palast zu bewegte. An der Spitze ritt der älteste Sohn des karapakischen Königs, in exzellenter Haltung, einen Königsfalken auf der Schulter. Ja, wenn er der Brautgemahl seiner Tochter gewesen wäre, dann hätte er nicht um Sirit gefürchtet. Aber Ioro war nur der Feldherr. Seine Aufgabe war einzig, die Braut seines Bruders sicher nach Sawateenatari zu geleiten.

Dacas wischte eine zweite Träne aus seinem unbotmäßigen Auge.

*

Ioros Hengst tänzelte auf der Stelle. Er fasste den Zügel stärker. Die tolorische Bevölkerung hatte zwar den Brautzug pflichtschuldigst begrüßt, aber von Jubel war die Stimmung weit entfernt. Mehr als jede offizielle Äußerung ließ ihn die Zurückhaltung der Menge spüren, wie wenig dem Volk gefiel, dass ihre Prinzessin ausgerechnet den Sohn ihres Erbfeindes heiratete.