Zwei schließen Freundschaft - Britta Frey - E-Book

Zwei schließen Freundschaft E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! »Ich verstehe das nicht. Es ist nicht zu fassen!« Die Stimme der jungen Frau klang beinahe verzweifelt, als sie fortfuhr: »Sagen Sie doch selbst, Herr Doktor – es kann doch nicht normal sein, daß ein siebenjähriger Junge nachts immer noch ins Bett macht.« »Nein«, gab der Kinderarzt zu, »nein, das ist nicht normal. Aber organisch ist Dorian gesund, Frau Wellershoff. Das Bettnässen kann verschiedene Ursachen haben. Im seelischen Bereich zum Beispiel. Und dafür bin ich leider nicht zuständig. Ich bin einfacher Kinderarzt und kein Psychologe. Die Psyche eines Kindes ist nicht selten noch komplizierter als die von erwachsenen Menschen. Kinder können sich nicht so gut ausdrücken, Frau Wellershoff. Man muß suchen, man muß versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das kann unter Umständen sehr lange dauern. Das läßt sich auch sehr schlecht in der Praxis eines Kinderarztes bewerkstelligen.« »Ja, aber – was soll denn geschehen?« Marita Wellershoff strich sich nervös über die müden Augen. Und da sagte der Kinderarzt mitleidig: »Warum sollten wir Dorian nicht in die Kinderklinik Birkenhain in Ögela geben? Dort können Sie ihn besuchen, dort wird man sich eingehend mit ihm beschäftigen, und ich bin sogar sicher, daß man ihn auch von seiner Krankheit wird heilen können.« Marita Wellershoff sah auf Dorian, der dasaß, schuldbewußt, mit blassem, beschämtem Gesicht, dem man ansah, daß er selbst am meisten darunter litt, immer noch nicht »sauber«

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Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kinderärztin Dr. Martens – 95 –Zwei schließen Freundschaft

Beide haben ein schweres Päckchen zu tragen

Britta Frey

»Ich verstehe das nicht. Es ist nicht zu fassen!« Die Stimme der jungen Frau klang beinahe verzweifelt, als sie fortfuhr: »Sagen Sie doch selbst, Herr Doktor – es kann doch nicht normal sein, daß ein siebenjähriger Junge nachts immer noch ins Bett macht.«

»Nein«, gab der Kinderarzt zu, »nein, das ist nicht normal. Aber organisch ist Dorian gesund, Frau Wellershoff. Das Bettnässen kann verschiedene Ursachen haben. Im seelischen Bereich zum Beispiel. Und dafür bin ich leider nicht zuständig. Ich bin einfacher Kinderarzt und kein Psychologe. Die Psyche eines Kindes ist nicht selten noch komplizierter als die von erwachsenen Menschen. Kinder können sich nicht so gut ausdrücken, Frau Wellershoff. Man muß suchen, man muß versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das kann unter Umständen sehr lange dauern. Das läßt sich auch sehr schlecht in der Praxis eines Kinderarztes bewerkstelligen.«

»Ja, aber – was soll denn geschehen?« Marita Wellershoff strich sich nervös über die müden Augen. Und da sagte der Kinderarzt mitleidig: »Warum sollten wir Dorian nicht in die Kinderklinik Birkenhain in Ögela geben? Dort können Sie ihn besuchen, dort wird man sich eingehend mit ihm beschäftigen, und ich bin sogar sicher, daß man ihn auch von seiner Krankheit wird heilen können.«

Marita Wellershoff sah auf Dorian, der dasaß, schuldbewußt, mit blassem, beschämtem Gesicht, dem man ansah, daß er selbst am meisten darunter litt, immer noch nicht »sauber« zu sein.

»Aber – er war noch nie von daheim fort«, wandte Marita ein. Da hob Dorian den Kopf und sah seine Mutter entschlossen an.

»Ich möchte in diese Klinik, Mama. Ich möchte, daß man mir endlich hilft, nicht mehr ins Bett zu machen. Ich – ich hab’s dir schon immer zu erklären versucht – ich mach’s doch nicht absichtlich. Es – kommt von ganz allein. Ich kann nichts dagegen tun. Und ich selbst find’s auch ganz schlimm.«

»Am besten, ich gebe Ihnen eine Überweisung für die Kinderklinik Birkenhain, Frau Wellershoff. Dorian versäumt ja nichts, denn es sind Ferien. Und selbst, wenn keine wären – in der Kinderklinik werden die Kinder auch unterrichtet, wenn es sein muß.«

»Das klingt gut.« Marita sah auf ihren Ältesten. »Und wenn du selbst es willst…?«

»Ja, bitte, Mama. Ich möchte es wirklich gern, denn ich find’s ja auch schlimm, daß ich immer noch…« Dorian schwieg, aber er mußte auch nicht weiterreden, denn man wußte, was er meinte.

*

»Sieht so aus, als hätte man den kleinen Dorian Wellershoff daheim völlig falsch behandelt«, sagte Hanna, nachdem sie Dorian zum erstenmal untersucht hatte. Das machte sie grundsätzlich immer ohne die Anwesenheit der Angehörigen. Damit hatte sie außerordentlich gute Erfahrungen gemacht. In Anwesenheit von Mutter oder Vater oder von beiden wagte ein Kind kaum etwas zu sagen, das entfernt nach Kritik aussah.

Hanna war äußerst beliebt bei ihren Patienten, aber sie wußte auch, daß kein Kind wie das andere war. Jeder ihrer kleinen Patienten in der Kinderklinik Birkenhain war ein eigenständiges Wesen, das Anspruch darauf hatte, daß man auf es einging und sich auf es einstellte. Das erwarteten die Erwachsenen schließlich auch.

Hanna umschlang Dorian ganz fest mit beiden Armen und hob ihn auf den Untersuchungstisch. Dann sah sie ihn lachend an und sagte: »Na, viel zu untersuchen gibt’s bei dir ja wohl nicht. Du weißt ja, aus welchem Grund du hier bist. Ich möchte von dir nur wissen, ob es etwas gibt, was dir ein bißchen Angst macht. Vielleicht in der Schule oder so?«

»Nein, die einzige Angst die ich habe, ist die, daß ich wieder ins Bett mache.«

»Dann ist deine Mama wohl ganz schrecklich wütend auf dich, oder?« fragte Hanna wie nebenbei, aber sie merkte doch, wie die Augenlider des hübschen Jungen zu flattern begannen.

»Na ja«, sagte er endlich bedrückt. »Ist ja auch nicht angenehm, nicht wahr? Mama sagt, daß ein Siebenjähriger so etwas einfach nicht macht. Und damit hat sie auch recht. Ich glaube, wenn meine Schulkameraden davon wüßten, würden sie mich auslachen. Noch viel schlimmer. Dann traute ich mich ganz sicher überhaupt nicht mehr in die Schule. Jeden Abend nehme ich mir vor, daß es nicht mehr geschieht – und dann passiert es doch wieder.«

»Paß auf, nicht nur du mußt arbeiten, daß es nicht mehr passiert. Das muß deine Mama auch. Und wenn ihr das gelernt habt, dann ist das alles vorbei und vergessen.«

»Das sagen Sie – aber so einfach ist das auch wieder nicht.«

»Nur keine Sorge, Dorian, das kriegen wir alles in den Griff, viel schneller, als du heute noch denkst. Komm, bevor ich mit deiner Mama spreche, bringe ich dich erst mal auf dein Zimmer. Ich dachte mir, es ist vielleicht ganz gut, wenn du nachts ein Einzelzimmer hast. Du bist ja nicht bettlägerig und kannst tagsüber mit den anderen Kindern spielen. Aber es geht niemanden etwas an, was dir dann und wann nachts passiert. Einverstanden?«

»Ich finde dich große Klasse, Dr. Hanna!« erklärte Dorian, und Hanna lächelte. Sie hatte wieder einmal eine Liebeserklärung bekommen, und kein Mensch ahnte, wie wichtig ihr solche Bestätigungen waren. Zeigten sie ihr doch, daß sie wieder einmal instinktiv das Richtige getan hatte.

*

Oberschwester Elli schien den sogenannten siebten Sinn zu entwickeln, wenn sie gebraucht wurde. Jedenfalls war sie immer dann zur Stelle, wenn man sie benötigte. So auch hier, als Marita Wellershoff völlig verunsichert im hübschen Aufenthaltsraum saß und nicht verstehen konnte, daß sie, als die Mutter, nicht bei der ersten Untersuchung dabeisein durfte.

Elli hatte die Kanne mit dem Kaffee bei sich und zwei Tassen auf dem Tablett, dazu ein Kännchen Sahne und Zucker. Ohne Umschweife ließ sie sich bei Marita nieder und strahlte sie an, als gäbe es absolut keine Sorgen.

»So, ich habe uns Kaffee mitgebracht. Den wollen wir uns jetzt erst mal schmecken lassen. Und dann können wir uns unterhalten, bis Frau Dr. Martens mit der Untersuchung Ihres Jungen fertig ist.«

Das war das Stichwort für Marita. Sie warf der Oberschwester einen anklagenden und gleichzeitig auch verständnislosen Blick zu.

»Ich begreife nicht, wieso ich als Mutter nicht bei der Untersuchung anwesend sein darf. So etwas habe ich noch nie gehört.«

»Nicht?« wunderte Elli sich und schenkte den Kaffee ein, dessen Duft allein schon beruhigend wirkte. »Das finde ich aber merkwürdig. Nun, Ihr kleiner Sohn ist sicher auch noch nie in einer Klinik gewesen, oder?«

»Ja, das stimmt. Dorian war noch nie von daheim fort.«

»Ich habe ihn nur kurz im Vorübergehen gesehen. Aber er scheint ein aufgeweckter kleiner Junge zu sein. Möchten Sie mir nicht ein bißchen von ihm erzählen? Ich bin übrigens Oberschwester Elli.«

Vorsichtig probierte Marita den Kaffee und sagte ehrlich: »Der ist aber prima. Haben Sie ein besonderes Rezept?«

»Nein, eigentlich nicht.« Um nichts auf der Welt würde Elli verraten, daß sie außer einer Prise Salz auch noch ein Stückchen Mokkaschokolade hineingab.

»Dorian ist Bettnässer«, sagte Marita da unglücklich. »Ich habe schon alles mögliche versucht – aber nichts hat bisher geholfen. Und da hat mich der Kinderarzt aus Celle hierhergeschickt. Ich wußte gar nicht, daß es ganz in der Nähe von Celle eine Kinderklinik gibt.«

»Und gar nicht mal eine so schlechte«, betonte Oberschwester Elli stolz. »Wir sind weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Aber unsere beiden Chefärzte und alle anderen, die hier arbeiten, sind auch ganz besonders tüchtig. Sie verstehen mit Kindern umzugehen. Das ist nämlich manchmal gar nicht so einfach.«

»Wem sagen Sie das? Ich habe schließlich drei.« Marita seufzte tief auf. »Und nun darf ich bei Dorians Untersuchung noch nicht mal dabei sein.«

»Oh, dafür gibt es Gründe, ganz wichtige sogar. Wir haben zum Beispiel im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, daß Kinder, wenn die Angehörigen nicht dabei sind, mitteilsamer sind.«

»Das kann ich nicht glauben. Dorian und ich haben ein ausgesprochen gutes Verhältnis zueinander.«

»Um so gehemmter würde er sein, wenn Sie anwesend wären. Lassen Sie das nur Dr. Hanna Martens machen. Die kennt sich in solchen Dingen aus wie kaum ein zweiter. Höchstens noch ihr Bruder. Die Kinder mögen beide gleichermaßen. Und das, finde ich, ist schon mal sehr wichtig. Das ist sozusagen der erste Schritt zur Genesung.«

»Na, Sie müssen’s ja wissen«, sagte Marita Wellershoff zögernd. »Ich begreife es nur nicht.«

Marita Wellershoff bekam ihre zweite Tasse Kaffee, trank sie mit sichtlichem Behagen aus und sah dann doch beunruhigt auf, als Hanna den Aufenthaltsraum betrat. Sie nickte Elli freundlich zu und sagte dann, sich Marita zuwendend: »Man hat Ihnen sicher schon gesagt, daß Dorian organisch völlig gesund ist, nicht wahr? Sein Bettnässen hat seelische Ursachen, davon bin nicht nur ich überzeugt, sondern auch mein Bruder, den ich zu Rate gezogen habe. Außerdem haben wir Dr. Wenke Andergast hier, eine ausgezeichnete Kinderpsychologin. Sie kann Dorian, wenn es sein muß, ebenfalls behandeln. Ich bin aber sicher, daß es gar nicht einmal so lange dauern wird, bis er wieder heim kann und dann nicht mehr ins Bett macht.«

»Ach, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Darf ich jetzt zu Dorian?« Marita sah Hanna bittend an. Hanna nickte freundlich und stand auf.

»Natürlich«, sagte sie freundlich. »Wir haben ihn erst mal auf ein Einzelzimmer gelegt. Er kann, da er nicht bettlägerig ist, mit den anderen Kindern spielen, Fahrrad fahren oder einfach nur spazierengehen oder sich im Klinikgarten aufhalten und lesen. Nachts wollen wir ihn, solange ihm ab und zu noch ein Malheurchen passiert, lieber allein lassen, damit er von den anderen Kindern nicht gehänselt wird.«

»Er war noch nie von uns getrennt, Frau Doktor«, sagte Marita, und man hörte ihr an, daß sie dicht vor dem Weinen stand. Aber Hanna legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter und sagte warm: »Ich bin ganz fest davon überzeugt, daß auch Sie sich ein bißchen erholen können, wenn Dorian hierbleibt. Sie sehen nämlich ganz so aus, als könnten Sie ein bißchen weniger Streß durchaus gebrauchen.«

»Ja, Kinder machen viel Freude, aber sie bringen auch viel Arbeit mit sich. Dennoch möchte ich keines von ihnen missen. Und mein Mann auch nicht.«

»Nun, dann sollten wir Dorian vielleicht besuchen gehen. Und dann können Sie getrost wieder nach Celle zurückfahren. Ich versichere Ihnen, daß es Dorian hier ausgezeichnet gehen wird.«

*

»Alles, was Dorian Wellershoff braucht, sind Verständnis und Zuwendung, keine Bestrafung und keine Verachtung. Und das scheint er alles in reichlichem Maße bekommen zu haben.«

Hanna sagte es voller Ungeduld und sah Oberschwester Elli empört an.

Diese nickte nur und erwiderte: »So etwas Ähnliches habe ich befürchtet. Die Mutter ist jung und gesund, aber sie scheint überlastet zu sein. Viel war nicht aus ihr herauszubekommen. Dorian ist ihr ältestes Kind, sehr verständig und gut in der Schule. Aber er scheint Nestwärme zu vermissen.«

Hannas Zeigefinger schoß förmlich nach vorn.

»Das ist es, genau das ist es. Nestwärme. Er kann ja gar kein Kind sein, wie es ein Siebenjähriger unbedingt braucht. Er ist ein richtiger kleiner Erwachsener, der viel vermißt, besonders die eben von Ihnen erwähnte Nestwärme. Auf der einen Seite ist er ungeheuer stolz, daß er als der Älteste von seiner Mutter Pflichten auferlegt bekommt. Und er ist stolz darauf, daß er sie auch alle bewältigt. Aber nachts, wenn er ins Bett macht, dann schreit seine Seele nach mehr Liebe und Verständnis. Nach Kindsein-Dürfen und nach Anlehnung und Zärtlichkeit. Eigentlich gehörte er von Rechts wegen gar nicht hierher, sondern seine Mutter. Wenn sie nicht so nervös und beherrschend wäre, würde er nicht einnässen. Ich fürchte, es wird nicht leicht sein, ihr das klarzumachen.«

»Da machen Sie sich man nur keine Sorgen, Chefin. Das werde ich ihr schon so verklickern, daß sie es auch begreift und sich vornimmt, Dorian anders zu behandeln, wie man eben ein Kind in seinem Alter behandeln muß. Hoffentlich hat sie noch nichts in ihm kaputtgemacht.«

Als Hanna sie wieder verlassen hatte, räumte Elli die Tassen fort und ging zu Dorian. Aber er befand sich nicht in seinem Zimmer. Also war er in den Garten gegangen, nachdem sich seine Mutter von ihm verabschiedet hatte.

Elli ging hinaus, blieb bei anderen Kindern, die nicht bettlägerig waren, aber noch nicht entlassen werden konnten, stehen, drehte sogar das Seil eine kleine Weile, als die Mädchen sich nicht einig werden konnten, wer drehen und wer springen durfte, und schlenderte dann die gepflegten Wege entlang, bis sie endlich auf einer Bank einen Jungen sitzen sah, in dem sie Dorian Wellershoff vermutete, denn sie kannte ihn noch nicht.

Elli setzte sich neben ihn und sagte fröhlich: »Du bist neu hier, nicht wahr? Ich habe dich noch nicht gesehen. Dann mußt du Dorian Wellershoff sein. Ich habe vorhin mit deiner Mama Kaffee getrunken. Ich bin Oberschwester Elli. Du kannst mit allem zu mir kommen. Damit meine ich nicht nur deine Krankheit, über die ich noch nicht viel weiß, sondern auch alle anderen Sachen.«

»Erlauben Sie mir auch, mit einem der Fahrräder zu fahren?« wollte Dorian interessiert wissen.

»Klar erlaube ich dir das. Du brauchst mich auch nicht Sie zu nennen. Freunde sagen du zueinander.«

»Soll ich dir mal was sagen? Ich find’s hier dufte.«

»Um so besser, dann wirst du auch schnell wieder gesund.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich wieder fort will«, sagte Dorian, und man sah seinem Gesicht deutlich an, daß er mit sich uneins war.

»Ich weiß noch nicht einmal, aus welchem Grund du hier bist, Dorian. Sagst du es mir?«

»Na klar. Wenn ich’s nicht sage, erfährst du es ja doch. Dann kannst du es auch gleich von mir hören. Ich bin hier, weil ich nachts ins Bett mache.«

Glühende Röte der Scham breitete sich auf seinem Gesicht aus. Oberschwester Elli war versucht, ihn an sich zu ziehen, aber das tat sie dann doch lieber nicht, weil sie wußte, wie empfindlich Kinder – und ganz besonders Jungen in diesem Alter – sein konnten. So atmete sie einmal auf und sagte bedauernd: »Das ist unangenehm für dich. Aber ein Beinbruch ist es auch nicht. Das kriegen wir hier schon wieder hin, warte es nur ab. Du wirst staunen, wie leicht das ist.«

»Aber du sagst es doch keinem von den anderen Kindern, oder?« wollte Dorian noch ängstlich wissen.

Da beruhigte sie ihn freundlich: »Das darf ich gar nicht. Ich darf nicht darüber reden, nur mit dir oder deinen Eltern. Die anderen Kinder haben damit nichts zu tun. Es sei denn, du sagst es ihnen selbst. Ich wette, nicht eines der Kinder wird dich auslachen. Hier haben unsere kleinen Patienten immer sehr viel Verständnis füreinander.«

»Vielleicht später. Im Augenblick wär’s mir jedenfalls lieber, wenn niemand davon weiß.«

»Sei froh, daß du nicht im Bett liegen mußt, Dorian. Du kannst dir ruhig eines der Fahrräder nehmen. Sie sind eigens für die Kinder da. Fahr mal in die Heide hinaus. Dort ist es wunderschön, und manchmal hat man Glück und kann ein Reh oder einen Auerhahn entdecken. Das gibt es sonst nur noch in Tierfilmen oder in Büchern. Aber wenn du in die Heide fährst, dann darfst du nur auf den Wegen bleiben. Das mußt du mir versprechen. Dort ist nämlich auch Moor, und das kann gefährlich sein.«

»Ich weiß. Ist wie Fließsand, oder? Hab ich mal im Fernsehen gesehen, wie ein Bösewicht im Fließsand versunken ist. Ganz anders ist mir dabei geworden.«

»Kann ich mir denken. Ist beileibe auch kein schöner Tod. Also – bleib auf den Wegen. Und wenn du die alte Kitty Born triffst – das ist das Kräuterweiblein von Ögela – dann sag ihr nur einen schönen Gruß.«

»Woran erkenne ich sie?«

Elli lachte ihn fröhlich an und erwiderte dann wie selbstverständlich: »Ach, Kitty ist nicht zu verwechseln. Wenn du eine kleine, alte Frau mit etwas gekrümmtem Rücken siehst, dann kann es niemand anders als Kitty sein. Sie kennt die Heide und das Moor und die Tiere und Pflanzen wie kaum ein anderer.«

»Aber eine Schönheit ist sie wohl auch nicht gerade. Sieht sie vielleicht ein bißchen wie eine Hexe aus?« fragte Dorian mißtrauisch. Es war nicht schwer herauszufinden, daß er Hexen nicht mochte. Da wurde Elli sehr ernst und sah ihn zwingend an.

»Bitte, Dorian, du darfst nie den Fehler begehen, einen Menschen nur nach seinem Äußeren zu beurteilen. Ein schöner Mensch muß nicht unbedingt gut sein, und ein häßlicher nicht unbedingt schlecht. So ist es auch bei Kitty. Sie hat eine – ganz besondere Ausstrahlung. Wenn du ihr begegnest, wirst du auf Anhieb wissen, daß sie ein sehr lieber Mensch ist. Alle Kinder mögen sie.«