2046 – Blut über Deutschland - Sabine Benda - E-Book

2046 – Blut über Deutschland E-Book

Sabine Benda

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Beschreibung

Es war einmal … eine nicht normale Familiengeschichte über Sex, Blut, Gewalt, Himmel und Hölle, Tod und Teufel … im düsteren Schatten der Nachkriegszeit in den Jahren 2046 bis 2052. »Zunge um Zunge«, erklärt sie in einer prophetisch ehrfürchtig gefärbten Stimmlage. »Ohr um Ohr, Auge um Auge, Nase um Nase.« Sie grinst fies. »Und natürlich letztendlich: Schwanz um Schwanz!« Das Letzte, was die edel wirkende Dame zu dem jammernden und blutig blubbernden Mann sagt, dient nur dazu, sein Leid hinauszuzögern: »Ich habe vergessen, mich Ihnen vorzustellen. Entschuldigen Sie vielmals diese Nachlässigkeit meinerseits! Ich heiße Margarete von Weystedt. Ich bin eine unsterbliche Gräfin, eine Vollstreckerin des Herrn der Hellen … an den Sie leider nicht glauben. Wenn abartige Todsünder wie Sie von mir hingerichtet werden, ist das für mich befriedigender als leidenschaftlicher Sex – ganz ehrlich und ganz eindeutig!«

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sabine und Thomas Benda

2046 – Blut über Deutschland

Es war einmal … eine nicht normale Familiengeschichte über Sex, Blut, Gewalt, Himmel und Hölle, Tod und Teufel.

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

2046 – Blut über Deutschland

1. Der Polizist

2. In den Slums

3. Der Zwischenfall

4. Küchentratsch

5. Fuchsrot

6. Die Geschwister Müller

7. Des Wahnsinns fette Beute

8. Nachtdienst

9. Wut

10. Familie Müller

11. Sex

12. 138

13. Beichte

14. In der Bäckerei

15. 06:00 Uhr

16. Die Stimme

17. Saskia und Heiner

18. Perfektes Timing

19. Herzen im Gleichklang

20. Schrotflinte

21. Fuck nochmal ...

22. Blut über Deutschland

23. Das Unfassbare

24. Die Wahrheit

25. Die getrocknete Rose

26. Ein Jahr später

27. Monate später: Arschbacken

28. Wenn zwei Sex haben

29. Vater-/Tochter-Gespräch

30. Die Nutte

31. Autopsie

32. Zum Spottpreis

33. Auf dem Friedhof

34. Kollegen unter sich

35. Valeria

36. Wolken-Meeting

37. Küchentalk

38. Miriam

39. Bettgeflüster

40. Salvaje

41. Das ganze übernatürliche Zeug

42. Vom Glauben

43. Die Apostel

44. Das Kind

45. Wenn man unter die Räder kommt

46. So kann man auch sterben

47. Sex unter Engeln

48. Ziemlich tot

49. Damengespräch

50. In der Eisdiele

51. Überraschung für Peter

52. Sterben vor Lust

53. Kollegen und Freunde

54. Océane Blume

55. Wenn die Müllers melken

56. Lars‘ Freundin

57. Das Ehepaar Schönbeck

58. Hannes

59. Cockless

60. Okkulter Anti-Religionsscheiß?

61. Vorm Einloggen

62. Runner und Helena

63. Maibaum

64. Rausziehen

65. Hunger

66. Wenn der Wamsler geht

67. Guter Kater!

68. Die Sache mit dem Barkeeper

69. Schutzengel

70. Wohlgeformte Brüste

71. Keine Vegetarierin

72. Ernst für Hannes

73. Schlafen im Sinne von Ficken

74. Océane ist fort

75. Ich weiß, was ich mache

76. Erde an Susanne!

77. Ein stinknormaler Freitag

78. Dreier, Vierer …

79. Klingeln

80. Geil geworden

81. Müllabfuhr

82. Schwätzchen mit der Gräfin

83. Du könntest auffliegen

84. Süße Atheistin

85. In Schach halten

86. Wilbur Metzeler

87. Ich töte Menschen

88. Das willst du gar nicht wissen

89. Der Sandmann und Alotta Blusniq

90. Selbstbefriedigung

91. Es gibt keine Vampire

92. Filme, die mich anmachen

93. Verschiedene Wesensarten

94. Gedeckt

95. Erregt

96. Eine himmlische Libido

97. Ohne an dich zu denken

98. Danke fürs Ficken

99. Blut wird fließen

100. Schwanz um Schwanz

101. Gutes und geschicktes Händchen

102. Ein blutiges Ende

Über die Autoren:

Impressum neobooks

2046 – Blut über Deutschland

Horror/Mystery

Sabine & Thomas Benda

IMPRESSUM

© 2025 Sabine Benda, Thomas Benda

Korrektorat und Lektorat: Sabine Benda

Coverdesign: Sabine Benda

Sabine und Thomas Benda

Josef-Schemmerl-Gasse 16

A-2353 Guntramsdorf

E-Mail: [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Hinweis der Autoren: Unsere Bücher sind nur für Erwachsene geeignet!

14.10.2025

1. Der Polizist

Es duftet nach frischen Brötchen und Angstschweiß an diesem trüben Montagmorgen. Ein blondes Mädchen und eine schmächtige Frau, wahrscheinlich die Großmutter, liegen weinend auf dem Boden und haben ihre Gesichter flach auf die abgewetzten Kacheln gedrückt. Der Typ mit der Knarre drängt den Ladenbesitzer an die alte Registrierkasse. Als es nicht schnell genug geht, schlägt er ihm die Smith & Wesson ins Gesicht. Der La­denbesitzer jault auf. Seine aufgeplatzte Unterlippe hängt blutig ab. Er spuckt einen Zahn aus und beginnt zu wimmern und zu jammern. Eine Stimme herrscht ihn an: »Mach die verfickte Kasse auf, du Scheißer!«

»Bitte … ich habe Frau und Kinder …«

Ein zweiter Schlag bricht ihm das Nasenbein. Der dritte Hieb mit dem Lauf des Revolvers zerfetzt seine Oberlippe. Der Ladenbesitzer wankt zur Kasse und betätigt die Kurbel an der Seite. Mit einem Klingelgeräusch springt die Lade auf, Geldscheine werden sichtbar.

»Ist das alles?«, will der Ganove wissen.

Der Ladenbesitzer hält sich mit der Hand seinen verletzten Mund und nickt hektisch. Tränen rinnen aus sei­nen Augen. Die Großmutter am Boden betet flüsternd, das Mädchen weint.

Der brutale Kerl tritt der Alten in den Leib. »Maul halten, du Fotze!«

»Nehmen Sie das Geld und gehen Sie … bitte!«, fleht der Ladenbesitzer, doch der Mann denkt nicht dar­an. Er spannt den Abzugshahn und zielt auf den Hinter­kopf des blonden Mädchens.

»Zu viele Zeugen«, sagt er.

Dann spüren alle den Luftzug. Jemand hat die La­dentür geöffnet und ist eingetreten.

»Lassen Sie die Waffe fallen – oder ich schieße!«, schreit der Polizist, der zufällig in der Gegend ist, um im Bäckerladen einen Coffee-to-go zu kaufen.

Der Verbrecher schaut zur Tür und sieht den Uniformierten, blickt in seine Augen und erkennt die Entschlossenheit, ohne zu zögern töten zu können.

»Und was hat der Scheißkerl dann getan?«, fragt die Brünette und wischt mit einem Papiertuch frisches Sperma aus ihrem blank rasierten Schlitz.

»Nun, er hat meine hübschen Augen gesehen«, sagt der Mann und zieht den schwarzen Slip hoch. »Dann hat er brav seinen Revolver fallenlassen. Der Rest war Routine.«

»Deutschland verkommt in Gewalt, Mord und Totschlag«, schnauft Corinna Müller und zündet eine Filter­lose an. »Wie lange geht deine Schicht heute?«

»Ich bin pünktlich zum Abendessen daheim, Schatz.«

Sie zeigt die Wangengrübchen, die er seit 15 Jahren an ihr liebt. »Soll ich dir Frühstück machen?«

Peter Müller lächelt verschmitzt. »Nicht nötig. Ich fahre noch an dem Laden vorbei. Dort habe ich seit dem Überfall Kaffee frei bis an mein Lebensende.«

Schließlich zieht er die rote Uniform an, die sie so geil an ihm findet, und verlässt das Haus am Rande der Stadt. Er hofft auf einen ruhigen Tag und weiß, dass er enttäuscht werden wird.

2. In den Slums

Es ist ein grau bewölkter Tag, mitten in Deutschland, im Herzen von New Europe.

Peter Müller ist leitender Polizeibeamter der neu gegründeten Abteilung für Kapitalverbrechen Levelstufen acht bis zehn. Der hagere Mittdreißiger, dessen stoppeliges Gesicht mit den dunklen Augenringen nicht gerade zu einem frisch erholten Eindruck beiträgt, beißt in einen zuckersüßen Donut, während er die überfüllte Umgehungsstraße entlangzuckelt. Die Einsatzzentrale hat ihn vor wenigen Minuten über das dienstliche Com-Phone zu einem Tatort befohlen. Nachdem er den Bordcomputer mit den Adressdaten bestückt hat, schaltet der Polizist auf den Autopiloten um. Laut Displayanzeige würde er das Fahrziel in 14 Minuten und 18 Sekunden erreichen.

Zeit für einen Donut und einen lauwarmen Kaffee in einem Pappbecher, denkt er.

Peter Müller liebt altmodisch aufgebrühten Arabica-Kaffee, auch wenn dieser von heute eindeutig zu lauwarm ist. Die praktischen Koffein-Tabletten, die seine Kollegen zum Frühstück einwerfen, lehnt er kategorisch ab. Nein, für ihn geht nichts über einen aromatischen Gourmet-Kaffee der Marke Bendermann’s Basics. Die Nobelmarke ist zwar sündhaft teuer, doch in seiner gehobenen Position verdient der Familienvater nicht schlecht. Die Währungsreform nach dem Dritten Weltkrieg im damaligen Europa hat ihn wie jeden anderen Bürger finanziell hart getroffen. Als sich nach den Kon­flikten die wirtschaftliche Situation wieder stabilisiert hat, ist Peter in einen Aufwind geraten. Die Neugestaltung des Kontinents und die Umstrukturierung Deutschlands haben für den erfahrenen und erfolgreichen Polizisten durchaus Vorteile mit sich gebracht. Heute: Mit einem monatlichen Grundbezug von 460,00 NDM (Neue Deutsch Mark) kann er sich mehr leisten und gönnen als die Offiziellen in den mittleren und unteren Dienstgraden.

Dafür mache ich mir die Hände besonders schmut­zig und blutig, pflegt er im Freundeskreis gerne und oft zu sagen, wenn man ihn auf seinen überdurchschnittlich guten Verdienst anspricht. Kapitalverbrechen der Levelstufen acht bis zehn sind eben keine Standardangelegenhei­ten.

Der 35-jährige Beamte stellt seinen leer getrunkenen Pappbecher in die Getränkehalterung, als er an einer Reihe Häuserruinen, ausgebrannten Überbleibseln des Krieges, vorbeifährt. Eine Gruppe von ältlich wirken­den Trü-Me räumt dort Steine und Geröll auf schweben­de Schubkarren, die von fliegenden Hilfsdrohnen ge­steuert werden. Trü-Me ist die offizielle Bezeichnung für diese Trümmer-Menschen, meist arme, aber leistungs­fähige Menschen, die alles Verwertbare aus den zer­störten Gebäuden herausholen. Peter Müller beißt er­neut in den leckeren Donut und lässt die Trü-Me einfach Trü-Me sein. Er hat schließlich seinen Job zu machen und kann seine Zeit nicht mit unnötigen Gedan­ken verschwenden.

Eine Viertelstunde später rollt sein knallroter Elektro-Dienstwagen summend in die Slums der dicht bebauten Zwölf-Millionen-Großstadt. Hier leben die annä­hernd Mittellosen, eingepfercht in einem Ghetto aus Be­ton. Abfall und Dreck kennzeichnen das Bild der Stra­ßen. Penner lungern um brennende Blechtonnen her­um, wärmen sich auf, trinken dazu billigen Absinth oder irgendein anderes häufig blind machendes alkoho­lisches Gesöff. Einer der Verwahrlosten sieht den Poli­zeiwagen vorbeifahren und streckt einen Mittelfinger hoch. Im nächsten Moment kotzt der Mann etwas Breii­ges an die mit Graffiti bemalte Häuserwand. Er hat wohl zu viel getrunken.

Der Bordcomputer gibt ein akustisches Signal von sich. Das elektrisch betriebene Fahrzeug parkt darauf­hin selbstständig ein. Peter Müller ist am Ziel angekom­men: Konrad-Sachmann-Straße. Freaks haben mit einer Sprühdose den Namen Sachmann in Sackmann umbenannt und die vereinfachte Darstellung eines erigierten männlichen Geschlechtsteils hinzugemalt. Peter hasst diese Schmierfinken. Doch die sind im Fokus der Fuß­streifen, also im Wirkungsbereich der unteren Dienst­grade.

Der Polizist verlässt sein Auto und verriegelt die Fahrertür mit dem rechten Daumenabdruck auf dem Fingerscanner des Türgriffs.

Vor dem tristen und mit unzähligen Rissen durchzogenen Wohnblock Nummer sechs parken bereits zwei Dienstfahrzeuge seiner Abteilung. Peter erkennt das Kennzeichen seines Kollegen Hannes Ruppmann, der ihm direkt unterstellt ist. Das andere Fahrzeug, ein Kombi mit getönten Scheiben, gehört zur Forensischen Sektion.

Einige Schaulustige diskutieren unüberhörbar am Eingang zum Häuserblock. Als der Polizist mit seiner auf Passform geschneiderten roten Dienstuniform die verdreckten Klingelknöpfe anschaut, raunzt neben ihm eine faltige Frau, die wie ein verwildertes Großmütterchen aus einem Kindermärchen wirkt: »Der Krepierte is’ im sechsten Stock, Wohnung sechs! Volz heißt das alte Dreckschwein!«

Peter Müller bedankt sich mit einem wortlosen Ni­cken und sieht, dass der Alten einige Frontzähne fehlen. Ihre Hände sind mit offenen Schrunden übersät, aus de­nen dicker Eiter trieft.

»Den Tod hat er verdient – und die Hölle dazu!«, krächzt die Frau ihm hinterher, während er die drecki­gen Stufen des Treppenhauses hinaufsteigt.

Leere Flaschen und offene Müllsäcke liegen auf den Fluren der Stockwerke. Überall stinkt es ein wenig nach Urin, Feuchtigkeit und Fäulnis, auch nach tierischem oder menschlichem Kot. Eine weitere Gruppe, wahrscheinlich angrenzende Mieter des sechsten Stockwerks, steht vor der Wohnung Nummer sechs und gafft durch den Türspalt. Peter Müller drängt sich mit den scharfen Worten »Polizei, Platz machen!« durch die Leute. Wegen der roten Uniform ist die Nennung des Wortes Polizei nicht notwendig. Die Personen glotzen ihn aus ungepflegten, teilweise kranken Gesichtern an, und Peter bahnt sich grob den Weg zur Wohnungstür. Die Mieter, die ihn umringen, dünsten mitunter entsetzlich ungewaschen, manche stinken nach hochgradiger Zahnfäule. Der Polizist hält den Atem an, kämpft gegen einen Würgereflex, schlüpft rasch unter dem Polizeiabsperrband durch – und ist endlich drin. Hier schnauft er erst mal tief durch, obwohl die durchdringenden Gerü­che in der Mietwohnung nicht angenehmer sind als auf dem Flur vor der Tür und im Treppenhaus.

Am Küchentisch sitzt ein blasser Junge. Peter schätzt ihn auf 14, vielleicht 15. Der Ju­gendliche hat Handschellen an den Gelenken. Ihm ge­genüber hockt eine Polizistin, eine brünette Frau na­mens Lisbeth Pflüger. Sie hat ein Com-Phone in der Hand und ist mit dem Jungen offensichtlich in einem Zweitgespräch. Lisbeth wirkt ernst, hat sogar ein wenig Furcht in den Augen, wie Peter Müller im Vorbeigehen feststellt. Die Kleidung des Teenagers und seine Hände sind verdreckt, über und über mit stellenweise trocke­nem, teilweise noch schmierigem Blut voll. Peter nickt Lisbeth zur Begrüßung zu. Besorgt blickend nickt sie zu­rück.

Der Polizist geht weiter nach hinten, schreitet in ei­nen düsteren Flur. Auf dem abgewetzten Dielen­boden liegt, umgeben von fetten Blutspritzern, ein langes Fleischermesser. Ein Forensiker macht ein Foto. Ein Lichtblitz erhellt kurz den gesamten Flur. Neben dem mit Blut benetzten Messer steht ein Pappschildchen mit einer handschriftlichen Notiz: Waffe Nummer zwei.

Peter Müller tritt an ein halb geöffnetes Zimmer her­an, aus dem Blitzlichter zucken und männliche Stimmen zu vernehmen sind. Er hört Hannes Ruppmann spre­chen. Sein Kollege ist an Tatorten immer sehr gereizt und schnell genervt. Peter tritt ein. Es ist das Schlafzim­mer des Vaters. Hier riecht es stark nach Blut. Ein zwei­tes Messer, ein kleineres als im Wohnungsflur, befindet sich vor dem Bett. Daneben liegt ein abgeschnittener Penis. Ein Beamter fotografiert die nackte Leiche, deren Kopf auf dem Nachttisch thront.

Hannes Ruppmann bemerkt Peter und kommt ohne Gruß zum Eigentlichen. »Das Opfer heißt Heinz Volz – er ist der leibliche Vater des Jungen. Der Sohn ist ge­ständig. Er hat uns selbst nach der Scheiße hier infor­miert! Er leistete keinen Widerstand, als wir ihm die Handschellen angelegt haben. Richtig lammfromm ist der! Die Erstvernehmung habe ich selbst erledigt. Du hast ja Lisbeth gesehen. Sie redet ein weiteres Mal mit dem Freak. Er heißt Simon.«

Freak? Bei dem Wort stutzt Peter Müller innerlich, doch er kann es seinem Kollegen nicht verdenken.

»Das Kid ist 15«, erklärt Hannes. »Er hat den Kopf seines Vaters mit zwei Messern abgetrennt. Den Schwanz hast du ja schon entdeckt. Eine richtige Drecksarbeit! Schätzungsweise hat der Vater noch 18 bis 20 Messerstiche im Unterleib. Dieser Si­mon muss irre gewütet haben, selbst dann noch, als der Alte längst hin war.«

»Was haben wir für einen familiären Hintergrund?«, fragt Peter, während er das viele Blut und die leblosen Augen des Geköpften anstarrt.

»Die Mutter ist tot. Die starb im Krieg durch einen Drohnenangriff. Vater Volz war ein Kriegsversehrter und ein Säufer, wie er im Buche steht! Das sagen die Nachbarn. Hat wohl auch seinen Sohn misshandelt. Die Mie­ter nebenan munkeln sogar von sexuellen Übergriffen. Ob der Volz pädophil war, wissen wir nicht. Wir haben keine Akte über den Mann. Keine Vorstrafen. Die Sitte hat ebenfalls nichts. Bei denen habe ich schon angeklin­gelt.«

Peter sieht seinen Kollegen an. »Was wissen wir über den Jungen, diesen Simon? Der sieht ja aus, als könne er kein Wässerchen trüben, oder?«

Hannes lacht hässlich. Peter verachtet das, ignoriert es aber. Sein Kollege ist ein derber, aber guter Polizist. Nur das ist im Augenblick wichtig, nur das zählt in die­sem düsteren Nachkriegs-Deutschland, das aus den Fugen geraten ist.

»Stimmt schon«, bestätigt Hannes und winkt gleichzeitig ab. »Dieser Simon sieht aus wie ein Milchbubi! Aber in unserem Job haben wir schon Pferde kotzen sehen, nicht wahr? Oftmals haben die harmlos wirkenden Typen einen an der Klatsche!«

»Red schon, Hannes! Auffälligkeiten beim Sohn?«

Hannes fährt sich mit der Hand über sein akkurat gestutztes Kurzhaar. »Wie erwähnt: 15 ist er. Bra­ver Musterschüler, obwohl er hier im Ghetto lebt. Er be­sucht eine Schule in der Inner City. Gute Noten laut Schulcomputer. Die Nachbarn sagen ihm Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit nach. Über den alten Volz het­zen sie ab. Wir haben von Simon keine Jugendakte. Be­merkenswert selten für diese Ecke hier, in diesem be­schissenen Slum!« Ihm fällt noch ein Detail ein: »Ach ja, der Junge scheint gläubig zu sein!«

Peter Müller wird hellhörig. »Hat Simon das selbst erzählt?«

»Nein, Peter, du musst dir mal seine Bude anschau­en!«

Als sie in das Jugendzimmer eintreten, nimmt Peter Müller augenblicklich den leichten Weihrauchgeruch wahr. Er liebt Weihrauch über alles. Simons Zimmer ist – im Gegensatz zum Rest der Wohnung – ordentlich aufgeräumt und sehr sauber gehalten. Ein selbstgebastelter Schrein steht in einer Ecke direkt neben dem schmalen Bett. Peter Müller erkennt eine Halskette mit dem Symbol der FISH, die beiden gekreuzten Schwer­ter. Ein farbiges Bildposter – wohl aus einer religiösen Zeitschrift – hängt überlebensgroß an einer Wand. Die Prophetin Estelle Brukner ist darauf abgebildet.

»Er scheint dieser Sekte anzugehören!«, meint Han­nes Ruppmann verächtlich.

»FISH ist keine Sekte!«, erklärt Peter scharf. »FISH ist eine Weltreligion!«

»Ich bin rational!«, lästert Hannes. »Ich hab mit dem blöden Scheißdreck nichts am Hut!«

»Ich schon!«, offenbart sich Peter und entdeckt die Neuausgabe von Estelles Bibel in einem Regal über dem Schrein. »Meine Familie und ich sind ebenfalls FISH.«

»Ehrlich?«, fragt Hannes. Die Abwertung ist klar herauszuhören. »Was ist denn das für eine verfickte Religi­on, Peter? Muss ich jetzt Bammel vor dir haben? Hast du auch zwei Messer dabei, um mir Schwanz und Kopf abzusäbeln?« Hannes verfällt wieder in sein vulgäres Lachen.

Peter antwortet nicht. Er ist Polizist und FISH mit Leib und Seele. Er vermutet die düsteren Zusammen­hänge, nicht zuletzt, weil er gläubig ist. Er ahnt, dass dieser Mord hier Wellen schlagen wird. Er nimmt sich vor, das Thema im heutigen Hauskreis, dem monatli­chen Bibelkreis, mit FISH-Freunden zu diskutieren.

Die Prophetin hätte die Heilige Schrift niemals überarbeiten dürfen, befürchtet er, fühlt sich durch die bluti­gen Fakten an diesem grauenvollen Tatort bestätigt. Es werden Probleme auf FISH zukommen! Der Große Gründer steh uns bei!

3. Der Zwischenfall

Peter Müller nimmt das große Küchenmesser in die Hand und prüft vorsichtig mit dem Daumen die Schnei­de der Klinge. Dann greift er zu dem handlichen Schleif­stein.

»Dir ist schon klar, dass du extrem altmodisch bist, oder?«, stichelt seine Ehefrau Corinna mit einem Lä­cheln auf den schmalen Lippen.

»Wieso? Weil ich die Klinge mit der Hand schärfe? Meinst du das?«

»Genau!«, bestätigt sie und deutet auf die Küchenzei­le. »Wir haben doch eine elektrische Messerschleifmaschine.« Sie zwinkert ihm zu, während er routiniert mit dem Schleifstein hantiert. »Die macht alles Stumpfe im Nu scharf wie neu«, witzelt sie.

Er geht auf ihre Zweideutigkeit ein, während sie das Dressing mit Gurkenwasser verfeinert. »Manche Dinge muss ein Mann händisch erledigen, sonst wird das nichts.«

»Hört, hört!«, erwidert sie und gibt noch einige Gewürze in die Salatschüssel.

Peter Müller schaut auf die Wurstscheiben, die auf einem Holzteller bereitliegen. »Wird das für den Salat ausreichen?«

»Die Kinder haben schon gegessen. Die waren am Nachmittag bei Traude und haben sich den Bauch mit Sauerbraten, Rotkraut und Knödeln vollgeschlagen.«

»Die Nachbarin verwöhnt sie zu sehr.«

Corinna meint: »Ach, du bist ja nur neidisch, weil es für dich nur Wurstsalat mit Pommes gibt!«

»Du hast vollkommen recht!«, bestätigt er, lächelt und beginnt, die Wurst in dünne Streifen zu schneiden. »Haben Saskia und Lars ein wenig Bock auf den Bibelkreis?«

»Nö«, winkt Corinna ab. »Lass die beiden mal schön in ihren Buden büffeln. Bei denen stehen morgen schwierige Klausuren in Mathe und Geschichte an.«

»Gut, dass ich kein Schüler mehr bin!«, sagt er erleichtert und probiert einen Streifen Wurst. »Mhmm, le­cker! Ist die Wurst aus Maiers Metzgerei?«

Corinna schüttelt ihren braunhaarigen Kopf. »Ich habe die Fleischtheke in der Mall ausprobiert.« Sie lacht plötzlich. »Dort wird die Ware von einer Drohne eingepackt.«

»Ernsthaft?«

»Ernsthaft!«

»Ich mag keine Drohnen«, gesteht er.

Sie grinst. »Mir klar! Mein Gatte, der altmodische Bulle!«

Peter schabt die Fleischstreifen in die Salatschüssel, in der die Gurkenstückchen und das würzige Dressing warten. Corinna schiebt eine Lage Pommes frites in den Backofen und befiehlt dem Hauscomputer: »Gus­tav, bitte 15 Minuten bei 220 Grad, dann Alarmton und abschalten. Danke.«

»Dir ist schon klar, dass du unseren Gustav wie ei­nen Menschen ansprichst, ja?«

»Aber natürlich, Peter! Ich bin auch zu einer Maschi­ne nett. Deswegen liebst du mich. Ich bin so besonders!« Im Vorbeigehen zwickt sie ihren Mann in den Po.

»Heee, willst du, dass mein abgeschnittener Daumen im Wurstsalat landet?«, fragt er unernst und hebt das Messer hoch. In seiner Erinnerung sieht er plötzlich den abgeschnittenen Penis am Tatort vor sich.

»Schatz, was ist?«, fragt sie. »Du bist plötzlich so nachdenklich.«

»Wir hatten heute einen üblen Fall …«

»Mord?«

»Ja, es war … nicht einfach. Ein Junge hat seinen eigenen Vater ermordet … regelrecht abgeschlachtet!«

»Beim Großen Gründer! Habt ihr ihn geschnappt?«

»Er hat uns selbst angerufen und die Tat gestanden.«

»Dann ist ja alles gut!« Sie verbessert sich zynisch. »Na ja, für den Vater natürlich nicht!«

Peter mischt den Wurstsalat durch. »Der Fall ist komplizierter …«

»Du willst ernsthaft mit mir darüber reden?«

»Überrascht dich das?«

»Ja, Peter! Normalerweise willst du nicht das Dienstliche mit dem Privaten …«

»Ich denke, die Sache wird Wellen schlagen«, unterbricht er sie. »Und ich habe das Gefühl, dass es mit der Neuauflage unserer Bibel zusammenhängt.«

Corinna Müller ahnt sofort, auf was ihr Mann hinaus möchte. »Du meinst sicherlich das neue Kapitel, in dem Estelle sich der gesamten Welt gegenüber offenbart, in der Vorhölle ihren Vater hingerichtet zu haben, nicht wahr?«

»Stimmt, ich rede von diesem schlimmen Tag in der Kampfarena im Tal der Klagen. Seitdem gilt sie bei vie­len als Vatermörderin, obwohl ihr Handeln an einem rechtsfreien Ort in der Unterwelt stattgefunden hat.«

»Sie hat ihrem gewalttätigen Vater mit zwei Schwertern den Penis abgehackt und ihn dann enthauptet!«, überlegt Corinna laut. »Mir wird schlecht, wenn ich dar­über nachdenke!« Dann schaut sie ihren Mann an. »Ich muss zugeben, das hat auch meinen Glauben an Estelle ziemlich erschüttert und …«

»Darum geht es mir gar nicht, Corinna! Ich denke, dass der Junge, der seinen Vater ermordet hat, dem Vorbild unserer Prophetin gefolgt ist.«

Sie versteht. »Du meinst, dass der Mord ein Rache­akt einer gedemütigten Seele ist? Wurde dieser Junge denn von seinem Vater …?«

»Ja, es gibt eindeutig Anzeichen von Missbrauch und Gewalt! Ein Arzt und eine Psychologin haben diesen Simon untersucht. Nach außen hin macht er einen völlig harmlosen Eindruck.«

Corinna stellt Porzellanteller und Trinkgläser auf den Esszimmertisch. »Ist es sicher, dass dieser Simon FISH ist?«

»Ich habe sein Zimmer gesehen. Er vergöttert Estelle regelrecht. Ja, er ist ein sehr gläubiger FISH!«

Sie rümpft ihre hübsche Nase. »Das hat ihn nicht davon abgehalten, seinen Vater zu ermorden, oder?«

Peter schnauft durch. »Was ist, wenn seine verletzte und gestörte Seele unsere Estelle wirklich als Vorbild für seine Bluttat ansieht?«

Corinna sieht das anders. »Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt, Schatz?«

»Ich habe keine Ahnung – sag du es mir!«

Das kann seine Ehefrau nicht.

Das Abendessen bei Familie Müller ist angerichtet, der gemeinsame Bibelkreis mit Freunden kann beginnen. Das melodische Ding-Dong der Türglocke ertönt.

»Das werden Matthias und die anderen sein«, sagt Corinna. »Zu früh, wie immer! Hoffentlich hat Annette an den Rotwein gedacht.«

Wieder läutet es. Es klingt drängender.

»Die können es wohl gar nicht abwarten«, meint Peter und läuft zur Haustür. Als er öffnet, erkennt er die beiden Ehepaare, mit denen er und Corinna seit Jahren befreundet sind. Sie alle sind FISH. Matthias Gruber, ein Mittvierziger mit grauem Backenbart, blutet stark aus der Nase.

»Himmel, was ist geschehen?«, fragt Peter entsetzt.

»Wir wurden angegriffen!«, erklärt Annette und drückt ihrem Mann Matthias ein Papiertaschentuch auf die Nase. »Im Spirituosenladen gegenüber.«

»Wir wollten nur Rotwein besorgen«, erzählt Andreas Brunner hektisch, und seine Frau Margot schließt sich an und deutet auf die goldene Halskette: »Bespuckt und geschlagen wurde Matthias, weil er unser Zeichen trägt!«

Es dauert einige Augenblicke, bis Peter und Corinna das Gesagte verstehen.

»Wer hat das getan?«, hakt Peter barsch nach. »Habt ihr die Polizei angerufen?«

»Nein«, antwortet Annette. »Wir sind gleich zu euch rübergerannt und …«

»Es waren drei Männer«, unterbricht Margot sie. »Die Idioten sind bestimmt noch dort. Sie zocken an einem alten Spielautomaten.«

»Kommt erst mal rein!«, bittet Corinna. »Matthias, leg dich aufs Sofa.« Sie blickt ihren Mann Peter an. »Schatz, holst du mir bitte einen Eis-Akku aus dem …?«

Wortlos reißt Peter die Schublade der Kommode im Flur auf und holt Dienstmarke und Revolver hervor. »Wartet nicht mit dem Essen auf mich!«, sagt er und verlässt ohne einen weiteren Satz die Wohnung.

PAULSENS SPIRITUOSEN & SPIELHALLE leuch­tet in einer roten Neonschrift über dem Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Peter Müller klemmt seine Dienstmarke an den Gürtel und schiebt seinen Revolver sichtbar in den Hosenbund. Zu dieser Abendstunde sind nur wenige Fußgänger in den Seitenstraßen unterwegs. Graue Wolken verdecken den Halb­mond, ein kühler Wind weht. Durch die Frontscheibe kann der Polizist drei Männer erkennen, die an einem Spielautomaten auf ihr Glück hoffen. Dem Aussehen nach – Camouflage-Hosen mit passenden Hemden und Armeestiefeln an den Füßen – erwartet Peter keine stil­volle Kommunikation mit den Typen. Der Inhaber des Ladens, Eberhard Paulsen, ein schmächtiger Mann, der blass und krank aussieht, steht eingeschüchtert hinter seiner Theke. Sonst befindet sich niemand in dem Ge­schäft. Peter öffnet die Ladentür, eine altmodische Schelle am Türrahmen erklingt. Er sieht ein Schild an der Glasscheibe und dreht es nach außen sichtbar: GE­SCHLOSSEN. Dann zieht er die Tür geräuschvoll zu und hat sofort die Aufmerksamkeit aller im Raum.

Der Inhaber sieht die Polizeimarke an Peters Gürtel und es entweicht ihm ein geflüstertes »Dank dem Him­mel!«

»Herr Paulsen, bitte gehen Sie in die hinteren Räu­me«, bittet Peter ruhig, ohne die drei Männer am Spielautomaten aus den Augen zu lassen.

Der Automat spuckt gerade einige Münzen klim­pernd in einen Schacht. Keiner sagt ein Wort. Die Ca­mouflage-Typen, ungepflegte Mittzwanziger, die nach Alkohol und Rauch stinken, haben längst den Revolver in Peters Hosenbund entdeckt und verständigen sich wortlos mit ihren Blicken.

Paulsen, der Inhaber des Ladens, verschwindet von der Bildfläche, das Klimpern am Spielautomaten hört auf.

Peter schreitet langsam auf die drei Männer zu, lässt den Größten nicht aus den Augen, der den Status des Anführers regelrecht ausstrahlt. Vier Schritte vor den Männern bleibt der Polizist stehen und meint leise, aber verständlich: »Wer von euch hat vorhin meinen Freund bespuckt und geschlagen?«

»Das war nicht hier …«, lügt der Große vorschnell.

Peter zieht daraufhin seinen Revolver und zielt in das Gesicht des Anführers.

Die drei Männer erstarren.

»Probieren wir es nochmal«, sagt Peter ruhig. »Wer von euch hat vorhin meinen Freund bespuckt und geschlagen?«

»Sie … Sie können uns nicht einfach drohen!«, meint der Große hastig. »Sie sind ein Bulle! Das dürfen Sie nicht! Wir haben Rechte!«

Peter spannt ruhig den Abzugshahn seiner Waffe. »Ach, du glaubst, ich bedrohe dich?«

Der Große schluckt einen Kloß hinunter, als er die kalten Augen des Polizisten wahrnimmt.

»Wir haben nichts getan!«, jammert der Blonde, der rechts vom Anführer steht. »Sucker war’s alleine!« Er deutet auf den Großen. »Willy und ich haben nichts gegen FISH, ehrlich!«

»Halt’s Maul!«, brüllt Sucker, der Anführer, den Blonden an. »Elender Verräter!«

»Aber Benny hat recht!«, mischt sich nun der andere Kerl ein. »Du hast den FISH bespuckt und geschlagen, nicht wir!«

»Ihr verdammten Wichser!«, sagt Sucker und hat Verachtung in der Stimme.

»Deine Freunde zeigen nur menschliches Verhalten«, erklärt Peter sachlich. »Vor dem Gesetz hat man eben Schiss und sagt sehr schnell die Wahrheit.« Mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen schiebt der Polizist nach: »Nun, wie sieht’s aus, Großer? Magst du reden?«

Sucker spuckt auf den Boden. »Na, dann verhaften Sie mich doch, Sie Arschloch! Mehr können Sie nicht tun, und ich bin im Handumdrehen wieder auf der Stra­ße. Mehr als eine Bagatelle ist das nicht!«

»Ach, sehe ich aus, als ob ich dich verhaften und gefangen nehmen würde?«, flüstert Peter und kommt einen weite­ren Schritt auf Sucker zu.

Schweißperlen bilden sich auf der pickeligen Stirn des Anführers. Einer der anderen geht auf die Knie. »Ich habe nichts getan, wirklich!«

Der zweite Typ folgt seinem Beispiel. »Ich wollte Su­cker sogar aufhalten …«

»Halt die Fresse!«, herrscht Sucker ihn an. Dann schleudert er dem Polizisten entgegen. »Und? Was wollen Sie jetzt tun? Mich abknallen?«

»Es ist schön, dass du endlich offen für ein richtiges Männergespräch bist«, urteilt Peter. »Du willst Möglichkeiten mit mir besprechen. Das klingt sehr vernünftig. Und wir werden sehen, ob du am Leben bleibst.«

4. Küchentratsch

»Er ist seit fast einer Stunde weg. Ich muss sagen … ich bewundere deine Nerven.«

»Wenn man mit einem Polizisten verheiratet ist, gewöhnt man sich daran.«

Margot und Corinna befinden sich in der Küche und räumen das dreckige Geschirr in die Spülmaschine. Aus dem Wohnzimmer hört man die angeregte Unter­haltung der anderen.

»Gut, dass Matthias‘ Nase nicht gebrochen ist«, meint Corinna.

»Glück für ihn«, sagt Margot lachend, schwenkt ihr Rotweinglas und prostet ihr zu, »dass wir mit einer Krankenschwester befreundet sind.«

Die Falttür zur Küche wird aufgeschoben und Annet­te erscheint mit ihrem leeren Weinglas. »Ach, hierher habt ihr euch verkrümelt. Ihr verpasst ja das Beste an unserer Diskussion.«

»Nettchen, wir gönnen uns nur eine kleine Verschnaufpause«, antwortet Margot grinsend. »Seit die Nase deines Gatten nicht mehr blutet, stürzt er sich in heißblütige Glaubensdiskussionen.«

»In sehr ausschweifende Glaubensdiskussionen«, hängt Corinna humorvoll klingend an.

»Deswegen suche ich euch ja – und den Rotwein natürlich!«, entgegnet Annette. Dann sieht sie auf die runde analoge Küchenuhr. »Dein Peter ist schon eine Stunde weg. Corinna, bist du dir sicher, dass wir nicht die Poli­zei …?«

»Mein Mann ist die Polizei«, unterbricht Corinna sie und gießt Annette von dem Trockenen nach.

»Ich sehe die drei Rüpel noch vor uns«, schildert Annette ihre Erinnerung nach dem ersten Schluck. »Der große Kerl hat uns gegenüber eine ekelhafte Verachtung ausgestrahlt. Furchtbar!«

»Daran tragen die Medien die Schuld!«, ärgert sich Margot zischend. »Die Sache mit Estelle Brukner wird zu sehr ausgeschlachtet.«

Corinna spitzt ihre schönen Lippen. »Nun, wir haben eine Religionsgründerin, eine Prophetin, die nun für vie­le als rächende Vatermörderin gilt. Estelle und FISH ste­hen ständig in der Kritik. Und klar ist: Das ist starker To­bak für die meisten!«

»Das ist ebenfalls starker Tobak für mich!«, bestätigt Annette. »Und ihr wisst, wie sehr ich Estelle verehre. Doch wenn ich mir vorstelle …«

»Aber es ist in der Hölle geschehen!«, argumentiert Margot. »Das ist für uns in der Oberwelt ein rechtsfreies Gebiet. Unsere irdischen Gesetze greifen dort nicht. Unsere Gerichte können sie dafür nicht belangen. Keiner kann offiziell Anklage gegen Estelle erheben.«

»Hingerichtet hat sie ihren Vater dennoch!«, fährt Corinna Müller dazwischen.

Margot nickt. »Ja, da sind mit ihr wohl schlimme Emotionen und üble Erinnerungen an ihre Kindheit durchgegangen! Bin mal gespannt, was da noch alles ans Tageslicht kommt!«

Annette schüttelt fassungslos den Kopf. »Ich kann das nicht begreifen. Es wurde 30 Jahre lang ver­schleiert. Warum geht unsere Prophetin jetzt damit an die Öffentlichkeit?«

»Es wäre besser gewesen, wir hätten die Lüge in der Bibel gelassen …«, schnauft Annette.

»Wie kannst du so etwas sagen?«, kontert Corinna härter, als sie es gewollt hat. »In unserer Heiligen Schrift darf keine Unwahrheit stehen!«

»Was wohl die Christen getan hätten?«, fragt Margot und ist ein wenig gedankenlos dabei.

»Das steht doch gar nicht zur Debatte!«, meint Corin­na hart. »Es ist unser Problem. Wir können uns jetzt kei­ne Gedankenspiele über die anderen Religionen erlau­ben. Unsere Hütte brennt, nicht deren!«

»Ja«, bekräftigt Annette und nimmt einen kräftigen Schluck Wein. »Wir sind die … mit der Vatermörderin an der Spitze.«

Ding-Dong.

»Das muss Peter sein!«, sagt Corinna und klingt erleichtert. »Endlich!« Während sie durch den Flur zur Wohnungstür geht, nimmt sie ihr Com-Phone und befiehlt ihrem Hauscomputer: »Gustav, zeige mir ein Bild des Treppenhauses, danke!«

Einen kurzen Moment später erscheint auf dem Dis­play eine hochgestochene Farbaufnahme der Videoüberwachung. Corinna runzelt die Stirn, als sie sieht, wer dort klingelt. Sie reißt die Tür auf. Draußen stehen ihr Ehemann Peter und ein ziemlich großer Kerl in Ca­mouflage-Kleidung. Der Große presst sich ein Taschentuch ins Gesicht, das blutbefleckt ist.

Sein Blut, erkennt die Frau erleichtert. Und es trieft ihm aus der Nase!

»Liebling«, hört sie Peter ruhig sagen, und dabei deu­tet er auf den Blutenden. »Das ist Christian Saulus, ge­nannt Sucker. Er möchte sich für sein dummes Verhal­ten von vorhin bei unserem Matthias entschuldigen.«

Später dann, in der Nacht, als alle weg sind und die Kinder längst schlafen, lässt die nackte Corinna Müller sich, erregt atmend auf das stoppelige Gesicht ihres Mannes Peter nieder. Sie ist wieder hocherfreut dar­über, dass die spielerische Zunge ihres Polizisten nicht nur kommunikativ zu gebrauchen ist. Natürlich würde sie ihm im Laufe der nächsten Stunde beweisen, dass sie ebenfalls nicht auf den Mund gefallen ist. Selbst schweigend und genießend ist sie mit ihren Lippen überaus routiniert und talentiert … nein, mehr als das.

5. Fuchsrot

Das zehnstöckige Gebäude im Zentrum der Stadt besteht überwiegend aus Glas und Stahl. Die frühere Polizeidirektion, ein historisches Gebäude aus Sand­stein, ist dem Dritten Weltkrieg zum Opfer gefallen. In nur einer Nacht hat ein einziger Bombenteppich des Feindes mehrere Stadtteile in Schutt und Asche gelegt. Hunderttausende Bewohner sind damals bei den gezielten Drohnenangriffen gestorben, unter ihnen auch Peter Müllers Eltern und seine ältere Schwester Ellis.

Heute wäre Ellis 40 geworden.

Gedankenversunken sitzt Peter in seinem Büro im sechsten Stock der Abteilung für Kapitalverbrechen, Levelstufen acht bis zehn. Vor ihm auf dem gläsernen Schreibtisch steht ein gerahmtes Bild seiner Schwester. Die Aufnahme ist ein Jahr vor dem Krieg entstanden. Der Polizist erinnert sich sehr gut an dieses Picknick im Stadtpark. Erinnerungen an schöne Familientreffen lassen den dunkelhaarigen Mann immer ein wenig wehmü­tig werden. Bevor Tränen seine Augen benetzen, betä­tigt er eine Taste an seinem Com-Phone und nimmt Kontakt mit seiner Sekretärin auf. »Bea, wenn diese Psychologin kommt, stell bitte keine Gespräche zu mir durch!«

»Geht klar, Peter! Soll ich frischen Arabica aufbrü­hen?«

Er schmunzelt. »Was täte ich nur ohne dich?«

Sie geht auf den immer wiederkehrenden Scherz ein. »Du hättest eine andere gutaussehende Sekretärin, die dir Kaffee aufbrüht – wahrscheinlich jünger, oder?«

»Anzunehmen«, kontert er frech, wie sie es gewohnt ist.

»Milch und Zucker?«, fragt Bea.

»Ich nicht, aber das weißt du. Wieso fragst du?«

»Milch und Zucker sind aus. Soll ich zu Trudis Abtei­lung laufen und beides holen?«

Peter nimmt eine Visitenkarte aus der Innentasche seiner roten Dienstuniform und liest in Gedan­ken: Susanne Wohlschläger, Psychologin. Er antwortet der Sekretärin: »Nein, lass mal, Bea! Jemand, der Wohlschläger heißt, trinkt seinen Kaffee bestimmt schwarz.«

Ein helles Frauenlachen schallt aus dem Lautspre­cher des Com-Phones. »Na, du bist heute ‘ne schräge Nummer«, kommentiert Bea erheitert. »Wie wär’s dann mit Süßteilchen?«

»Können wir uns schenken«, erwidert Peter. »Ich will nicht, dass die Psycho-Tante bei uns sesshaft wird.«

»Verstehe«, sagt Bea, und das Telefonat wird been­det.

15 Minuten später klopft es zaghaft an die Milchglasscheibe der Bürotür.

»Herein, bitte!«, ruft Peter zur Tür hin.

Sie wird geöffnet, und eine Frau mit fuchsroten lan­gen Haaren kommt herein. In ihrem smaragdgrünen Sommerkleid und den farblich passenden Stöckelschuhen wirkt sie wie eine Frau, die man gerne zu einem Abendessen ausführt. Ihr attraktives Gesicht mit den vollen, rot geschminkten Lippen und den wachen, blau schimmernden Augen strahlt dem Mann entgegen. Sie streckt ihre Hand nach Peter aus, der sofort aufgestan­den ist.

»Susanne Wohlschläger«, stellt sie sich mit sanfter Stimme vor.

Peter räuspert sich und schüttelt ihre Hand. »Müller. Peter Müller.« Er zeigt auf einen Besucherstuhl vor seinem Tisch. »Bitte, setzen Sie sich, Frau Doktor Wohlschläger.«

Elegant lässt sie sich auf dem Stuhl nieder und hebt abwehrend ihre langen, schlanken Finger in die Höhe. »Herr Müller, ich bitte Sie, lassen Sie meinen Doktortitel beiseite, sonst bekomme ich noch Altersflecken im Gesicht.« Bezaubernd kess lächelt sie ihn an. »Frau Doktor Wohlschläger klingt streng nach Ü60, oder?«

Er runzelt kurz die Stirn, scheint verwirrt zu sein. »Ich … ich verstehe nicht … äh?«

»Na, ich meine Ü60, also, über 60!«

Er schweigt und weiß wohl nicht so recht, was er entgegnen soll.

Der rothaarigen Frau gefällt das offensichtlich. »Himmel, oder sehe ich ernsthaft nach über 60 aus?«, spielt sie Fassungslosigkeit.

Peter wird kurz blass und rot. Seine Ohrläppchen glühen. »Nein, nein«, beschwichtigt er. »Das will ich nicht hoffen …«

»Huch, Sie hoffen es nur?«, kontert sie gewitzt.

Jetzt fehlen ihm gänzlich die Worte. Wie schlagfertig ist die denn – und warum?

Die Psychologin lächelt freundlich. »Beruhigen Sie sich, Herr Müller. Ich mache meine kleinen Späße mit Ihnen.« Sie zwinkert ihm zu, was ihn noch stärker irri­tiert. »Es ist eben nicht wie früher«, erklärt sie rätselhaft und schnauft theatralisch.

»Wie meinen Sie das?«, fragt Peter, und auf seiner Stirn steht ein unsichtbares Fragezeichen.

»Na, ich bin die Fuchsrote, die Pickelige aus der Parallelklasse. Die Schüchterne, die im Reli-Unterricht hin­ter dir saß. Bei Frau Regner, dem dürren protestantischen Besenstiel!«

Dann fällt es Peter wie Schuppen von den Augen. »Beim Großen Gründer! Susanne, du bist es? Das ist ja eine Ewigkeit her!«

Frech antwortet sie: »Wir sind der gleiche Jahrgang, also keine Ewigkeit, mein Lieber!« Sie mustert ihn. »Deine Polizeiuniform ist so was von klassisch! Gut schaust du aus!«

Wieder wird ihm heiß und kalt. »Du … du ebenfalls«, entgegnet er verdutzt. »Und was machst du hier?« Dann klatscht er sich an die Stirn, während sie ihn liebevoll auslacht. »Oh Mensch, bin ich ein Trottel!«, meint er schließlich und lacht auch.

»Ich habe ein Herz für attraktive Trottel in Uniform«, entgegnet Susanne darauf. »Mein Ex war Soldat in der Dritten Scheiße!«

»Und du bist Simons Psychologin?«, hinterfragt Peter das Offensichtliche.

»Ja«, bestätigt die Frau. »Und ich sage dir gleich, die­ser 15-Jährige ist vieles, aber kein Mörder im üblichen Sinne.«

Bea, die Sekretärin, klopft an und tritt mit Kaffeegeschirr und einer Kanne ein.

Die fuchsrothaarige Susanne sieht begeistert aus. »Mhmm, herrlich, Kaffee! So ein starker Schwarzer kommt bei mir besonders gut!«

6. Die Geschwister Müller

Dunstiger Smog hängt über der überbevölkerten Großstadt, in der an diesem Tag alles grau und leblos wirkt. Der Sicherheitsdienst, zwei stämmige Männer, die Schlagstöcke am Gürtel tragen, patrouilliert am beschrankten Eingangsbereich des Schulgeländes. In der großen Pause, wenn unzählige Schüler den Schulhof überschwemmen, ist besondere Aufsicht geboten. Raufereien sind an der Tagesordnung, und trotz des eindeu­tigen Waffenverbots in Bereichen des öffentlichen Le­bens sind Springmesser noch immer ein brisantes Thema.

Saskia und Lars, beide 15, beide blond und blauäugig, die Zwillingskinder von Peter und Corinna Müller treffen sich auf dem Schulhof.

»Scheiße, wie siehst du denn aus?«, fragt das Mäd­chen in der schwarzen Schuluniform besorgt.

»Zoff mit Heiner«, antwortet Lars und tupft sich mit einem Papiertaschentuch ein wenig Blut von der Oberlippe.

»Hat er dich geschlagen?«

»Ich ihn zuerst.«

Saskia ist überrascht. Ihr sanftmütiger Bruder, der zwei Minuten nach ihr zur Welt kam, ist normalerweise ein Schlichter, nicht ein Kämpfer. Einer, der die Mäd­chen seiner Klasse mit selbstgeschriebenen Gedichten begeistert.

»Nochmal, du hast ihn zuerst geschlagen? Hat das die Sicherheit mitgekriegt?«

»Nein, wir waren in dem toten Winkel beim Kastanienbaum.« Lars steckt das Papiertaschentuch in die Ho­sentasche. »Hat’s aufgehört?«, will er wissen und zeigt auf seine Lippe.

Saskia nickt. »Warum hast du Heiner geschlagen?«

»Weil er uns beleidigt hat«, raunzt der Junge und ballt unbewusst seine Fäuste.

»Nun mal langsam, Bruderherz! Aber erzähl mal schneller, ehe die Pause um ist. Ich habe dann Chemie bei Prof Totengräber, da komme ich besser nicht zu spät.«

»Es ging um Estelle …«, beginnt Lars. »FISH ist ja überall wegen der Vatermord-Sache und der Lüge in un­serer Bibel in den Medien. Und Heiner, der Arsch, hat unsere Religion beschimpft und in den Dreck gezogen.« Lars Müller spuckt zu Boden und schaut sich rasch um, ob eine Pausenaufsicht es bemerkt hat. »Dabei ist Hei­ner ein Protestant«, meint er verächtlich. »Ausgerechnet! Diese Evangelischen haben doch früher die Katholiken angemacht und den ganzen Verein verraten …«

»Klappe, Bruder!«, stoppt Saskia ihn unwirsch. »Es steht dir nicht zu, über andere Religionen oder Konfessio­nen derart unsachlich zu urteilen. Wir sind FISH!«

»Ach ja?«, schüttelt Lars den blonden Kopf. »Wach mal auf, Schwesterherz! Vielleicht werden wir dem­nächst wegen unseres Glaubens verfolgt – weil wir FISH sind!«

»Komm zu dir, Lars! Lass dich nicht von dem Ge­schwätz und den Medien beeinflussen! Estelle nimmt zu dieser Vatermord-Sache in der Hölle bestimmt noch ausführlich Stellung.«

»Und dann wird alles heil und gut?«

»Sei nicht so zynisch, Lars! Das vergiftet dich – und es macht dich zu so einem … wie Heiner.«

Von rechts nähern sich drei Jungen, die frech grin­sen. Heiner, der mittlere Gutaussehende, den Saskia vor einem Jahr noch sehr cool fand und oft in Ge­danken an ihn masturbiert hat, blökt gleich los. »Leute, hier stinkt’s eindeutig fischig … so richtig nach FISH!«

Die beiden Typen, rechts und links von Heiner, ki­chern wie aufs Kommando.

»Hör auf, uns zu beleidigen!«, schnauzt Saskia ihn an. »Sonst hol ich die Aufsicht!«

»Weswegen denn?«, fragt er scheinheilig.

»Du beleidigst uns, unsere Religion … und unsere Prophetin!«

»Und wenn schon! Eure Estelle ist doch gerade ganz groß in der Negativ-Presse, oder?«

»Kein Grund, meinen Bruder und mich zu beleidigen, Heiner! Gerade in Deutschland haben wir uns die Religionsfreiheit bewahrt – trotz des verfickten Dritten Welt­krieges!«

Heiner grinst fieser als fies. »Wer will dir denn deine Freiheit nehmen, Süße? Ich doch nicht!«

»Lass meine Schwester in Ruhe!«, mischt sich Lars nun ein und stellt sich zwischen Heiner und Saskia.

»Oooch, der Gedichteschreiber muckt auf! Brauchst du noch eine saftige Abreibung?«

Lars zischt: »Lass uns einfach in Frieden! Ich will mich nicht mit dir prügeln, Heiner!«

»Wie süß!«, entgegnet Heiner in einem lästernden Tonfall. »Immer hübsch artig sein, sonst kommt eure blonde Prophetin und klatscht euch Fischlein auf den gläubigen Arsch!«

»Lass Estelle Brukner aus unserem Streit heraus!«, zischt Saskia Müller den gutaussehenden Jungen an. »Unsere Prophetin ist uns heilig. Estelle ist unantastbar für uns!«

Heiner lacht dreckig. »Ich denke, sie ist eine verdammte und mediengeile Lügnerin! Doch zum Durchfi­cken reicht sie wohl aus! Hübsche Lippen, geile Titten!«

Das ist der magische Moment, in dem Saskia Müller in rasenden Zorn gerät. Mit geballter Faust schlägt sie Heiner, ihrer ehemaligen Masturbationsfan­tasie, auf die schön gewachsene Nase und bricht sie glatt durch.

Heiner kann vor Schock nichts sagen und nichts tun, dann blutet er wie ein abgestochenes Schwein.

Seine beiden Freunde suchen schnell das Weite, ehe ein Aufsichtslehrer und die beiden Sicherheitsleute kommen.

»Du verdammte Schlampe …«, brüllt der blutende Heiner und hält sich die Nase.

Saskia zieht ihr rechtes Knie hoch und rammt es zwischen seine Beine. Jaulend geht der Junge zu Bo­den und hört einen Satz, der unauslöschlich zu einer Erinnerung wird: »Versuch doch mal, mit deinen Rühreiern unsere Estelle zu ficken!«

7. Des Wahnsinns fette Beute

Der Duft des Waffenöls beruhigt seine erregten Sin­ne. Er legt das benutzte Stofftuch auf den Werkzeug­tisch und begutachtet den doppelten Lauf der Schrotflin­te. Mit der Kuppe seines mit Hornhaut überzogenen Mittelfingers fährt er die eingravierten Initialen auf dem dunkelbraunen Gewehrkolben nach: AH. Die Anfangsbuchstaben seines vor 20 Jahren verstorbenen Vaters Adolf Hauser.

Hauser, Patriarch einer reichen Kaufmannsfamilie, ist ein Jäger und Waffennarr gewesen. Diese beiden Leidenschaften hat er an seinen einzigen Sohn Rudolph weitergegeben.

Rudolph Hauser, 40, in einem italienischen Zwirn aus Mailand, mit einem militärisch anmutenden Bürstenhaarschnitt auf dem kantigen Kopf, ist guter Dinge. Die Schrotflinte, ein Erbstück seines Vaters, ist in einem tadellosen Zustand, und die Packung Schrotpatronen, eine sündhaft teure Importware aus Florida, steht griff­bereit in der Nähe. Rudolph putzt die altmodische Ni­ckelbrille und schiebt dann zwei Patronen in den Schaft der Waffe. Es klickt, als er den gekippten Lauf ener­gisch schließt.

Heute ist Jagdtag, freut er sich.

Die flüsternden Stimmen haben es ihm am Morgen gesagt.

Nein, sie haben es mir befohlen!

Mit einer pochenden Erektion in der Hose und 20 Schuss in den Taschen der Jagdweste macht er sich auf den Weg zu seinem Wagen.

Nachdem der hünenhafte Mann das Gewehr schussbereit auf die Rückbank gelegt hat, greift er zu seinem Com-Phone, das im Handschuhfach seines Elektroau­tos liegt. Es gilt nun, das Jagdgebiet festzulegen.

Seniorenheim oder Kinderkrankenhaus?, fragt er sich.

Während er sich seinen Steifen reibt und in seine Markenunterhose spritzt, entscheidet er sich für das Seniorenheim.

Die meisten von denen sind mir eh dankbar, wenn ich sie besuche, redet er sich ein.

8. Nachtdienst

»Wie furchtbar, wie schlimm!«

Man kann Susi Sachlers Abscheu in ihrem hübschen, pausbäckigen Gesicht sehen, als sie den Zeitungsartikel mit weit aufgerissenen Augen liest.

»Was ist denn so furchtbar und schlimm?«, fragt ihre Kollegin Corinna Müller, die sich gerade einen Kaffee einschenkt.

Beide Krankenschwestern befinden sich im Nacht­dienst und gönnen sich eine kleine Pause.

Susi schaut sie an. »Da hat einer ein Massaker in ei­nem Altenheim im Stadtteil Stoddelhausen angerichtet. 17 Tote!«

Corinna verschlägt es fast die Sprache. »In … in Stoddelhausen? Das ist ja höchstens drei Kilometer von hier.«

»Ja«, bestätigt Susi. »Ich fahr da jeden Tag mit der Straßenbahn durch. Das ist nicht weit.«

Corinna setzt sich zu Susi hin. »Wann war das? Pe­ter hat mir davon gar nichts erzählt.«

»Gestern ist es passiert.«

»Ich verstehe. Da hatte er dienstfrei.«

»In der Zeitung steht«, berichtet Susi aufgeregt wei­ter, »dass der Täter nicht geschnappt wurde. Es gibt nicht mal eine Videoüberwachung in dem Altenheim. Muss wohl ein schäbiger Laden sein.«

»Nicht gefasst?«, wiederholt Corinna Müller. »Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass so ein Irrer noch frei herumläuft. Hoffentlich schnappen sie den Kerl bald. Ist schon eine richtige Scheiße, was seit dem Krieg aus Deutsch­land geworden ist.«

»Ach? War’s vorher friedlicher bei uns?«

Corinna überlegt kurz. »Du hast recht. Durchgeknall­te gibt es schon immer, und nicht nur bei uns.«

»Bei uns gibt es wenigstens strenge Waffengesetze«, meint Susi. »Nicht so wie überm Teich. Bei denen ändert sich nie was. Das Klima haben sie auch versaut!«

Corinna schmunzelt. »He, Susilein, lass mal deine Anti-Ami-Einstellung in der Schublade. Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn man über andere herzieht.«

Susi nippt an ihrem Kaffee. »Du bist ja nur so empfindlich, weil deine Prophetin ursprünglich ebenfalls aus dem grenzenlos größenwahnsinnigen Amiland stammt.«

»Estelle? An die habe ich gar nicht gedacht …«

»Stimmt doch, Corinna, oder? Die ist doch Amerikanerin?«

»Estelle Brukner hat zwei Staatsangehörigkeiten«, klärt Corinna ihre Kollegin auf.

Susi faltet die Zeitung zusammen. »Wird Zeit, dass Estelle und ihr Scheich mal heiraten. So ‘ne wilde Ehe ist nicht schicklich für eine Religionsgründerin.«

Corinna lacht. »Das kommt wirklich aus deinem Munde? Eine, die am Wochenende durch die Clubs zieht und sich nicht binden will, ehrlich?«

»Ich bin ja keine Estelle Brukner«, verteidigt sich Susi unernst.

»Richtig«, sagt Corinna und stupst sie mit dem Ellbo­gen an. »Und König Hidsaa ist kein Scheich. Er ist der Regent von Hidsania, edel und weltoffen.«

Es klopft plötzlich an der Tür zum Schwesternzim­mer, und ein kleiner Junge im Schlafanzug schlurft müde herein. Er hat einen Teddybären im Arm. Der an­dere Arm ist bandagiert.

»Mein Verband juckt wie blöd«, sagt er.

Corinna steht auf und zieht sich ihre weiße Schwesternkleidung glatt. »Na, dann bring ich dich mal schnell auf dein Zimmer zurück, Robin, und schau nach, ehe du die ganze Station aufweckst.«

»Pippi muss ich auch!«, jammert der Kleine.

»Da bist du nicht alleine«, antwortet Corinna. »Doch: Krankenschwestern können es länger zurückhalten als normale Menschen.«

»Wirklich wahr?«, will Robin wissen.

»Wirklich wahr!«, sagt Susi heiter. »Wir haben das trainiert, deswegen werden wir auch so königlich bezahlt.«

»Also, ich werde nur fürstlich bezahlt«, stellt Corinna augenzwinkernd klar. Sie schaut Susi an. »Blättere mir den Zeitungsartikel mit dem Massaker noch mal auf. Wenn ich zurück bin, will ich den selbst lesen.«

»Was is‘ denn ein Massaker?«, hakt der kleine Junge sofort neugierig nach.

»Schlimmer Erwachsenen-Kram. Und nun, lass uns in dein Zimmer gehen!«

9. Wut

Josef Steinkrug, ein Wahl-Berliner mit bayerischen Wurzeln, sitzt in seinem Auto und starrt durch die abgedunkelten Seitenscheiben. Auf dem Beifahrersitz liegt die Ausgabe einer Boulevardzeitung. Auf der Titelseite ist ein riesiges Bild von Estelle Brukner zu sehen. Dar­unter steht: »Die Lügen-Bibel: Bei FISH stinkt’s vom Kopf her!«

Josef, ein ehemaliger Christ, ist unmittelbar nach dem Dritten Weltkrieg zu FISH konvertiert, weil ihn die öffentlichen Auftritte der Religionsgründerin und Prophe­tin Estelle Brukner überzeugt hatten. Doch seit die Ver­tuschungsaffäre bei der Heiligen Schrift offenbart ist, ist seine Überzeugung in Wut umgeschlagen.

Die Kirchenglocken läuten. Durch die Autoscheiben sieht Josef, wie die ersten Gläubigen die FISH-Kirche verlassen. Am Eingang steht in seinem weißen Gewand ein Hüter von FISH und verabschiedet die Gottesdienstbesucher mit freundlichen Worten.

Josef Steinkrug steigt aus seinem Wagen und öffnet seinen Kofferraum. Dort befinden sich zwei Dinge ge­gen seine Wut, wie er glaubt: ein Molotowcocktail und ein Feuerzeug.

10. Familie Müller

»Heiner Waagknecht hat FISH und Estelle beleidigt, da sind mit mir die Gefühle durchgegangen, Papa!«

Familienrat. Die Familie Müller sitzt am Tischoval zusammen. Saskia und Lars, die Zwillinge, hocken Corinna und Peter gegenüber. Gustav, der Hauscomputer, spielt eine Playlist mit Klassik ab.

Sonntagmorgen. Die Sonne durchdringt kaum das Grau des Smogs, aber das ist egal. Die Stimmung am Frühstückstisch ist so trübsinnig wie das Wetter. Zwei geöffnete Briefe liegen ausgebreitet vor dem Vater. Die blauen Umschläge sprechen für sich: eine Woche Schulausschluss für beide Geschwister.

»Und warum du?«, fragt der Vater den Sohn. »Hat nicht Saskia alleine diesem Heiner die Nase gebrochen und die Hoden geprellt?«

»Ich habe ursprünglich Heiner zuerst geschlagen. Der Konflikt mit Saskia kam erst danach. So habe ich es auch dem Direktor erzählt.«

Peter rümpft die Nase. »Und dann brummt er dir ebenfalls eine komplette Woche auf?«

»Vielleicht liegt es daran, dass wir FISH sind«, antwortet Lars zynisch. »Wir sind gerade ein großes Reizthema, überall und weltweit.«

»Heiner hat gesagt, dass Estelle eine Lügnerin ist«, erzählt Saskia.

»Und du haust ihm deswegen gleich auf die Nase?«, unterbricht sie der Vater barsch.

»… und dass sie zum Durchficken genügen würde!«, ergänzt sie ihren unterbrochenen Satz.

Corinna schüttelt empört den Kopf. »So eine scham­lose Respektlosigkeit. Unmöglich!«

»Ja, und er kommt damit durch, weil er Christ ist!«, zischt Lars und klopft wütend sein Frühstücksei mit dem Löffel auf.

»Stimmt nicht«, lenkt seine Schwester ein. »Er ist auch suspendiert worden. Lulu hat mir vorhin eine Textnachricht geschrieben. Der Direx hat keine Unterschie­de zwischen ihm und uns gemacht.«

»Na, wenigstens«, sagt der Vater. »Doch es muss euch klar sein, dass …«

»Ja, Papa«, sagen die Zwillinge im Duett. »Gewalt ist keine Lösung.«

»Aber: Ich kann euch verstehen«, entgegnet Peter.

»Und ich hoffe«, meint die Mutter und zerreißt die blauen Briefe, »dass diesem Heiner die Eier noch lange schmerzen werden.«