1942 bis 2007 Glück und Einfalt - Rolf Dieter Kaufmann - E-Book

1942 bis 2007 Glück und Einfalt E-Book

Rolf Dieter Kaufmann

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Beschreibung

1942 bis 2007 Glück und Einfalt Autobiografie, die politische, gesellschaftliche und persönliche Ereignisse von 1942 bis 2007 einschließt. "Die Autobiografie ist Verweilen und Nuancen mithören bei Weggefährten, ist Begegnung bei behutsamen Gesprächen, bei anteilnehmender Begleitung, ist Mitteilungskultur mit dramatischer Entlarvung, ist strammes Gehen, Entfernungen überwinden, Nähe suchen." Jacobo Umberto Troni, Rom "Grandios, das Bild des Gentiluomo Puntello, ein Portrait, wie ein Denkmal aus bewegter Zeit." Herwig Burgeff "Was ich lesen durfte, ist ein wirklich spannendes Buch, eine äußerst markante, eindrucksvolle und reichhaltige Biographie." Prof. Dr. Norbert Huppertz "Ich war wie erschlagen von der farbigen und humanen Vita, die Rudolf im eigentlichen Sinn des Wortes erlebt hat". Prof. Dr. Walter Hoeres "Höchst ungewöhnlich, informativ, facettenreich. An ein paar Stellen läuft es einem kalt über den Rücken." Prof. Dr. Hans Maier

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Rolf Dieter Kaufmann

1942 bis 2007Glück und EinfaltAus Tagebüchern und Aufzeichnung

Autobiografie

Für Lara, Rebecca, Silke, Jörg und Eric

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und für die öffentliche Zugänglichmachung.

Verlag & Druck: Tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

© 2019 Rolf Dieter Kaufmann

ISBN 978-3-7482-7015-7 (Paperback)

ISBN 978-3-7482-7016-4 (Hardcover)

ISBN 978-3-7482-7017-1 (e-Book)

1942 bis 2007Glück und EinfaltAus Tagebüchern und Aufzeichnung

Autobiografie

Wo ist der Daumen? Da ist er! Ein paar Tage nach der Geburt des Rudolf testet Frau Felicia Basler, die alte Dame vom Vorderhaus, mit honoriger Stimme erstmals Rudolfs Intelligenz: „Wo ist der Daumen? Da ist er!“2 Alle Achtung! Die Geburt ereignete sich bei Schneetreiben. Großmutter, von allen Bóbel geheißen, hält in ihrem Tagebuch fest: „Der stark fallende, der erste Schnee. Der Schnee fällt und fällt. Ein Rudolf ist uns geboren!“

Im Tausendjährigen Reich. Heimatlos in Sète, Frankreich (1942). Inmitten des Tausendjährigen Reiches verlässt der neu geborene Rudolf mit Vater, Mutter und Großmutter als Säugling zunächst Hitlerdeutschland, um im Dachgeschoss eines Hinterhauses mit Eisentreppe, im Vichy-Frankreich, in Sète, in einer Stadt in Südfrankreich, versteckt zu werden. Aus gutem Grund.

In einer Stadt am Meer. In den von Hitler-Deutschland nicht besetzten Gebieten Frankreichs bleibt die Souveränität der französischen Nation nach dem Waffenstillstand vom Juni 1940 zunächst erhalten. Wegen Misstrauens des deutschen Führungsstabs gegenüber der französischen Regierung unter Marschall Petain informiert Hitler Ende 1940 seinen Oberbefehlshaber West dahingehend, sich für die Besetzung des restlichen Frankreichs bereit zu halten, um die Macht über ganz Frankreich ergreifen zu können. Am 7. November 1942 landen amerikanische und britische Truppen in Algerien und Marokko. In Folge marschiert die deutsche Wehrmacht am 11.11.1942 in den bis dahin unbesetzten Teil Frankreichs ein.

Vom Dachgeschoss in den Keller. Die Familie taucht mit Rudolf Mitte Oktober 1942 in Südfrankreich unter. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wächst die Angst in der Familie, entdeckt oder verraten zu werden.

Bóbel vergisst Rudolf. Aus Aufzeichnungen der Großmutter Bóbel: „Bei einer Razzia deutscher SS in Sète verlassen wir überhastet über die Hintertreppe die geheime Unterkunft im Dachgeschoss, um uns im Keller des Vorderhauses zu verstecken. Ich vergesse Rudolf. Mit hart klopfendem Herzen eile ich über die Eisentreppe in die oberen Stockwerke und in das Dachgeschoss des Hinterhauses zurück, um das Kind zu holen. Als allein gelassenes, schreiendes Bündel hätte Rudolf die Deutschen wahrscheinlich interessiert.“

Heimat Eichstetten (1945). Im befreiten Deutschland. Eichstätten, ein Dorf im Kaiserstuhl. Nach der Kapitulation von Hitler-Deutschland, am 8. Mai 1945, kehrt die Familie nach Deutschland zurück. Rudolfs Geburtsstadt Freiburg ist ein Trümmerhaufen, so dass die Familie sich entschließt, ein kleines Haus in Eichstetten am Kaiserstuhl zu beziehen.

Erinnerungen an Eichstätten im Kaiserstuhl. Eichstetten, im Mai ein Meer von Kirschblüten. Tief in die Landschaft hineinführende Hohlwege. Ein lichtes Haus mit großem Garten, durch den ein kleiner Bach fließt, in dem angriffslustige Schwäne dem kleinen Rudolf Angst einjagen.

Badeluxus. Rudolfs Vater Oskar baut im Garten aus alten Ölfässern einen Warmwasserspeicher auf Stelzen, ein Monstrum, das Badewasser in das Haus liefern soll. Einmal wöchentlich dürfen alle Familienmitglieder, nachdem ein Holzfeuer unter den Fässern ausgeflackert ist, in angenehm warmem Wasser mit duftender Kernseife aus Frankreich baden.

Im Badischen. Rudolfs Vater hält sich bei den Franzosen als Musiker über Wasser. Außerdem hilft der Familie das Hamstern, die Betteltouren von Rudolfs Mutter Elsa. Den Bauern geht es in Eichstetten gut. Viele sind jedoch abweisend gegenüber Städtern - und schon gar der zugezogenen Familie gegenüber, von der man nicht weiß, woher sie eigentlich kommt. Den Kindern der Bauern fallen allerlei grobe Streiche ein, um Rudolf zu ängstigen. Ein Rennwagen, der von Vater Oskar für Rudolf aus Fahrrad- und Kinderwagenteilen zusammengebastelt worden ist, findet sich eines Tages mutwillig zerstört in einer Schlucht.

Im Grenzgebiet zu Frankreich. Nach Kriegsende bekommt Rudolf ohne deutsche Staatsbürgerschaft im Grenzgebiet zu Frankreich annähernd eine deutsch-französische Erziehung. Die Familie erfährt eine karge, entbehrungsreiche Zeit mit Kartoffelkrusten, Brotresten und abfälligen Bemerkungen von Bauern3.

Mutmacher. Vater hilft der Familie mit seiner Mundharmonika4 über die Zeit der Entbehrungen. So wächst Rudolf aus dem Lätzchen heraus5. Das kleine Dorf im Löss ist der richtige Ort für einen Neuanfang. Rudolfs Vater Oskar hatte wohl viele Gründe, weshalb er mit der Familie sich nach Kriegsende gerade hier ansiedelte. Überhaupt hat er das Familienschiffchen von 1939 bis 1945 gut durch die stürmische, politische See navigiert. Vielleicht kam er deshalb so gut zurecht, weil er sich nur auf sich selber verlassen hat. Er erhoffte sich keine Hilfe durch jemanden anderen oder von Gott.

In einer gottlosen Zeit. Jahre später, 1967, nachdem Rudolf in München ein Studium abgeschlossen hatte und stolz war, Vater das berichten zu können, äußerte sich Oskar zu Schicksal, Gott und Welt wie folgt. Tagebucheintrag: „Von Anbeginn an vom Leben gebeutelt und zum Sterben geboren, haben die Menschen folgende großartige Erfindung gemacht: Sie haben Glaube, Götter und den einen Gott sowie Religionen, das ewige Leben und die Erbsünde erfunden. Seitdem ersetzen Götter andere Götter, kämpfen Götter gegen Götter, setzen Götter andere Götter ab. Und der eine Gott, der anscheinend mehr kann als alle anderen, besiegt alle Götter von vorher. Gab es doch Götter, die fehlbar und solche, die unfehlbar waren. Der eine und einzige Gott ist unfehlbar, weil er keine anderen Götter neben sich duldet. Damit ist das Problem mit den sterblichen Göttern ein-für-alle-Mal aus der Welt geschafft. Religionen löschen jedoch weiterhin Religionen aus und produzieren neue. Solange es viele Götter gab, gab es Sieger und Verlierer. Seit es nur einen Gott gibt, gibt es nur einen Sieger. Die Götter Odin und Tor und wie sie alle heißen, sind für immer besiegt. Da Religion in das sehr begrenzte Denken der Menschen verflochten ist, bleibt ihre Struktur so beschaffen, andere Religionen zu besiegen. Der Gott der Barmherzigkeit besiegt den Gott der Rache. Dennoch ändert sich nichts in der Welt. Der Mensch läuft gegen die Zeit, um zu überleben. Inzwischen meint der Mensch zu wissen, was im Jenseits passiert. Gott und Leben nach dem Tode sind Hoffnung gebende, großartige Erfindungen des Menschen, schon deshalb, weil sie dem Menschen ein differenziertes Instrumentarium bieten, das Leben erträglicher zu gestalten. Wer anders als der Mensch selbst könnte das ewige Leben versprechen? Der Sieg über den Tod ist das zentrale, alles entscheidende Thema. Wer will schon sterben? Die einfachste Art zu leben, ist die, leben, wie Gott es will. Aber was ist umsonst? Etwa das ewige Leben? Wie viele Menschen sind schon auf Eseln in Jerusalem eingeritten, um aus der Welt ein Tollhaus zu machen. Israel, gelobtes Land? Erlösung? Das mit der Erlösung ist doch simpel: Jeder Mensch weiß, er muss sterben. Keiner will. Also muss jemand kommen, der von sich behauptet, er habe einen heißen Draht in die Ewigkeit. „Wenn ihr an mich glaubt, habt ihr das ewige Leben.“ Nicht umsonst natürlich. Dafür müsst ihr schon etwas tun. Gott lebt vom Beifall der Menschen und von der unio mystica6. In Folge der Erfindungen von Gottheiten, von den Disziplinen Gott und Teufel, Gut und Böse, Himmel und Hölle, entstand ein reger Handel mit geistlichen Dingen wie Sakramenten, Weihen, Segnungen, Ablässen und Reliquien, Teufelsaustreibungen, mit kirchlichen Würden und Ämtern und der Inquisition. Es gab in der Menschheitsgeschichte immer schon Wallfahrer, Händler, Markthalter und Marktschreier, Nehmer und Geber, Feilscher und Fälscher, Übervorteiler, Lobende und Strafende, Rachsüchtige im Namen der Gottheiten und im Dienst der Religionen.“

Fittiche. So belehrte Oskar später, im Jahre 1967, seinen Sohn Rudolf also. Bóbel, Rudolfs Großmutter, hätte zu Oskars Ausführungen geantwortet: „Oskar, bei mir hast du's samt und sonders verschissen!“7 und zu Rudolf: „Die Abfahrt weiß man, aber nicht die Ankunft.“ Nicht weil Bóbel ein bigotter Mensch gewesen wäre, sondern weil sie in ihrem Bemühen um eine gute Erziehung der Hoffnung und dem Pragmatismus in den Religionen, den Weisungen, die sie für durchaus vernünftig und lebensnah gehalten hat, den Vorrang vor den Zweifeln im Glauben gab.

In der Welt. Bóbel: „Entweder der Mensch wird schwach, oder Gott wird es. Der Mensch spätestens dann, wenn er am Sterben liegt. Bis dahin gilt das Prinzip Hoffnung.“ Auch auf dieser Welt kann man Paradies und Hölle haben. Bóbel zu Rudolf: „Rudolf, das ist doch gar nicht so falsch, wenn zum Beispiel in der Bibel, bei den Sprüchen 15. Kapitel steht: Friedfertige Antwort wendet ab den Zorn, kriegerisches Wort jedoch erregt den Grimm.“ Rudolf damals zu Vater Oskar: „In meinen schlimmsten Nöten habe ich gebetet. Wir haben doch gar keine andere Wahl, als um Erlösung zu bitten. Sage mir jetzt nicht, es gäbe Menschen ohne Not, Vater. Soll ich diejenigen vergessen, die meinen Rücken gestärkt, mir Orientierung und eine geistige Heimat gegeben haben und für andere und sich einen Glauben lebten?“

In Buchenwäldern. Die schönsten Kindheitserinnerungen für Rudolf in Eichstetten 1945 ff.: Am Kaiserstuhl die sonntäglichen Wanderungen mit der Familie auf den Eichelspitz und auf den Totenkopf, durch die mit Buchenwäldern bewachsenen Hohlwege, in denen es so genannte Lösskindchen, groteske, die kindliche Fantasie anregende Gestalten im Löss des vulkanischen Bodens gab und wo es hinter Buchenblättern und gelb schimmerndem Sonnenlicht versteckt fliegende Feen geben soll.

Es lohnt sich nicht. Im Herbst 1948 zurück gesiedelt nach Freiburg, beginnt Rudolf seine schulische Laufbahn in der Grundschule. In dieser und in weiteren Schulen sitzt er auf harten, hölzernen Schulbänken die Schulzeit aus. Zur damaligen Zeit mischten sich Eltern wegen der aus der nationalsozialistischen Vergangenheit tief im Herzen jedes Einzelnen sitzenden Obrigkeitshörigkeit nicht in schulische Belange und Verhaltensweisen von Lehrkräften ein. „Es lohnt sich nicht!“8 hörte man oft von Eltern sagen. Bóbel: „Das entsetzliche Ende des Krieges zog sich noch durch die Schulräume und die Köpfe der Lehrkräfte.“

Deutschland baut fieberhaft auf. Vor Einschulung des Rudolf in die Volksschule entschließt sich die Familie, das Dorf am Kaiserstuhl zu verlassen und in das Haus in der nahe gelegenen Großstadt Freiburg zurück zu kehren. Rudolf ist anders gekleidet als die anderen Kinder. Das bringt ihm Spott ein. Rudolf isst anders als andere Kinder. Das hat sich erst durch die Schulspeisung egalisiert. Rudolf hat immer Schokolade, weil sein Vater bei den Franzosen arbeitet. Das schafft nach und nach Freunde. Die frühe Schulzeit bleibt als Geisterbahn in Erinnerung9. Es wird bei jeder Gelegenheit seitens der Lehrkräfte gedroht, verängstigt und geprügelt. Es gibt praktisch keine Lehrerinnen, nur Lehrer. Die Lehrer sind im Schnellkurs umgeschulte, ehemalige Offiziere, die Glück hatten, nicht in Gefangenschaft geraten zu sein. Arten der Prügelstrafe: 1. Prügeln der ganzen Klasse, wenn nicht eindeutig erkennbar ist, welcher Schüler Anlass zur Bestrafung gibt. 2. Tatzen mit dem Rohrstock, bis zu 20 Schläge und wenn der Lehrer ausrastet, unzählige darüber hinaus. 3. In ganz extremen Fällen wird der Hintern von den Hosen frei gelegt und es kracht Schläge mit Folge von Striemen bis geht nicht mehr.10

Lehrer und Schrebergärtner. Rudolf ist vergleichsweise ein ruhiges und zurückhaltendes Kind, weshalb er nicht allzu oft die Straforgien erleiden muss. Aber er leidet immer mit den anderen Kameraden mit. Das soll für den Rest seines Lebens sein Problem bleiben: Leiden wegen des Leides der Anderen. Wie gesagt, die meisten Lehrer sind umgeschulte, ehemalige Offiziere. Der Geist des Dritten Reiches ist allgegenwärtig.

Prahlen zu Kriegshandlungen. Lehrkräfte prahlen im Unterricht mit Heldentaten zu Kriegshandlungen. An einen Lehrer erinnert sich Rudolf besonders: An einen bösartigen, immer neue Strafen erfindenden, dumpf dreinschauenden Klassenlehrer und Schrebergärtner, der beseelt war von den Erziehungstheorien des Heilkundlers und Hobbygärtners Dr. Daniel Gottlieb Schreber (*1808, +1861). Dr. Daniel Gottlieb Schreber, wegen seiner ungewöhnlichen Ansichten über preußische Erziehung und Bildung von einigen seiner Zeit verehrt, von anderen für verrückt erklärt - soll für seine Schrebergarten-Pädagogik seine eigenen Kinder in den Wahnsinn getrieben haben. Dieser, dem Gottlieb Schreber nacheifernder Lehrer, erzählte von einem militärischen Vorgesetzten, einem Offizier, der ihm ein Vorbild und „toller Hecht“ gewesen sei. Der Offizier habe auf hundert Meter mit der Pistole zielgenau einen zum Fliehen aufgeforderten Partisan in den Nacken treffen und niederstrecken können. Und das immer wieder mal. Er berichtete das mit Bewunderung für diesen Könner.

Offizier Zack-Zack. Nur eine einzige Lehrkraft der Grundschule bleibt Rudolf in sehr guter Erinnerung; auch ein Offizier, der das Zack-Zack in der Klasse drauf hatte, jedoch von menschlicher Wärme geführt war und sich um jeden Schüler persönlich und herzlich bemühte: Zu diesem ging man gerne in die Schule.

Franzosen. Rudolf erinnert sich an vor der Schule vorbei ratternde Panzerkolonnen der Siegermächte, an im Tiefflug über die Stadt donnernde Flugzeuge der Franzosen und an Androhungen der Großmutter, der Schwarze Mann fange Kinder ein, die sich nach Dunkelwerden verspäteten bzw. noch nicht zuhause seien. Rudolfs Großmutter führt für die Kinder den Schwarzen Mann als Erziehungsmaßnahme ins pädagogische Feld.

Gaslaternen in der Nägeleseestraße. Kinder sollten nachhause kommen, bevor die Gaslaternen in der Nägeleseestraße von einem Laternenanzünder mit einem langen Stab angezündet werden. Nach und nach lernt Rudolf weitere abschreckende Gestalten kennen. So beispielsweise Struwwelpeter, Suppenkasper, Hans im Glück, Hans guck in die Luft, den bösen Friedrich, Paulinchen und den Zappelphilipp.

Geistliche Zucht. Religionslehrer verbieten den Kindern das laute, herzhafte Lachen. Es bringe Unglück, da der Teufel auf laut Lachende aufmerksam werde. Häufig gibt es von der Geistlichkeit für das Lachen schlagkräftige Ohrfeigen. Rudolfs Freund Walter leidet sehr unter den willkürlichen Schlägen der Lehrkräfte, insbesondere denen eines Religionslehrers, der extrem sadistische Züge aufweist. Gerade er, Walter, wächst in einem verklärt katholischen Umfeld auf, versäumt keine sonntägliche Messe in der Kirche Maria Hilf, die er regelmäßig und gestriegelt im Sonntagsanzug besuchen muss. Ihn treffen die Strafaktionen am heftigsten, so dass die ganze Klasse sich oft fragen muss, warum gerade er, der Brave?

Beim ersten zarten Kuss. In den 50er Jahren. 1956 und weiter: Begegnung mit Katholiken. Beim ersten zarten Kuss in Walters Leben, den dieser im Mai 1959 (verliebt in die schöne Walburga aus der Bürgerwehrstraße), bei Verabschiedung vor der Haustüre bekommt, fällt Walter vor Aufregung und wegen Schuldgefühlen in langanhaltende Ohnmacht. Walter muss mit einem Krankenwagen in die Universitätsklinik gebracht werden. Du darfst keine sexuellen Gedanken haben. Du darfst nicht onanieren. Du darfst überhaupt nicht daran denken, dass du ein Bub bist! Erregung ist des Teufels. Der religiöse Dualismus des Mittelalters ist in der katholischen Kirche und in den verletzlichen Seelen der Jugend allgegenwärtig. Jahre später erfährt Rudolf, sein Freund Walter habe den Weg in die Psychiatrie genommen, als Patient, dann, Walter habe sich das Leben genommen. Heilige hatten es schwer in jener Zeit, und das gilt auch heute noch. Zwischen Walters Erziehung, seinem Umfeld und dem wirklichen Leben waren die Gegensätze vermutlich einfach zu groß geraten. Wer im damals katholischen Sinne gut war, wurde häufiger bestraft, damit er noch besser werde. Wer ein Teufel war, der lebte unbehelligter.

Christen. Deutschland im Jahr 1950. Leben in einer Großstadt. Ab dem achten Lebensjahr findet der nicht christliche erzogene Rudolf Halt in der Katholischen Jungschar. Seine Familie ist, was die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft angeht, (ausgenommen Großmutter), zeitlebens in einer Identitätskrise. Doch im Grunde ist sie deutsch-assimiliert. Rudolfs Mutter verzieht das Gesicht, nachdem sie von der Umtriebigkeit ihres Buben im Katholizismus erfahren hat. „Bist du verrückt? Katholisch werden? Ich hau' dir eine runter.“

Man lebt nun einmal im christlichen Lager. „Reg' dich nicht auf, Mutter!“11. Die tolerante und pragmatische Bóbel vertritt die Meinung, man lebe nun mal in einem christlichen Lager. Da könne man den Kindern christliche Religion nicht abspenstig machen. Sie stellt Rudolf frei, welchen Religionsunterricht in der Schule er besuchen will. Bóbels Gatte, Rudolfs Großvater, war freiwillig evangelisch geworden. Er starb 1946 an einer anfangs harmlos erscheinenden Blutvergiftung. Nach dem Krieg war kein Penizillin für ihn aufzutreiben, oder nur gegen horrende Summen, bis hin zur Übereignung von Immobilien. Es war die Zeit skrupelloser Ärzte.

Pfarrer Hausch. Zwischen dem feinsinnigen Stadtpfarrer Hausch und Rudolf gibt es ein streng gehütetes Geheimnis: Rudolf darf gelegentlich, wenn es mit Ministranten-Diensten eng wird, in der Kirche der Stadtpfarrei Maria Hilf als Ministrant dienen. Die Kommunion bleibt ihm dabei versagt. Die goldene Monstranz, Weihrauch und Myrrhe wirken stimulierend auf Rudolf. Lateinische Texte beherrscht er fließend. Besonders eine Passage wirkt wie Zuckerwatte vom Jahrmarkt im Herbst auf seiner Zunge12: Judica me, Deus, schaff Recht mir, Gott. Zuckerwatte war in den Nachkriegsjahren beliebt bei Kindern und eine Rarität. Da es an allem fehlte, ermahnten die Eltern ihre Kinder nicht, wegen gesundheitlicher Schäden auf Süßigkeiten zu verzichten.

Genießen der Reste. Es ist die Zeit des Genießens der Reste13 und dessen, was der Schwarzhandel hergibt. Selbst der verbleibende Rest einer Zigarre, das Stümpchen14, wird verwertet. Pfarrer Hausch ist nicht Missionar und nicht Lehrmeister. Für den bescheidenen, zurückgezogen lebenden Geistlichen ist Rudolf von 1950 bis 1959 Chefsache. Das Katholische in seiner Fürsorge vermittelt er Rudolf, indem er ihn an den von ihm hoch geschätzten Rainer Maria Rilke heranführt. Den Einsatz als Aushilfsministrant, vor allem bei den Frühmessen, nimmt Rudolf sehr ernst. Und Pfarrer Hausch belohnt sein Engagement gelegentlich mit einer Dose gesalzener Butter der im Pfarrhauskeller gelagerten Bestände von Care-Paketen aus den spendablen USA. Die Zugehörigkeit zur Jungschar tut gut und bietet ein ansehnliches Rüstzeug für das spätere Leben in der Nachkriegsgesellschaft. Fragen von Gleichaltrigen bleiben natürlich nicht aus. „Warum gehst du nicht zum Kommunionsunterricht? Du gehst ja nicht einmal zur Kommunion?“ Diese acht- bis zwölfjährigen Buben suchen Vorbilder. Sie finden sie in den um einige Jahre älteren Jungscharführern.

Hans Maier. Da ist einer, der wegen seines ausgeprägten Familiensinns, seiner musikalischen Begabung und seines kirchlichen Engagements von den Jungschärlern geschätzt und von heranwachsenden Burschen beneidet wird: Hans Maier. Er werde, so sagt man, sicher einmal Karriere machen, vielleicht als Geistlicher, vielleicht als Musiker, vielleicht als Jurist. Der um neun Jahre ältere Jungscharführer Maier wird von Rudolf heimlich bewundert. Dazu trägt Pfarrer Hausch bei. Rudolfs Lieblingstante heißt Frieda. Mit ihren Kindern und einem in den Kriegswirren nach Deutschland versprengten Weißrussen als Gatten, wohnt sie in der Innenstadt. Sie ist wegen ihres Mannes in die katholische Kirche konvertiert. Sie berichtet manchmal: „Heute, Sonntag, hat der Maier im Dom auf der Orgel gespielt!“15 Für den heute in München lebenden Professor ist diese Zeit wahrscheinlich eine kurze, kaum noch verfügbare Episode. Für den kleinen Rudolf nicht. Bei Gruppenstunden quirlig, im Zeltlager Abenteuer suchend, an den Lagerfeuern neugierig und oftmals ängstlich, bei Nachtwanderungen eng aufschließend und überall Geister sehend, ist Rudolf offen für alles Neue. Bóbel, die diese Erfahrungen ihres Enkels mit Interesse verfolgt, zu Rudolf: „Schicke deine Ohren und deine Augen in die ganze Welt!“

Die schönen Weiber von „Mutter Eva“16 in der Zasiusstraße (1950). Bóbels sonntäglicher Freundschaftskreis, ein Kaffeekränzchen, beeinflusste Rudolfs Kindheit und Jugend sehr. Dem Sonntagskreis „Mutter Eva“ gehörten Hannchen, die gescheite Frau aus dem zweiten Stockwerk im Vorderhaus, die tugendhafte Gräfin von Brühl aus der Zasiusstraße sowie Deborah, die Glucke und Friedhofsbesessene aus Niederschopfheim und einige andere, beherzte und teils beleibte Schönheiten an. Hinter Tassen mit dampfendem Kaffee saßen die schönen Weiber von „Mutter Eva“ stundenlang zusammen, um sich etwas zu erzählen17. Großmutter, Bóbel, Vorsteherin des Sonntagskreises, in ihrem Tagebuch: „Hier, im gewölbten, blassrosa Zimmer, treffen sich die schönen Weiber von Ur-Mutter Eva, meine Edelfrauen.“ Weshalb Großmütterchen darauf Wert legte, ihren Enkel an diesen Treffen immer bei sich haben zu wollen, kann sich Rudolf bis heute nicht erklären. Bestimmt nicht nur wegen der feinen, selbst gebackenen Hefekuchen und Früchtebrötchen18 an Festtagen wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten und an Geburtstagen.

Dummes Geschwätz? Mit den Erinnerungen an die Kindheit verbindet Rudolf vornehmlich erfreuliches und angenehmes Geschehen. „Im Latein und Griechisch ist er einer der Besten, aber im Turnen fehlt es halt bei ihm.“ So notierte Großmutter später ins Tagebuch. Und: „Beim dummen Geschwätz der Erwachsenen und beim Diskutieren ist er immer stumm.“

Himmelreich und St. Peter (1952). Sonntägliche Ausflüge: Vater Oskars Wandergefährte von 1952 bis 1954 ist Martin Heidegger, geboren 1889, gestorben 1976 in Freiburg. Rudolf, der sich über die ganze Woche hin auf die Sonntage mit Vater und Martin freut, erinnert sich an Ausflüge in den Schwarzwald: Fahrten mit der Dampflok-Eisenbahn von Freiburg nach Himmelreich. Wanderungen von Himmelreich zum Holzeck. Fertig-Süppchen, angerichtet auf einem mitgeführten Spirituskocher. Unwetter, Blitz und Donner. Ziegenkäse, geronnene Milch. Höhenwanderweg über den Rosskopf nach St. Peter.

Die Fürsts sind Geizkragen: Beim Bäckermeister Fürst verdient sich Rudolf in der Frühe, vor Schulbeginn, mit Ausfahren von Spitz- und Wasserwecken, werktäglich von 5: 00 bis 6: 45 Uhr, ein monatliches Taschengeld von 5 Mark. So ist es angedacht. Jedoch bleibt der Bäckermeister seinem Brötchenausfahrer den Lohn fast für immer schuldig. Die Fürsts sind Geizkragen19. „Die Fürsts sind unverhohlen geizig“, meint Bóbel. Anfangs gibt es allmorgendlich eine Tasse Milch und ein halbes Milchbrötchen mit Butter und Marmelade20. Nach ein paar Tagen ist dieses ermutigende Frühstück auf Weisung der alten Frau Fürst gestrichen.

Bedauern, ohne zu bedauern. Ein paar Jahre später wird Rudolf den Fürsts die Meinung sagen, nach kurzer Rückkunft aus der Ewigen Stadt Rom. Meister Fürst bedauert, ohne zu bedauern. Er drückt dem einundzwanzigjährigen Rudolf ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte als Endschädigung für den geschuldeten Lohn in die Hand. Rudolf möge die Kirschtorte doch bitte vor dem Bäckerladen aufessen, aus Hygienegründen. Völlig verdutzt nimmt Gläubiger Rudolf das Geschenk an. Vor der Bäckerei in der Nägeleseestraße, nahe Haltestelle Linie 1, versucht der um seinen Lohn gebrachte, ehemalige Brötchenausfahrer die Torte aufzuessen. Ein kleiner, vermutlich hungriger Junge, kommt neben ihm zu stehen und spuckt auf das Tortenstück. Verwirrt legt Rudolf das Tortenstück vor die Eingangstüre der Bäckerei Fürst. Soll die Kirschtorte doch entsorgen, wer will!

Anfänge der Klimaschutz-Diskussionen (1956) wegen eines Mistkäfers? Anfänge naiver gesellschaftlicher Auseinandersetzungen über Klimawandel im Jahr 1956. Man möchte den Kühen das für das Klima abträgliche, abgashaltige Furzen verbieten. Wegen systematischen Suchens nach besonderen Käfern, zum Beispiel Mistkäfern, möchte manch ein selbst ernannter Naturschützer ganze Regionen zu besonders schützenswerten, Natur zu belassenden Gebieten erklärt wissen.

Das Vergangene in Wuppertal. Wuppertal passé (1959).