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Salman Rushdie

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Beschreibung

Malik Solanka ist Professor für Ideengeschichte in Cambridge und leidenschaftlicher Puppenmacher. Als eines seiner Geschöpfe unerwartet zu einem fulminanten TV-Erfolg wird, verlässt Malik von einem Tag auf den anderen seine Familie in England und macht sich, getrieben von einer inneren Unruhe, auf den Weg nach New York. Doch auch hier kommt er nicht zur Ruhe, wird immer häufiger von unerklärlichen Wutausbrüchen heimgesucht und droht allmählich in einem Strudel seiner Gefühle, Gedanken und Gelüste unterzugehen.

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Malik Solanka ist Professor für Ideengeschichte in Cambridge und leidenschaftlicher Puppenmacher. Als eines seiner Geschöpfe unerwartet zu einem fulminanten TV-Erfolg wird, verlässt Malik von einem Tag auf den anderen seine Familie in England und macht sich, getrieben von einer inneren Unruhe, auf den Weg nach New York. Doch auch hier kommt er nicht zur Ruhe, wird immer häufiger von unerklärlichen Wutausbrüchen heimgesucht und droht allmählich in einem Strudel seiner Gefühle, Gedanken und Gelüste unterzugehen.

SALMAN RUSHDIE, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder« wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Auszeichnungen, u.a. den Booker Prize, und sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2008 schlug ihn die Queen zum Ritter.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungTEIL EINS
1234567
TEIL ZWEI
89101112 - DAS RECHT DES STÄRKEREN: DIE ZEIT DER MARIONETTENKÖNIGE1314
TEIL DREI
15161718
Copyright

Für Padma

TEIL EINS

1

Professor Malik Solanka, Ideen-Historiker im Ruhestand, cholerischer Puppenmacher, seit seinem nicht lange zurückliegenden fünfundfünfzigsten Geburtstag Junggeselle und aus freiem (weithin kritisierten) Entschluß alleinlebend, fand sich in reiferen Jahren in ein goldenes Zeitalter versetzt. Draußen vor seinem Fenster glühte und schwitzte ein langer, schwüler Sommer vor sich hin, die erste heiße Jahreszeit des dritten Jahrtausends. In der Stadt brodelte das Geld. Mieten und Vermögenswerte waren so hoch wie noch nie, und in der Bekleidungsindustrie war man weitgehend der Meinung, die Mode sei noch nie so trendy gewesen. Stündlich öffneten neue Restaurants. Geschäfte, Vertragshändler, Galerien waren bemüht, die hochschnellende Nachfrage nach ausgefallenen Produkten zu befriedigen: Olivenöle in limitierter Menge, Korkenzieher für dreihundert Dollar, speziell gefertigte Humvee-Jeeps, die neueste Anti-Virus-Software, Begleitservice-Unternehmen, zu deren Angebot Schlangenmenschen und Zwillinge gehörten, Video-Installationen, Outsider-Kunst, federleichte Schals aus dem Bartflaum ausgestorbener Bergziegen. So viele Leute stylten ihre Wohnungen um, daß edle Einrichtungsgegenstände zu Mangelware wurden. Es gab Wartelisten für Bäder, Türknäufe, importierte Harthölzer, antike Kamine, Bidets, Marmorplatten. Trotz der jüngsten Kursverluste beim Nasdaq und der sinkenden Amazon-Aktien hielt die neue Technologie die Stadt in ihrem Bann: Man redete immer noch von Startups, Neuemissionen, Interaktionen, der unvorstellbaren Zukunft, die gerade erst zu werden begann. Die Zukunft war ein Spielkasino, und jeder wollte sein Glück versuchen und erwartete, dabei zu gewinnen.

In Professor Solankas Straße hingen reiche weiße Jugendliche, die der Mode entsprechend Armut vortäuschten, in überweiten Kleidungsstücken auf rosenberankten Vortreppen herum, während sie auf die Milliarden warteten, die ihnen zweifellos schon bald in den Schoß fallen würden. Unter ihnen gab es eine grünäugige junge Frau mit ausgeprägt slawischen Wangenknochen, die seinen sexuell abstinenten, doch immer noch munter schweifenden Blick vor allem auf sich zog. Ihr stachelähnliches rotblondes Haar sträubte sich unter einer schwarzen D’Angelo-Voodoo -Baseballkappe, ihre Lippen waren voll und zu einem ironischen Lächeln verzogen, und sie kicherte unhöflich hinter einer nachlässig vorgehaltenen Hand, als der altweltlerische, Stöckchen wirbelnde kleingewachsene Solly Solanka mit Panama-Strohhut und cremefarbenem Leinenanzug auf seinem Nachmittagsspaziergang an ihnen vorbeikam. Solly: sein Ich aus alten Collegetagen, auf das er nie Wert gelegt hatte, das abzulegen ihm aber auch niemals ganz gelungen war.

»Sir? Hey, Sir, entschuldigen Sie!« rief die Blondine ihm zu – in befehlsgewohntem Ton, der keine Verweigerung einer Antwort zuließ. Ihre Satrapen wurden wachsam wie eine Prätorianergarde. Sie brach eine Regel des Großstadtlebens, brach sie rücksichtslos, ihrer Macht gewiß, ihres Territoriums und ihrer Gefolgschaft sicher, furchtlos. Es war nichts weiter als die Chuzpe eines hübschen Mädchens; keine große Sache. Professor Solanka hielt inne und wandte sich zu der träge faulenzenden Göttin der Vortreppe um, die auf ihre enervierende Art fortfuhr, ihm Fragen zu stellen. »Sie gehen viel zu Fuß. Ich meine, fünf- oder sechsmal am Tag sehe ich, wie Sie irgendwo hingehen. Ich sitze hier, ich sehe Sie kommen, ich sehe Sie gehen, aber nie mit einem Hund, und Sie kommen auch nie mit Freundinnen oder Einkäufen zurück. Außerdem sind Sie zu ungewöhnlichen Zeiten unterwegs, deswegen können Sie auch nicht zu irgendeiner Arbeit gehen. Also frage ich mich doch, warum geht er immer ganz allein aus? Vielleicht haben Sie gehört, daß sich in der Stadt irgend so ’n Kerl herumtreibt und Frauen mit ’nein Brocken Beton auf den Kopf haut, aber wenn ich das Gefühl hätte, daß Sie abartig sind, würde ich jetzt nicht mit Ihnen reden. Außerdem haben Sie einen britischen Akzent, und das macht Sie zusätzlich interessant, stimmt’s? Ein paarmal sind wir Ihnen sogar gefolgt, aber Sie sind nirgendwo hingegangen, einfach nur herumgewandert, einfach nur herumspaziert. Ich habe den Eindruck, daß Sie etwas suchen, und ich habe mir überlegt, daß ich Sie fragen könnte, was Sie suchen. Ich meine das ganz nett, Sir, von Nachbar zu Nachbar. Sie sind irgendwie ein Rätsel für uns. Jedenfalls, was mich betrifft.«

Unvermittelt stieg Ärger in ihm auf. »Was ich suche«, grollte er, »ist meine Ruhe und meinen Frieden.« Seine Stimme zitterte vor Wut, einer Wut, die weit größer war, als ihre Aufdringlichkeit es rechtfertigte, einer Wut, die ihn jedesmal von neuem erschreckte, wenn sie sein Nervensystem wie eine Riesenwelle überflutete. Als die junge Frau diesen Zorn hörte, zuckte sie zurück und suchte Zuflucht im Schweigen.

»Mann«, sagte der größte ihrer Beschützer von der Prätorianergarde, zweifellos ihr Liebhaber und wasserstoffblonder Centurion, »für einen Friedensapostel sind Sie aber ganz schön kriegerisch.«

Sie erinnerte ihn an jemanden, aber er wußte nicht, an wen, und diese kleine Erinnerungslücke, der ›Senioren-Moment ‹, setzte ihm auf ärgerliche Weise zu. Zum Glück war sie nicht mehr da, war niemand mehr da, als er nach einem unerwarteten, starken und heißen Regenschauer mit durchweichtem Hut und vollkommen durchnäßt vom Caribbean Carnival zurückkehrte. Als er an der Synagoge der Shearith-Israel-Gemeinde am Central Park West vorbeikam (einem weißen Wal von Bauwerk mit dreieckigem Giebel, gestützt von vier massiven korinthischen Säulen), dachte Professor Solanka, der durch den Platzregen hastete, an die Bar-Mizwa eines dreizehnjährigen Mädchens, das er durch die offene Seitentür beobachtet hatte, wie es mit dem Messer in der Hand auf die Zeremonie des Brotsegnens wartete. Keine einzige Religion bietet eine Zeremonie an, in der man für alles, was einem beschert wird, dankbar sein kann, sinnierte Professor Solanka: Man sollte meinen, daß wenigstens die Anglikaner so etwas hätten. Das Gesicht des Mädchens schimmerte durch das trübe Licht, die jungen, runden Züge sprachen von der absoluten Zuversicht, daß all ihre Erwartungen sich erfüllen würden. Jawohl, eine gesegnete Zeit wäre das dann, falls man Wörter wie ›gesegnet‹ benutzen wollte; was Solanka, ein Skeptiker, nicht tat.

Auf der nahen Amsterdam Avenue feierte man entlang eines Häuserblocks ein Sommerfest, einen Straßenmarkt, auf dem trotz der Regenschauer gute Geschäfte gemacht wurden. Professor Solanka schätzte, daß die Waren, die sich zu herabgesetzten Preisen auf den Ständen türmten, im weitaus größeren Teil der Welt die Vitrinen und Regale der exklusivsten kleinen Boutiquen und nobelsten Kaufhäuser gefüllt hätten. In ganz Indien, China, Afrika und weiten Teilen des südamerikanischen Kontinents hätten die, welche die Muße und das Portemonnaie für modische Dinge hatten – oder in den ärmeren Breiten schlicht gesagt für den Erwerb von überhaupt irgend etwas –, für die in Manhattan auf der Straße angebotenen Waren genauso gemordet wie für die abgelegten Kleider und bequemen Möbel, die in den opulenten Second-Hand-Läden zu finden waren, das ausrangierte Porzellan und die Designer-Schnäppchen in den Discount-Geschäften von downtown. Amerika beleidigt den Rest des Planeten, dachte Malik Solanka auf seine altmodische Art, indem es dieser Opulenz mit der achselzuckenden Lässigkeit der unverdient Reichen begegnet. Aber New York war in diesen Zeiten der Fülle zum Ziel und Objekt der Sinnenfreude und des Begehrens der ganzen Welt geworden, und die ›Beleidigung‹ machte den Rest der Welt nur noch viel gieriger. Auf dem Central Park West fuhren Pferdekutschen auf und ab. Das Klingeln der Glöckchen an den Geschirren klang wie Bares auf der Hand.

Der Kino-Hit der Saison von Cäsar Joaquin Phoenix zeichnete ein Bild von der Dekadenz des alten Roms, in dem Ehre und Würde, ganz zu schweigen von Actionszenen auf Leben und Tod und andere Vergnügungen, nur in der computererzeugten Illusion der großen Gladiatoren-Arena, dem Flavianischen Amphitheater oder Colosseum zu finden waren. Doch auch in New York selbst gab es Brot und Spiele: ein Musical über liebenswerte Löwen, ein Radrennen auf der Fifth, Springsteen im Madison Square Garden mit einem Song über die einundvierzig Gewehrschüsse der Polizei, von denen der unschuldige Amadou Diallo getötet wurde, die Drohung der Polizeigewerkschaft, das Konzert des ›Boss‹ zu boykottieren, Hillary gegen Rudy, die Beisetzung eines Kardinals, einen Film über liebenswerte Dinosaurier, die Autokolonnen zweier weitgehend austauschbarer und eindeutig wenig liebenswerter Präsidentschafts-Kandidaten (Gush, Bore), Hillary gegen Rick, das Gewitter, das auf das Springsteen-Konzert und das Shea Stadion niederging, die Amtseinsetzung eines Kardinals, eine Karikatur über liebenswerte britische Hühner, und sogar ein Literatur-Festival; sowie eine Anzahl ›ausgelassener‹ Festzüge, mit denen die zahlreichen ethnischen, nationalen und sexuellen Subkulturen der Stadt gefeiert wurden und die (zuweilen) in Messerstechereien und Überfällen auf (fast immer) Frauen endeten. Professor Solanka, der sich für einen eingefleischten Egalitarier und einen in der Wolle gefärbten Großstädter der Abteilung Landluft-ist-für-Kühe hielt, marschierte an Festzugstagen Schulter an verschwitzter Schulter mit seinen Mitbürgern. An einem Sonntag ging er Arm in Arm mit schmalhüftigen Epheben-Tänzern, am nächsten Wochenende tänzelte er an der Seite einer jungen, quadratarschigen Puertoricanerin, die ihre Nationalflagge als BH trug. Inmitten dieses dichten Gewühls fühlte er sich keineswegs belästigt; im Gegenteil. Die Menge bot ihm eine beruhigende Anonymität, das Gegenteil von Belästigung. Hier interessierte sich niemand für seine Geheimnisse. Alle waren gekommen, sich gehenzulassen. So war die heimliche Magie der Massen zu erklären, und für Professor Solanka ging es zur Zeit nur darum, sich gehenzulassen. An diesem besonderen, verregneten Wochenende lag ein Calypso-Rhythmus in der Luft, nicht Harry Belafontes Jamaika-Abschiedsgesänge und einfältigen Songs, die Solanka irgendwie schuldbewußt in Erinnerung hatte (›Now I tell you in a positive way/don’t tie me donkey down dere!‹), sondern die echte, satirische Musik der jamaikanischen Troubadour-Polemiker, Banana Bird, Cool Runnings, Yellowbelly, live im Bryant Park und auf schulterhohen Lautsprecherboxen den ganzen Broadway hinauf und hinab.

Als er von der Parade nach Hause kam, wurde Professor Solanka jedoch von einer Melancholie befallen, von seiner üblichen, geheimgehaltenen Traurigkeit, die er in der Öffentlichkeit sublimierte. Irgend etwas war verkehrt an der Welt. Nachdem er mit der optimistischen Peace-and-Love-Philosophie seiner Jugend nichts mehr anfangen konnte, wußte er nicht mehr, wie er sich an eine immer unechtere (in diesem Zusammenhang verabscheute er das sonst so großartige Wort ›virtuell‹) Welt gewöhnen sollte. Machtfragen drängten sich ihm auf. Wenn sich die überhitzten Bürger schon endlosen Tagediebereien hingaben, wer vermochte da noch zu sagen, was die Herrscher der Stadt im Schilde führten – nicht die Giulianis und Safirs, die auf die Beschwerden mißhandelter Frauen und auf Amateurvideos von Zwischenfällen, die in den Abendnachrichten gezeigt wurden, so verächtlich reagierten, nicht diese kruden Marionetten, sondern die von wirklich ganz oben, die immer da waren, immer wieder ihren unersättlichen Begierden nachgaben, nach immer Neuem suchten, Schönheit verschlangen und immer, immer wieder mehr wollten? Die niemals in Erscheinung tretenden, doch ständig anwesenden Könige der Welt – der gottlose Malik Solanka vermied es, diesen menschlichen Phantomen die Gabe der Allgegenwart zuzugestehen –, die schmollenden, tödlichen Cäsaren, wie sein Freund Rhinehart sagen würde, die seelenkalten Bolingbrokes, die Tribune mit den Händen im ... des im Dienste des Bürgermeisters und des Polizeipräsidenten stehenden Coriolanus. Bei dieser letzten Vorstellung erschauerte Professor Solanka. Er kannte sich selbst gut genug, um sich der dicken, scharlachroten Ader der Vulgarität in seinem Charakter bewußt zu sein; dennoch erschreckte ihn das geschmacklose Wortspiel, wenn er daran dachte.

Wir werden alle von Puppenspielern gelenkt, die uns springen und kreischen lassen, dachte Malik Solanka verärgert. Doch während wir Marionetten tanzen – wer zieht an unseren Fäden?

Als er zur Haustür hereinkam – der Regen troff ihm noch vom Hutrand –, klingelte das Telefon. Er meldete sich barsch, riß den schnurlosen Apparat ungeduldig von seiner Station in der Diele seiner Wohnung. »Ja, bitte? Was ist?« Die Stimme seiner Frau drang an sein Ohr, via Kabel auf dem Boden des Atlantik, oder heutzutage, da sich alles änderte, über einen Satelliten hoch oben über dem Ozean, er konnte es nicht sagen. Heutzutage, da das Zeitalter der Impulse dem Zeitalter des Tones wich. Da die Epoche des Analogons (das hieß, auch der Reichtum der Sprache, der Analogie) der digitalen Ära wich, dem endgültigen Sieg des Numerischen über das Literarische. Er hatte ihre Stimme immer geliebt. Vor fünfzehn Jahren hatte er in London Morgen Franz angerufen, einen Verleger-Freund, der zufällig nicht an seinem Schreibtisch saß, und Eleanor Masters, die gerade vorüberkam, hatte den schrillenden Apparat aufgenommen; sie kannten sich überhaupt noch nicht, sprachen aber über eine Stunde miteinander. Eine Woche später dinierten sie in ihrer Wohnung, und keiner von beiden erwähnte, wie unschicklich eine so intime Örtlichkeit für eine erste Verabredung war. Darauf folgten anderthalb Jahrzehnte des Zusammenlebens. So verliebte er sich in ihre Stimme, bevor er sich in den Rest von ihr verliebte. Das war stets ihre Lieblingsgeschichte über ihre erste Begegnung gewesen; jetzt, im Verlauf der brutalen Folgen der Liebe, da die Erinnerung als Schmerz neu erfunden wurde, da Stimmen am Telefon alles waren, was übrigblieb, war sie zu einer der traurigsten geworden. Professor Solanka lauschte auf den Klang von Eleanors Stimme und stellte sich mit einem Anflug von Abscheu vor, wie sie in winzige Teilchen digitalisierter Information zerlegt wurde, wie ihre leise, bezaubernde Stimme von einem Mainframe-Computer, der vermutlich irgendwo an einem Ort wie Hyderabad-Deccan stand, zuerst verschlungen und dann wieder herausgewürgt wurde. Was ist das digitale Äquivalent von bezaubernd? fragte er sich. Welche Digits verschlüsseln Schönheit, welche Ziffern-Finger umschließen, übertragen, dekodieren sie, ohne dabei ihre Seele einzufangen oder zu ersticken? Nicht wegen, sondern trotz der Technologie gelangt die Schönheit, dieses geistergleiche Phänomen, dieser Schatz, unbeeinträchtigt durch die neuen Maschinen.

»Malik. Solly.« (Dies, um ihn zu ärgern.) »Du hörst nicht zu. Du läßt deine Gedanken abschweifen, und die schlichte Tatsache, daß dein Sohn krank ist, ist nicht mal zu dir durchgedrungen. Die schlichte Tatsache, daß ich jeden Morgen aufwachen und mir anhören muß, wie er mich fragt – unerträglich oft fragt –, warum sein Vater nicht zu Hause ist, ist nicht zu dir durchgedrungen. Ganz zu schweigen von der schlichtesten Tatsache von allen, daß du uns nämlich ohne den Hauch eines Grundes oder die Andeutung einer glaubhaften Erklärung einfach verlassen hast, nach Amerika gegangen bist und alle verraten hast, die dich am meisten brauchen und lieben, und das tun wir, verdammt noch mal, trotz allem immer noch.« Es war nur ein Husten, dem Jungen fehlte nichts Lebensgefährliches, aber sie hatte recht: Professor Solanka hatte sich in sich selbst zurückgezogen. In dieser unbedeutenden Frage des Telefongesprächs ebenso wie in der wichtigeren ihres ehemals gemeinsamen, nunmehr jedoch einsamen Lebens, ihrer Ehe, die früher für unauflöslich gehalten wurde, für die beste Partnerschaft, die je einer ihrer Freunde erlebt hatte; und in der Elternpflicht für Asmaan Solanka, inzwischen ein unglaublich schöner und sanftmütiger Dreijähriger, das auf wundersame Weise blonde Produkt seiner dunkelhaarigen Eltern, dem sie diesen himmlischen Namen (Asmaan, n., m., lit. der Himmel, aber auch fig. das Paradies) gegeben hatten, weil er der einzige Himmel war, an den sie beide von ganzem Herzen und rückhaltlos glauben konnten.

Professor Solanka entschuldigte sich bei seiner Frau für seine Geistesabwesenheit, woraufhin sie weinte, ein lautes, blökendes Geräusch, das ihm das Herz zerriß, denn er war keineswegs ein herzloser Mensch. Stumm wartete er, bis sie aufhörte. Als sie verstummte, sprach er in seinem sachlichsten Ton und versagte sich – versagte ihr – auch die geringste Gemütsregung. »Ich gestehe dir zu, daß dir das, was ich getan habe, absolut unverständlich erscheinen muß. Ich erinnere dich jedoch an das, was du mich über die Bedeutung des Unerklärlichen« – hier legte sie auf, aber er führte den Satz trotzdem zu Ende – »bei, äh, Shakespeare gelehrt hast.« Welchletzter ungehört verhallender Schluß das Bild seiner nackten Ehefrau hervorrief, der Eleanor Masters von vor fünfzehn Jahren, wie sie in ihrer langhaarigen, fünfundzwanzigjährigen Glorie splitternackt mit dem Kopf auf seinem Schoß lag, mit einem zerlesenen Exemplar der Gesammelten Werke, in blaues Leder gebunden, umgekehrt auf ihrem Schamhaar. Das war der unschickliche, aber wundervolle Abschluß jenes ersten Dinners gewesen. Er hatte den Wein mitgebracht, während sie ihm eine Lammkeule gebraten und auch serviert hatte, drei Flaschen eines teuren Tignanello Antinori (drei! Beweis für den Überschwang eines Verführers), als Getränk zu dem mit Kreuzkümmel gewürzten Fleisch, einem Salat aus frischen Kräutern. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid und schritt federleicht und barfuß durch eine Wohnung, der man den Einfluß des Designs und Kunsthandwerks der Bloomsbury Group ansah und in der es einen Käfig mit einem Papagei gab, der ihr Lachen imitierte: ein kraftvolles Lachen für eine so zierliche Frau. Sein erstes und letztes Blind Date; wie sich herausstellte, paßte sie genau zu ihrer Stimme; sie war nicht einfach nur schön, sondern auch intelligent, irgendwie sowohl selbstsicher als auch verletzlich, und eine großartige Köchin. Nach dem Verzehr großer Mengen Kapuzinerkresse und dem reichlichen Genuß seines roten Toskaners begann sie ihre Doktorarbeit zu erklären (sie saßen inzwischen in ihrem Wohnzimmer auf einem handgewebten Teppich von Cressida Bell auf dem Fußboden), doch seine Küsse unterbrachen sie, denn Professor Solanka hatte sich sanft wie ein Lamm verliebt. Während der langen guten Jahre hatten sie munter darüber gestritten, wer von ihnen den ersten Schritt getan hatte, wobei sie immer wieder hitzig (aber mit strahlenden Augen) abstritt, jemals so dreist gewesen zu sein, während er – obzwar wissend, daß es nicht stimmte – behauptete, daß sie sich ihm ›an den Hals geworfen ‹ habe.

»Willst du das denn nun hören oder nicht?« Ja, hatte er genickt, mit der Hand eine ihrer kleinen, schön geformten Brüste streichelnd. Sie hatte ihre Hand auf die seine gelegt und sich in ihren Vortrag gestürzt. Ihre Behauptung lautete, daß allen großen Tragödien eigentlich unbeantwortbare Fragen über die Liebe zugrunde lagen und daß wir, um den Stücken Sinn zu geben, versuchen müßten, diese unerklärlichen Dinge auf unsere eigene Art und Weise zu erklären. Warum hatte Hamlet, der seinen toten Vater liebte, endlos lange mit seiner Vergeltung gezögert, während er, der von Ophelia geliebt wurde, statt dessen diese vernichtete? Warum hatte Lear, der von seinen Töchtern Cordelia am innigsten liebte, die Liebe in ihrer ehrlichen Eröffnungsszene nicht gehört und wurde daher Opfer der Lieblosigkeit ihrer Schwester, und warum ließ sich Macbeth, ein sehr männlicher Mann, der seinen König und sein Land liebte, so mühelos von der erotischen, doch lieblosen Lady M. auf einen bösen, blutigen Thron führen? Professor Solanka in New York, immer noch gedankenlos das schnurlose Telefon in der Hand, erinnerte sich voll Ehrfurcht an die steif aufgerichtete Brustwarze der nackten Eleanor unter seinen streichelnden Fingern; überdies an ihre außergewöhnlichen Lösungen für das Problem Othellos, das für sie nicht die ›grundlose Bösartigkeit‹ des Jago war, sondern die mangelnde emotionale Intelligenz des Mohren, ›Othellos unglaubliche Dummheit in Sachen Liebe, die schwachsinnige Leiter der Eifersucht, die ihn aufgrund durchsichtigster Beweise zum Mord an seiner angeblich geliebten Frau führt‹. Daraus schloß Eleanor: »Othello liebt Desdemona nicht. Dieser Gedanke ist mir eines Tages einfach so durch den Kopf geschossen. Eine richtige Erleuchtung für mich. Er sagt, daß er sie liebt, aber das kann nicht stimmen. Denn wenn er sie liebte, ergibt der Mord keinen Sinn. Für mich ist Desdemona Othellos weibliche Trophäe, sein wertvollster und Status verleihender Besitz, der körperliche Beweis für seinen hohen Stand in der Welt der Weißen. Verstehst du? Das liebt er an ihr, sie selbst aber liebt er nicht. Othello selbst ist eindeutig kein Schwarzer, sondern ein ›Mohr‹: ein Araber, ein Moslem, und sein Name ist vermutlich die latinisierte Form des arabischen Attallah oder Ataullah. Also ist er kein Mensch der christlichen Welt aus Sünde und Erlösung, sondern vielmehr des moralischen Universums des Islams, dessen Gegenpole Ehre und Schande sind. Desdemonas Tod ist ein ›Ehrenmord‹. Sie brauchte nicht schuldig zu sein. Die Anschuldigung reichte. Deswegen hat er ihr nicht zugehört oder ihr einen Zweifel zugebilligt oder irgend etwas getan, das ein Mann tun würde, der eine Frau liebt. Othello liebt einzig sich selbst, sich selbst als Liebhaber und Führer, was Racine, ein eher aufgeblasener Autor, als seine flamme, seine gloire bezeichnet hätte. Nicht mal ein Mensch ist sie für ihn. Er hat sie vergegenständlicht. Sie ist seine Oscar-Barbie-Statuette. Seine Puppe. Wenigstens habe ich so argumentiert, und dafür haben sie mir den Doktortitel verliehen, vielleicht ja auch nur als Preis für meine Unverschämtheit, meine Frechheit.« Sie trank einen großen Schluck Tignanello, dann bog sie den Rükken, schlang ihm beide Arme um den Hals und zog ihn zu sich herunter. Die Tragödie verschwand aus seinen Gedanken.

Viele Jahre später stand Professor Solanka unter einer heißen Dusche, um sich nach seinem regennassen Tanz mit den Calypso-Freunden aufzuwärmen, und kam sich wie ein pompöser Trottel vor. Eleanors These gegen sie anzuwenden war eine Grausamkeit, die er ihr leicht hätte ersparen können. Was bildete er sich ein, sich selbst und seinen armseligen Aktionen diese hehren Shakespeareschen Motive zu unterstellen? Woher nahm er den Mut, sich selbst mit dem Mohr von Venedig und König Lear zu vergleichen, seine bescheidenen Geheimnisse mit den ihren? Eine derartige Eitelkeit war mehr als ein adäquater Grund für die Scheidung. Er konnte sie zurückrufen und ihr das als eine Art Entschuldigung erklären. Aber auch damit würde er einen falschen Ton treffen. Eleanor wollte die Scheidung nicht. Selbst jetzt wollte sie ihn noch zurück. »Du weißt genau«, hatte sie ihm mehr als einmal gesagt, »daß alles wieder gut wäre, wenn du dich nur entschließen könntest, diesen Gedanken aufzugeben, diesen idiotischen Gedanken. Alles würde wieder gut. Ich kann’s nicht ertragen, daß du das nicht willst.«

Und das war die Frau, die er verlassen hatte! Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, daß sie nicht gut blasen konnte. (Seine eigene Exzentrizität bestand darin, daß er es haßte, wenn sie beim Liebesakt seinen Kopf berührte.) Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, daß sie einen so feinen Geruchssinn hatte, daß sie ihm das Gefühl gab, er fülle das ganze Zimmer mit seinem Gestank. (Infolgedessen jedoch hatte er begonnen, sich öfter zu waschen.) Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, daß sie Sachen kaufte, ohne danach zu fragen, was sie kosteten, ein außergewöhnlicher Zug an einer Frau, die, wie die Briten es ausdrückten, nicht vom Geld kam. Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, daß sie sich daran gewöhnt hatte, ausgehalten zu werden, und zu Weihnachten mehr Geld ausgeben konnte, als die Hälfte der Bevölkerung in einem Jahr verdiente. Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, daß ihre Mutterliebe sie für die Bedürfnisse der restlichen Menschheit blind machte, sogar, um es grob auszudrücken, für Professor Solankas. Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, daß sie sich mehr Kinder wünschte. Daß sie sich sonst gar nichts wünschte. Nicht mal alles Gold Arabiens.

Nein, sie war makellos: die zärtlichste, aufmerksamste Liebhaberin, eine ganz außerordentliche Mutter, charismatisch und erfindungsreich, die angenehmste und erfreulichste Gesellschafterin, eine, die nicht viel, aber Geistreiches zur Unterhaltung beisteuerte (siehe das erste Telefongespräch) und ein Connoisseur nicht nur in Sachen Essen und Trinken, sondern auch des menschlichen Charakters war. Ein Lächeln von Eleanor Masters Solanka bedeutete immer, daß man sich auf subtile und höchst angenehme Art geschmeichelt fühlte. Ihre Freundschaft war ein Schultertätscheln. Und wenn sie mit dem Geld um sich warf – na und? Die Solankas waren völlig unerwarteterweise wohlhabend geworden, und zwar dank der fast erschreckenden, weltweiten Popularität einer weiblichen Puppe mit verschmitztem Grinsen und jener kecken Unbekümmertheit, die man gerade als ›attitude‹ zu bezeichnen begann, deren blonde, dunkeläugige, liebenswürdigere Fleisch-und-Blut-Verkörperung der acht Jahre später geborene Asmaan Solanka zu sein schien. Obwohl er ein richtiger Junge war, fasziniert von riesigen Schaufelbaggern, Dampfwalzen, Raketenschiffen und Lokomotiven und gefesselt von der Ich-glaube-ich-kann-Ich-glaubeich-kann-Ich-dachte-ich-könnte-Ich-dachte-ich-könnte-Entschlossenheit von Casey Jones, der unbezwingbaren kleinen Lokomotive in Dumbo, wurde Asmaan ständig und ärgerlicherweise für ein Mädchen gehalten, vermutlich wegen seiner Schönheit und den langen Wimpern, vielleicht aber auch, weil er die Menschen an das frühere Produkt seines Vaters erinnerte. Der Name der Puppe lautete Braingirl.

2

Ende der achtziger Jahre hatte Professor Solanka genug vom Akademikerleben, von seiner Kleinlichkeit, seinen Nahkämpfen und seinem ultimativen Provinzialismus. »Das Grab gähnt vor uns allen, aber für die Dozenten gähnt es vor Langeweile«, erklärte er Eleanor und setzte hinzu – unnötigerweise, wie sich ergab – : »Stell dich schon mal auf ein Leben in Armut ein.« Dann gab er zur Bestürzung seiner Kollegen, doch mit der uneingeschränkten Zustimmung seiner Frau seine sichere Position am King’s College in Cambridge auf – wo er Forschungen über die Verantwortlichkeit des Staates für seine Bürger und seinen Bürgern gegenüber und über die parallele und zuweilen gegensätzliche Vorstellung des Souveräns an sich betrieben hatte – und zog nach London (Highbury Hill, in Hörweite des Arsenal Stadions). Kurz darauf stürzte er sich ins, jawohl, Fernsehgeschäft; was ihm, wie vorauszusehen war, viel neidische Verachtung eintrug, vor allem, als die BBC ihn beauftragte, eine Spätabend-Reihe über die Geschichte der Philosophie zu entwickeln, deren Protagonisten Professor Solankas bekannte Sammlung übergroßer Eierkopfpuppen waren, die er alle eigenhändig angefertigt hatte.

Das war schlicht und einfach zuviel. Was bei einem geschätzten Kollegen als tolerierbare Exzentrizität angesehen worden wäre, wurde bei einem feigen Deserteur zur unzumutbaren Torheit, und wurde noch vor der Ausstrahlung von großen und kleinen ›Intellos‹ einstimmig lächerlich gemacht. Dann wurden die Folgen gesendet, und innerhalb weniger Monate stieg es zum allgemeinen Erstaunen und zum Kummer der Kritikaster vom vergnüglichen Geheimtip einer gebildeten Koterie zur Klassik-Kultserie mit einer schönen, jugendlichen und schnell wachsenden Fangemeinde auf, bis ihm schließlich die Ehre zuteil wurde, auf den begehrten Platz nach den Hauptabendnachrichten verlegt zu werden. Und dort entwickelte es sich zum echten Prime-Time-Hit.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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