2 Kreta-Thriller: Im Sog der Lüge & Der dunkle Tourismus auf Kreta
Mirko Kukuk
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Mirko KukukKleinfeld 10221149 HamburgUmschlaggestaltung: © Copyright by Mirko
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[email protected] Unterstützung bei Text/Bild: GeminiAlle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Inhalt
Titelseite
Impressum
1. Im Sog der Lüge
Kapitel 1: Ankunft auf Akrotiri
Kapitel 2: Erste Risse
Kapitel 3: Das Geflüster der Wände
Kapitel 4: Der Schatten im Blickfeld
Kapitel 5: Die versteckte Botschaft
Kapitel 6: Vertrauen und Misstrauen
Kapitel 7: Die Suche nach der Wahrheit
Kapitel 8: Die Erkenntnis des Labyrinths
Kapitel 9: Das Netz zieht sich zu
Kapitel 10: Der Ausbruch
Kapitel 11: Die Konfrontation
Kapitel 12: Befreiung und Neubeginn
2. Der dunkle Tourismus auf Kreta
Kapitel 1: Die Verlockung des Authentischen
Kapitel 2: Abseits der Pfade
Kapitel 3: Das erste Verschwinden
Kapitel 4: Der Verdacht wächst
Kapitel 5: Das Tagebuch
Kapitel 6: Die Falle schnappt zu
Kapitel 7: Fluchtversuch und Konfrontation
Kapitel 8: Das Netzwerk
Kapitel 9: Der Kult des Minotaurus
Kapitel 10: Der Showdown im Labyrinth
Kapitel 11: Die Befreiung und die Nachwirkungen
Kapitel 12: Die Rückkehr nach Hause
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1. Im Sog der Lüge
Kapitel 1: Ankunft auf Akrotiri
Die smaragdgrüne Weite der Ägäis dehnte sich unter Sarah aus, ein Teppich aus sich wiegenden Wellen, die sanft an Kretas Küsten züngelten. Die aufgehende Sonne tauchte die Landschaft in ein warmes, goldenes Licht, das die zerklüfteten Berge und die verstreuten, weiß getünchten Dörfer in ein Gemälde verwandelte. Es war ein Bild von beinahe schmerzhafter Schönheit, das in starkem Kontrast zu der grauen Leere stand, die sich oft in Sarahs eigenem Geist ausbreitete. Hier, auf der Halbinsel Akrotiri, fernab von Londons erstickender Hektik und den bohrenden Blicken derjenigen, die ihre Geschichte kannten, hoffte sie, endlich ein Stück jener verloren geglaubten Klarheit zu finden.
Sarah, Mitte zwanzig, eine Künstlerin, deren Talent vor dem Unfall einmal so vielversprechend gewesen war, suchte nicht nur nach Inspiration; sie suchte nach sich selbst. Der Unfall – ein Ereignis, das in ihrem Gedächtnis nur als verschwommener, schmerzhafter Fleck existierte – hatte nicht nur ihren Körper gezeichnet, sondern auch einen Großteil ihrer Erinnerungen ausgelöscht. Die Ärzte hatten es als dissoziative Amnesie diagnostiziert, eine Schutzfunktion des Gehirns, um sie vor etwas zu bewahren, das zu grausam war, um es zu verarbeiten. Doch der Schutz fühlte sich an wie ein Gefängnis. Eine Wand zwischen ihr und ihrem früheren Ich.
Das „Harmonia Retreat“, ihr Ziel für die nächsten vier Wochen, war sorgfältig ausgewählt worden. Es war ein Ort, der sich selbst als „Refugium für Seele und Geist“ anpries, ein Ort, an dem Künstler, Schriftsteller und Suchende Inspiration und inneren Frieden finden sollten. Die Website hatte Bilder von hellen, luftigen Räumen, einem Infinity-Pool, der mit dem Meer zu verschmelzen schien, und einem üppigen Garten voller Bougainvillea und Olivenbäumen gezeigt. Vor allem aber war es die Abgeschiedenheit, die Sarah anzog. Hier würde sie die Ruhe finden, die sie so verzweifelt brauchte.
Ein leicht verbeulter, aber zuverlässig wirkender Jeep wartete am kleinen Flughafen von Chania auf sie. Der Fahrer, ein stämmiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem freundlichen Lächeln, begrüßte sie mit einem gutturalen „Kalimera!“. Sarah erwiderte den Gruß, ihre Stimme noch etwas belegt von der langen Reise. Während der Fahrt windete sich der Jeep eine schmale Straße entlang, vorbei an schroffen Felsen und tiefblauen Buchten. Der salzige Geruch des Meeres füllte ihre Lungen, und zum ersten Mal seit Monaten spürte Sarah einen Funken von etwas, das nicht Verzweiflung war – eine leise Ahnung von Hoffnung.
Das Retreat thronte auf einer Anhöhe, ein Komplex aus mehreren, modern gestalteten Gebäuden, die sich harmonisch in die felsige Landschaft einfügten. Weiße Wände, große Glasfronten und Terrassen mit Blick auf das Meer. Es war genauso idyllisch, wie die Bilder versprochen hatten. Eine Frau mit einem warmen Lächeln und freundlichen Augen begrüßte sie am Eingang. „Willkommen, Sarah. Ich bin Elena, die stellvertretende Leiterin. Elias erwartet Sie bereits.“
Elias. Der Name war ihr schon auf der Website ins Auge gesprungen. Elias Kouris, ein charismatischer Mann mit tiefen, eindringlichen Augen, der das Retreat gegründet hatte. Er wurde als Künstler, Philosoph und spiritueller Führer beschrieben, jemand, der Menschen helfen konnte, ihr wahres Potenzial zu entdecken. Seine Präsenz war fast spürbar, selbst bevor sie ihm begegnete.
Elena führte Sarah durch einen lichtdurchfluteten Flur zu einem großen, offen gestalteten Raum, der als Gemeinschaftsbereich diente. Dort saßen bereits einige Gäste, vertieft in Gespräche oder lesend, die Ruhe des Ortes genießend. Die Atmosphäre war entspannt, fast meditativ.
„Sarah, schön, dass Sie hier sind“, erklang eine tiefe, sonore Stimme. Elias trat aus einem der angrenzenden Räume, ein Lächeln auf seinem Gesicht, das Wärme ausstrahlte und gleichzeitig eine gewisse Distanz wahrte. Er war größer, als sie erwartet hatte, mit dichtem, dunklem Haar, das ihm leicht ins Gesicht fiel, und Augen, die wirklich eine bemerkenswerte Intensität besaßen. Er trug einfache Leinenkleidung, die seine athletische Figur betonte.
„Ich bin Elias. Es ist eine Freude, Sie persönlich kennenzulernen. Elena hat mir von Ihrer Ankunft berichtet.“ Seine Hand, warm und fest, umschloss kurz ihre. Für einen Moment hatte Sarah das Gefühl, dass seine Augen tief in sie hineinblickten, ihre Unsicherheit und ihre verborgenen Ängste mühelos durchdrangen. Es war eine beunruhigende und gleichzeitig beruhigende Erfahrung.
„Ich freue mich auch, hier zu sein“, erwiderte Sarah, ihre Stimme fester als erwartet. „Der Ort ist wirklich wunderschön.“
„Kreta hat eine besondere Energie“, sagte Elias. „Viele unserer Gäste finden hier eine tiefere Verbindung zu sich selbst und ihrer Kunst. Ich hoffe, das gilt auch für Sie.“ Er führte sie zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die am Rande des Raumes saßen. „Das sind einige unserer aktuellen Bewohner. Dies ist Marcus, ein Schriftsteller aus Berlin“, er deutete auf einen schlanken Mann mit einer ernsten Miene, der ein Notizbuch in der Hand hielt. Marcus nickte ihr kurz zu. „Und das ist Clara, eine Tänzerin aus Paris“, Elias lächelte einer eleganten Frau mit lebhaften Augen zu, die sich mit einer einladenden Geste an Sarah wandte. „Und dort drüben ist Dr. Aris Papas, unser Resident-Archäologe, der gerade eine Vorlesung vorbereitet.“ Ein älterer Mann mit einem vollen, weißen Bart und Brille, der über Bücher gebeugt war, hob kurz den Kopf und murmelte einen Gruß.
Sarah spürte eine leichte Anspannung, als sie die Gruppe musterte. Jeder schien in sich gekehrt, aber nicht unfreundlich. Die Art von Menschen, die man in einem solchen Retreat erwarten würde. Künstler, Denker, Suchende. Sie verspürte einen leisen Funken Hoffnung, dass sie hier Anschluss finden und vielleicht sogar über ihre inneren Blockaden sprechen könnte.
Elias führte sie schließlich zu ihrem Zimmer. Es war hell und minimalistisch eingerichtet, mit einem großen Fenster, das den Blick auf das strahlend blaue Meer freigab. Ein einfacher Holztisch mit einem Notizbuch und Zeichenstiften stand bereit. „Wir legen Wert auf Einfachheit hier“, erklärte Elias. „Damit der Geist Raum hat, sich zu entfalten, frei von Ablenkungen. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Heute Abend gibt es ein gemeinsames Abendessen, bei dem Sie die Gelegenheit haben, alle besser kennenzulernen.“
Nachdem Elias gegangen war, packte Sarah ihre wenigen Sachen aus. Sie stellte ihren Skizzenblock auf den Tisch und die Stifte daneben. Sie spürte eine seltsame Mischung aus Erleichterung und unterschwelliger Unruhe. Die Isolation war angenehm, ja, aber auch ein wenig beängstigend. Hier gab es niemanden, der ihre Geschichte kannte, niemanden, der Fragen stellen würde. Das war gut. Oder?
Sie ging zum Fenster und atmete tief ein. Der Geruch von Salz und Thymian erfüllte die Luft. Die Sonne sank langsam und malte den Himmel in Schattierungen von Orange und Violett. Die Weite des Meeres schien unendlich, und für einen kurzen Moment fühlte sich Sarah befreit. Sie konnte hier neu beginnen, ihre eigene Geschichte schreiben, die Lücken füllen.
Sie nahm einen Stift und blätterte durch ihr leeres Skizzenbuch. Ihre Hände zitterten leicht. Seit dem Unfall war das Zeichnen zu einer Qual geworden. Die Bilder in ihrem Kopf waren fragmentiert, die Farben verblasst. Doch hier, in dieser friedlichen Umgebung, wollte sie es wieder versuchen. Sie begann, die Umrisse des Horizonts zu zeichnen, die sanften Wellen, die sich in der Ferne brachen. Es war einfach, beruhigend.
Als sie die Seite umblätterte, blieb ihr Blick jedoch an etwas hängen. Eine Skizze, die nicht von ihr stammte. Eine Reihe von verschlungenen Linien, die sich zu einem komplexen Muster formten. Es war kein realistisches Bild, sondern etwas Abstraktes, Geometrisches. Und doch… es war vertraut. Beunruhigend vertraut. Es war eine verstörende, abstrakte Darstellung eines Labyrinths. Ihre Linie war sie nicht. Das wusste sie mit Sicherheit. Sie hatte es noch nie zuvor gesehen, aber es rief eine tiefe, unbestimmte Unruhe in ihr hervor, die weit über bloße Überraschung hinausging.
Sarah runzelte die Stirn. Wie war das in ihr Skizzenbuch gekommen? Sie hatte es erst vor der Reise gekauft, und es war leer gewesen. Hatte sie es im Flugzeug gezeichnet und sich nicht daran erinnert? Das war beängstigend. Sie warf einen Blick in den leeren Raum, ein Gefühl der Beklemmung stieg in ihr auf. Eine leichte Brise wehte durch das offene Fenster und ließ die dünnen Vorhänge flattern. Oder hatte jemand anderes…?
Sie schüttelte den Kopf. Unsinn. Sie war hier, um sich zu erholen, nicht um sich in paranoide Gedanken zu verlieren. Es musste eine einfache Erklärung geben. Sie hatte das Buch vielleicht in einem Laden gekauft, wo jemand hineingekritzelt hatte. Ja, das musste es sein.
Doch die leise, unbestimmte Angst blieb, ein kaum merkliches Flüstern am Rande ihres Bewusstseins. Das Labyrinth. Es war so fremd und doch so... präsent. Wie eine Erinnerung, die sich weigerte, klar zu werden.
Sie schloss das Skizzenbuch und legte es beiseite. Der erste Abend würde bestimmt helfen, sich abzulenken und die anderen besser kennenzulernen. Sie würde diese kleine Anomalie ignorieren. Morgen war ein neuer Tag. Und auf Kreta konnte doch nichts wirklich schlimm sein, oder?
Kapitel 2: Erste Risse
Der Morgen brach strahlend und makellos über Akrotiri herein. Das Blau des Himmels war so intensiv, dass es fast unwirklich wirkte, ein perfekter Gegenpol zu Sarahs innerer Unruhe. Das Labyrinth in ihrem Skizzenbuch hatte ihre Gedanken in der Nacht beherrscht. Sie hatte es unter ihrem Kopfkissen verstaut, ein kindischer Akt, den sie bei Tageslicht belächelte, aber die Furcht war real gewesen. Jetzt, im hellen Licht des neuen Tages, schien die Skizze nur ein missverstandenes Artefakt zu sein, vielleicht von einem früheren Gast des Retreats vergessen oder tatsächlich ein verrückter Zufall.
Sie entschied sich, das Thema zunächst nicht anzusprechen. Was sollte sie auch sagen? „Ich glaube, jemand schleicht sich in mein Zimmer, um kryptische Symbole in mein Zeichenbuch zu kritzeln?“ Man würde sie für verrückt halten, und das Letzte, was Sarah jetzt brauchte, war ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Psyche.
Das gemeinsame Frühstück fand auf einer großen Terrasse statt, die einen atemberaubenden Blick auf das Meer bot. Der Duft von frischem Kaffee, warmem Brot und Olivenöl lag in der Luft. Elias saß am Kopf eines langen Holztisches, plauderte angeregt mit den Gästen und strahlte eine ruhige Autorität aus. Sarah nickte ihm zu und nahm einen Platz am anderen Ende ein, um die Dynamik der Gruppe zu beobachten.
Marcus, der Schriftsteller, saß ihr gegenüber, mit ernster Miene in seinem Notizbuch schreibend, gelegentlich nippte er an seinem Kaffee. Clara, die Tänzerin, strahlte eine anmutige Lebendigkeit aus, selbst beim Essen, und unterhielt sich mit einer älteren Dame, die sich als Irene vorstellte, eine pensionierte Kunstlehrerin aus Norwegen. Dr. Aris Papas, der Archäologe, vertiefte sich bereits wieder in ein zerfleddertes Buch, während er sich einen großen Löffel Joghurt einverleibte. Es schien eine eklektische, aber doch harmlose Mischung von Menschen zu sein.
Nach dem Frühstück begannen die geplanten Aktivitäten des Retreats. Sarah hatte sich für einen Malkurs im Freien entschieden. Elias selbst leitete ihn, seine Anweisungen waren mehr philosophischer Natur als technisch, ermutigend, die Energie des Ortes aufzunehmen und sie in die Kunst fließen zu lassen. Sarah versuchte, sich zu konzentrieren, die leuchtenden Farben der Landschaft auf die Leinwand zu bringen. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.
Später am Tag, als sie in ihrem Zimmer ihre Farben aufräumte, bemerkte sie, dass ihr kleiner, silberner Anhänger, ein Erbstück ihrer Mutter, fehlte. Sie war sich absolut sicher, ihn am Morgen auf ihren Nachttisch gelegt zu haben. Sie suchte unter dem Bett, auf dem Boden, im Bad. Nichts. Ein stechender Anflug von Panik durchzuckte sie. Es war kein wertvolles Schmuckstück im materiellen Sinne, aber es war eines der wenigen Dinge, die sie noch von ihrer Familie besaß, bevor der Unfall alles vernebelt hatte.
Als sie schließlich aufgab, fiel ihr Blick auf ihren Skizzenblock. Er lag offen auf dem Tisch, nicht geschlossen, wie sie ihn am Morgen zurückgelassen hatte. Und auf einer neuen Seite – wieder eine Zeichnung, die nicht von ihr stammte. Diesmal war es kein Labyrinth, sondern eine Serie von engen, sich windenden Gängen, die zu einer zentralen Kammer führten, umgeben von winzigen, stilisierten menschlichen Figuren. Das Unbehagen wuchs in ihr. Jemand war in ihrem Zimmer gewesen. Aber wer? Und warum?
Das Flüstern, das sie in der Nacht zuvor gehört hatte, schien jetzt lauter. Oder war es nur ihre Fantasie? Sie lauschte angestrengt. War da ein leises Murmeln vom Flur her? Sie öffnete die Tür. Nichts. Nur die Stille des Nachmittags, unterbrochen vom fernen Zirpen der Zikaden.
Sie beschloss, Elena auf den fehlenden Anhänger anzusprechen. Vielleicht hatte das Reinigungspersonal ihn gefunden und beiseitegelegt. Elena hörte ihr aufmerksam zu, ihre Miene war besorgt. „Oh, das tut mir sehr leid, Sarah. So etwas ist hier noch nie vorgekommen. Ich werde sofort mit dem Reinigungsteam sprechen. Und es gibt Kameras in den Gemeinschaftsbereichen, aber leider nicht in den privaten Zimmern.“
Eine unsichtbare Mauer der Unruhe begann sich um Sarah herum aufzubauen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verfolgte sie. Sie fühlte sich wie ein Insekt unter einem Mikroskop.
Am Abendessen war Sarah unruhiger als zuvor. Sie aß kaum etwas und beobachtete die anderen Gäste genauer. Marcus war immer noch in seinen Gedanken versunken. Clara lachte viel und wirkte unbeschwert. Irene erzählte Anekdoten aus ihrem Leben als Kunstlehrerin. Und Dr. Papas palaverte über die minoische Keramik, seine Augen glänzten hinter den Brillengläsern. Sie alle wirkten so normal, so harmlos. Doch in Sarahs Kopf wuchsen die Zweifel. Konnte einer von ihnen…?
Nach dem Abendessen zog sich Sarah früh in ihr Zimmer zurück. Sie verriegelte die Tür, ein Schritt, den sie vorher nicht getan hatte. Dann nahm sie ihr Skizzenbuch. Die neue Zeichnung, die die Gänge zeigte, wirkte jetzt noch bedrohlicher. Sie erinnerte sie an etwas, das sie in einem Dokumentarfilm gesehen hatte – Katakomben oder unterirdische Gänge. Sie war sich nicht sicher, warum diese Bilder sie so beunruhigten, aber sie taten es. Es war eine Angst, die tief in ihr saß, fast wie ein unbewusster Urinstinkt.
Sie lag wach, lauschte auf jedes Geräusch. Das Flüstern schien jetzt näher, deutlicher. Es war keine Sprache, die sie verstand, eher ein Summen, ein Gemurmel, das durch die Wände zu dringen schien. War das Geräusch des Windes? Oder waren es Stimmen?
Plötzlich ein Geräusch vom Flur. Ein leises Schaben, als würde etwas über den Boden gezogen. Sarah sprang auf. Sie schlich zur Tür und presste ihr Ohr dagegen. Das Geräusch verstummte. Sie wartete, das Herz pochte ihr bis zum Hals. Dann hörte sie leise Schritte, die sich entfernten.
Sie zögerte, die Tür zu öffnen. Was, wenn jemand dort war? Was, wenn sie sah, wer es war? Was, wenn sie etwas sah, das sie nicht hätte sehen sollen?
Doch die Neugier, die in ihrem Inneren tobte, war stärker als die Furcht. Langsam öffnete sie die Tür einen Spalt. Der Flur war leer. Nur die gedämpfte Beleuchtung der Notlichter warf lange Schatten. Dann fiel ihr Blick auf etwas auf dem Boden, direkt vor ihrer Tür.
Es war eine kleine, kunstvoll geschnitzte Steinfigur, die einer minoischen Gottheit ähnelte, wie sie sie in den Büchern über Knossos gesehen hatte. Ihre Augen waren aus einem dunklen, glänzenden Stein gefertigt und blickten direkt auf Sarah. Und daneben, auf dem Boden, lag ihr silberner Anhänger.
Sarah hob den Anhänger auf, ihre Finger zitterten. Die Steinskulptur ließ sie liegen, sie traute sich nicht, sie anzufassen. Der Anhänger war hier. Jemand hatte ihn zurückgelegt. Und diese Figur… Es war kein Zufall. Jemand spielte mit ihr. Jemand wollte, dass sie wusste, dass sie nicht allein war.
Das Lächeln von Elias, die freundlichen Gesichter der anderen Gäste – sie alle schienen sich in ihrem Kopf zu verschieben, zu verzerren. Ein Gefühl der Paranoia begann, sich in ihr festzusetzen, ein eisiger Griff, der ihr das Atmen erschwerte.
Sie schloss die Tür wieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihr Blick fiel auf die Zeichnungen in ihrem Skizzenbuch. Das Labyrinth. Die Gänge. Und jetzt diese Figur. Alles fügte sich zu einem unheilvollen Ganzen zusammen. Was zum Teufel geschah hier?
Sarah wusste jetzt mit Sicherheit: Sie war nicht verrückt. Und das war beinahe noch beängstigender. Denn wenn sie nicht verrückt war, dann war jemand da draußen, der sie in den Wahnsinn treiben wollte. Oder noch Schlimmeres. Die vermeintliche Idylle Kretas hatte sich in eine Falle verwandelt, und Sarah war mittendrin.
Kapitel 3: Das Geflüster der Wände
Der Morgen nach der Entdeckung der Steinfigur und der Rückkehr ihres Anhängers fand Sarah in einem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft. Der Schlaf war ihr nur stückchenweise gegönnt, durchbrochen von wirren Träumen über dunkle Gänge und flüsternde Schatten. Sie hatte die kleine Minoer-Figur nicht angerührt, sondern sie auf dem Flurboden belassen, ein stummer Zeuge der nächtlichen Geschehnisse. Am Morgen war sie verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Nur ihr eigener Anhänger, den sie nun fest um den Hals trug, erinnerte sie daran, dass es keine Einbildung gewesen war.
Sie betrat den Frühstücksbereich mit einer gespielten Gelassenheit. Ihre Blicke huschten über die Gesichter der anderen Gäste. Jeder schien in seinen eigenen Gedanken versunken, doch Sarahs neu gewonnenes Misstrauen färbte jede Geste, jedes Lächeln. Marcus kritzelte weiter in sein Notizbuch, seine Stirn in Falten gelegt. Clara lachte mit Irene über eine harmlose Anekdote. Dr. Papas schlürfte seinen Kaffee, die Augen auf eine Tageszeitung geheftet. Wer von ihnen war es? Oder waren es alle? Der Gedanke war absurd und gleichzeitig unerträglich.
Elias trat an ihren Tisch heran, sein charismatisches Lächeln ungetrübt. „Guten Morgen, Sarah. Gut geschlafen?“
Sarah nickte, ihre Stimme klang hohler, als sie gewollt hatte. „Ja, danke. Und Sie?“
„Exzellent, wie immer. Die Energie Kretas ist unvergleichlich.“ Seine Augen verweilten einen Moment länger auf ihr als nötig, fast so, als würde er etwas in ihren Augen lesen wollen. Sarah erwiderte den Blick, bemüht, keine ihrer aufgewühlten Gedanken preiszugeben. „Haben Sie Ihr Schmuckstück wiedergefunden? Elena war ganz außer sich.“
Sarahs Herz machte einen Satz. „Ja, tatsächlich. Es lag heute Morgen einfach vor meiner Tür.“ Sie versuchte, es beiläufig klingen zu lassen.