29,99 €
Arrogant, überheblich und selbstverliebt: Im Berufsleben begegnen wir regelmäßig Menschen, die ihre eigenen Ideen stets in den Vordergrund stellen, die Beiträge anderer herabwürdigen oder unermüdlich nach Anerkennung streben. Diese Verhaltensweisen können Organisationen und das Betriebsklima stark beeinträchtigen. Der renommierte Narzissmusforscher, Psychologe und Coach Dr. Ramzi Fatfouta klärt über Narzissmus im Arbeitskontext auf: Was ist Narzissmus, wie erkennt man ihn und welche potenziellen Risiken, aber auch Vorteile bringt er mit sich? Sie erhalten konkrete, praktische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit narzisstischen Personen und erfahren, wie Sie diese Eigenschaft im Idealfall zu Ihrem eigenen Vorteil im Job nutzen können. Inhalte: - Narzissmus: nur ein Trendthema oder Lebensrealität? - Narzissmus erkennen und verstehen - Die helle Seite: Warum Narzisst:innen das Neue reizt und wie sie uns in ihren Bann ziehen - Wie Narzisst:innen an die Unternehmensspitze gelangen - Die dunkle Seite: Warum Narzisst:innen Konflikte schüren und Produktivitätskiller sein können - Ich vs. Wir: Wie narzisstische Führung Unternehmen an den Abgrund bringen kann - Wirksame Strategien für Organisationen und Einzelpersonen - Interviews mit Narzissmus-Expert:innenDie digitale und kostenfreie Ergänzung zu Ihrem Buch auf myBook+: - Zugriff auf ergänzende Materialien und Inhalte - E-Book direkt online lesen im BrowserJetzt nutzen auf mybookplus.de.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2024
Alle Inhalte dieses eBooks sind urheberrechtlich geschützt.
Bitte respektieren Sie die Rechte der Autorinnen und Autoren, indem sie keine ungenehmigten Kopien in Umlauf bringen.
Dafür vielen Dank!
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Print:
ISBN 978-3-648-18099-0
Bestell-Nr. 12087-0001
ePub:
ISBN 978-3-648-18100-3
Bestell-Nr. 12087-0100
ePDF:
ISBN 978-3-648-18101-0
Bestell-Nr. 12087-0150
Ramzi Fatfouta
Zwischen Egoismus und Exzellenz
1. Auflage, August 2024
© 2024 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG
Munzinger Str. 9, 79111 Freiburg
www.haufe.de | [email protected]
Bildnachweis (Cover): © Marina Demeshko, iStock
Produktmanagement: Mirjam Gabler
Illustrationen: Stephen Paris
Lektorat: Helmut Haunreiter
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.
Sofern diese Publikation ein ergänzendes Online-Angebot beinhaltet, stehen die Inhalte für 12 Monate nach Einstellen bzw. Abverkauf des Buches, mindestens aber für zwei Jahre nach Erscheinen des Buches, online zur Verfügung. Ein Anspruch auf Nutzung darüber hinaus besteht nicht.
Sollte dieses Buch bzw. das Online-Angebot Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte und die Verfügbarkeit keine Haftung. Wir machen uns diese Inhalte nicht zu eigen und verweisen lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung.
Für alle, die insgeheim denken, dieses Buch handele von ihnen und all diejenigen, die tagtäglich mit einem Seufzen damit umgehen müssen.
Montag, 09:04 Uhr, in einem Management Audit für ein führendes DAX-Unternehmen. Ein prägender Moment, der meine Reise in die Untiefen des Narzissmus einleitete. Mein Kandidat, Herr A., stand zum ersten Mal vor mir – eine unkonventionelle Erscheinung im Vergleich zu den anderen Senior Vice Presidents, die ich bereits zuvor für den Kunden auditiert hatte. Er trug einen schwarzen Anzug ohne Krawatte, war top gestylt, aus seiner weißen Hemdtasche ragte eine Zigarettenschachtel – Marke Marlboro Red – mit dem warnenden Hinweis: »Rauchen ist tödlich«, begleitet von einem abschreckenden Bild. War das bereits eine unbewusste Rückmeldung an mich? In jedem Fall war es ein interessanter Auftakt, der mich als Management-Diagnostiker und Psychologe neugierig auf den weiteren Vormittag machte.
Als ich die Agenda vorstellte, wirkte Herr A. gelangweilt und äußerte, er habe eigentlich keine Zeit für »derartige Verfahren«. Er wisse nicht, was das Ganze soll und überhaupt: Wozu brauche man überhaupt einen externen Dienstleister wie mich? Außerdem: Wie lange mache ich das jetzt schon, ich sehe ja so jung aus! Lässig lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, wodurch seine Rolex unter dem mit Manschettenknöpfen versehenen Ärmel zum Vorschein kam. Ob es eine Day-Date oder eine Datejust war, vermochte ich von meiner Seite des Tisches nicht zu erkennen.
Während des Management Audits präsentierte er sich schließlich als erfahrene Führungskraft mit einer beeindruckenden Vita: Hohe Klarheit in Bezug auf sein Rollenverständnis, Positionierung auch bei aufkommenden Widerständen, ausgeprägter Kundenfokus. Dennoch ließen mich die übertriebene Betonung seiner Erfolge und seine anfängliche Abwehrhaltung gegenüber dem Verfahren darüber nachdenken, wie er wohl von seinem Team wahrgenommen wurde. Ist er eher ein People Manager, ein Stratege oder doch ein Macher?
Die Antwort auf diese Frage erhielt ich in der darauffolgenden Führungssimulation, in der ich einen renitenten Mitarbeiter mimen durfte: Kein Smalltalk zur Gesprächseröffnung, kein »Wie läuft es im Projekt?«, kein unnötiges Geplänkel. Herr A. kommt direkt zur Sache und konfrontiert mich mit den kritischen Passagen, die in seiner Instruktion stehen. Er arbeitet mit ungeprüften Annahmen, lässt mich kaum zu Wort kommen und wirkt wenig interessiert daran, wie ich die Dinge sehe (schließlich hatte ich als Rollenspieler auch eine entsprechende Instruktion). Was Herr A. scheinbar nicht wahrhaben wollte: Ich bin als Mitarbeiter nicht faul, unmotiviert oder inkompetent – sondern einfach überfordert, wünsche mir Unterstützung und ein offenes Ohr. Es war eines der wenigen Male, in denen ich in meiner Rolle von meinem Gegenüber angeschrien wurde. Faustschlag auf den Tisch inklusive, als würde diese theatralische Geste eine zuvor verborgene Energie endlich freisetzen.
Die Eindrücke aus dem anfänglich durchgeführten Interview verdichteten sich allmählich zu einem Gesamtbild. »Herr A. könnte insbesondere mit Blick auf seine weichen Führungsfacetten variantenreicher agieren« – so oder so ähnlich schrieb ich meine Beobachtungen in das anschließende Ergebnisgutachten. Mit maximalem Wohlwollen attestierte ich Herrn A. neben einer ausbaufähigen Empfängerorientierung ein zentrales Entwicklungsfeld im Bereich »Empowerment«. Als wir im Feedbackgespräch auf dieses Thema zu sprechen kamen, winkte er nur ab. »Ich sehe nichts Schlechtes darin, meinem Team Lösungen vorzugeben – das hat nichts mit Befähigung zu tun, sondern mit Erfahrung. Und davon hab’ ich schließlich reichlich.«
Persönlichkeiten wie Herr A. sind es, die mich tagtäglich aufs Neue faszinieren: Selbstbezogen, machtorientiert und kaltherzig, gleichzeitig auch selbstsicher, dynamisch und zielstrebig. Dieser offensichtliche Widerspruch beschreibt die Paradoxie des Narzissmus. Denn trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Eigenschaften hat Herr A. seine Position im Unternehmen gefestigt und den Kurs während einer anspruchsvollen Restrukturierung festigen können. Schließlich wurde er genau dafür geholt. Er sollte »den Laden so richtig aufräumen« und »die Mannschaft wieder auf die Spur bringen«. Doch zu welchem Preis? Wie geht es ihm selbst damit? Und was macht das wiederum mit seinem Team?
»Research is Me-Search« (Forschung ist Selbst[er]forschung): Mein Erkenntnisinteresse an Narzissmus ist zugegeben eng mit meinen eigenen persönlichen und beruflichen Erfahrungen verknüpft. Die Eigenschaft begleitet mich in unterschiedlicher Intensität bereits seit vielen Jahren – in der Wissenschaft, in der Beratung und in der Privatwirtschaft. Erste Berührungspunkte mit übermäßiger Selbstbezogenheit hatte ich bereits vor über 12 Jahren im Rahmen meiner Promotion über den Umgang mit zwischenmenschlichen Konflikten an der Freien Universität Berlin. Ich untersuchte unter anderem, ob und wie Narzisst:innen anderen vergeben und fand heraus: Auf die Art des Narzissmus kommt es an, ob nach einer Reiberei Friede, Freude, Eierkuchen herrscht oder eben nicht. Schon hier merkte ich: Es ist nicht alles Narzissmus, was wir als Selbstverliebtheit abtun.
Nach einer kurzen Postdoktorandenzeit, in der ich Narzissmus als eigenständiges Forschungsthema weiterverfolgte, stieg ich schließlich als Berater in eine führende deutsche Personal- und Managementberatung ein. Ich reiste quer durch die DACH-Region, führte zahllose Assessment und Development Center sowie Potenzialanalysen durch und begegnete in kurzer Zeit vielen markanten Persönlichkeiten – von Young Professionals bis Senior Executives. Gerade die Interaktionen mit gehobenen Führungskräften waren dabei für mich besonders eindrücklich, teilweise skurril: Je höher die Führungsebene, desto geschliffener die Selbstpräsentationen (und Lebensläufe). Meine Aufgabe war es stets, hinter die Fassade zu blicken, die verbale Schminke behutsam abzuwischen und mittels Fragen offenzulegen, was der Habitus verdeckt – genau das begeistert mich seit jeher an diesem Konstrukt. Narzissmus hat – wie ein Kaleidoskop – unzählige Facetten, die immer wieder ein neues, faszinierendes Bild ergeben.
Mit diesem Buch möchte ich gemeinsam mit Ihnen einige dieser bunten (und zugegeben auch weniger bunten) Facetten näher beleuchten und über ein häufig missverstandenes Phänomen aufklären. Das Besondere? Ich tue das nachfolgend aus drei verschiedenen Rollen heraus: Einerseits möchte ich als Psychologe eigene Erkenntnisse aus vielen Jahren nationaler und internationaler Narzissmusforschung teilen, andererseits als HR-ler wertvolle Einsichten und Werkzeuge bieten, um Narzissmus im beruflichen Umfeld zu erkennen und damit umzugehen. Zu guter Letzt lasse ich als »Betroffener« meine eigenen Best Practices, Impulse und Erkenntnisse einfließen, in der Hoffnung, dass auch Sie davon profitieren können. Sind Sie bereit für einen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis?
Berlin im August 2024
Dr. habil. Ramzi Fatfouta
Ferndiagnosen
Lassen Sie mich ganz unsexy mit einer Regel beginnen: Die Goldwater-Regel, benannt nach dem damaligen republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater (1909–1998), ist eine ethische Richtlinie der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA). Sie besagt, dass es für Psychiater:innen ethisch nicht vertretbar ist, Diagnosen über Personen des öffentlichen Lebens zu stellen, ohne diese persönlich untersucht zu haben. Goldwater selbst wurde in den 1960er Jahren im Rahmen einer Befragung des Magazins Fact von über 1.000 Psychiater:innen als »psychologisch ungeeignet« für das Präsidentschaftsamt erklärt. Er erlitt infolgedessen einen gravierenden Imageverlust, verklagte das Magazin und gewann den Prozess. Die Goldwater-Regel wurde schließlich mit der Intention geschaffen, voreilige Diagnosen zu verhindern und die Integrität der psychiatrischen Praxis zu wahren.
Die gute Nachricht an dieser Stelle ist, dass es für Psycholog:innen wie mich keine vergleichbare Regel gibt (Lilienfeld et al., 2018). Gleichzeitig sei angemerkt, dass die Aussagen über den potenziellen Narzissmus bei prominenten Persönlichkeiten in diesem Buch nichtdarauf abzielen, klinische Auffälligkeiten aufzuzeigen, diese Personen zu labeln oder gar (Fern-)Diagnosen zu stellen. Stattdessen dienen sie ausschließlich als prototypische Beispiele dafür, wie narzisstische Persönlichkeitsmerkmale in Erscheinung treten können. Wie wir sehen werden, können die Erscheinungsformen auch durchaus produktiv ausfallen, sodass die Aussagen nicht despektierlich gemeint sind. Alle anderen Beispiele in diesem Buch wurden anhand von selbst erlebten oder berichteten Fällen erarbeitet, zum Teil verfremdet, anonymisiert und so zu narzisstischen Personas amalgamiert. Sämtliche Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind somit rein zufällig und unbeabsichtigt.
Narzissmusbegriff
In diesem Buch greife ich bewusst auf die realitätsvereinfachende Formulierung »Narzisst« bzw. »Narzisstin« zurück, um Menschen mit einer hohen (vs. niedrigen) Ausprägung in der allgemein und graduell bestehenden Persönlichkeitseigenschaft Narzissmus zu beschreiben. Im klinisch-psychiatrischen Kontext wird dieser Begriff häufig auf Menschen mit einer diagnostizierten narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) bezogen. Diese ist jedoch nicht der Gegenstand dieses Buches. Hier geht es explizit um narzisstische Eigenschaften, die jede Person zu einem gewissen Ausmaß aufweisen kann, nicht um Störungen.
Die Verwendung der Formulierung »Narzissmus« dient hier somit nicht dazu, Menschen in eine bestimmte Kategorie einzusortieren, sie zu stigmatisieren oder gar eine Persönlichkeitsstörung zu attestieren. Vielmehr handelt es sich um eine stilistische Verkürzung, die die vereinfachte Beschreibung von narzisstisch geprägten Personen ermöglicht. Darüber hinaus soll darauf hingewiesen werden, dass die Zuschreibung »narzisstisch« auf bestimmten Verhaltensweisen basiert und keine unumstößliche Tatsachenbeschreibung darstellt. Eine Person kann beispielsweise narzisstisch wirken oder sich narzisstisch verhalten, ohne notwendigerweise grundsätzlich erhöhte Ausprägungen der Persönlichkeitseigenschaft Narzissmus aufzuweisen oder gar unter einer NPS zu leiden.
Geschlechtergerechte Sprache
In dieser Publikation wird eine geschlechtergerechte Sprache verwendet. Dort, wo das nicht möglich ist oder die Lesbarkeit stark eingeschränkt würde, gelten die gewählten personenbezogenen Bezeichnungen für alle Geschlechter.
Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.
Johann Wolfgang von Goethe
Ob Gesellschaft, Unternehmenswelt oder Politik: In den letzten Jahren mehren sich mediale Berichte über die geistige Verfassung einflussreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – Musk, Trump, Putin & Co1. Sie alle scheinen durch ihr ausgeprägtes Maß an Selbstüberschätzung, Manipulation und Verleumdung das Paradebeispiel einer narzisstischen Person zu verkörpern. Auch in den Wirtschaftsmedien ist das Thema »Narzissmus« allgegenwärtig. »Narzissmus in deutschen Führungsetagen: Die Jungbullen kommen«, titelt der Harvard Business Manager (2021). Passend dazu fragt das Handelsblatt (2022): »Wie erkenne ich einen narzisstischen Chef?« Und die Capital (2020) weiß schließlich: »Wie Sie sich mit narzisstischen Chefs arrangieren«.
Schlagzeilen wie diese verdeutlichen, dass das Konzept des Narzissmus und damit zusammenhängende Themen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Zu Recht: Die österreichische Philosophin und Publizistin Isolde Charim (2022) beschreibt in ihrem Buch, dass Narzissmus die vorherrschende Ideologie unserer Gesellschaft ist. Höher, schneller, weiter. Fast schon zwanghaft scheint der Druck, sich zu verändern, noch erfolgreicher zu sein und noch besser zu werden. Von diesem Druck sind insbesondere Führungskräfte als zentrale Figuren in Organisationen betroffen, zumal auch die Anforderungen an sie kontinuierlich steigen. Gerade gehobene Führungskräfte können häufig eine Attitüde an den Tag legen, die von Egoismus, Anspruchsdenken und Größenfantasien geprägt scheint.
Doch auch jenseits der Führungsetage sind narzisstische Tendenzen in der Arbeitswelt regelmäßig anzutreffen. Die meisten von uns sind in ihrer beruflichen Tätigkeit sicherlich Personen begegnet, die ständig den Fokus auf ihre eigenen Ideen legen, die Beiträge anderer herunterspielen und auf Anerkennung pochen. Seht her, wie geil ich bin! Diese Verhaltensweisen können sich auf verschiedene Art und Weise manifestieren und haben einen starken Einfluss auf das Betriebsklima, die Motivation sowie allgemein die zwischenmenschlichen Beziehungen im Unternehmen. Doch hinter dem vermeintlich grandiosen Selbstbild verbirgt sich häufig ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Ist Narzissmus also vielmehr Schein als Sein?
Narzisstische Personen sind stark auf ihre eigenen Bedürfnisse fixiert und suchen gleichzeitig die Bestätigung im Außen. Klaus Eidenschink (2023) bezeichnet dies sehr treffend als Fassadenkompetenz: Man bietet, was anderen imponiert. Um zu beeindrucken, streben viele Narzisst:innen an die Regierungs- oder Unternehmensspitze und lassen dabei kein Mittel ungenutzt. Ganz nach dem Motto: Koste es, was es wolle! Sie beuten andere aus, lügen, betrügen und treffen risikoreiche Entscheidungen. Mal mit exorbitanten Gewinnen, mal mit krachenden Verlusten. Sie können Kolleg:innen, Mitarbeitende und sogar Kund:innen für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Eines ist sicher: Mit einer solchen Person möchte sich vermutlich niemand umgeben. Oder etwa doch?
Das Eingangszitat von Goethe verdeutlicht, dass alles im Leben zwei Seiten hat, so auch Narzissmus. In der Praxis zeigt sich, dass es gemäßigte Ausprägungen von narzisstischen Persönlichkeiten gibt. Diese glänzen beispielsweise durch eine stimulierende Rhetorik, eine unbedingte Handlungs- und Umsetzungsorientierung oder ein furchtloses Krisenmanagement (ähnlich wie Herr A. in meinem Eingangsbeispiel). Weil sich die meisten bestehenden Publikationen zum Thema Narzissmus darauf konzentrieren, dessen negative Auswirkungen in der Arbeitswelt zu beleuchten, bleiben diese positiven Facetten zu Unrecht häufig unbeachtet. Führungswille, Innovation oder Unternehmertum werden von den meisten Menschen selten mit Narzissmus in Verbindung gebracht, geschweige denn Narzisst:innen zugeschrieben – und das, obwohl diese Aspekte durchaus Chancen für Unternehmen bieten können (Fatfouta, 2019a).
Auf genau diese unentdeckten Chancen möchte dieses Buch aufmerksam machen und gleichzeitig Empfehlungen geben, wie diese je nach Situation gehoben werden können – von Einzelpersonen sowie von Organisationen. Eines ist mir dabei sehr wichtig. Es geht mir nicht um die Bagatellisierung von Narzissmus, sondern um einen längst fälligen Perspektivwechsel. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Menschen mit narzisstischen Tendenzen durchaus sehr herausfordernd sein können. Und dennoch: Nichts ist schwarz oder weiß – die Realität liegt, wie so oft, in den Nuancen dazwischen.
Dieses Buch nimmt innerhalb der bisherigen Gut-versus-schlecht-Debatte über Narzissmus daher eine Sonderstellung ein. Es ist in seiner Unvoreingenommenheit das etwas andere Narzissmusbuch – und ein Business-Ratgeber, der ein differenzierteres Verständnis von Narzissmus im Verhältnis von Führungskräften, Kolleg:innen und Mitarbeitenden vermittelt. Insgesamt trägt die vorliegende Publikation dazu bei, sich als Organisation besser aufzustellen, die hellen Seiten des Narzissmus je nach Situation konstruktiv nutzbar zu machen und Lösungen für kritische Momente zu finden.
An wen sich dieses Buch richtet
Dieses Buch richtet sich prinzipiell an alle Menschen, die ein State-of-the-Art-Verständnis von Narzissmus im Kontext von Arbeit und Organisation erlangen wollen. Es richtet sich im Besonderen an Führungskräfte, Unternehmer:innen und Geschäftsleitungen, die mehr über den Einfluss von Narzissmus im Business erfahren möchten. Darüber hinaus richtet sich dieses Buch an alle Berufstätige, Coach:innen, Berater:innen und Trainer:innen, die die Erkenntnisse dieses Buches für ihren Arbeitsalltag praktisch anwenden möchten. Ich schreibe dieses Buch zudem mit einer allparteilichen Haltung; sowohl für Menschen, die unter der narzisstischen Ausprägung anderer leiden, als auch für Menschen, die an sich selbst narzisstische Tendenzen erkennen und besser verstehen möchten.
Zielsetzung des Buches
Die Zielsetzung dieses Buches besteht darin, über Narzissmus im Arbeitskontext aufzuklären und eine Orientierung im Hinblick auf folgende drei Fragen zu liefern: Was ist Narzissmus? Woran erkenne ich Narzissmus (und woran nicht)? Was sind potenzielle Risiken und vor allem auch Vorteile von Narzissmus – und wie gehe ich mit narzisstischen Neigungen um; sei es bei mir selbst oder bei Mitarbeitenden, Kolleg:innen oder Führungskräften? Vorwissen zu Narzissmus ist nicht erforderlich, da das wichtigste Grundwissen in Teil 1 vermittelt wird.
Ich erläutere in diesem Buch grundlegende Befunde der empirischen Narzissmusforschung – darunter auch ganz narzisstisch meine eigene aus den letzten 10 Jahren – und beziehe diese auf den Kontext von Arbeit und Organisation. Auf diese Weise schaffe ich eine evidenzbasierte Grundlage für einen konstruktiven Umgang mit diesem Phänomen, damit Sie in der Lage sind, sich ein (neues) Bild von einer sonst zuweilen verhassten Eigenschaft zu machen.
Evidenzbasiert bedeutet, dass die hier vorgestellten Erkenntnisse, wo immer möglich, mithilfe von wissenschaftlichen Methoden abgesichert sind – beispielsweise durch Studien oder konzeptionelle Übersichtsarbeiten. Das bedeutet für Sie als Leserin oder Leser konkret: Dieses Buch bietet komplexe Antworten auf komplexe Fragen. Es wird daher selten ein Entweder-Oder, sondern vielmehr ein Sowohl-als-Auch geben, was die systemisch arbeitenden Menschen unter Ihnen freuen dürfte – eine dem Narzissmus immanente und durchaus irritierende Ambivalenz, die sich in vielen Abwägungen von Pro und Kontra zeigen wird.
Wer Heilsversprechen und schnelle Tipps zum Umgang mit Narzissmus sucht oder insgeheim auf ein Narzissmus-Bashing hofft, wird in diesem Buch weder das eine noch das andere finden. Stattdessen bricht dieses Buch bestehende Narrative rund um Narzissmus auf. Es fordert auch so manch hobbypsychologische und lieb gewonnene Mythen heraus – und damit auch meine Leserschaft. Nehmen Sie es mir daher bitte nicht übel, wenn Sie vieles, was Sie über Narzissmus wissen oder gehört haben, mit dieser Lektüre womöglich über Bord werfen müssen. Ich möchte Sie dazu ermutigen, sich mit Offenheit, Neugier und Mut auf Narzissmus einzulassen und dieser Eigenschaft eine neue Chance geben.
Struktur des Buches
Die drei zuvor genannten Fragen werden in drei zusammenhängenden Teilen beantwortet. In Teil 1,»Narzissmus erkennen und verstehen«,geht es darum, was Narzissmus aus psychologischer Sicht ist und was ihn konkret ausmacht. Dieser Teil behandelt das »Was« und beleuchtet mit einem frischen Blick verschiedene Mythen, die sich um Narzissmus ranken und oft unaufgelöst bleiben. Er liefert eine umfassende Basis für ein fundiertes Verständnis der Thematik und legt den Grundstein für die weiteren Abschnitte des Buches.
Teil 2, »Narzissmus in Action«, beschreibt die »hellen« und die »dunklen« Facetten von Narzissmus in der Arbeitswelt. Dieser Teil behandelt das »Wie« und widmet sich der Anwendung unseres Wissens über Narzissmus speziell im beruflichen Kontext. Wir werden anhand zahlreicher Erkenntnisse und (Fall-)beispiele die positiven Aspekte des Narzissmus beleuchten, die zur beruflichen Leistung und Karriereentwicklung beitragen können, während wir gleichzeitig auch die Herausforderungen und möglichen negativen Auswirkungen betrachten, die Menschen oder Organisationen nach einem rasanten Aufstieg auch zu Fall bringen können.
Teil 3, »Detox Schritt für Schritt«, schließlich gibt konkrete praktische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit narzisstischen Personen und dafür, wie Sie diese Eigenschaft im Idealfall zu Ihrem eigenen Vorteil im Arbeitskontext nutzen können (bzw. wie Sie sich angemessen schützen, falls das nicht gehen sollte). Die Empfehlungen richten sich sowohl an Einzelpersonen als auch an Organisationen. Teil 3 wird zudem durch vier Interviews mit den renommiertesten Narzissmus-Expert:innen im deutschsprachigen Raum ergänzt – bleiben Sie also gespannt! Dieser Teil dient als Leitfaden für die Umsetzung des erworbenen Wissens in die Praxis und bietet wissenschaftlich erprobte Strategien, um positive – oder zumindest funktionalere – Arbeitsbeziehungen mit Narzisst:innen aufzubauen. Mit diesem geballten Wissen sind Sie bestens gerüstet, um Narzissmus mit einer neuen inneren Haltung zu begegnen. Sind Sie bereit?
1 Warum Narzissmus eher mit Männern bzw. dem männlichen Geschlecht in Verbindung gebracht wird, wird in Kap. 1.3 erläutert.
Sich selbst zu lieben, ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.
Oscar Wilde
Schon seit Jahrhunderten beschäftigen wir Menschen uns mit dem Selbst. Dabei ist gerade die Liebe zu uns selbst eine Fähigkeit, die uns von den meisten anderen Lebewesen unterscheidet. Wir praktizieren Self-Care (Selbstfürsorge), indem wir uns beispielsweise regelmäßig Zeit für Ruhe und Erholung gönnen, Podcasts über positive Affirmationen hören (»Ich bin wertvoll!«) oder uns selbst loben, um uns nach getaner Arbeit gut zu fühlen. Doch nicht immer akzeptieren Menschen sich so, wie sie sind, mit all ihren Stärken und Schwächen. Manchmal stellen sie nach außen etwas dar, das nicht ihrem realen Selbstbild entspricht. Außerdem kann es sein, dass Menschen unrealistische Erwartungen an sich selbst (und andere) hegen, insbesondere was ihre eigenen Bedürfnisse betrifft.
Was passiert, wenn die Selbstliebe überhandnimmt und sich zu einer übertriebenen Ichbezogenheit entwickelt? Eine solche übersteigerte Form kann in einen Zustand der Selbstverliebtheit gipfeln, den wir heute gemeinhin als »Narzissmus« kennen. In seiner wissenschaftlichen Minimaldefinition wird Narzissmus mit überheblicher Selbstwichtigkeit gleichgesetzt (engl. entitled self-importance; Krizan & Herlache, 2018). Man hält sich demnach nicht nur für übermäßig wichtig, sondern drückt dies auch unmissverständlich aus.
Das Interesse an Narzissmus ist ungebrochen, das bestätigt auch eine Abfrage über das Online-Tool Google Trends(s. Abbildung 1). Im Verlauf der letzten 20 Jahre lässt sich eine kontinuierliche Zunahme der Suchanfragen zum Begriff »Narzissmus« aufzeigen.
Abb. 1:
Google Trends-Suche nach dem Thema »Narzissmus« von 2004 – heute in Deutschland
Man könnte meinen, dass Narzissmus inzwischen zu einer Art Modediagnose avanciert ist. Das Label »Narzisst« oder »Narzisstin« wird nahezu reflexhaft vergeben, sobald eine Person als übermäßig ichbezogen erlebt wird. Vor allem im Arbeitskontext gilt Narzissmus inzwischen als Sammelbegriff für allerlei als toxisch wahrgenommene Verhaltensweisen. Folgende Beispiele sollen das verdeutlichen:
eine Führungskraft, die selbst konstruktives Feedback als persönlichen Angriff gegen sich selbst wertet und daher nicht akzeptieren kann,
ein Teammitglied, das sich ständig mit seinen eigenen Erfolgen brüstet und die Leistungen anderer herunterspielt, oder
Kund:innen, die unrealistische Anforderungen an ein Produkt oder eine Dienstleistung stellen und eine Sonderbehandlung nach der anderen einfordern.
Die Popularität von Narzissmus in unserer Gesellschaft kommt nicht von ungefähr. In einer Welt, die von Selbstdarstellung und Selbstoptimierung geprägt ist, ist es wenig überraschend, dass sich immer mehr Menschen mit dem Selbst beschäftigen. In der psychologischen Fachliteratur ist daher oft von einer regelrechten Narzissmus-Epidemie die Rede (Twenge & Campbell, 2009) – auch wenn wir später erfahren werden, dass hier kein wirklicher Grund zur Sorge besteht (vgl. Kap. 1.7).
Immer mehr Menschen scheinen sich nur noch auf ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zu konzentrieren und sich selbst als besonders wichtig, bedeutend oder wertvoll zu empfinden. Zahlreiche Ratgeber, Coachings und Crashkurse versprechen daher, Menschen aus toxischen Beziehungen zu befreien – mit einfachen Tipps soll sich jede Person aus den Fängen der Macht lösen und die lästigen Energieräuber loswerden können. Doch ist es tatsächlich so einfach, wie es uns diese Angebote glauben machen wollen? Und inwiefern lassen sich diese Versprechungen überhaupt auf den Arbeitskontext übertragen?
Eine wachsende Anzahl von Kritiker:innen stellt mittlerweile genau diese Fragen. Sie monieren darüber hinaus, dass der Begriff »Narzissmus« zu inflationär, unpräzise und unreflektiert verwendet wird. Nach und nach scheint sich die Verwendung von Narzissmus zur Persönlichkeitsbeschreibung zu verselbstständigen und mittlerweile ist der Begriff aus unserem Alltagswortschatz nicht mehr wegzudenken. Jemand spricht viel über sich selbst und stellt sich regelmäßig in den Mittelpunkt? Wie narzisstisch! Oder aber Menschen, die ständig Lob und Anerkennung von anderen suchen …? Alles Narzisst:innen!
Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen Mythen, Vorurteilen und Scheinwahrheiten, die sich rund um das Thema Narzissmus ranken und unser alltagspsychologisches Verständnis prägen. Nachfolgend werden zehn sorgfältig recherchierte und für das weitere Verständnis des Buches relevante Mythen zu Narzissmus ausführlich dargestellt, kritisch geprüft und neu bewertet. Das Ziel der nachfolgenden Kapitel besteht darin, mit jedem dieser zehn Mythen aufzuräumen und damit aufzuzeigen, wie vielfältig, ambivalent und zugleich herausfordernd Narzissmus sein kann.
Aus den vorangestellten Ausführungen könnte man zugegebenermaßen schlussfolgern, dass Narzissmus nur ein Buzzword ist. Wieder nur eine Sau, die von gewieften Berater:innen durch das Managementdorf getrieben wird. Oder aber eine Möglichkeit, mit verzweifelten Mitarbeitenden von narzisstischen Führungskräften Geld zu verdienen. Doch ein kurzer Blick in die Zeitgeschichte zeigt auf: Narzissmus ist eines der ältesten psychologischen Konstrukte der Menschheitsgeschichte.
Der Ursprung des Begriffs Narzissmus geht auf den römischen Dichter Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) zurück und ist eng mit der griechisch-mythologischen Figur Narziss verbunden. Narziss war ein junger, attraktiver und begehrter Jäger, der von Frauen und Männern gleichermaßen umworben wurde. Doch anstatt sich ihnen hinzugeben, ignorierte er alle Avancen und wies seine Mitmenschen zurück. Einer der Zurückgewiesenen, der Jüngling Ameinias, verfluchte Narziss schließlich und wünschte ihm, die Qualen unerfüllter Liebe zu erleiden. Wenig später wurde dieser Wunsch erhört, sodass Narziss sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Diese Selbstliebe hatte wiederum tragische Folgen, denn als Narziss sein eigenes Spiegelbild an einer einsamen Wasserquelle erblickte, ertrank er bei dem verzweifelten Versuch, es zu erreichen.
Dieses mythologische Motiv wurde von Ovid in seinem Werk »Metamorphosen« festgehalten und ist inzwischen eines der bekanntesten Beispiele für narzisstisches Verhalten in der Geschichte. Es diente fortan als Inspiration für die spätere Entwicklung des Narzissmusbegriffs in der Psychologie und zeigt bereits ein zentrales Merkmal des Phänomens, nämlich wie sich die übermäßige Beschäftigung mit dem eigenen Selbst negativ auf die Beziehung zu anderen Menschen auswirken und in einer Katastrophe enden kann (Levy et al., 2011).
Der Mythos von Narziss wurde seither in Kunst, Literatur und psychologischen Theorien immer wieder aufgegriffen. Sigmund Freud (1856–1939), Begründer der Psychoanalyse, verwendet den Begriff »Narzissmus« schließlich, um die Beziehung zwischen dem Ich und der Triebenergie (Libido) zu beschreiben (Freud, 1914). Die Libido kann dabei als Grundtrieb verstanden werden, der unserer Selbsterhaltung und dem Lustgewinn dient. Freuds Grundannahme ist denkbar einfach: Jeder Mensch durchläuft im Rahmen seiner psychosexuellen Entwicklung eine narzisstische Phase. Genau genommen unterscheidet er zwischen dem primären und dem sekundären Narzissmus.
Der primäre Narzissmus entwickelt sich als ein normales Stadium der Selbstentwicklung, in dem der Mensch seine Libido ausschließlich auf sich selbst richtet. Kleinkinder sind beispielsweise sehr stark auf die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse fokussiert, wie etwa Hunger, Durst und Schlaf. In dieser Phase werden die Bedürfnisse der Erziehungspersonen vernachlässigt, da für das Kleinkind kein anderes Objekt existiert, außer es selbst. Im Verlauf seiner Entwicklung lernt der heranwachsende Mensch jedoch, seine Libido auf andere Objekte außerhalb des eigenen Selbst zu richten, wie zum Beispiel andere Bezugspersonen. In späteren Lebensphasen und Kontexten (z. B. Kindergarten, Schule, Arbeit etc.) nimmt der Mensch somit zunehmend auch fremde Bedürfnisse wahr und reagiert auf diese. Zum Glück!
Der sekundäre Narzissmus entwickelt sich als gestörter Übergang von der Selbstliebe zur Objektliebe. Dabei zieht der Mensch seine Libido vom äußeren Objekt ab und richtet sie wieder auf sich selbst. Diese Rückkehr zu einer früheren Phase – im Fachjargon »Regression« genannt – kann durch Selbstwertbedrohungen, wie Kränkungen oder seelische Verletzungen, ausgelöst werden. Obwohl frühe Kindheitserlebnisse durchaus prägend für die Persönlichkeitsentwicklung sind, wurde Freuds Theorie aufgrund ihrer deterministischen Haltung oft kritisiert (Westen, 1998). Denn Freud postulierte, dass die Entwicklung in den verschiedenen Stadien zwangsläufig wie vorgesehen ablaufe, was von Psycholog:innen nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Dennoch bleibt der Begriff »Narzissmus«, wenn auch inzwischen anders verstanden, ein wichtiger Bestandteil der psychologischen Literatur und Diskussion über menschliches Verhalten und Persönlichkeitsentwicklung.
Doch wie wird heute, nach über 100 Jahren Freudscher Psychoanalyse, Narzissmus definiert? Nach aktueller psychologischer Auffassung lässt sich Narzissmus durch eine übersteigerte Selbsteinschätzung, Empathiemangel und arrogante, dominante sowie charmante Verhaltensweisen charakterisieren (Morf & Rhodewalt, 2001). Aus dieser Kurzdefinition lassen sich drei zentrale Komponenten identifizieren, die Narzissmus im Kern ausmachen (Campbell & Green, 2008; s. Abbildung 2):
Das Selbst,
die Beziehung des Selbst zu anderen und
eine Vielzahl an sog. selbstregulatorischen Strategien. Diese Strategien dienen dazu, das grandiose Selbstbild aufrechtzuerhalten bzw. vor potenziellen Kränkungen zu schützen.
Abb. 2:
Die drei Komponenten von Narzissmus (in Anlehnung an Campbell & Green, 2008)
Vereinfacht gesagt handelt es sich bei Narzissmus um ein Defizit in der Selbst(wert-)regulation. Die erste Komponente, das narzisstische Selbst, ist gekennzeichnet durch die Annahme, besonders, einzigartig und/oder besser als der Durchschnittsmensch zu sein. Das narzisstische Selbst äußert sich beispielsweise in Anspruchsdenken (z. B. »Eine Organisation sollte dankbar sein, mich als Mitarbeiter:in zu haben!«) oder Überlegenheitsgefühlen (z. B. »Ich bin an Kompetenz nicht zu übertreffen!«).
Die zweite Komponente, die Beziehung des Selbst zu anderen, ist gekennzeichnet durch ein geringes Maß an Mitgefühl und Nähe. Narzisstische Beziehungen sind oftmals eher oberflächlich, volatil und vornehmlich auf die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der narzisstischen Person ausgerichtet (z. B. »Ich brauche dich nicht, aber du brauchst mich!«). Das Gegenüber dient häufig nur als Projektionsfläche der eigenen idealisierten Vorstellungen, eine echte Empathie im Sinne von »Mitfühlen« für die Person hingegen fehlt.2 Oft werden politische Taktiken eingesetzt, um andere für sich und die eigene Position zu gewinnen (z. B. indem »nützliche« Kontakte mit anderen geknüpft werden; O’Reilly & Pfeffer, 2021).
Die letzte Komponente, selbstregulatorische Strategien, bezieht sich auf die eingesetzten Mittel von narzisstischen Personen, um das grandiose Selbstbild zu wahren. Denn wer davon ausgeht, etwas Besonderes zu sein, entwickelt eine Vielzahl von Behelfsmechanismen im Alltag, um die übermäßig positive Selbstbewertung vor möglichen Angriffen auf das Ego zu schützen. Das kann beispielsweise durch die Beschäftigung mit Fantasien von grenzenlosem Erfolg, die Suche nach übermäßiger Bewunderung oder die Abwertung anderer geschehen (z. B. »Ich stehe über den Regeln. Meine Meinung ist das Einzige, was zählt!«).
Narzisst:innen können durch persönliche Rückschläge auch vom Underdog zum Champion werden. Eine Studie konnte beispielsweise zeigen, dass narzisstische Menschen auf eine Selbstwertbedrohung mit einer Leistungssteigerung (anstatt mit einer Abwertung) reagieren (Nevicka et al., 2016). Die Selbstwertbedrohung bestand in diesem Fall darin, dass die Teilnehmenden negatives Feedback erhielten. Anschließend wurden sie gebeten, eine herausfordernde Aufgabe zu lösen. Die Ergebnisse zeigten, dass narzisstische Personen nach einer Selbstwertbedrohung eher bereit waren, Aufgaben zu lösen, bei denen sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen und damit glänzen konnten. Kritik kann sie somit ebenfalls zu Mehranstrengung motivieren.
Fakt
Narzissmus ist keineswegs ein Hype, sondern hat eine lange Geschichte in unserer Menschheitsentwicklung, von der griechischen Mythologie über Freud bis hin zur modernen Psychologie.
2 Die kognitive Empathie im Sinne von »Wissen, was das Gegenüber fühlt« ist bei Narzissmus hingegen häufig durchschnittlich ausgeprägt.
Wir alle haben ein alltagspsychologisches Verständnis von Narzissmus. Wenn wir jemanden als »narzisstisch« beschreiben, diagnostizieren wir für gewöhnlich jedoch keine psychische Störung, sondern nutzen diesen Begriff zur Persönlichkeitsbeschreibung bzw. zur Unterscheidung von Personen untereinander. Während sich eine Person beispielsweise als sehr selbstbewusst innerhalb eines Meetings oder beim Zusammensitzen in der Pause präsentiert, tritt die andere eher bescheiden und fast schon unscheinbar auf.
In der akademischen Psychologie gilt Narzissmus zunächst als eine Eigenschaft, die unterschiedliche Facetten der Persönlichkeit gesunder (d. h. klinisch unauffälliger) Menschen umfasst. Diese Eigenschaft ist in der Bevölkerung genauso wie Körpergröße, Gewicht oder Intelligenz graduell verteilt. Das bedeutet, dass die meisten Menschen einen durchschnittlichen Narzissmus aufweisen, während nur wenige Menschen einen sehr niedrigen oder sehr hohen Narzissmus zeigen. Mit anderen Worten: Ein durchschnittliches Maß an Narzissmus gilt als »normal«, wobei die Verwendung des Begriffs »normal« an sich mit Vorsicht zu genießen ist. Wenn wir von »normalem« Narzissmus sprechen, beziehen wir uns auf einen Durchschnittswert im Sinne der sog. Normalverteilung, in der Narzissmus auf einem Kontinuum von geringer bis hoher Ausprägung variiert.
Was bedeutet das nun in Zahlen ausgedrückt? Wenn wir die Verteilung von Narzissmus in der Bevölkerung grafisch darstellen, entsteht eine Gaußsche Glockenkurve (s. Abbildung 3).
Abb. 3:
Idealtypische Häufigkeitsverteilung von Narzissmus in der Bevölkerung
Die in Abbildung 3 dargestellte Kurve verdeutlicht, dass die Mehrheit der Menschen eine durchschnittliche Ausprägung an Narzissmus aufweist, während extrem niedrige oder extrem hohe Ausprägungen seltener vorkommen.
Zu erkennen ist, dass etwa 68 % der Menschen in der Nähe des Durchschnitts liegen (Mitte), während rund 14 % sehr hohe Werte und weitere rund 14 % sehr niedrige Werte aufweisen (jeweils links und rechts von der Mitte). An den beiden Endpunkten der Verteilung befinden sich mit jeweils etwa 2 % schließlich noch die extrem narzisstischen bzw. nicht-narzisstischen Personen (ganz links bzw. rechts). Daraus folgt, dass ein Großteil von uns zumindest durchschnittlich narzisstische Anteile in sich trägt. Bei einer aktuellen Bevölkerungszahl von etwa 84 Millionen Menschen in Deutschland wären das immerhin rund 57 Millionen Menschen.
Von Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft ist, wie bereits oben kurz erwähnt, Narzissmus als Persönlichkeitsstörung abzugrenzen. Die NPS ist durch ein anhaltendes Muster von Grandiosität, Bewunderung und mangelnder Empathie gekennzeichnet. Das Besondere an Personen mit einer NPS ist, dass sie bei Vorliegen bestimmter persönlicher Eigenschaften (z. B. Attraktivität, Intelligenz, sozioökonomischer Status) lange Zeit ihre Schattenseiten kompensieren und dadurch »unentdeckt« bleiben können (Vater et al., 2013). Das verdeutlicht einmal mehr, dass ein Mensch nie »nur narzisstisch« ist, sondern in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit wahrgenommen werden muss.
Der wesentliche Unterschied zwischen einer NPS und Narzissmus als Eigenschaft ist folgender: In der Psychologie wird Narzissmus als Kontinuum betrachtet, auf dem Menschen sich von wenig narzisstisch bis hoch narzisstisch einordnen lassen (vgl. Abbildung 3). In der Psychopathologie hingegen werden Menschen entsprechend des Erfüllungsgrades bestimmter Diagnosekriterien als »Narzisst:in« klassifiziert (oder eben nicht). Die Grenzen zwischen normalem Narzissmus und einer NPS sind dabei fließend (Vater et al., 2013).
Im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition), dem offiziellen internationalen Klassifikationssystem für psychische Störungen der APA (2013, S. 669 f.), müssen mindestens fünf von neun Kriterien erfüllt sein, um die Diagnose einer NPS stellen zu können (Zimmerman, 2023).
Diagnosekriterien für die NPS
Das übertriebene, unbegründete Gefühl wichtig und talentiert zu sein (Grandiosität)
Die dauernde Beschäftigung mit Fantasien von unbegrenztem Erfolg, Einfluss, Macht, Intelligenz, Schönheit oder perfekter Liebe
Der Glaube, speziell und einzigartig zu sein und sich nur mit Menschen auf höchstem Niveau einzulassen
Der Wunsch, bedingungslos bewundert zu werden
Ein Gefühl des Anspruchs
Ausnutzung anderer, um die eigenen Ziele zu erreichen
Ein Mangel an Empathie (im Sinne von Mitgefühl)
Neid auf andere und der Glaube, dass andere einen beneiden
Überheblichkeit und Arroganz
Im ICD-11 (International Classification of Diseases, 11. Überarbeitung), dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist die NPS hingegen nicht als eigenständige Diagnose aufgeführt, sondern stellt lediglich eine spezifische Variante von Persönlichkeitsstörungen dar. Diese ist durch anhaltende Beeinträchtigungen in der Selbstfunktion (z. B. schwankender Selbstwert) und der interpersonellen Funktion gekennzeichnet (z. B. Rücksichtslosigkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer; Renneberg & Herpertz, 2021).
Je nach Schweregrad der Persönlichkeitsstörung kann der extreme Selbstbezug zu Schwierigkeiten beim Aufbau enger und für beide Seiten befriedigender Beziehungen führen. Aus diesem Grund ist es für Personen mit stark narzisstischen Tendenzen sehr schwierig, tragfähige Arbeitsbeziehungen oder eine langfristige Kooperation aufrechtzuerhalten (Bach et al., 2022).
Entgegen populärwissenschaftlicher Meinungen, die NPS sei seit 2022 aus dem Diagnosesystem der WHO gestrichen oder abgeschafft worden, ist festzuhalten: Die WHO hat die NPS nie als eigenständiges Krankheitsbild im ICD aufgeführt. Darüber hinaus ist die NPS im Gegensatz zu Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft »in der freien Wildbahn« wesentlich seltener vorzufinden. Die Prävalenz, also die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung, beträgt je nach Studie etwa 0 % – 6.2 % (Dawood et al., 2020).
Für die angemessene Therapie von Personen mit klinisch auffälligem Narzissmus mag dieser Umstand eine sehr hohe Relevanz besitzen. Schließlich gilt es, Betroffenen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen. Für Menschen, die unter den Folgen narzisstischer Personen leiden (müssen), ist das verwendete Diagnosesystem hingegen unerheblich. Statt Menschen als narzisstisch oder nicht-narzisstisch zu klassifizieren und Narzissmus als Pathologie zu sehen, sollten wir uns vielmehr auf Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft fokussieren. Denn narzisstisch geprägte Personen begegnen uns im Alltag wesentlich häufiger als wir annehmen. Wenn im Folgenden daher von Narzissmus oder narzisstischen Personen die Rede ist, ist stets die Persönlichkeitseigenschaft gemeint.
Fakt
Narzissmus ist nicht zwangsläufig pathologisch, sondern zunächst einmal eine Facette der Persönlichkeit. Jeder Mensch trägt narzisstische Anteile in sich, die bei einigen stärker und bei anderen schwächer ausgeprägt sind.