50 Jahre On Tour - Die Livegeschichte der Rolling Stones - Sebastian Haß - E-Book

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Sebastian Haß

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Beschreibung

The Rolling Stones - schon allein der Name steht für mehr als sechs Jahrzehnte voller Dramatik, Leidenschaft und Musik. Keine andere Band hat einen vergleichbar langen, von Erfolg, aber auch von Schlagzeilen begleiteten Weg vorzuweisen. Mit der Schilderung ihrer Bühnenkarriere widmet sich das vorliegende Buch einem lange wenig beachteten Aspekt ihrer Geschichte: der Darstellung ihrer kompletten Livekarriere - Tour für Tour, anhand von Aussagen einzelner Wegbegleiter sowie den einzelnen Bandmitgliedern selbst, packend erzählt.

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Sebastian Haß

50 Jahre On Tour - Die Livegeschichte der Rolling Stones

Inhaltsverzeichnis

the Road Goes On Forever…

Von den Anfängen bis zur ersten Tour 1963

Chaos, Tränen und erste Triumphe – Das Tourjahr 1964

1965 – Non-Stop On The Road

1966 – “The Times – They Are A-Changin´“

“The Last Time?" – Die Europatournee 1967

Erste Auszeit von der Bühne 1967/ 68

AUF DEM SPIELERISCHEN HÖHEPUNKT – THE MICK TAYLOR YEARS

1969 – Umbesetzung und Neuanfang

Die US-Tour 1969

Altamont – Ende eines Traums

Im Schatten Altamonts – Die Europatour 1970

„Farewell England“ – Die UK-Tour 1971

Cocaine, Tequila Sunrise and H. – Die Nordamerikatour 1972

Die Pacific-Tour 1973

Die Europatour 1973

VON DER HALLE INS STADION

Tour Of The Americas 1975

Das Jahr 1976 – Im freien Fall durch Europa

Back To The Roots – Die US-Tour 1978

“Still Life” – durch die Stadien Nordamerikas 1981

Die Europatournee 1982

KRISE UND AUFBRUCH

Sieben magere Jahre oder „Who´s The Boss?“

Die Steel-Wheels-Tour 1989

„Big In Japan“ 1990

Im europäischen Dschungel: Die Urban-Jungle-Tour 1990

AUF DEM WEG ZUR LEGENDE – DIE GROßEN WELTTOURNEEN

1991-1993: Auf Solopfaden/ Bill Wymans Abschied

Voodoo-Lounge – Die erste Welttournee 1994/ 1995

Die Bridges-To-Babylon-Tour 1997/ 1998

No-Security-Tour 1999

40 Jahre, 40 Songs – Die Forty-Licks-Tour 2002 – 2003

A-Bigger-Bang-Tour 2005 – 2007

Auf dem Weg zum letzten Vorhang – Die 50 & Counting-Tour

Still On Fire: Die 14 On Fire-Tour 2014

Zip Code-Tour 2015

América Latina Olé-Tour 2016

Ride ´Em On Down

No Filter-Tour

Sixty

Sweet Sounds Of Heaven

Rolling Stones – Rock´n´Roll Forever?

(In-)Offizielle Liveveröffentlichungen

Abspann

Impressum

Für Katharina

the Road Goes On Forever…

„Is This Your Last Tour?“ – die Standardfrage vieler Journalisten noch aus der Zeit der allerersten Tourneen der frühen 60er Jahre ist heute längst Kult. „Die Stones werden vielleicht nicht ewig bestehen, aber wir werden bis irgendwann kurz vor Ablauf der Ewigkeit weitermachen“1, hatte Mick Jagger bereits 1974 prophezeit. Der auf den ersten Blick so selbstverständliche Weg der Rolling Stones zur erfolgreichsten Liveband der Welt war in der Tat alles andere als vorhersehbar. Schwierigkeiten gab es von Beginn an: Die harten Anfänge im Haifischbecken der Londoner Clubszene, die Tumulte der ersten Tourneen, Brian Jones´ tragischer Tod, Altamont…

Nun, nach mehr als 60 unglaublichen Jahren auf der Konzertbühne, steht sie tatsächlich mit einiger Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevor – die berühmte allerletzte Tour. Höchste Zeit also, die beispiellose Livegeschichte der Rolling Stones erstmals in einem zusammenhängenden Überblick Revue passieren zu lassen, vom kometenhaften Aufstieg zeitgleich mit den Beatles über die legendären Hallentourneen der 60er und 70er bis hin zu den gigantischen Welttourneen der 90er, 2000er, 2010er und 2020er: Tour für Tour. Kein Zweifel: Die wahre Story der Rolling Stones liegt – on the road!

Mick Jagger in Dalton/ Farren: „The Rolling Stones. In eigenen Worten“, Palmyraverlag 2005, S.35↩

Von den Anfängen bis zur ersten Tour 1963

„Leidenschaftlich (…) kämpfte sich die Band durch Haß und Hohn, um ihre Botschaft dem Millionenpublikum zu vermitteln, von dem wir wußten, dass es auf uns wartete.“1 Bill Wyman

Der 12. Januar 1963, ein typisch trister Londoner Wintertag, sollte Rockgeschichte schreiben: An diesem Abend erlebten die 200 Gäste des Ealing Jazz Club den Auftritt einer Band, die gerade dabei war, die Londoner Musikszene auf den Kopf zu stellen. Die sogenannten „Rolling Stones“ spielten nicht etwa Jazz, nein, sie präsentierten dem überraschten Publikum kompromisslosen Rhythm & Blues. Doch nicht nur das – an jenem Abend standen mit Sänger Mick Jagger, den Gitarristen Brian Jones und Keith Richards, Schlagzeuger Charlie Watts und Bassist Bill Wyman erstmals die entscheidenden fünf Musiker gemeinsam auf der Bühne: Ladies and Gentlemen: Die Geburtsstunde der wohl berühmtesten Rock´n´Roll-Band der Welt!

Begonnen hatte alles ein halbes Jahr zuvor, als Brian Jones, ein junger Bluesenthusiast aus Cheltenham, nach Mitstreitern für eine eigene RnB-Band suchte. „Der Pianist Ian Stewart war der erste, der sich meldete“2, erinnert sich Bill Wyman. Kurze Zeit später stießen Mick Jagger und Keith Richards dazu, die sich bereits von Kindesbeinen an kannten und Brian Jones´ Passion für den Blues uneingeschränkt teilten. Die kommenden Wochen und Monate brachten erste Auftritte in schäbigen Kellerclubs im Londoner Stadtteil Soho, dem neuen Inviertel des Swinging London, wo sich weitere Amateurmusiker der Band anschlossen: Geoff Bradford, Carlo Little, Tony Chapman und Dick Taylor.

Bis zum Herbst 1962 herrschte so innerhalb der Band ein ständiges Kommen und Gehen, denn „die Rollin´Stones“, wie Brian Jones seine Gruppe nach einem Song der Blueslegende Muddy Waters ursprünglich nannte, waren nur eine von vielen Amateurbands auf der verzweifelten Suche nach Geld und Anerkennung. „Damals wusste ich überhaupt nicht wovon ich leben sollte“3, erinnert sich Mick Jagger, der nach wie vor an der London School Of Economics eingeschrieben war. Keith Richards weiß hierzu: „Etwa ein Jahr haben wir mit Betteln, Borgen und Stehlen bestritten.“4 Der Traum der Rollin´Stones zu diesem Zeitpunkt war ein festes Engagement als Hausband in einem der vielen Clubs – mit einer Bedingung: Dem Rhythm & Blues wollten sie um jeden Preis treu bleiben!

Gerade dieses bedingungslose Festhalten am RnB brachte ihnen zunächst den Boykott der damals von Jazzpuristen dominierten Londoner Clubszene ein. Im Januar 1963, kurz nach ihrem ersten Konzert als Rolling Stones, schien ihre Lage besonders aussichtslos: „Sie sahen in uns eine gefährliche Bedrohung des status quo des Jazz“5, schildert Bill Wyman die damalige Situation, „(…) es gelang uns nicht, irgendwo einen Gig zu ergattern.“

Die Rettung nahte in Gestalt von Giorgio Gomelsky, dem Inhaber des Crawdaddy und einer der wenigen Bluesenthusiasten innerhalb der Londoner Clubszene. Nachdem Gomelsky die Band Anfang Februar bei einem Auftritt im Red Lion gesehen hatte, beschloss er, sie als seine Hausband unter Vertrag zu nehmen. Darüber hinaus versprach er den Rolling Stones zu helfen, das Jazzembargo der führenden Clubs zu durchbrechen.

Gomelsky hielt Wort. Bereits im März 1963 nahm die Zahl ihrer Clubgigs rapide zu und die Stones wurden so zu einer festen Größe innerhalb der Liveszene Sohos. Zwar beschränkten sich ihre Auftritte nach wie vor auf London, doch dies gab ihnen auch die Möglichkeit, sich eine feste Fanbasis aufzubauen. Giorgio Gomelsky: „Das Crawdaddy wurde so beliebt, dass man ab zwei Uhr nachmittags anstehen musste, wenn man fünf Stunden später in das Konzert wollte.“6 Dort drängten dann im Halbdunkel mehrere hundert Zuhörer Kopf an Kopf zur Bühne, um nichts von dieser ungezügelt rauen Musik zu versäumen, die es woanders nicht zu hören gab.

Die Stones selbst ließen sich von der Energie ihres aufgepeitschten Publikums zu minutenlangen Bluesimprovisationen mitreißen – hier, in der stickig heißen Atmosphäre des Crawdaddy wurden sie endgültig zur Liveband. „Wir spielten gewöhnlich zwei Zehn-Minuten-Versionen von ´Pretty Thing`, und die Leute hielten das für ein Stück. Hier haben wir unsere Sache von Grund auf gelernt“, bestätigt Keith Richards, der heute noch staunt, mit welcher Leichtigkeit Mick Jagger das Publikum in Bann zog: „Im Crawdaddy entdeckte ich, dass Mick auf einer Bühne von der Größe eines Bettvorlegers besser als jeder andere auf der Welt eine Show abziehen konnte – außer vielleicht James Brown.“7

Unter den mittlerweile zahlreichen Bewunderern der Rolling Stones befand sich auch der junge Toningenieur Glyn Johns, der ihnen eines Abends nach einem Gig im Crawdaddy wie aus dem Nichts die Aufnahme einer Promo-EP vorschlug. Die Stones konnten sich die Studiokosten trotz ihres jüngsten Erfolgs kaum leisten, doch ihre Euphorie kannte nach dem unvermuteten Aufschwung der zurückliegenden Wochen keine Grenzen. Die Aufnahmesession fand schließlich am 11. März 1963 in den Londoner IBC-Studios statt. Dort nahmen die Rolling Stones ganz in Manier einer Liveband in nur drei Stunden fünf Songs auf – darunter Bo Diddleys „Road Runner“ und Muddy Waters´ „I Want To Be Loved“.

Trotz ihrer Unerfahrenheit gelang es ihnen, die Energie und Spielfreude ihrer Liveauftritte direkt auf die Aufnahmen zu übertragen. Umso größer war jedoch die Enttäuschung, als gleich mehrere Plattenfirmen die Bänder ablehnten.

Amerikanischer R&B – was war das überhaupt? Bringt uns ein paar einschlägige Popsongs wie die Beatles – so oder so ähnlich lauteten viele der nicht einmal unfreundlich gemeinten Ratschläge.

Für die Rolling Stones war dies der letzte Beweis, dass Hingabe und Talent allein im Showgeschäft nicht zählen. Was ihnen nach wie vor fehlte, waren Kontakte, ohne die auch schon damals im Musikbusiness nichts lief.

Doch wieder einmal hatten die Stones Glück, als sie Ende April 1963 dem Mann begegneten, der ihrer Karriere die entscheidende Wendung geben sollte: Andrew Loog Oldham. Der erst zwanzigjährige Pop-Promoter hatte bereits viel über diese Band gehört, deren Konzerte das Publikum regelmäßig in Raserei versetzte. Doch als er sich einen ihrer Gigs im Crawdaddy ansah, war er zunächst enttäuscht: „Finally […] the ´Rolling Stones`, all six of them, took to the stage while the nattering, half-pint-sodden, hundred-odd couples seemed ready for what they were about to receive and went apeshit. So did the group, they didn´t seem to start (…).”8 Doch dann – plötzlich wie aus dem Nichts: „I was already standing up but what I saw, heard and felt stood me up again, as the remaining air left the room from the whoosh of hundreds of waving hands, dancing feet and heaving bodies, having sheer, sheer pleasure”9, beschreibt Oldham den Moment, der für ihn alles verändern sollte.

So seltsam diese langhaarigen Gestalten auch wirkten, ihre elektrisierende Energie war einzigartig. Hinter der Bühne erfuhr Oldham dann zu seiner großen Überraschung, dass die Rolling Stones keinen Manager hatten! Trotz oder gerade aufgrund seiner Unerfahrenheit fühlte Oldham, dass er der richtige Mann war, um diese Band groß herauszubringen. Mit seinem intuitiven Gespür für Publicity begriff er das ungewöhnliche Erscheinungsbild der Rolling Stones nicht als Handicap, sondern als Chance, sich von den vielen anderen Bands im gepflegten Anzugslook abzuheben. Und wenn sie damit die gesamte Elterngeneration Großbritanniens schockierten? Umso besser!

Mit seinen Vorstellungen gelang es Oldham, die anfänglich misstrauischen Stones schnell für sich einzunehmen: „Sobald das geklärt war sagten wir uns: Okay, jetzt können wir ins Showbiz einsteigen, ohne uns zu verbiegen. Ich muss mir nicht die Haare schneiden wie der oder der“10, erzählt Keith Richards.

Gemeinsam mit seinem wesentlich älteren Geschäftspartner Eric Easton gab Oldham die gemeinsame Marschroute vor: Zunächst ein paar Auftritte außerhalb Londons, soviel Publicity wie möglich und dann ein Plattenvertrag. Brian Jones, zu diesem Zeitpunkt noch unumstrittener Anführer der Band, zögerte keinen Moment und unterschrieb.

Das Nachsehen hatten der wenig attraktive Ian Stewart, der nun auf Druck Oldhams als Bandmitglied ausschied und Giorgio Gomelsky, der sich nach einer neuen Hausband umsehen musste. Ian Stewart hielt seiner Band dennoch als Roadie und gelegentlicher Sideman die Treue – ein unglaublicher Akt der Selbstlosigkeit – den ihm die Rolling Stones nie vergasen.

Nicht von ungefähr kontaktierte Andrew Oldham jetzt Dick Rowe von Decca Records, der im Herbst 1962 die Beatles abgelehnt hatte. Ein katastrophaler Fehler, wie sich gezeigt hatte. Im Frühjahr 1963 standen also Decca und er unter Zugzwang. Decca nahm die Rolling Stones ohne zu zögern unter Vertrag. Ihre erste gemeinsame Single „Come On“ bedeutete für die Stones zunächst ein zähneknirschendes Zugeständnis an den musikalischen Mainstream, dem sie noch Wochen zuvor verächtlich den Rücken gekehrt hatten. Doch ihre Einstellung änderte sich schnell: „Für mich war der Song ein Türöffner, da war ich ganz rational“11, beschreibt Keith Richards seine Haltung beim Erscheinen von „Come On“ am 7. Juni 1963. In den kommenden Wochen sollte es die Pop-Single immerhin bis auf Platz 21 der GB-Charts schaffen. Von entscheidender Bedeutung war jedoch die knapp zweieinhalbmonatige Tingeltour durch die Clubs und Ballsäle der englischen Provinz, die einen Monat später folgte. Durch sie konnten die Rolling Stones ihren Bekanntheitsgrad außerhalb Londons dramatisch steigern.

Bis heute hat sich Keith Richards seine Erinnerungen an den ganz frühen Mick Jagger bewahrt. „Es war ein elektrisierender Anblick, wie er auf diesen kleinen Bühnen sang und tanzte. Es war faszinierend, mit ihm zusammenzuarbeiten und ihn zu beobachten – die Bewegungen, die wirbelnden Drehungen. Er dachte nie darüber nach.“12

Ihr erstes Konzert außerhalb Londons fand am 13. Juli 1963 in Middlesbrough statt. Es folgten weitere Gigs u.a. in Wisbech, Horsham und Middlesex – die alle begeistert aufgenommen wurden – und schließlich sogar ein Auftritt beim legendären Jazzfestival am 11. August in Richmond!

Bislang hatten Eric Eastons Deals mit den jeweiligen Clubbesitzern bei durchschnittlich 200 – 300 Zuschauern pro Konzert nicht viel eingebracht. Im besten Fall deckten sie gerade einmal die notwendigsten Fahrt- und Essenskosten und so war der Auftritt in Richmond vor über 2.000 Zuschauern weit mehr als ein Triumph über das Jazzlager.

Auch wenn die Band nach Richmond ihre Einnahmen deutlich steigern konnte, gönnte sie sich nach wie vor keinen Luxus. Statt in Hotels wurde das zusätzliche Geld in ein verbessertes Bühnenequipment investiert und die Band übernachtete weiterhin in Ian Stewarts VW-Bus, immer bereits auf dem Weg zur nächsten Stadt, zum nächsten Gig. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der spätere Groll der restlichen Band gegenüber Brian Jones verstehen, der sich, wie sich noch herausstellen sollte, heimlich einen Extraanteil an den Konzerteinnahmen sicherte.

Ohnehin war Brian Jones nun derjenige, der mit dem Erfolg am wenigsten zurechtkam. Anfang September fehlte er bei einer Reihe von Auftritten, was die anderen Stones irritierte: „Die Zeit der Sorgen schien endlich vorbei“, erzählt Bill Wyman. „Es kam deshalb für uns alle doch überraschend, als Brian erste ernsthafte Zeichen von Schwäche zeigte. Es war schließlich seine Band, sein früh wahrgewordener Traum – und nun war er der Verwundbarste.“13

In Wahrheit hatte längst ein Kampf um die Führungsrolle innerhalb der Band eingesetzt, da Mick Jagger als Sänger gegenüber dem Publikum automatisch die Rolle als Frontman zukam: „Brian hat sich ziemlich darüber aufgeregt […] Mich hat es einen Dreck interessiert, wer der Boss war“14, meinte Mick Jagger Jahre später.

Indes erreichte die Hysterie ihrer Fans neue Dimensionen. Bei einem Konzert am 5. September im beschaulichen Walmer stürmten erstmals Dutzende Teens die Konzertbühne. Ähnliche Szenen ereigneten sich bei einem Auftritt in der ehrwürdigen Londoner Royal Albert Hall zehn Tage später, als hunderte ekstatischer Fans gegen die Bühne anrannten. Bei dieser Veranstaltung handelte es sich um eine Art Schaulaufen der aktuell beliebtesten Bands Großbritanniens. Mit dabei waren auch die Beatles, die den Rolling Stones gerade den Song „I Wanna Be Your Man“ für ihre nächste Single überlassen hatten: „Jahre später erzählten uns die Beatles, wie sie am Bühnenrand standen und wegen der Begeisterung, die uns aus dem Publikum entgegenschlug, immer nervöser wurden“15, berichtet Bill Wyman nicht ohne Stolz.

Nicht nur die Beatles ahnten, was sich da anbahnte. Auch die Zahl der Fernsehauftritte in Musiksendungen wie „Thank Your Lucky Stars“ oder „Ready Steady Go!“ nahm jetzt sprunghaft zu. Doch für den eigentlichen Coup hatte mal wieder Andrew Oldham gesorgt, indem er die Rolling Stones als Vorgruppe bei einer gemeinsamen Herbsttournee der Everly Brothers und Bo Diddley durch Großbritannien untergebracht hatte. „Wir hatten die einmalige Gelegenheit, den Besten der Besten auf die Finger zu schauen“16, schwärmte Keith Richards noch Jahrzehnte später von ihrer ersten richtigen Tour.

Der einzige Nachteil der Tournee bestand in der Kürze der jeweiligen Auftritte, da die Veranstalter den Rolling Stones als Vorgruppe nicht mehr als zehn Minuten zugestehen wollten. Dafür gehörten die Clubs und Ballsäle zumindest vorerst der Vergangenheit an. „Als wir zum ersten Mal rausgingen, im New York Victoria Theatre in London, erstreckte sich der Saal bis zum Horizont“17, erinnert sich Keith Richards an den Tourstart am 27. September. Doch der Übergang von der engen Clubbühne zum vergleichsweise riesigen Theatersaal blieb nicht die einzige Neuerung. Hinter allen Bühnen der Theatersäle gab es jetzt einen Backstagebereich, in dem die Stones den damaligen Showgrößen begegneten: Little Richard, den Everly Brothers und ihrem großen Vorbild Bo Diddley. Statt jedoch in Ehrfurcht zu erstarren, nutzten sie die Gelegenheit von ihren Idolen zu lernen – und das sehr schnell. „Zuerst ahmte ich meine Großmutter und meine Mutter und meine Cousins und Cousinen nach, dann kopierte ich Little Richard“18, schildert Mick Jagger die Entwicklung seiner Tanzbewegungen.

Mit zunehmender Größe der Konzerte hatten sich auch die Auftrittsorte geändert: Cardiff, Liverpool, Manchester und Glasgow anstelle von Northwich, Lowestoft und Morecambe. Aus Respekt gegenüber Bo Diddley verzichteten die Rolling Stones auf dessen Songs und spielten stattdessen „Poison Ivy“, „Come On“ und „I Wanna Be Your Man“, das sie direkt im Anschluss an einen Gig in Cardiff als ihre nächste Single aufnahmen.

Am 13. Oktober 1963 kam es in Liverpool zum Eklat, als bekannt wurde, dass Brian Jones von Eric Easton eine wöchentliche Sonderzahlung erhielt. „Nichts kann so sehr böses Blut machen wie Geld, und wir alle hatten Brian in Verdacht, dass er in der Buchführung unsaubere Sachen machte, als er von den frühesten Shows cash einbehielt mit der Begründung, das Geld sei für Ausgaben der Band bestimmt“19, so Bill Wyman. Es gab keinen langanhaltenden Streit, denn niemand wollte die Tour ernsthaft gefährden, allerdings waren die Tage von Brian Jones in der Band von nun an gezählt.

Auf der Bühne verlief hingegen alles nach Plan und weit darüber hinaus. Binnen kürzester Zeit waren die Rolling Stones nicht nur zum unumstrittenen Publikumsmagnet der Tour aufgestiegen, sondern galten darüber hinaus als heißester Liveact ganz Englands: „Am Anfang mussten wir die Show eröffnen, dann durften wir vor der Pause ran, dann als Erste nach der Pause, und sechs Wochen später meinten die Everly Brothers: Hey, ihr Jungs solltet als Headliner auftreten“20, fasst Keith Richards den kometenhaften Aufstieg zusammen.

Am 1. November erschien die zweite Stonessingle „I Wanna Be Your Man“ und verfehlte nur knapp die Top-Ten, während die Bo Diddley-Tournee zwei Tage später mit einem triumphalen Auftritt im Londoner Odeon-Theater zu Ende ging. Tags darauf spielten die Stones bereits erneut in Ballsälen und Clubs – für sie alles andere als ein Rückschritt, denn dies gab ihnen wieder das Gefühl, eine Bluesband zu sein. Die Rückkehr in die Clubs war jedoch noch aus einem anderen Grund von Vorteil: So sorgten ihre mittlerweile zahlreichen Fans vor den kleinen Kellerclubs für weit mehr Aufsehen, als dies vor der Kulisse eines Hallenkonzerts zu diesem Zeitpunkt noch der Fall gewesen wäre. Die Stones blieben im Gespräch, ganz wie Oldham es sich gewünscht hatte, ohne auch nur einen richtigen Hit oder gar eine vollständige Platte vorweisen zu können.

Ein Paradebeispiel in Sachen negativer Publicity war ein Konzert am 19. November im Londoner Bezirk Kilburn, bei dem sich erstmals hunderte Teenager ohne Tickets eine offene Straßenschlacht mit der Polizei lieferten. Von nun an überschlugen sich Englands Zeitungen tagtäglich mit Meldungen, in denen blankes Entsetzen mit unverfrorener Sensationsgier einherging. Handelte es sich bei den Rolling Stones tatsächlich um eine Gefahr für die Allgemeinheit, wie es mittlerweile weite Teile der britischen Öffentlichkeit sahen?

Für die Rolling Stones endete das Jahr 1963 jedenfalls um Lichtjahre besser, als es begonnen hatte. Und dies sollte erst der Auftakt zu einer fünfzigjährigen Musikkarriere sein, die bereits alle entscheidenden Ingredienzen enthielt: Die Energie, das Publikum und nicht zuletzt die musikalische Leidenschaft on stage. Die Rolling Stones live – ihr Markenzeichen von Anfang an!

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.52.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.131.↩

Mick Jagger in Dalton/ Farren: „The Rolling Stones. In eigenen Worten“, Palmyraverlag 2005, S.25.↩

Keith Richards in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.45f.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.151.↩

Giorgio Gomelsky in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.50.↩

Keith Richards in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.88.↩

Andrew Loog Oldham: „Stoned“, Vintage 2001, S.187.↩

Andrew Loog Oldham: „Stoned“, Vintage 2001, S.187.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.174.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.176.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.600.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.185.↩

Mick Jagger in Dalton/ Farren: „The Rolling Stones. In eigenen Worten“, Palmyraverlag 2005, S.30.↩

Bill Wyman mit Richard Havers: „Bill Wymans Rolling Stones Story“, Dorling Kindersley 2002, S.76.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.179.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.179.↩

Mick Jagger in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.88.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.213.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.184.↩

Chaos, Tränen und erste Triumphe – Das Tourjahr 1964

„On the 64tours the crowds were out of their heads, thousands of teenage girls going ballistic.“1 Andrew Loog Oldham

So rasant wie in den letzten Monaten ging es für die Rolling Stones auch im neuen Jahr weiter. Der Fernsehauftritt bei der Premiere von Großbritanniens Kult-Playback-Musikshow „Top Of The Pops“ am 1. Januar 1964 war ein guter Einstieg. Betrachtet man heute die Fernsehbilder, so fällt sofort auf, worin sich die Stones von den anderen Bands unterschieden. Während diese meist mit einem Dauerlächeln ihre Schnulzen sangen, blickten Mick Jagger & Co. herausfordernd in die Kameras, passend zum aggressiven Drive von „I Wanna Be Your Man“. So etwas hatten die Fernsehzuschauer Großbritanniens noch nicht erlebt. Noch während die Anrufe empörter Eltern die für das Studio Verantwortlichen ins Schwitzen brachten, standen bei Easton und Oldham die Konzertveranstalter Schlange…

„Alles ging sehr schnell. Aber man musste damals schnell sein, weil so viel passierte und man plötzlich im Gedränge verloren gehen konnte“2, schildert Mick Jagger die damalige Situation.

Wenn es jemanden gab, der in dieser Anfangsphase den Überblick behielt, dann war dies allein Andrew Loog Oldham. Keith Richards gesteht: „Als wir unsere Erfolge feierten, nahm uns das Touren voll in Anspruch. Wir hatten gar keine Zeit, Songs zu schreiben. In unseren Augen war das auch nicht unsere Aufgabe, wir kamen überhaupt nicht darauf.“3

Anders Oldham: Er erkannte am Beispiel der Beatles, dass die Stones eigene Songs schreiben mussten, um weiterhin im Geschäft zu bleiben und sich aus dem Schatten der Plattenfirma zu lösen. Dass er sich jedoch für Mick Jagger und Keith Richards als Songwriter entschied, war pures Glück, vielleicht auch Intuition. „Mick war der vitale Frontman, der hie und da ein bisschen auf der Mundharmonika blies, aber ein musikalischer Anker war er nicht“4, meint auch Bill Wyman, der sich später noch häufig über Mick Jaggers und Keith Richards´ Monopolstellung als Songwriter ärgern sollte.

Jedenfalls veränderte Oldhams Entscheidung die bisherige Machtkonstellation innerhalb der Band entscheidend, wie insbesondere Brian Jones bald merken sollte. Das neue Tourjahr begann zunächst mit einer knapp dreiwöchigen Englandtournee mit den Ronettes als Headlinern, die in den USA zu diesem Zeitpunkt mehr Hits erzielt hatten, als die Rolling Stones an veröffentlichten Songs vorweisen konnten.

Als sich aber die Stones zum Tourauftakt am 6. Januar im Londoner Granada-Theater als die eigentliche Publikumsattraktion erwiesen, fiel es Eric Easton nicht schwer, zusätzliche Einzelauftritte für sie zu buchen. Eines dieser Zusatzkonzerte fand am 13. Januar 1964 in Glasgow statt: „Es war eine großartige Show mit dreitausend Fans, die den Zuschauerrekord im Barrowland Ballroom der Stadt brach“5, notierte Bill Wyman in sein berühmtes Tagebuch und Brian Jones stellte begeistert fest: „Unsere Musik zeigt Wirkung: Die Kids werfen sich hin und her wie Palmen in einem Orkan. Ein gewaltiges Gelärme übertönt unsere Verstärker. Wir haben das Gefühl mitten unter unseren Fans zu stehen.“6 Gleichzeitig war es das erste Mal, dass die Rolling Stones einen Gig vorzeitig abbrechen mussten. Was aber hatte die Menge in eine derartige Raserei versetzt? Vielleicht war es der aggressive Drive der neuen Songs wie „Bye Bye Johnny“ und „Poison Ivy“, der zeitgleich die EP The Rolling Stones an die Spitze der britischen Charts katapultierte.

Backstage hatte Keith Richards sich derweil in Ronnie Bennett, die Sängerin und Frontfrau der Ronettes, verliebt: „Wir waren beide sehr schüchtern, es wurde kaum geredet, aber es war Liebe, kein Zweifel“7, erinnert er sich. Problematisch war jedoch, dass Bennett zugleich die Verlobte von Phil Spector war – dem ebenso genialen wie unberechenbaren Erfinder der „Wall Of Sound“. Richtig unangenehm wurde es, als der eifersüchtige Spector beide während der laufenden Tour bespitzeln ließ. Keith Richards entschloss sich zum Teilrückzug: Nur noch sporadische Treffen bei späteren US-Tourneen, was angesichts der Tatsache, dass Phil Spector 2009 wegen Totschlags aus Eifersucht verurteilt wurde, wohl die richtige Entscheidung war. „You Better Move On“!

Mit dem Ende der ersten Tour am 27. Januar in Bristol dauerte es keine vier Tage bis zur nächsten Tournee – diesmal mit John Leyton. Gibt es jemanden, der ihn kennt?

Mit ihm befanden sich die Rolling Stones am 7. Februar in Willenhall, als die Beatles bei ihrer Ankunft in New York eine ganze Nation ins Beatlesfieber stürzten. Verständlich, dass sich angesichts dieser Bilder bei den Stones nun eine gewisse Ernüchterung einstellte: Die Beatles spielten in New York und Washington, sie hingegen nach wie vor auf allenfalls mittelmäßigen Bühnen in Rugby, Guildford und Colchester. Allein Oldham ließ keine Einwände gelten: „The Stones now had a friendly audience – they had to perform […].“8

Immerhin gab nun Decca grünes Licht für eine erste LP, ein längst überfälliger Schritt. Wann immer die Stones während der John-Leyton-Tour in London auftraten – Oldham trieb sie danach noch ins Aufnahmestudio, wo sie bis zur Erschöpfung an neuen Songs feilten.

Anfang März begann Eric Easton damit, eine US-Tour zu organisieren. Für die Rolling Stones sollten dies die ersten Auftritte außerhalb Großbritanniens sein, ebenso für Easton, dem deshalb auch die entscheidenden Kontakte in die USA fehlten. Genau das sollte sich noch rächen. Doch vorerst machte der Ausblick auf die bevorstehende US-Tour die kommenden harten Wochen on the road um einiges erträglicher.

Am 15. März spielten die Rolling Stones in Chatham einmalig ohne Drummer Charlie Watts, der wegen einer Urlaubsreise von Micky Waller vertreten wurde. Was er verpasste? Die bislang heftigsten Tumulte in und außerhalb einer englischen Konzerthalle. Keith Richards: „Schwer zu beschreiben, wie furchterregend es war, in eine Ansammlung rasender Teenies zu geraten. Du wurdest gewürgt, praktisch in Stücke gerissen. Da hätte ich lieber im Schützengraben gekämpft, als mich dieser Killerwelle aus Lust und Sehnsucht zu stellen, oder wie man das nennen soll.“9

Drei Tage später drohte in Salisbury ein erneuter Konzertabbruch: „Nach dem ersten Set verließen wir fluchtartig die Bühne und rannten zur Garderobe, verfolgt von ungefähr dreißig Mädchen, denen es gelungen war, Ordnern und Polizisten zu entwischen. Als wir zum zweiten Set zurückkehrten, stand neben uns aufgereiht Polizei auf der Bühne“10, beschreibt Bill Wyman den Ausnahmezustand.

Ob in Birmingham, Manchester oder Southampton, überall kam es zu ähnlichen Zwischenfällen, durch die genau das einzutreten schien, was die Band bei ihrem Wechsel ins Profilager befürchtet hatte: Ihr eigentliches Anliegen – die Musik – drohte mehr und mehr durch Szenen wie diese in den Hintergrund gedrängt zu werden.

Im Frühjahr 1964 spielten die Rolling Stones ein Set, das mit „Route 66“, „I´m A Kingbee“ und dem lasziven „I Just Wanna Make Love To You“ bereits einen Ausblick auf ihr sehnlichst erwartetes LP-Debüt bot. Die Bühne war also von Anfang an der Ort, an dem sich entschied, ob einer ihrer Songs das Potential aufwies, ein Hit zu werden. Die Platte selbst erschien am 17. April ohne Namen und Titel, was für die damalige Zeit ein riesiger PR-Coup war. Mit dieser Aktion zeigten die Stones, wie sehr sie gegen den Strom schwammen und genau das kam an: Es dauerte genau eine Woche, dann hatte ihr Debütalbum die Beatles von der Spitze der Charts verdrängt. Dieser Triumph führte dazu, dass die Fanhysterie einen neuen Höhepunkt erreichte: „Von Bournemouth bis Newcastle, von Bradford bis Stroke, von Nelson bis Folkstone, von Leicester bis East Ham erreichten die Szenen einen solchen Grad des Wahnsinns, dass es schwierig wurde, überhaupt den Ort des Auftritts zu erreichen oder zu verlassen, ohne in Stücke gerissen zu werden“11, so Bill Wyman.

Am 30. April 1964 spielten die Rolling Stones in Birkenhead unfreiwillig das kürzeste Konzert ihrer gesamten Karriere, wie Stephen Davies in seiner Bandbiografie festhält: „Der Vorhang hob sich, die Band spielte drei Takte von „Talkin´Bout You“, und der Saal explodierte. Die Fans attackierten die Bühne frontal, der Vorhang fiel, und bevor Mick ein Wort singen konnte war das Konzert zu Ende.“12

Noch kurioser war jedoch ein TV-Auftritt am 31. Mai: Die Rolling Stones krachten auf ihrem Weg zur Bühne in die Studiodekoration, während bereits das Playbackband lief. Kann ja mal – sollte jedoch nicht – vorkommen…

Anfang Juni saßen Andrew Oldham und die Rolling Stones endlich im Flugzeug nach New York, den Erfolg der Beatles vor Augen. Doch anders als bei den Beatles, deren Single „I Want To Hold Your Hand“ zu Beginn ihrer Tour die US-Charts angeführt hatte, stagnierte ihr Song „Not Fade Away“ auf Platz 85. Weitaus schlimmer war jedoch, dass Decca es versäumt hatte, das in Großbritannien sensationell erfolgreiche Debütalbum auch in den USA zu veröffentlichen.

Daher waren die Rolling Stones in den USA kaum bekannt, auch wenn der begeisterte Empfang von 500 Fans am 2. Juni am New Yorker JFK-Flughafen sie zunächst darüber hinwegtäuschte. Was dann jedoch folgte, war Frust pur. Ob im Hotel, auf offener Straße oder bei Pressekonferenzen – überall wurden die Stones wegen ihrer Kleidung und den langen Haaren verspottet. Keith Richards: „Wenn man damals in Amerika lange Haare hatte, galt man als Schwuchtel und als Missgeburt.“13 Was aber noch schlimmer war: Hier, in den USA, sah man sie nicht einmal als eigenständige Band, sondern als schlechte Kopie der Beatles.

Am Anfang der Demütigungen stand ein Auftritt in Dean Martins angestaubter Hollywood Palace Fernsehhow, wo sie der Entertainer mit öligem Lächeln vor laufenden Kameras verhöhnte: „Es sind gar nicht ihre Haare, die so lang sind. Sie haben bloß niedrige Stirnen und ihre Augenbrauen liegen höher.“14 Keith Richards: „Wir waren ziemlich baff. In England gab es auch Conférenciers und Leute aus dem Showgeschäft, die uns feindselig gegenüberstanden, aber sie behandelten uns nicht wie eine beschissene Zirkusnummer (…).“15

Doch es kam noch schlimmer: Auf den gelungenen Tourauftakt in San Bernadino am 5. Juni folgte wider Erwarten der jähe Absturz in der US-amerikanischen Provinz, wo bislang niemand etwas von den Rolling Stones gehört hatte. Besonders niederschmetternd war hierbei ein Gig in San Antonio, wo die Band vor der bizarren Kulisse eines Volksfestes auftrat: „Es war ein Open-Air-Konzert, und die gemischte Menge aus Cowboys und Kids bereitete allen nur einen mäßigen Empfang“16, erzählt Bill Wyman und Keith Richards erinnert sich: „Dann ging´s nach Texas zu weiteren Freak-Show Auftritten, […] wo wir neben einem Wasserbecken voller Seehunde spielten, die Kunststückchen aufführten.“17

Bei einem Gig in Minneapolis kamen 400, in Omaha lediglich 600 anstelle der angekündigten 15.000 Zuschauer. Für die Stones und alle Beteiligten war dies eine knallharte Bauchlandung, gar keine Frage. Der einzige Lichtblick dieser ansonsten desaströsen Tour war die Begegnung mit Chuck Berry und Muddy Waters in den legendären Chicagoer Chess-Studios, deren einzigartiger Sound die Band zur Aufnahme neuer Songs, darunter „It´s All Over Now“ und „Time Is On My Side“ inspirierte. Nach Abschluss der Aufnahmen traten die Rolling Stones dann in Chicago auf. „Das Komische war, dass wir nach Chicago gingen und die Musik des Chicago Blues spielten, und dann traten wir dort vor weißen Kids auf, die nie etwas von dieser Musik gehört hatten, die wir für sie spielten“18, schildert Charlie Watts die Auswirkungen der damaligen Rassentrennung. Weiße Künstler verhalfen der schwarzen Musik zum Durchbruch – eine alte Geschichte.

In Detroit dann wieder das Altbekannte: Anfeindungen auf offener Straße und leere Ränge im Stadion. Zwei weitere qualvolle Konzerte in Pittsburgh und Harrisburg folgten, dann fand die Tour mit dem letzten Auftritt am 20. Juni in der ausverkauften New Yorker Carnegie Hall doch noch einen versöhnlichen Abschluss.

Ende gut, alles gut? „Zum Ende unserer ersten Amerikatour glaubten wir, wir hätten es verbockt“19, fasst Keith Richards die damalige Enttäuschung zusammen.

Zurück in England hatte Andrew Oldham eine Art Willkommensgig im Londoner Alexandra Palace organisiert, der die vollkommen demoralisierten Rolling Stones etwas aufrichten sollte – erst dann war Zeit für eine grundlegende Bestandsaufnahme. Die Stones waren unzufrieden, vor allem mit Tourmanager Eric Easton, dem sie nun die Hauptschuld am Desaster ihrer ersten US-Tour gaben. Doch ihnen blieb keine Wahl: Während die Beatles weltweit Triumphe feierten, mussten sie zu Hause wieder auf die Beine kommen, was ohne Eric Easton unmöglich schien. „Eric Easton kümmerte sich [jetzt] um unsere Engagements teilweise schon weit im Voraus, daher wurden wir für manche Gigs unter Marktwert bezahlt“20, beschreibt Bill Wyman den taktischen Schritt zurück, den manche Beobachter bereits als Anzeichen für ihren sinkenden Stern sahen.

Doch bereits der Auftakt einer knapp zweimonatigen GB-Tour am 11. Juli in Bridlington bot wieder altbekannte Szenen: Hysterische Teenies, Schlägereien und jede Menge Zerstörungen. Zurück blieben wie immer die ratlosen Ordnungskräfte und die noch fassungsloseren Eltern, so auch in Leeds, London, Sussex und nicht zuletzt im nordenglischen Blackpool am 24. Juli. Dort erlebten die Rolling Stones vor der Kulisse eines angetrunkenen Publikums ihren bislang schlimmsten Albtraum von Zerstörung und Gewalt.

Begonnen hatte alles mit der Spuckattacke eines Fans aus dem Zuschauerraum: „Ich stehe direkt vor ihm, und er spuckt noch mal“21, erinnert sich Keith Richards an den Störer, der damit wohl einen der größten Fehler seines Lebens beging. Und dann: „Sein Kopf ist auf der Höhe der Bühne, fast genau vor meinen Füßen, wie beim Elfmeter. Ich hole aus und treffe volle Kanne seinen Scheißschädel, Wamm!“22 Mit Sicherheit entlud sich in dem Tritt auch etwas von der lang angestauten Wut über die verpatzte US-Tour.

„Wenn die Bühne nicht einen Meter achtzig hoch gewesen wäre, wären wir in dem nun einsetzenden Tumult abgeschlachtet worden“23, ist Bill Wyman noch heute überzeugt. Noch während die Stones von der Bühne flohen, fielen bereits Horden von Zuschauern über ihr Equipment her, vollkommen unbeeindruckt von der auf sie verzweifelt einknüppelnden Bereitschaftspolizei. Die Bilanz der Schlacht belief sich auf mehr als 100 Verletzte, dutzende Festnahmen und einen Schaden, der in die Tausende ging.

Was nun folgte war eine öffentliche Grundsatzdebatte über ein mögliches Auftrittsverbot verbunden mit weiteren Konzertabbrüchen, u.a. am 31. Juli in Belfast, wo die Rolling Stones ebenfalls nach wenigen Minuten von der Bühne flüchteten. Kein Wunder, dass ihre Musik weiterhin kaum wahrgenommen wurde. Dabei spielten die Rolling Stones mit „Around And Around“, „Not Fade Away“ und „It´s All Over Now“ wieder mehrere bis dahin unveröffentlichte Songs. Doch wer im Publikum bekam dies wirklich mit?

Am 8. August 1964 gab die Band in Den Haag ihren Einstand auf dem europäischen Festland. Austragungsort zweier Konzerte war ausgerechnet die Alte Oper, die beim zweiten Auftritt passend zu den Klängen von „Roll Over Beethoven“ in ihre Bestandteile zerlegt wurde.

Als sich dann am 14. August die zweite Großbritannien-EP Five By Five an die Spitze der britischen Charts setzte, schien der missglückte Abstecher in die USA endgültig vergessen. Die Rolling Stones hatten neuen Mut geschöpft, was sich auch darin zeigte, dass sie mit „Little Red Rooster“ entgegen dem damaligen Trend einen Bluesklassiker aufnahmen.

Einen Eindruck vom neuerwachten Selbstbewusstsein der Band erhielt auch der australische Konzertpromoter Robert Stigwood, der von ihnen für die nächste Großbritannientour von September bis Oktober 1964 eine Liste der zu verpflichteten Vorgruppen, darunter das US-amerikanische Soulduo Inez und Charlie Foxx, erhielt. Stigwood willigte ein, verweigerte den Rolling Stones jedoch am Ende der Tour ihre Gage. Nach mehr als 60 Auftritten an über 30 verschiedenen Orten war dies besonders hart, wie man sich unschwer vorstellen kann. „Hätten wir unsere Hausaufgaben gemacht, hätten wir gewusst, dass das seine übliche Masche war“24, gibt Keith Richards heute zu.

Allein dieser Vorfall erklärt das grundsätzliche Misstrauen, mit dem die Rolling Stones später ihren Geschäftspartnern begegneten – von Fritz Rau, über Bill Graham bis hin zu Michael Cohl. Jetzt, im Oktober 1964, blieb für einen langwierigen Prozess gegen Stigwood keine Zeit, denn die Stones hatten eine weitere, viel bedeutsamere Rechnung offen: Mit den USA!

Zuvor jedoch unternahmen sie einen Abstecher nach Brüssel und Paris, wo ihre Beliebtheit inzwischen größer zu sein schien als die der Beatles, die dort bereits vor Monaten gespielt hatten. Im Pariser Traditionsclub Olympia erlebten die Rolling Stones am 19. Oktober vor mehr als 2.000 Zuschauern einen wahren Triumph, während außerhalb der Konzerthalle aufgebrachte Fans die Polizeisperren durchbrachen. Gerade in Frankreich war die Begeisterung für die Stones umso bemerkenswerter, da dort zu jener Zeit mit dem Yé-Yé-Boom eine eigene, in sich sehr starke Musikszene existierte. „Hinter der Bühne lernten wir viele französische Stars kennen, unter ihnen auch die Sänger Johnny Hallyday und Françoise Hardy“25, erinnert sich Bill Wyman an seine erste Begegnung mit den Legenden des Frenchpop.

Nur wenige Stunden später saßen die Rolling Stones im Flugzeug Richtung New York. Um diesmal nichts dem Zufall zu überlassen, führten sie eine eigene Verstärkeranlage mit sich, was nicht nur teuer, sondern höchst ungewöhnlich war, denn bisher hatten sich alle Bands immer auf das verfügbare Bühnenequipment vor Ort verlassen. Was die Wahl der Auftrittsorte betraf, so hatte Eric Easton aus den Fehlern der vergangenen Tour gelernt und sich beim Booking ausschließlich auf größere Städte der East- und Westcoast konzentriert – Cleveland, Milwaukee und San Diego statt Omaha, Harrisburg und San Antonio. Selbst Decca zeigte sich kooperativ und sicherte die Veröffentlichung eines Kompilationsalbums – 12 x 5 – zum Tourstart zu, nachdem bereits im September das Debütalbum endlich auch in den USA erschienen war. Darüber hinaus befand sich die Single „Time Is On My Side“ aktuell in den Top-Ten der US- Charts. Die entscheidenden Weichen waren damit gestellt. Und dennoch war für die Rolling Stones der Druck, diesmal den Durchbruch in den USA zu schaffen, unvorstellbar groß – ´cause you never get a second chance…

23. Oktober 1964: Allein die turbulenten Szenen bei der Ankunft am JFK-Flughafen und später die Ansammlungen hysterischer Fans vor ihrem Hotel in Manhattan zeigten den Stones, dass sie es geschafft hatten. Zumindest vorerst. Zum Auftakt der Tour einen Tag später in der New Yorker Academy Of Music kam es zu einem regelrechten Massenauflauf, der selbst die New Yorker Polizei in Bedrängnis brachte. Bill Wyman: „Als wir auf die Bühne kamen, standen die Fans auf und blieben auch während des ganzen Sets, das mit „Tell Me“ begann, stehen; wir wurden frenetisch umjubelt, und wie immer gelang es ein paar Mädchen, auf die Bühne vorzudringen.“26

Fast jeder Triumph birgt zusätzlich eine gewisse Tragik in sich, wie auch Brian Jones, der sich selbst nach wie vor als Anführer der Band sah, feststellen musste. Hier in New York war wieder Mick Jagger derjenige, der im Rampenlicht stand. Wahrscheinlich lag es an der Art und Weise, wie der Sänger zum Lärm der 4.000 Teenager sang und tanzte: Heiß und kalt zugleich:

“I wanna tell you how it's gonna be You're gonna give your love to me”.27

Sacramento – zwei Tage später. Hier im mehr als 3.000 Meilen von New York entfernten Kalifornien würde sich die US-Tour endgültig entscheiden: „Wir hätten uns keine Sorgen zu machen brauchen“ –, erzählt Bill Wyman, „an die viereinhalbtausend Zuschauer erschienen an diesem Abend im Memorial Auditorium.“28 Noch größeres Prestige versprach jedoch der Auftritt in einer international ausgestrahlten Fernsehproduktion, der T.A.M.I.-Show, bei der die Rolling Stones in den Filmstudios von L.A. auf die geballte Musikszene Amerikas trafen: Die Beach Boys, Chuck Berry, Solomon Burke, Marvin Gaye, die Supremes und nicht zuletzt der Godfather Of Soul, James Brown – alle waren sie da. Trotz der Vielzahl an Top-Acts durften die Rolling Stones als letzte Band auftreten und galten somit als Headliner der Show. Mick Jagger: „Ich hatte zuvor noch nie Hausfrauen gesehen, die Hasch rauchten, sie saßen im Hinterzimmer mit ihren Kindern, und rauchten Hasch. Das hinterließ bei mir den Eindruck, dass das [in den USA] niemanden kümmerte.“29 Nach dem Auftritt gratulierte ihnen James Brown, sichtlich zerknirrscht. Sie hatten es geschafft.

Am 1. November erzielten die Rolling Stones in Long Beach vor 13.000 Fans einen neuen Zuschauerrekord. Dennoch gab es nach wie vor Rückschläge wie beispielsweise in Cleveland, wo am Abend der Präsidentschaftswahlen am 3. November lediglich 500 Zuschauer erschienen und ein weiterer Konzertabbruch in Providence nur einen Tag später. Im Anschluss daran legten die Rolling Stones eine Konzertpause für erneute Plattenaufnahmen in den Chicagoer Chess-Studios ein, deren einzigartiger Sound allein mittlerweile in Großbritannien Charterfolge garantierte. Dort spielte die Band neben Coverversionen von „Hitch-Hike“ und „Mercy Mercy“ mit „Heart Of Stone“ eine weitere von Mick Jaggers und Keith Richards´ Kompositionen ein.

Zufall oder nicht – nach den Sessions erkrankte Brian Jones so schwer, dass er bis zum Finale der Tour am 15. November in Chicago komplett ausfiel. Nach dem bisherigen Verlauf der US-Tour war dies natürlich der denkbar ungünstigste Zeitpunkt. „Wir waren schließlich nur zu fünft, und der Witz der Band war nun mal, dass sie zwei Gitarristen hatte. Und plötzlich war es nur noch einer“30, ärgert sich Keith Richards noch heute. Ungeachtet dessen wurde die Tour ein großer Erfolg. Folge war, dass die Rolling Stones sich – wieder daheim in London – eine Reihe Immobilen, Luxusautos und neuer Bekanntschaften zulegten. Selbst ihre Plattenfirma Decca gab ihren Widerstand gegen die Veröffentlichung von „Little Red Rooster“ angesichts der emporgeschnellten Plattenverkäufe in den USA auf.

Am 13. November 1964 erschien „Little Red Rooster“ und eroberte auf Anhieb die Spitze der GB-Charts.

Andrew Loog Oldham: „Stoned“, Vintage 2001, S.267.↩

Mick Jagger in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.67.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.192.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.213.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.230.↩

Brian Jones in Dalton/ Farren: „The Rolling Stones. In eigenen Worten“, Palmyraverlag 2005, S.33.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.195.↩

Andrew Loog Oldham: „Stoned“, Vintage 2001, S.283.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.189.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.240.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.259-260.↩

Stephen Davis: „Die Stones“, Europaverlag 2002, S.121-122.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.202.↩

Dean Martin in Bill Wyman mit Richard Havers: „Bill Wymans Rolling Stones Story“, Dorling

Kindersley 2002, S.124.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.202.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.277.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.202.↩

Charlie Watts in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.77.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.217.↩

Bill Wyman mit Richard Havers: „Bill Wymans Rolling Stones Story“, Dorling Kindersley 2002, S.145.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.220.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.220.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.296.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.233.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.324.↩

Bill Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.327.↩

Petty/ Hardin: Not Fade Away auf The Rolling Stones: „Stripped“, Virgin 1995.↩

Wyman mit Ray Coleman: „Stone Alone“, Goldmannverlag 1990, S.329.↩

Mick Jagger in „According to The Rolling Stones. Das Buch“, Ullsteinverlag 2003, S.88.↩

Keith Richards mit James Fox: „Life“, Heyneverlag 2010, S.252.↩

1965 – Non-Stop On The Road

„Schaut euch den Zeitplan an: Es hieß immer nur touren, touren, touren, Studio, Studio, touren, touren, touren, Studio, Studio.“1 Mick Jagger

Um es gleich vorwegzunehmen: Mit nicht weniger als sieben Kurztourneen, unzähligen Einzelauftritten und zahlreichen Zwischenfällen nimmt das Jahr 1965 einen herausragenden Platz in der Livegeschichte der Rolling Stones ein.

Anfang 1965 hatte sich die Band als zweite Kraft direkt hinter den Beatles fest etabliert. Knapp zwei Jahre nach ihrer Gründung schien ihre Popularität ungebrochen – mit steigender Tendenz. Ausschlaggebend hierfür waren zum einen der wesentlich erfolgreichere Verlauf ihrer zweiten US-Tour im Herbst ´64 und nicht zuletzt die in L.A. und Chicago entstandenen Aufnahmen, die nun am 15. Januar auf einem zweiten Studioalbum erschienen.

Wieder einmal hatte Oldham Recht behalten: Der eigentliche Durchbruch entschied sich in den USA und nirgendwo sonst. Die LP The Rolling Stones No. 2 bestand überwiegend aus gecoverten Songs, darunter Solomon Burkes „Everybody Needs Somebody To Love“ und Irma Thomas´ “Time Is On My Side” sowie drei aus heutiger Sicht eher bedeutungslosen Jagger/ Richards-Kompositionen (“Grown Up Wrong”, „Off The Hook“ und “What A Shame”).

Doch von entscheidender Bedeutung war dieser neue bluesige Sound mit dem sich die Rolling Stones nicht nur von ihrer mittlerweile zahlreichen Konkurrenz abhoben, sondern darüber hinaus wieder den Spitzenplatz der GB-Charts sicherten. Sie selbst wussten, dass sie den aufregenden Klang ihrer neuen Platte niemals in England hinbekommen hätten, wo keines der Tonstudios über denselben technischen Standard und das Personal wie in den USA verfügte.

Der Erfolg war da und Andrew Oldham erkannte, dass die Stones jetzt schnell nachlegen mussten. Für sie war es das Wichtigste, im Gespräch zu bleiben, denn überall schossen neue Beatgruppen wie Pilze aus dem Boden, allein in London tagtäglich Dutzende, die bereits mit ein, zwei großen Hits über Nacht zu neuen Superstars aufsteigen konnten. Im Fall der Rolling Stones hieß das: ohne Tour keine Publicity und ohne Publicity sinkende Plattenverkäufe.

Am Anfang des Tourjahrs 1965 stand eine dreitägige Tournee durch Irland an, gefolgt von einer ersten Australien/ Neuseeland-Tour, mit der Oldham der Band neue Absatzmärkte erschließen und die nächsten Studioaufnahmen in L.A. finanzieren wollte. Aus heutiger Sicht erscheint es seltsam, dass die Stones noch 1965 derart knapp bei Kasse waren, dass sie sich nach wie vor den Bedingungen der Plattenbosse und Konzertveranstalter fügen mussten. Auch ihre dreiwöchige Australien- und Neuseelandtour war da keine Ausnahme.

Dort war Harry Miller ihr Tourpromoter, der zwar durch seine Zusammenarbeit mit Künstlern wie Louis Armstrong und Arthur Rubinstein eine gewisse Reputation besaß, jedoch wie üblich den Löwenanteil der zu erwartenden Einnahmen vorab für sich beanspruchte. Darüber hinaus waren die Rolling Stones in Australien lediglich Teil einer Package-Tour mit dem Titel Big Beat ´65, bei der neben Roy Orbison weitere illustre Bands wie The Newbeats oder Ray Colombus And The Invaders gebucht waren. Sie konnten also froh sein, wenn die Einnahmen ihre Reisekosten deckten. Was jedoch blieb, war die kostenlose Publicity und die Hoffnung auf steigende Plattenverkäufe. Die Rolling Stones vergaßen die harte Lehrzeit ihrer Anfangsjahre nie, weshalb es später dann die Konzertpromoter waren, die bei den Tourneen draufzahlten.

Am 21. Januar landete die Band in Sydney und brachte den dortigen Flughafenbetrieb zum Erliegen: „Dreitausend Fans begrüßten uns […]. Dreihundert von ihnen, die sich an einen zehn Meter langen Drahtzaun drängten, wurden darunter begraben“2, erzählt Bill Wyman. Ähnlich turbulent verliefen die Konzerte. In Sydney, Brisbane und Melbourne herrschte Ausnahmezustand: Niedergerissene Absperrungen, ohnmächtige Zuschauer, Dutzende Verletzte. Der Polizei gelang es nur mit größter Mühe, die Erstürmung der Konzertbühnen zu verhindern. Nach einem kurzen Abstecher nach Neuseeland gerieten die Dinge bei einem Zusatzkonzert am 13. Februar in Perth vollends außer Kontrolle: „Hunderte von kreischenden hysterischen Fans kämpften mit den Sicherheitsbeamten, die eine Kette bildeten, als Fans niedergetrampelt wurden bei dem Versuch, auf die Bühne zu klettern“3, berichtet Bill Wyman, der sich on stage zunehmend unwohl fühlte. Doch aufgrund dieser Vorkommnisse schnellten in Australien die Plattenverkäufe in die Höhe, bis die Stones sogar die Beatles aus dem Radio verdrängt hatten.

Zum Ausruhen blieb der Band dennoch keine Zeit. Zurück in England erschien am 28. Februar die Single „The Last Time“, die auf Anhieb die GB-Charts toppte. Der Erfolg kam keinen Moment zu früh, denn die nächste Packagetournee durch England stand unmittelbar bevor…

Bei der Hollie-Days-Tour waren, wie bereits der Name sagt, nicht die Rolling Stones sondern die Hollies die eigentliche Attraktion. Letztere hatten sich mit gleich mehreren Top-Ten-Platzierungen mittlerweile zu einem ernsthaften Konkurrenten entwickelt – es wurde also spannend.

Die Tour startete am 5. März in London. In dieser Situation zeigte sich erst der wahre Wert von „The Last Time“, bei dessen aufpeitschendem eindringlichen Sound das Publikum in Raserei geriet. Gleich der erste Gig ging an die Stones, wie Hollies-Chef Graham Nash im Nachhinein einräumte: „Es war absolut wahnsinnig, ein totaler Unterschied wie die Fans auf die Stones reagierten und wie auf uns. Wir konnten das Publikum auch zur Raserei bringen, doch wenn die Stones auf die Bühne kamen, war es ein ganz anderes Level […].“4

Ab jetzt gewann die Tour an Fahrt. In Manchester kam es am 7. März in Ansätzen zu einer Massenpanik, als die Polizei während des Konzerts den Strom abstellte und daraufhin das gesamte Licht im Saal ausfiel. Auch in Scaraborough, Sheffield und Leicester ereigneten sich ähnliche Szenen. Die Rolling Stones selbst hatten sich mittlerweile an die vielen Ausschreitungen gewöhnt, nicht jedoch an die vielen Feindseligkeiten, die ihnen abseits der Konzerte in frustrierender Regelmäßigkeit entgegenschlugen: Manche Hotels verweigerten ihnen die Unterkunft, andere den Zutritt zum Speiseraum, und auch die Anfeindungen auf offener Straße und in den Zeitungen wollten kein Ende nehmen. In diesem Zusammenhang kam es am 18. März zu einem weiteren Zwischenfall, dem berühmten „Tankstellenwanderlebnis“.

Die Stones befanden sich auf dem Rückweg nach London, froh und erleichtert über das Ende einer wirklich harten Tour. Nachdem sie ihren Abschlussgig in Romford fluchtartig verlassen hatten, plagte Bill Wyman ein dringendes Bedürfnis. Für Ur-Roadie Ian Stewart kein Problem, der nun eine Tankstelle ansteuerte. Dem Tankwart klappte die Kinnlade herunter, als er den langhaarigen Mann sah, der ihn an eines dieser „schockierenden Wesen“ aus seiner Zeitung erinnerte. Es gab jetzt angeblich keine Toilette, dafür jedoch eine umso unerfreulichere Diskussion, nachdem inzwischen ein Teil der restlichen Band hinzugekommen war. „Der Tankwart rastete aus und begann uns anzuschreien, „Weg von meinem Vorhof! Verlassen Sie meinen Vorhof!“5, berichtet Bill Wyman, der gar keine Zeit hatte, zu protestieren: „Brian begann zu tanzen, zog eine Grimasse und sang, „Weg von meiner Vorhaut!“ Daraufhin stellte sich die Band geschlossen an die Tankstellenwand, eine Mannschaftsleistung, die im Mutterland des guten Benehmens für große Empörung sorgte – allerdings nur bei der Eltern- und Großelterngeneration. Ultimativer Höhepunkt dieses Zwischenfalls war eine Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf der Richter die ganze Verbitterung der damaligen Nachkriegsgesellschaft zum Ausdruck brachte: „Sie werden der Tatsache für schuldig befunden, dass sie sich nicht wie junge Gentlemen benehmen.“6 Wozu auch. Mick Jagger: „Wir fanden es zum Schreien komisch. Für uns war es nichts weiter als Publicity, und wir brauchten uns noch nicht einmal die Mühe zu machen, mitzuspielen. Das Ganze ging einfach an uns vorbei.“7

Nach dieser Farce brachen die Rolling Stones am 25. März 1965 erneut auf, diesmal zu einer ersten Skandinavientour nach Kopenhagen, wo ihnen 2.000 Fans einen enthusiastischen und friedlichen Empfang bereiteten. Am nächsten Tag fuhr die Band zur Auftaktshow nach Odense, wo Bill Wyman beim Soundcheck einen heftigen Stromschlag erlitt und kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Später stellte sich heraus, dass die vom Konzertveranstalter gestellte PA nicht geerdet war. Eins steht fest: Gerade in ihren frühen Tagen war Rockmusik oft lebensgefährlich.

---ENDE DER LESEPROBE---