When the Night Falls - Carina Schnell - E-Book
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When the Night Falls E-Book

Carina Schnell

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Beschreibung

Manchmal muss man jemanden verlieren, um sich selbst zu finden Will hat den perfekten Plan. Nach der Schule möchte er das Tourismusgeschäft seiner Familie im Südosten Kanadas übernehmen und seine Jugendliebe Liv heiraten. Doch alles kommt anders: Liv trennt sich von ihm, um allein auf Weltreise zu gehen und erst einmal sich selbst zu finden. Vier Jahre später hat Will sich gerade von seinem gebrochenen Herzen erholt, da taucht Liv auf einmal wieder in St. Andrews auf. Im Gepäck hat sie neben allerlei Anekdoten auch einen neuen Freund. Trotzdem wird Will das Gefühl nicht los, dass sie noch etwas für ihn empfindet. Doch wie soll er ihr je wieder vertrauen? Band 2 der Sommer-in-Kanada-Reihe Carina Schnell schreibt am liebsten Geschichten mit einer ordentlichen Prise Romantik. Die Autorin und Übersetzerin hat selbst eine Weile im wunderschönen Kanada gelebt. Ihr Aufenthalt hat sie zu ihrer Sommer-in-Kanada-Reihe inspiriert.

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: FAVORITBUERO, München und Shutterstock.com

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

DAVOR

Davor

Will

Liv

Will

Liv

Will

Liv

Will

DANACH

Kapitel 1

Will

Kapitel 2

Liv

Kapitel 3

Will

Kapitel 4

Liv

Kapitel 5

Will

Kapitel 6

Liv

Kapitel 7

Will

Kapitel 8

Liv

Kapitel 9

Will

Kapitel 10

Liv

Kapitel 11

Will

Kapitel 12

Liv

Kapitel 13

Will

Kapitel 14

Liv

Kapitel 15

Will

Kapitel 16

Liv

Kapitel 17

Will

Kapitel 18

Liv

Kapitel 19

Will

Kapitel 20

Liv

Kapitel 21

Will

Kapitel 22

Liv

Kapitel 23

Will

Kapitel 24

Liv

Kapitel 25

Will

Kapitel 26

Liv

Kapitel 27

Will

Kapitel 28

Liv

Kapitel 29

Will

Kapitel 30

Liv

Kapitel 31

Will

Kapitel 32

Liv

Kapitel 33

Will

Kapitel 34

Liv

Kapitel 35

Will

Kapitel 36

Liv

Kapitel 37

Will

Kapitel 38

Liv

Kapitel 39

Will

Kapitel 40

Liv

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle, die lieben, obwohl es wehtut

»There’s magic in this misery.«

Gabrielle Aplin

DAVOR

Ich dachte immer, Liv wäre ein Sturm. Eine Naturgewalt, die alles mit sich reißt. Aber jetzt weiß ich, dass Liv die Nacht ist. Meine ganz persönliche Nacht.

Mein Leben kann ganz klar in eine Zeit vor Liv und eine Zeit nach ihr eingeteilt werden.

Davor war sie die Sonne in meinem Leben. Danach herrschte nichts als Finsternis.

Will

Ich war bereit.

Zufrieden rückte ich meine dunkelblaue Fliege im Spiegel zurecht, straffte die Schultern und strich mein Sakko glatt. Es war ein seltsamer Anblick, mich im Anzug zu sehen. Bisher hatte ich in meinem Leben noch nicht oft Gelegenheit gehabt, einen zu tragen. Meine Schultern wirkten breiter, die Beine länger. Meine braunen Locken waren frisch geschnitten, an den Seiten kürzer, oben etwas länger. Irgendwie wirkte ich älter. Reifer. Das gefiel mir. Heute Abend konnte ich jedes bisschen Selbstbewusstsein brauchen, das ich aufbringen konnte.

Der teure Stoff lag kühl auf meiner Haut. Trotzdem war mir heiß, meine Hände waren bereits seit über einer Stunde schweißfeucht, in meinem Magen kribbelte es beinahe schmerzhaft. Zum gefühlt hundertsten Mal wischte ich mir die Handflächen an der teuren Anzughose ab. Ich warf meinem Spiegelbild mit den dunkelbraunen Augen und dem Bartschatten ein gewinnendes, wenn auch leicht schiefes Lächeln zu. Du packst das, sagte ich mir in Gedanken, bevor ich mich der Treppe zuwandte. Trotz meines inneren Aufruhrs waren meine Schritte beschwingt und entschlossen, als die alten Stufen unter meinem Gewicht knarzten. Auf dem Weg nach unten kam ich an unzähligen Kinderfotos von meiner Schwester und mir, Hochzeitsfotos von Mom und Dad und Schwarz-Weiß-Aufnahmen meiner Großeltern vorbei.

Natürlich wartete Mom im Eingangsbereich mit den hohen Fenstern und dem glänzenden Parkett auf mich. Sie hatte Dads alte Kamera in der Hand und strahlte über das ganze Gesicht. »Sieh dich nur an. Du siehst so erwachsen aus, Will!«

»Ach, Quatsch, Mom.« Ich winkte zerknirscht ab. Ohne Vorwarnung schoss sie ein Foto, sodass ich gegen den grellen Blitz anblinzeln musste.

Meine jüngere Schwester Emilia, die am Türrahmen des Esszimmers lehnte, schnaubte theatralisch. »Wohl eher wie James Bond für Arme.«

Mom warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Der Anzug war sündhaft teuer, Emmy!«

Emilia hob entschuldigend die Hände mit den schwarz lackierten Nägeln, warf sich ihr langes, kastanienbraunes Haar über eine Schulter und verdrehte die Augen. Erst letzte Woche hatte sie sich einen Undercut schneiden lassen, was einen riesigen Streit mit unseren Eltern zur Folge gehabt hatte.

»William!«, rief Mom in Richtung Wohnzimmer. »Komm und sieh dir deinen Sohn an, bevor er losfährt.« Dad grunzte etwas Unverständliches. Er saß über seinen Laptop gebeugt am Esstisch und hackte auf der Tastatur herum. Nichts Ungewöhnliches für einen Samstagabend.

»Ist schon gut, Mom.« Ich konnte es kaum erwarten, endlich aus dem Haus zu kommen. Sonst würde ich jeden Moment vor Vorfreude platzen.

Zu meiner Überraschung gesellte Dad sich zu uns, mit hochrotem Kopf und einer steilen Falte zwischen den Brauen. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, nickte einmal abgehackt und wollte schon wieder ins Wohnzimmer verschwinden.

»Halt!« Mom packte ihn am Arm und schob ihn neben mich. »Emmy, du auch. Rückt alle zusammen und … lächeln!«

Sie schoss ein Foto von uns dreien, wie wir steif und in gebührendem Abstand zueinander am Fuß der Treppe standen. Ich war wahrscheinlich der Einzige, der auf diesem Foto lächelte. Das fiel mir allerdings nicht schwer, da ich seit Tagen nichts anderes mehr tat. Meine Mundwinkel widersetzten sich der Schwerkraft, indem sie sich pausenlos nach oben reckten.

Dad flüchtete zurück zu seinem Laptop, während Emmy sich an mir vorbei die Treppe hochdrängte.

Mom sah ihr kopfschüttelnd hinterher. »Wenn sie in ein paar Jahren zu ihrem Abschlussball aufbricht, wird sie sich freuen, ihren großen Bruder an ihrer Seite zu haben.«

Das bezweifelte ich. Trotzdem nickte ich und schenkte Mom ein Lächeln.

Sie kam zu mir und rückte meine Fliege gerade, obwohl ich das eben erst getan hatte. Mit glänzenden haselnussbraunen Augen strich sie mir unsichtbare Fusseln von den Schultern und trat dann einen Schritt zurück, um mich nochmals zu begutachten.

»Bello mio«, murmelte sie mit belegter Stimme und schob eine dunkelbraune Strähne zurück in ihren Dutt. Mom war die Einzige, die wusste, was ich heute Abend vorhatte. Mit Ausnahme meiner beiden besten Freunde. Nur war sie nicht besonders gut darin, ihre Gefühle zu verbergen. Das hatte ich von ihr.

Automatisch schob ich eine Hand in meine Hosentasche und tastete nach der kleinen, samtbezogenen Schachtel darin, wie ich es in der letzten halben Stunde schon hundertmal getan hatte.

»Sie wird Ja sagen«, flüsterte Mom und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Mein Herz schwoll noch mehr an, sodass ich glaubte, es müsste jeden Moment meinen Brustkorb sprengen. Mom strich mir eine Locke aus der Stirn und gab dann den Weg zur Tür frei.

Meine nagelneuen, frisch polierten Schuhe klackten laut auf dem Parkett. Kühle Frühlingsluft schlug mir entgegen, als ich die Haustür öffnete. Allerdings lag heute schon der erste Hauch von Sommer in der Luft. Vor dem Haus blühten Tulpen und Primeln, ihr Duft vermischte sich mit der salzigen Brise, die vom Meer heranwehte. Es war noch nicht vollständig dunkel, doch ich hoffte, dass sich die Sonne mit dem Untergehen beeilen würde. Für meinen Plan brauchte ich den Schutz der Nacht.

Mit weichen Knien ging ich durch unseren gepflegten Vorgarten, schloss kurz die Augen, um dem Zwitschern der Vögel und dem Verkehr auf der fernen Water Street zu lauschen, genoss die Wärme der letzten Sonnenstrahlen. Es war der perfekte Abend für den perfekten Plan.

Ich seufzte leise und konnte plötzlich gar nicht schnell genug durch das Gartentor zur Einfahrt kommen.

Mit zitternden Fingern und flatterndem Herzen stieg ich in den silbernen Pick-up-Truck, ein frühzeitiges Geschenk von meinen Eltern zum Highschool-Abschluss.

Ich startete den Motor und sah mich noch einmal zur Haustür um. Natürlich stand Mom dort, um mich zu verabschieden. Sie hatte eine Hand auf ihr Herz gepresst und winkte mir mit tränenfeuchten Wangen. »Viel Glück«, formte sie lautlos mit den Lippen. Meine Mundwinkel wanderten noch höher. Ich ließ die Scheibe herunter, streckte die Hand aus dem Fenster und winkte ihr zurück.

Als hätte es sich jemand für mich gewünscht, ertönten in diesem Moment die ersten Klänge von Marry you von Bruno Mars im Radio. Hochzeitsglocken. Mein Magen kribbelte, und ich packte das Lenkrad fester, als ich rückwärts aus der Einfahrt fuhr.

Ich war bereit.

Liv

Ich tanzte zu David Bowie durch mein Zimmer. Meine nackten Füße versanken im weichen Teppich, die Zehennägel hatte ich silbern lackiert. Singend drehte ich mich einmal um mich selbst und pustete mir eine blonde Strähne aus der Stirn. Als ich am Spiegel vorbeitanzte, gefiel mir, was ich sah. Ich trug kein weit ausgestelltes Prinzessinnenkleid, wie es die meisten Mädchen in meinem Alter zur Prom gewählt hätten, sondern ein eng anliegendes Wickelkleid aus dunkelblauem Samt, das mir bis zu den Knien reichte und meine helle sommersprossige Haut perfekt in Szene setzte. Außerdem ließ es mir die Beinfreiheit, um heute Abend ordentlich zu tanzen.

Denn es gab etwas zu feiern.

Mein Blick fiel auf den geöffneten Umschlag, der zwischen unzähligen Nagellackfläschchen, Kaugummipackungen und alten Schulbüchern auf meinem Schreibtisch lag. Es war eine Zusage der Universität Genf, Studiengang Internationale Menschenrechte. Wie schon seit Tagen machte mein Herz bei diesem Gedanken einen aufgeregten Sprung. Ich konnte es immer noch kaum fassen, dass mein Traum in Erfüllung gegangen war. Dass ich St. Andrews tatsächlich bald verlassen würde. Das Semester würde zwar erst im September beginnen, doch ich war bereit für Europa. Bereit, die Welt zu entdecken. Bereit, aus dieser verschlafenen Kleinstadt zu verschwinden. Bereit für meine Zukunft.

Allein bei der Vorstellung, noch länger hierzubleiben, rückten die Wände meines Zimmers auf mich zu. Plötzlich hörte ich die Musik nicht mehr, da mir das Blut laut in den Ohren rauschte. Meine Brust wurde eng, und ich blieb wie erstarrt stehen, um mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Beide Hände auf den Schreibtisch gestützt, schloss ich die Augen und tat einen Moment nichts, als langsam ein- und wieder auszuatmen.

Im Bewältigen dieser Panikattacken war ich in letzter Zeit Expertin geworden. Bereits seit Monaten fühlte ich mich eingesperrt, als lebte ich in einem Käfig, der sich immer mehr um mich zusammenzog. Das Gefühl, nicht atmen zu können, war zu meinem täglichen Begleiter geworden. Als vorgestern die Zusage der Schweizer Universität gekommen war, hatte ich deshalb keinen Augenblick gezögert. Der Flug war gebucht. Ich hatte mich auf ein Zimmer im Studentenwohnheim beworben. Meine Reiseroute durch Europa stand bereits seit Jahren fest.

Ich öffnete die Augen und musterte die Weltkarte an der Wand über meinem Bett, auf der ich mit Stecknadeln all die Orte markiert hatte, die ich bereisen wollte. All die Wunder, die da draußen auf mich warteten. Langsam verschwand das beklemmende Gefühl und wurde von kribbeliger Vorfreude abgelöst. Noch fünf Tage in diesem Kaff. Fünf Tage, bevor mein Leben endlich beginnen würde.

Vor mich hin summend trug ich beerenfarbenen Lippenstift auf und wuschelte mir durch die langen blonden Wellen, die vom Duschen noch leicht feucht waren. Mit einem letzten Blick auf den Brief auf meinem Schreibtisch eilte ich aus dem Zimmer. Meine Beine waren zwar noch etwas wackelig, doch ich schüttelte mein Unbehagen ab wie eine Schlange ihre alte Haut. Es gab nun schließlich keinen Grund mehr dafür.

Als ich die Treppenstufen hinunterhüpfte, lag das Haus still und dunkel da. Meine Eltern waren auf irgendeiner Kunstausstellung in St. John. Natürlich war das wichtiger als der Abschlussball ihrer Tochter. Was bedeutete schon das Ende der Highschool, verglichen mit den Freuden der Kunst? Derartige Gedanken versetzten mir schon lange keinen schmerzhaften Stich mehr wie früher, als ich noch klein gewesen war. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, alles allein zu schaffen.

Eilig tapste ich durch den dunklen Flur. Eine Diele knarzte unter meinen nackten Zehen. Das Licht der Abendsonne spendete gerade genug Licht, um meine Schuhe zu finden. Es waren silberne Riemchensandalen mit einem nicht besonders hohen, aber breiten Absatz, mit dem ich die ganze Nacht durchtanzen konnte. Ich freute mich darauf, einen letzten Abend mit meinen Freunden zu verbringen, bevor es nach Europa ging. Tortenschlacht mit Jack, Dance-Battle mit Blake und heimliche Schlucke aus dem Flachmann, den Fiona an den Aufsehern vorbeischmuggeln würde.

Und Will. Wir würden sicher irgendwann von der Tanzfläche verschwinden, um ein letztes Mal in den leeren Gängen unserer Highschool rumzumachen. Ich war nicht sicher, wie er meine Abreise aufnehmen würde, doch gleichzeitig konnte ich es kaum erwarten, allen meinen Freunden von meinem großen Abenteuer zu erzählen. Das hatte ich mir für heute Abend aufgespart. Wenn wir schon das Ende einer Ära feierten, konnten wir auch gleich auf den Beginn einer neuen anstoßen.

Ich warf einen raschen Blick auf die Wanduhr im Wohnzimmer. Mist, schon so spät! Will hatte mich gebeten, mich um acht Uhr hinter der Turnhalle mit ihm zu treffen. Er war immer pünktlich, also würde ich ihm den Gefallen tun, es diesmal auch zu sein. Eilig schnappte ich mir meine Handtasche von der klapprigen Bank neben dem Eingang und schlüpfte in die frische Abendluft hinaus.

Als ich die Haustür hinter mir schloss, achtete ich darauf, zweimal abzuschließen. Einen Schlüssel hatte ich schon seit der ersten Klasse. Rührei und Pasta konnte ich zubereiten, seit ich vier war. Die frühe Selbstständigkeit war notwendig gewesen, um in einem Haushalt zu überleben, in dem Kunst über alles ging. Selbst über das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als Sonntagsausflüge mit seinen Eltern zu machen und wie die anderen Kinder eine Brotbüchse mit Käsesandwiches für die Schulpause zu bekommen.

Auf dem Weg durch den Vorgarten winkte ich unserer Nachbarin zu, die gerade ihre Katze Princess Purrfect an der Leine an unserem Haus vorbeiführte. »Amüsiert euch gut, Liebes«, rief sie mir mit einem wissenden Lächeln zu.

»Danke, Mrs Crawford! Haben Sie auch einen schönen Abend.«

Natürlich wusste die ganze Stadt, dass heute der Abschlussball der Highschool stattfand. In St. Andrews wusste jeder über alles Bescheid – selbst über Dinge, die niemanden etwas angingen. Da war sie wieder, die bleierne Schwere, die auf meinen Brustkorb drückte. Ich presste mir eine Hand aufs Herz und geriet auf den unebenen Pflastersteinen kurz ins Straucheln. Keuchend konzentrierte ich mich auf meine Schritte und die silbernen Zehennägel, die vorne aus meinen Sandalen herauslugten.

Nicht mehr lange, erinnerte ich mich in Gedanken. Bald bist du frei.

Die Vorstellung, in wenigen Tagen in einer großen Stadt zu leben, unbemerkt in der Masse von Menschen, Farben und Gerüchen zu verschwinden, völlig neu anzufangen, zu sein, wer immer ich sein wollte, machte mich ganz schwindelig vor Glück.

Als ich vor meinem Auto zum Stehen kam, ging mein Atem bereits wieder gleichmäßig. Ich rüttelte mehrfach an der Tür meines knallgelben Käfers namens Metterming, dem Vorgängermodell des VW-Beatle. Es war ein Wunder, dass der uralte Wagen noch nicht auseinandergefallen war, doch ich liebte ihn heiß und innig. Neben meinen Freunden und meiner Granny war Metterming eins der wenigen Dinge, die ich vermissen würde.

Als ich es endlich geschafft hatte, die Tür zu öffnen, seufzte ich erleichtert. Manchmal blieb der Schlüssel im leicht verrosteten Schloss stecken, sodass man ihn nur mit Schmiere oder etwas Butter herausbekam. Dann wäre ich wirklich zu spät gekommen.

Als ich einstieg, begrüßte mich ein bunter Haufen Hubba-Bubba-Papier auf dem Beifahrersitz mitsamt dem beißenden Melonengeruch meiner Lieblingskaugummis. Auf der Rückbank stapelten sich Bücher, hauptsächlich feministische Schriften und Werke von Jane Austen und Virginia Woolf.

Ich steckte mir einen Kaugummi in den Mund und checkte meinen Lippenstift im Rückspiegel. Dann hielt ich einen Moment inne und sah mir in die grünen Augen. In ihnen lag ein verheißungsvolles Funkeln. Bald, schienen sie mir zuzuflüstern. Bald beginnt dein Leben so richtig.

Mit einem breiten Lächeln und Tausenden tanzenden Glühwürmchen im Magen ließ ich den laut knatternden Motor an. Im weichen Licht der untergehenden Sonne fuhr ich durch die langsam dunkler werdenden Straßen von St. Andrews in Richtung unserer Highschool.

Zum letzten Mal.

Will

Ich parkte meinen Wagen hinter der Turnhalle, in der die Prom stattfand. Laute Musik drang aus dem Gebäude. Die ersten Gäste strömten bereits durch den Haupteingang auf der anderen Seite. Liv hatte nicht gewollt, dass ich sie an diesem Abend abholte, sondern vorgeschlagen, dass wir uns auf der Feier trafen. Heute war mir das recht, denn es gab mir Zeit, alles vorzubereiten. Außerdem hatte ich ihrem starken Drang nach Selbstbestimmung und Freiheit sowieso nie viel entgegenzusetzen gehabt. Das war eins der Dinge, die ich so sehr an ihr liebte.

Jack und Blake, meine beiden ältesten Freunde, warteten bereits auf der weiten Rasenfläche zwischen Turnhalle und Footballfeld auf mich. Hier war es ruhiger, die Musik war kaum noch zu hören, und keine Menschenseele würde heute Abend herkommen. Deshalb hatte ich diesen Ort ausgewählt. Und weil Liv und ich uns hier in den Pausen oft heimlich getroffen hatten. Nicht weit weg vom Schulhof, aber weit genug für Zweisamkeit. Sie liebte die Ruhe hier, nur durchbrochen vom Zwitschern der Vögel in den nahen Bäumen.

Im Näherkommen hob ich meine prall gefüllte Sporttasche wie eine Trophäe über den Kopf. Jack und Blake jubelten im Chor.

»Alles klar, Mann?« Jack schlug mir auf den Rücken. »Bist du bereit?«

»So bereit, wie man nur sein kann«, antwortete ich grinsend.

»Das wird episch.« Blake hielt mir seine Faust hin, gegen die ich mit meiner stieß. Seine umbrabraunen Fingerknöchel bildeten einen starken Kontrast zu meiner blassrosa Haut.

Das Kribbeln in meinem Magen verstärkte sich, als ich die Tasche abstellte und den Reißverschluss öffnete. Sie war mit vierzig Teelichtern in kleinen Gläsern gefüllt, die wir auf dem leicht ansteigenden Hang unter Livs Lieblingsbaum zu einem Herz anordnen würden.

Ich warf einen raschen Blick auf meine Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen. Ich habe Liv gesagt, sie soll um acht hier sein.«

Gut gelaunt machten wir uns daran, die Teelichter aufzustellen. Mein Herz klopfte mit jeder verstreichenden Sekunde schneller, bis ich das Gefühl hatte, augenblicklich vor Nervosität umzufallen. Ich konnte mich kaum auf Blakes Witze und Jacks gute Ratschläge konzentrieren. Dennoch war ich froh, die beiden an diesem Abend an meiner Seite zu wissen.

Nachdem wir alle Kerzen angezündet hatten, trat ich einen Schritt zurück, um unser Werk zu begutachten.

»Danke, ihr beiden«, murmelte ich ergriffen. »Es ist wirklich schön geworden.« Ich blinzelte eilig, bevor sich eine Träne aus meinem Augenwinkel lösen konnte, und verfluchte einmal mehr, dass ich so nah am Wasser gebaut war. Die beiden schienen es jedoch nicht zu bemerken. Sie klopften mir zum Abschied auf die Schulter.

»Viel Glück.« Jack fuhr sich durch das honigblonde Haar. »Aber ich glaube nicht, dass du es brauchen wirst. Liv und du, ihr seid füreinander bestimmt.«

Ich lächelte ihm dankbar zu und sah den beiden hinterher, als sie in der zunehmenden Dunkelheit in Richtung Turnhalle verschwanden.

Dann wandte ich mich dem flammenden Herz zu. Der flackernde Feuerschein erinnerte mich an Liv. An das Feuer in ihren leuchtend grünen Augen. An ihr Lachen, das immer ausgelassen, immer echt war. Und an die unzähligen Sommersprossen in ihrem Gesicht, die ich so oft zu zählen versucht hatte, obwohl es unmöglich war, da ständig neue hinzukamen. Wir waren mittlerweile schon lange zusammen. Nie hatte ich einen Menschen so gut gekannt wie sie, und nie hatte mich ein Mensch so gut gekannt. Lächelnd erinnerte ich mich daran, wie ich sie in der siebten Klasse auf Fionas Geburtstag gefragt hatte, ob sie meine Freundin sein wollte. Schon damals hatte ich gewusst, dass sie die Frau für mich war. Die einzige, die ich je geliebt hatte und je lieben würde. Sie hatte frech in meinen Muffin gebissen und mit schokoladenverschmierten Lippen Ja gesagt.

Hoffentlich würde sie das heute Abend wieder tun.

Ich wischte mir rasch über das Gesicht. Jetzt werd nicht sentimental. Dafür ist später noch genug Zeit.

Zur Ablenkung zog ich mein Handy aus der Hosentasche, um ein Foto von dem flammenden Herz zu schießen. Es war fünf vor acht.

Noch fünf Minuten, bevor sich mein Leben für immer verändern würde. Abermals wischte ich mir die feuchten Handflächen an meiner Hose ab und starrte in die Richtung, aus der Liv jeden Moment kommen würde.

Liv

Schon von Weitem erkannte ich flackernden Kerzenschein im Gras. Der Hang stieg hinter der Turnhalle leicht an, und darauf … leuchtete ein riesiges Herz. Meine Mundwinkel hoben sich wie von selbst. Natürlich hatte Will, der notorische Romantiker, eine Überraschung für unseren Abschlussball geplant.

Er stand vor den flackernden Teelichtern und sah umwerfend aus. Sein lockiges braunes Haar wurde von der leichten Brise gezaust. Sein eleganter schwarzer Anzug war perfekt geschnitten. Wie immer, wenn er nervös war, rieb er sich über den Dreitagebart, den er als einziger Junge unserer Highschool schon hatte, seit wir sechzehn waren. Daraufhin färbte sich die helle Haut seiner Wangen leicht rosa. Seine tiefbraunen Augen glühten förmlich, als er mir entgegentrat. »Liv, du siehst wunderschön aus.«

»Du hast dich aber auch ordentlich schick gemacht.« Ich küsste ihn auf den Mund und umarmte ihn fest.

Er hielt mich eine Weile an sich gepresst, sein Kinn auf meinem Kopf, sein frischer Duft nach Meer und Wind in meiner Nase. Täuschte ich mich, oder zitterte er ganz leicht? Als er zu mir herabsah, war sein Blick so intensiv, dass ich beinahe darin versunken wäre.

»Das alles ist wirklich schön«, raunte ich nah an seinem Mund. »Hast du das nur für mich vorbereitet?«

Er nickte. Lächelnd fuhr ich ihm mit der Hand durch die leicht kratzigen Bartstoppeln und seufzte wohlig auf. Noch etwas, das ich vermissen würde. »Du willst wohl, dass unsere Prom unvergesslich wird, was?«

Er lachte leise, seine Brust vibrierte unter meinen Fingern. »Kann man wohl sagen, ja.« Er trat einen Schritt zurück und hob eine rote Rose vom Boden auf. »Die ist auch für dich.«

»Oh, vielen Dank.« Verschmitzt deutete ich einen Knicks an und nahm sie entgegen. »Du hast dich aber wirklich ins Zeug gelegt.« Wills Hand fuhr in seine rechte Hosentasche, als er scheu lächelte. »Das trifft sich gut«, fuhr ich fort, »weil ich etwas Wichtiges mit dir besprechen wollte.«

»Echt?« Überrascht zog er die Hand aus der Hosentasche. »Ich habe nämlich auch etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«

»Okay.« Ich grinste. »Du zuerst.«

Schon wieder vergrub er eine Hand in seiner Hosentasche. War das ein neuer Tick?

Ich hob die Rose an meine Nase und roch daran. Ihr starker Duft machte mich ganz benommen. Als ich wieder aufblickte, stand Will noch dichter vor mir. So dicht, dass ich wieder seinen vertrauten Geruch einatmete und ihn am liebsten gleich noch einmal geküsst hätte.

Doch plötzlich ging Will vor mir auf ein Knie, und meine Welt kippte von einem Moment auf den nächsten.

Will

Ich kniete vor meiner Traumfrau und hob ihr die elegant verzierte Schatulle entgegen. Mit einem leisen Klicken öffnete ich sie, sodass Liv den goldenen Ring darin sehen konnte.

Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. Genau die Reaktion, auf die ich gehofft hatte.

Meine Zunge fühlte sich schwer an, meine Kehle wie ausgetrocknet. Ich versuchte, meine Nervosität abzuschütteln, und blickte zu ihr auf.

»Liv, wir sind jetzt seit knapp fünf Jahren zusammen, und ich bin noch viel länger in dich verliebt. Ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben mit jemand anderem zu verbringen. Nur mit dir. Immer nur mit dir.« Ich räusperte mich. »Ich weiß, wir sind noch jung, aber wenn man es weiß, dann weiß man es eben. Deshalb würdest du mich zum glücklichsten Mann der Welt machen, wenn du heute Abend Ja sagst. Zu mir. Zu uns.« Ich hielt kurz inne, legte all meine Liebe für sie in die nächsten Worte. »Willst du mich heiraten?«

Erwartungsvoll sah ich in Livs Augen, die sich mit Tränen füllten. Eine weitere Reaktion, die ich vorhergesehen hatte. Ich hatte sogar ein paar Taschentücher in der Innentasche meines Jacketts verstaut.

Liv sagte immer noch nichts, ihr Blick huschte zwischen mir und dem Ring hin und her, als suchte sie nach den richtigen Worten. Ich strahlte sie an, mein Herz war bis zum Bersten mit Liebe für sie gefüllt.

Livs Augen weiteten sich, ihre Unterlippe zitterte. »Will … ich …« Sie legte eine Hand auf die Schatulle und schloss sie.

Ich erstarrte. »Liv? Was machst du denn da?« Damit hatte ich eindeutig nicht gerechnet.

Sie schob ihre Hand über meine, die die Ringschachtel festhielt. »Das geht alles viel zu schnell«, stieß sie atemlos hervor. »Ich … ich kann dich nicht heiraten, Will.«

»Was? Ich verstehe nicht.« Es war, als hätte sie mir einen Schlag in den Magen versetzt und mir dann die Beine weggetreten.

»Ich kann dich nicht heiraten …«, wiederholte sie. »Weil ich in ein paar Tagen nach Europa fliege.«

Die Wiese öffnete sich unter mir, und ich fiel ins Bodenlose.

Liv

»Aber, Liv …« Will löste seine Hand von meiner. Ich hatte seine Finger viel zu fest umklammert. Er trat einen Schritt zurück, runzelte verwirrt die Stirn. »Warte mal, was?«

Mein Herz schlug so heftig in meiner Brust, dass es wehtat. Dieser Abend, dieser Moment … das alles war so falsch. So ganz anders, als ich es mir ausgemalt hatte.

»Was meinst du damit, du fliegst nach Europa?« Wills sonst tiefe, warme Stimme klang auf einmal ungewohnt schrill.

»Gestern kam die Zusage der Universität Genf …«

Seine Augen weiteten sich.

»Ich möchte ein bisschen herumreisen, bevor das Semester im September beginnt. Der Flug ist schon gebucht.«

Er sah mich so verständnislos an, als spräche ich eine Fremdsprache. »Aber … aber …«

»Ich hatte dir doch erzählt, dass ich mich an einigen europäischen Unis beworben habe«, murmelte ich kleinlaut.

»Ja, aber ich dachte nicht …«

»Du dachtest nicht, dass ich angenommen werde?« Ich blinzelte überrascht, als mir klar wurde, was er implizierte. »Na danke, dass du so sehr an mich glaubst.«

Er schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen. »Du bleibst nicht mal zur Zeugnisübergabe?«

»Ich habe mich erkundigt. Principal Tanner hat gesagt, dass sie mir mein Abschlusszeugnis per Post schicken können.«

Will ließ die Schultern hängen, als drückte ein unsichtbares Gewicht auf sie. »Aber ich hatte doch einen Plan …« In seinen Augen lag so viel Schmerz, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Gleichzeitig gefielen mir seine Worte ganz und gar nicht. Will hatte immer irgendeinen Plan. Selbst dieser Abend war auf die Minute durchgetaktet. Es gab keinen Raum für Improvisation. Und schon gar keinen für Abweichungen von seinen perfekten Plänen.

»Ich sage ja nicht, dass ich dich nie heiraten will«, wandte ich hastig ein. »Nur eben jetzt noch nicht. Wir haben doch gerade erst die Highschool fertig. Ich möchte noch so viele Dinge tun, bevor ich hier ver…« Ich biss mir auf die Unterlippe.

Will zog die Brauen zusammen. »Sprich es doch aus«, sagte er scharf. »Bevor du hier versauerst. Das ist es doch, was du denkst.«

»Das ist nicht … Das wollte ich damit nicht sagen. Will, du weißt doch, dass ich die Welt sehen will. Dass ich nicht ewig in St. Andrews bleiben möchte.«

»Ja, aber ich dachte …« Hilflos warf er die Arme in die Luft. »Ich dachte, wir hätten ein ganzes Leben Zeit dafür. Die Welt läuft doch nicht weg.«

Ich seufzte. »St. Andrews aber auch nicht.«

Er taumelte einen weiteren Schritt zurück, als hätte ich ihn geschlagen. »Und ich?«, fragte er viel barscher als vorher. »Was ist mit mir? Soll ich einfach hier herumsitzen und auf dich warten, bis du dich ausgetobt hast? Sollen wir jahrelang eine Fernbeziehung führen?«

Betreten sah ich zu Boden. So ungefähr, hätte ich fast geantwortet, biss mir aber lieber erneut auf die Lippe. »Na ja, ich … ich dachte, wir könnten es wenigstens versuchen.«

»Wow, Liv, wow! Das ist selbst für dich ein neues Ausmaß an Egoismus … Ich verstehe das einfach nicht.« Seine Worte trafen mich hart. Langsam wurde ich ebenfalls wütend.

Er drehte sich einmal um sich selbst, ging aufgebracht auf und ab. »Ich hatte einen Plan, Liv. Ich übernehme das Familiengeschäft, wie Dad es sich wünscht. Wir sparen ein paar Jahre, kaufen uns ein hübsches Haus. Vielleicht einen Hund. Wir könnten so glücklich zusammen sein, wenn du nicht …«

»Wenn ich nicht was?«

»Wenn du nicht alles kaputt machen würdest.«

»Ach ja? Und was ist mit meinen Plänen? Mit meinen Träumen? Hast du auch nur eine Sekunde lang an mich gedacht, als du dir unsere Zukunft ausgemalt hast?«

Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte mich an. »Wie schrecklich von mir anzunehmen, dass du dieselben Träume und Wünsche für die Zukunft hast wie ich. Mir wird jetzt klar, wie falsch das war.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Wir haben ja bloß die letzten fünf Jahre damit verbracht, glücklich miteinander zu sein.«

»Will, das ist nicht fair.« Ich versuchte, die in mir brodelnde Wut im Zaum zu halten.

»Ach so? Es geht darum, fair zu sein? War es also fair, dass du bis zur letzten Minute damit gewartet hast, mir von der Zusage der Uni in der Schweiz zu erzählen? Dass du mich überhaupt nicht in deine Zukunftspläne mit einbezogen hast?«

»Ich habe dich mit einbezogen. Du wusstest ganz genau, dass ich mich dort beworben habe. Ich möchte mit dir zusammenbleiben, Will!«

Er schnaubte und begann wieder auf und ab zu gehen. »Wie stellst du dir das denn vor, wenn uns Tausende Kilometer voneinander trennen? Und dann ist da auch noch die Zeitverschiebung. Ich kann nicht mit dir nach Europa gehen, Liv. Ich kann meinen Dad nicht hängen lassen. Ab Montag werde ich richtig in der Firma eingebunden sein. Er will mich darauf vorbereiten, sie in ein paar Jahren zu übernehmen. Das ist eine riesige Verantwortung!«

»Ja, eine Verantwortung, die dein Dad dir aufzwingt. Tu doch nicht so, als wäre es die absolute Erfüllung für dich, das Familiengeschäft zu leiten.« Wir waren wieder bei unserem Lieblingsthema und unserem einzigen Streitpunkt der letzten Jahre angekommen.

»Manchmal muss man für die Menschen, die man liebt, eben Opfer bringen«, fuhr er mich an. »Aber davon hast du anscheinend noch nie etwas gehört.«

Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Sie taten weh. So richtig. »Und was ist mit dem alten Sprichwort, dass man die Person, die man liebt, gehen lassen soll und sie zu einem zurückkommt, wenn es wahre Liebe ist?«, brachte ich mühsam hervor. Meine Kehle brannte, doch ich wollte jetzt nicht weinen. Ich war viel zu wütend dafür.

Will wurde langsamer, blieb schließlich stehen. Resigniert ließ er den Kopf hängen. »Also hattest du eigentlich nie vor, dass wir zusammenbleiben, während du im Ausland studierst. Sei doch mal ehrlich, Liv. Du willst einfach nur hier weg, koste es, was es wolle. Du denkst nur an dich selbst.«

Ich ballte die freie Hand zur Faust, grub meine Fingernägel in die Handfläche, als meine Augen zu brennen begannen. »Du wirfst mir vor, nur an mich selbst zu denken? Ist dir schon mal aufgefallen, dass das, was du hier gerade abziehst, auch total egoistisch ist? Du kannst mich doch nicht mit einer Heirat an dich ketten, nur damit ich nie weggehe. So läuft das nicht, Will.«

Er hob überrascht die Brauen, zog sie aber im nächsten Moment wieder zornig zusammen. »An mich ketten? Ich wusste nicht, dass der Gedanke, mit mir verheiratet zu sein, für dich so unerträglich ist.«

»Das wollte ich doch damit gar nicht …« Ich schnappte aufgebracht nach Luft. »Wenn es das ist, was du von mir denken willst, kann ich dich sowieso nicht vom Gegenteil überzeugen.«

Er lachte auf. Es klang hart und enttäuscht. »Mir ist bewusst, dass dieser neue Lebensabschnitt gruselig ist, Liv. Keiner weiß so richtig, was nach der Highschool kommt. Und das ist normal. Es geht uns allen so. Aber sobald es auch nur ein kleines bisschen kompliziert wird, läufst du davon. Dabei hätten wir es zusammen geschafft. Wir hätten uns ein schönes Leben aufbauen können.«

Ich schüttelte traurig den Kopf. Will verstand mich nicht. Wie konnte er auch? Er hatte sich schließlich nie so eingesperrt, so völlig fehl am Platz gefühlt wie ich. Jeden verdammten Tag. Wills ganzes Leben war schon von seiner Kindheit an für ihn vorgeplant gewesen, und er hatte es nie infrage gestellt. Hatte es einfach so hingenommen. Als seine Pflicht. Er lebte in einem goldenen Käfig und merkte es nicht einmal.

»Ich muss hier raus, Will«, sagte ich flehend. »Ich muss einfach sehen, was es da draußen noch für mich gibt. Sonst würde ich mir das nie verzeihen.«

Er nickte resigniert, wischte sich müde über das Gesicht. »Dann geh, Liv. Niemand hält dich auf. Wenn du nicht bleiben willst, kann ich dich nicht dazu zwingen. Aber verlang nicht von mir, dass ich hier sitze und jahrelang auf dich warte.«

Machte er etwa gerade mit mir Schluss? War das ein Ultimatum? Er oder Europa?

Ich starrte ihn eine Weile an, nahm seinen Anblick tief in mich auf. Er sah zu Boden, hielt immer noch die blöde Ringschachtel in der Hand.

Meine Unterlippe bebte. Wie hatte er nur glauben können, dass ich Ja sagen würde? Dass dies der richtige Zeitpunkt wäre, um mich zu fragen. Es tat weh, ihn so traurig zu sehen, so völlig am Boden zerstört. Es tat weh, zu wissen, dass er meinetwegen litt. Doch mein Drang, von hier wegzukommen, war stärker. Ich wusste, wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich hier versauern. Wie unsere Eltern und Großeltern vor uns. Ich würde nie etwas erleben. Mit achtzehn verheiratet, mit zwanzig schwanger, ein Haus mit Garten und Hund. Ein absolut spießiges Leben, wie Tausende andere Menschen es führten. Mein ganz persönlicher Albtraum. Es schauderte mich, wenn ich daran dachte. Ich sah Will in meiner Zukunft, aber nicht so. Nicht unter diesen Bedingungen. Seinen Bedingungen. Wenigstens diese Entscheidungsfreiheit hatte er mir gelassen. Und meine Antwort stand fest.

Ich prägte mir sein Gesicht ein. Jede Locke, jedes Barthaar, die Kurven seiner Lippen, seine breiten Schultern und großen Hände. Dann stieß ich scharf die Luft aus und wirbelte herum. »Leb wohl, Will.«

Ich rannte los, meine Absätze schmatzten auf dem mittlerweile feucht gewordenen Gras. Tränen verschleierten mir die Sicht.

Diesen Abend – und die nächsten Tage – hatte ich mir so anders vorgestellt. Ich hatte geglaubt, wir würden uns ausgiebig verabschieden, uns noch mal richtig Zeit füreinander nehmen. Dann würde Will mich in einer knappen Woche zum Flughafen bringen. Er hätte mir am Gate hinterhergewunken, wir hätten beide ein paar Tränen vergossen. Dann wären wir über Skype in Kontakt geblieben, während ich ihn in den Semesterferien besuchen käme – oder er mich. Es war immer mein großer Traum gewesen, mit Will durch Europa zu reisen. Das wusste er ganz genau. Doch mit einem Schlag hatte sich das alles in Luft aufgelöst. Nein, mein Traum war mit einem lauten Knall in Tausend Scherben zersprungen.

An meinem Auto angekommen, riss ich die Tür auf und ließ mich schluchzend auf den Sitz fallen.

Erst da fiel mir auf, dass ich immer noch Wills Rose in der Hand hielt. Ich stopfte sie so heftig in die dafür vorgesehene Halterung am Armaturenbrett, als hätte ich mich daran verbrannt. Der Stiel splitterte. Die Rose hing schlaff in der Halterung, sah gebrochen aus. Genau wie mein Herz.

Der Gedanke sandte einen scharfen Schmerz durch meine Brust. Schluchzer schüttelten meinen ganzen Körper. Es durfte doch nicht so enden. Wir durften nicht so enden.

Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht könnte ich morgen noch mal versuchen, mit Will zu sprechen. Mich zu entschuldigen und ihm abermals zu erklären, dass ich es durchziehen musste. Dass es für mich keine Alternative gab. Vielleicht würde er es verstehen. Und mir vergeben.

Doch tief in mir wusste ich, dass das unmöglich war. Wir konnten die Worte, die wir uns heute Abend an den Kopf geworfen hatten, nicht zurücknehmen. Ich hatte seinen Antrag abgelehnt. So etwas überlebten selbst die stärksten Beziehungen nicht.

Ich hatte es vermasselt. So richtig. Nun blieb mir nichts als die Flucht. In ein anderes Land. In ein neues Leben. Verzweiflung überkam mich, gepaart mit einem schlechten Gewissen, so stark, dass es mir den Atem raubte. Ich keuchte, presste mir eine Hand auf die Brust. Meine Kraft reichte gerade noch aus, um mein Handy vom Beifahrersitz zu nehmen und eine letzte Nachricht an Will zu tippen. Dann ließ ich es in meinen Schoß sinken und legte meinen Kopf aufs Lenkrad.

Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und ließ den Tränen freien Lauf, die mein altes Leben mit sich fortwuschen wie der lang ersehnte Regenguss nach einem trockenen Sommer.

Will

Als ich Liv davonlaufen sah, drangen einzelne Musikfetzen aus der Turnhalle an meine Ohren. Die tiefen Bässe brachten den Boden zum Vibrieren.

Die Sängerin klagte um ihren Liebsten. Sie sang davon, dass sie ohne ihn langsam verblasste. Und genauso fühlte ich mich in diesem Moment. Als würde ich mich auflösen. Als würden all meine Bestandteile vom Wind fortgetragen werden, bis nichts mehr übrig war. Nichts als der Schmerz, der meinen ganzen Körper lähmte. Er war so überwältigend, dass er mich in die Knie zwang. Ich ließ mich ins Gras fallen, starrte Liv hinterher, obwohl ich sie längst nicht mehr sehen konnte.

So kniete ich dort, während die Feuchtigkeit des Rasens durch meine Hose sickerte und der Wind die Kerzen in meinem Rücken eine nach der anderen ausblies.

Ein Loch tat sich in meiner Brust auf und breitete sich rasend schnell aus, flutete meinen Körper mit einer zähen, dumpfen Schwärze. Ich zitterte, spürte nichts mehr als diesen Schmerz. Es wäre so leicht, sich ihm hinzugeben. Doch ich durfte nicht aufgeben. Durfte Liv nicht einfach gehen lassen. Ich wusste, dass sie mein Herz mit sich nehmen würde. Wenn es jetzt schon so wehtat, wie würde es dann erst sein, wenn ich sie nicht mehr täglich sah? Sie nicht mehr singen hörte? Nicht mehr in ihre grünen Augen blicken konnte, die stets heller strahlten, wenn sie mich ansah. Ihr nicht mehr sagen konnte, dass ich sie liebte. So sehr.

Mein Blick fiel auf die Ringschachtel in meiner Hand. Ich presste sie an meine Brust. Fest und entschlossen.

Morgen würde ich zu Liv gehen. Noch einmal versuchen, vernünftig mit ihr zu reden. Sie davon zu überzeugen, dass sie hierhergehörte. Nach St. Andrews. An meine Seite.

Ich durfte sie nicht verlieren. Vielleicht würde sie morgen einsehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Da vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Ich zog es heraus. Eine Nachricht blinkte auf dem Sperrbildschirm auf.

Es tut mir so leid, Will. Aber vielleicht ist es besser so.

Ich schnappte nach Luft. Alles verschwamm vor meinen Augen, sodass ich die Worte nicht mehr lesen konnte. Doch sie hatten sich sowieso in mein Herz gebrannt.

Vielleicht ist es besser so.

Als mich die Erkenntnis traf, keuchte ich gequält auf. Liv hatte längst mit allem abgeschlossen. Mit St. Andrews. Mit unseren Freunden. Mit ihrer Familie. Mit mir.

Ich hatte sie längst verloren.

Vor mir tat sich ein düsterer, bodenloser Abgrund auf. Er rief mich, lockte mich, versprach mir, meinen Schmerz zu lindern. Ich schloss die Augen, spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen, auf mein weißes Hemd tropften. Und ich ließ mich fallen, gab mich ganz dem Abgrund hin, der mich vollständig verschlang.

DANACH

Vier Jahre später

Manche Fehler macht man, ohne es zu bemerken. Man realisiert es erst, wenn es zu spät ist. Und dann bereut man es ein Leben lang.

Für mich war Will dieser Fehler.

Kapitel 1

Will

Ich schaltete hastig das Radio ein, bevor sich mein Handy automatisch über Bluetooth mit dem Auto verbinden konnte.

Wenn ich so aufgewühlt war wie heute, war meine Spotify-Playlist gefährlich. All meine Lieblingssongs erinnerten mich heute besonders an sie. Wir hatten sie zusammen gehört – entweder am Lagerfeuer oder auf dem Boot oder bei unserem ersten Mal. Oder ich hatte diese Lieder gehört, nachdem sie mich verlassen hatte. Zuerst, um in Selbstmitleid und Liebeskummer zu versinken, dann, um den Schmerz zu betäuben. Und schließlich aus Wut auf sie. So war ein bunter Mix aus Songs zusammengekommen, die mir viel bedeuteten, da sie mir über die schlimmste Zeit meines Lebens hinweggeholfen hatten. Allerdings barg jedes einzelne dieser Lieder jetzt das Risiko, dass ich in alte Verhaltensmuster abrutschte, dass kaum verheilte Wunden wieder aufrissen. Das durfte ich unter keinen Umständen zulassen.

Ich hörte seit vier Jahren überall Dinge, die mich an sie erinnerten, egal ob im Fernsehen, im Radio oder in Gesprächen fremder Leute. Alles, aber auch wirklich alles konnte mich mit einem Schlag in die Vergangenheit zurückkatapultieren. In die Dunkelheit, die mich viel zu lange gefangen gehalten hatte. Es war zwar seltener geworden, aber ich hatte es satt.

Als hätte der Radiomoderator meine Gedanken gelesen, dröhnte Maroon 5 aus den Boxen. Adam Levine sang von Erinnerungen an bessere Zeiten, und ich hätte ihn am liebsten erwürgt. Der Text hätte nicht treffender sein können.

»Na klasse«, murmelte ich und schaltete das Radio mit einem frustrierten Knurren aus. Dann würde es eben eine ruhige Fahrt werden. Doch auch die Stille war nicht gerade willkommen, denn sie sorgte dafür, dass meine Gedanken zu laut wurden.

Heute war der Tag. Der Tag, an dem alles anders würde und doch gleich bliebe. Der Tag, an dem meine Welt nach vier Jahren erneut aus den Fugen gerissen wurde. War ich bereit dafür? Nein. Würde ich jemals bereit dafür sein? Wahrscheinlich nicht.

Seufzend fuhr ich los, konnte mich jedoch kaum auf die glücklicherweise leere Straße konzentrieren. So viele Fragen schwirrten unablässig in meinem Kopf herum: Was hatte Liv hier verloren? Warum war sie zurückgekommen? Würde sie bleiben? Wie lange? Doch die Antworten mussten bis heute Abend warten.

Als ich vor dem Mehrfamilienhaus anhielt, in dem Blake wohnte, stand er bereits vor der Tür, lässig in Jeans und ein Stampeders-Trikot gekleidet. Er riss die Autotür auf und sprang auf den Beifahrersitz. Von seiner schweren Sportverletzung am Knie war kaum noch etwas zu bemerken. »Hey, Mann.«

»Hey.« Ich schlug in Blakes ausgestreckte Hand ein, bevor ich wieder losfuhr.

»Danke, dass du mich mitnimmst.«

»Kein Ding. Jack kommt direkt zum Strand?«

»Jap.«

Stille setzte ein. Sie schien aufgrund der fehlenden Musik besonders laut. Blakes Blick wanderte zum Radio, dann zu mir. Er kratzte sich an seinem perfekt rasierten schwarzen Haaransatz.

Sag nichts, sag nichts, sag nichts, beschwor ich ihn in Gedanken.

»Hast du das Lakers-Spiel gesehen?«, fragte er. »Was für eine Pleite!«

Ich atmete innerlich auf. »Nein, ich hab gestern noch lange im Büro gesessen. Rechnungen, Papierkram und so.«

»Mann, das hört sich so öde an.« Blake tat so, als würde er gähnen. »Wann bist du denn zu einem alten Mann geworden?«

Ich lachte. »War ich das nicht schon immer?« Blake betitelte mich tatsächlich schon seit der Grundschule so.

»Wo du recht hast …« Er grinste und lehnte sich im Sitz zurück. Wieder wanderte der Blick aus seinen braunen Augen zum Radio. Ich musste mir schleunigst ein neues Gesprächsthema überlegen. Doch Blake kam mir zuvor.

»Und?«, fragte er vorsichtig. »Sonst alles fit bei dir?«

Ich nickte abgehackt und biss mir auf die Innenseite meiner Wange, um nicht laut zu schreien.

»Ich meine, weil doch heute Abend …«

»Ja, okay, ich hab’s kapiert«, stöhnte ich. »Ihr habt mich jetzt knapp vier Jahre wie ein rohes Ei behandelt, und heute ist meine Schale sozusagen so dünn wie noch nie. Aber können wir bitte alle über das Offensichtliche hinwegsehen und einfach die Party genießen? So wie jedes Jahr?«

»Ooookay.« Blake schwieg eine Sekunde und räusperte sich schließlich übertrieben laut. »Dann pass aber heute Abend auf, dass du dem Feuer nicht zu nahe kommst. Sonst gibt’s noch Spiegelei.«

Mein Kopf ruckte zu ihm herum. Blakes Mundwinkel zuckten, dann verzog er die vollen Lippen zu einem Grinsen, das den Blick auf seine blendend weißen Zähne freigab. Hatte er gerade echt den schlechtesten Witz des Jahrhunderts gerissen?

Unwillkürlich musste ich ebenfalls schmunzeln. Ich rieb mir mit einer Hand über die Bartstoppeln, um das in mir aufsteigende Glucksen zu unterdrücken, doch nur eine Sekunde später brach es aus mir heraus. Wir lachten beide, als hätte Trevor Noah einen seiner besten Donald-Trump-Witze vom Stapel gelassen. Es war albern. Es war befreiend. Es tat unheimlich gut. Genau, was ich gebraucht hatte.

»Danke, Mann«, keuchte ich, als ich mich wieder eingekriegt hatte.

Blake wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und zwinkerte mir zu. »Für dich immer, Bro.«

Am Strand seufzte ich wohlig, als ich meine nackten Zehen im Sand vergrub. Ich ließ den Blick über das windgepeitschte Meer schweifen. Wie immer spendete mir sein vertrauter Anblick Trost. Die kräftige Brise wehte mir ein wenig kühle Gischt entgegen. Dieses Gefühl war Heimat. Das und noch so vieles mehr. Ich hatte nie verstanden, wie Liv all das einfach hatte zurücklassen können.

Blake und ich machten uns daran, im angrenzenden Wäldchen nach Feuerholz zu suchen. Die größten Scheite türmten wir im Sand zu einem Stapel auf. Meine Vorfreude prickelte mit jedem weiteren Stück Holz, das ich heranschleppte, stärker in meinem Bauch – oder verwechselte ich das Gefühl vielleicht mit Nervosität?

Die Party am Vorabend des Canada Day war zu einer beliebten Tradition in St. Andrews geworden. Gemeinsam mit Jack und Blake richtete ich sie bereits seit Jahren aus. Die meisten Leute in unserem Alter, die unser verschlafenes Küstenstädtchen nach der Highschool verlassen hatten, kamen zum ersten Juli nach Hause zurück, sodass es ein großes Wiedersehen gab. Es war spannend zu sehen, was seit unserem Abschluss aus unseren ehemaligen Mitschülern geworden war. Wer verheiratet war, einen großen Job ergattert hatte, im Ausland lebte oder sogar schon ein Kind auf dem Weg hatte. Allerdings war dieses Jahr alles anders. Denn es kamen nicht nur alte Freunde, Football- und Hockey-Kollegen, sondern auch die Frau, die mir das Herz gebrochen hatte. In den letzten vier Jahren hatten wir uns nur ein paarmal flüchtig gesehen. Auf Partys von anderen Leuten oder von Weitem auf der Straße. Unpersönlich. Unangenehm. Unglaublich niederschmetternd.

Aber heute kam sie zu meiner Party. Ich würde cool bleiben, würde ihr nicht zeigen, was es mir bedeutete, sie nach so langer Zeit wiederzusehen.

Zumindest redete ich mir das ein.

Jacks blauer Pick-up-Truck bog auf den Parkplatz neben dem Strand ein. Kurz darauf raste ein karamellfarbener Kugelblitz aus der offenen Tür heran. Jacks Hund Reggie.

Ich stand einige Schritte entfernt, da ich den Strand nach Treibholz abgesucht hatte, sodass Reggie zuerst Blake von den Füßen riss. Die beiden rangelten im Sand, während ich ein riesiges Stück Holz heranschleppte. Mit jedem Schritt versanken meine nackten Füße tiefer im von der Sonne gewärmten Sand.

»Hey, Leute!« Jack hatte wie abgemacht die Getränke mitgebracht, die er nun neben dem Lagerfeuer abstellte. Blake hatte sich von Reggies übermütiger Liebesbekundung losgesagt und einen Stock geworfen, dem der junge Golden Retriever fröhlich bellend hinterherjagte. Als ich zu den beiden stieß, zog Blake Jack gerade damit auf, dass er Cherry Cola für seine neue Flamme mitgebracht hatte. Sie hieß Marly, kam aus Toronto und hatte ihm so richtig den Kopf verdreht. Nur hatte Jack das noch nicht kapiert. Es würde ihm guttun, sich mal auf eine Frau einzulassen, statt immer nur bedeutungslosen Sex mit Touristinnen zu haben. Er und Blake standen sich mit ihren Eroberungen in nichts nach.

Als ich das Stück Treibholz auf den Stapel fallen ließ, kam Reggie von hinten angesprungen und schnappte danach.

»Hey, du kleiner Racker!« Ich strich ihm zur Begrüßung über den Kopf. Er leckte meine Hand ab, und ich ließ ihn am Holz schnüffeln. Dann wandte ich mich Jack zu. »Mann, es ist echt um dich geschehen, oder?« Ich klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. »Ich glaube nicht, dass du jemals etwas so Aufmerksames für eine Frau getan hast.«

»Okay, können wir bitte alle mal aufhören, so ein Riesending daraus zu machen?« Er warf die Arme in die Luft. »Schön, ich habe Cherry Coke gekauft. Ja, es ist zufällig Marlys Lieblingsgetränk. Na und?«

»Zufällig?«, riefen Blake und ich gleichzeitig und brachen in schallendes Gelächter aus. Ich war froh, dass wir ein anderes Gesprächsthema als Liv gefunden hatten. Keine mitleidigen Blicke. Kein vorsichtiges Um-das-Thema-Herumgeschwänzel. Einfach nur wir drei und die bevorstehende Party. Alles ganz normal.

Wir zogen Jack noch ein bisschen weiter auf, während wir die Holzstücke zu einem Lagerfeuer auftürmten. Ich schleifte ein paar breite Stämme durch den Sand und ordnete sie als provisorische Sitzgelegenheiten darum herum an.

Schon wurden die Schatten der Bäume länger, der orangefarbene Feuerball am Himmel sank dem Meer immer weiter entgegen. Die von der Passamaquoddy-Bucht heranwehende Brise frischte auf. Ich klopfte mir den Sand von den Shorts und betrachtete zufrieden unser Werk. Sitzgelegenheiten, Getränke, Feuer. Jetzt fehlten nur noch die Partygäste.

Blake öffnete die Kühltruhe und holte drei Bier heraus. Jack schüttelte den Kopf und tauschte seins gegen ein alkoholfreies ein. »Ich muss noch fahren. Bevor es losgeht, will ich Reggie zu meinen Eltern bringen.«

Blake zuckte mit den Achseln und öffnete den Drehverschluss seiner Flasche. Der herbe, erfrischende Duft stieg mir in die Nase, als ich mein Bier ebenfalls öffnete. Blake stieß mit seiner Flasche gegen Jacks, dann gegen meine. »Auf eine legendäre Party.«

»Auf einen unvergesslichen Abend.« Jack grinste, bevor er einen Schluck nahm. »Hat eigentlich jemand eine Bluetooth-Box für Musik dabei?«

»Ja, aber nur für den Fall«, antwortete Blake. »Liv bringt doch sicher ihre Gitarre mit.«

Jack sah sofort zu mir, Blake schlug sich gegen die Stirn und schaute zerknirscht drein. »Sorry, Mann.«

Ich verkniff mir einen zynischen Kommentar und rang mir ein Lächeln ab. »Für die musikalische Untermalung ist also auf jeden Fall gesorgt.« Dann prostete ich den beiden mit meiner Flasche zu, um sie zu beruhigen. »Es wird bestimmt phänomenal.«

Jack und Blake gaben sich große Mühe, nicht zu offensichtlich durchzuatmen, und hoben ihre Flaschen erleichtert in meine Richtung.

Während Blake sich gierig über sein Bier hermachte, klopfte Jack mir auf den Rücken. »Egal, was passiert, Mann, wir sind für dich da.«

Ich nickte, konnte plötzlich nicht mehr sprechen, weil sich meine Kehle so rau anfühlte, als hätte ich Glasscherben verschluckt.

Ich wusste, dass Jack es ernst meinte. Meine beiden besten Freunde waren in den letzten Jahren für mich da gewesen, als ich durch die Hölle gegangen war. Sie hatten mich an meinem Tiefpunkt gesehen und waren nicht davongelaufen. Dafür hatten sie auf ewig was gut bei mir. Ich bezweifelte nicht, dass sie Liv heute Abend auf ein Wort von mir ignorieren oder ihr sogar Stress machen würden. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte, dass alles wieder ganz normal wurde. So wie früher. Auch wenn das unmöglich war.

Ich warf einen Blick auf mein Handy. Nur noch eine knappe Stunde, bevor die ersten Gäste eintreffen würden. Und irgendwann auch sie.

Bei dem Gedanken an Liv wurde mein Magen so flau wie damals vor unserem ersten Date, bei dem ich sie zum ersten Mal auf eins der Familienboote eingeladen hatte. Ich schluckte, um die plötzlich aufsteigende Übelkeit zu vertreiben.

Bleib ruhig, ermahnte ich mich in Gedanken. Es ist deine Party. Du triffst sie zu deinen Bedingungen. Du hast es in der Hand.

Aber irgendwie fühlte es sich trotzdem so an, als würde ich mit einer frischen Wunde in ein Haifischbecken springen.

Kapitel 2

Liv

»Ich schaue kurz bei Granny Bee vorbei«, rief ich über meine Schulter, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Das Haus meiner Eltern, mit leicht schiefem Dach, gelb abblätterndem Anstrich und verwildertem Garten knarzte zum Abschied, als ich über die Veranda lief.

Kein Lebenszeichen von Mom und Dad, obwohl sie irgendwo da drin sein mussten.

Wahrscheinlich starrte Mom in ihrem Atelier angestrengt auf ihr neuestes Gemälde, und Dad arbeitete im Keller an irgendeiner Skulptur. Dieses völlige Desinteresse an meinem Leben war ein Déjà-vu-Erlebnis aus meiner Kindheit und Jugend. So etwas wie ein normales Familienleben hatte es bei uns nie gegeben. Keine Verabschiedungen, wenn ich ausging. Keine Ermahnungen, zum Abendessen zu Hause zu sein. Keine Fragen, wohin ich wollte. So war es schon immer gewesen.

Ich musste zweimal an der Tür meines knallgelben Käfers ziehen, bevor sie sich leise quietschend öffnete. Als ich einstieg, umhüllte mich sofort der vertraute Geruch nach altem Leder, welken Blumen, Melonenkaugummi und Druckerschwärze. Ich sog ihn tief in mich auf und sah mich mit fast schon schmerzhaft anschwellendem Herzen um. Der Haufen leerer Hubba-Bubba-Packungen auf dem Beifahrersitz, der große Stapel Bücher auf dem Rücksitz, eine vertrocknete rote Rose in der dafür vorgesehenen Halterung am Armaturenbrett – alles war noch genauso, wie ich es vor vier Jahren zurückgelassen hatte. Niemand hatte Metterming angerührt.

Erinnerungen fluteten meinen Geist, und ich schloss die Augen. Ein zittriger erster Kuss nach einem Wolkenbruch im Spätsommer. Lautes Mitsingen zu meinen Lieblingssongs, die ich extra auf Kassette überspielt hatte, um sie über die uralte Anlage hören zu können. Sex auf dem engen Rücksitz mit viel Gefluche und blauen Flecken. Kaugummiblasen. Nächtliche Tränen, als ich von der Prom geflohen war und sich mein ganzes Leben verändert hatte … Halt!

Mit einem Mal war der Schmerz zurück wie eine schallende Ohrfeige.

Ich riss die Augen auf. Rasch wischte ich mir über die verräterisch feuchten Wimpern. Mit zitternden Fingern wühlte ich mich durch das Kaugummipapier auf dem Beifahrersitz und fand tatsächlich noch einen eingepackten. Als ich mir das grellpinke Stück in den Mund schob und der Melonengeschmack auf meiner Zunge explodierte, ging es mir sofort besser.

Die meisten meiner Erinnerungen an dieses Auto waren gut. Ich sollte mich darauf konzentrieren und die anderen tief in mir begraben. So wie ich es die letzten vier Jahre getan hatte. Doch als mein Blick wieder auf die verschrumpelte Rose fiel, brachte ich es nicht über mich, sie aus dem Fenster zu werfen. Es war, als würde ich damit einen Teil von mir selbst entsorgen.

Eilig wandte ich den Blick ab, checkte meine Wimperntusche im Rückspiegel und ließ eine Kaugummiblase zerplatzen. Der Hubba Bubba blieb an meiner Nasenspitze kleben, und ich musste unwillkürlich lachen. Ich schälte ihn von meiner sonnengebräunten Haut, dann ließ ich den Motor an – wobei ich mehrere Versuche brauchte – und fuhr los.

Durch St. Andrews zu fahren fühlte sich etwa so an, als würde ich nach vielen Jahren wieder meinen Lieblingsfilm anschauen. Alles war vertraut, ich würde mich blind zurechtfinden, aber irgendwie hatte ich durch die verstrichenen Jahre eine neue Perspektive dazugewonnen.

Dort war das Lumberjacks, wo ich früher gerne gefrühstückt hatte. Ein paar Gebäude weiter kam der Whale Store mit angrenzendem Coffeeshop, der meinen Freunden Debbie und Ed erst seit ein paar Jahren gehörte. Da drüben ragte der triste graue Betonwürfel in den Himmel, meine alte Highschool – wahrscheinlich das hässlichste Gebäude in ganz St. Andrews. Nicht zu vergleichen mit der fröhlich bunten Häuserfront der Water Street, dem mit Touristen überladenen Pier und den auf- und abschaukelnden Booten im Hafen.

Irgendwie kam mir nun alles kleiner vor als früher, als wäre die Stadt geschrumpft. Oder war ich vielleicht gewachsen?

Ende der Leseprobe