A Different Kind of Power - Jacinda Ardern - E-Book

A Different Kind of Power E-Book

Jacinda Ardern

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Beschreibung

Das Buch der Stunde! Jacinda Ardern – Ex-Premierministerin von Neuseeland: Eine Ikone des Female Empowerment erzählt von ihrem Weg an die Macht. Ein Buch für alle, die nach einer anderen Art des politischen und gesellschaftlichen Miteinanders suchen.

Sie revolutionierte unsere Vorstellung davon, was eine Politikerin ausmacht. Sie gilt als Hoffnungsträgerin, Mutmacherin, Verfechterin von Empathie und Gerechtigkeit: Jacinda Ardern, ehemalige Premierministerin von Neuseeland. Bereits mit 37 Jahren schrieb sie Geschichte, als sie 2017 die jüngste weibliche Regierungschefin der Welt wurde und als zweite Frau überhaupt während ihrer Amtszeit ein Kind zur Welt brachte. Heute ist sie eine weltweite Ikone. Erstmals erzählt sie in diesem sehr persönlichen Memoir von ihrem außergewöhnlichen Aufstieg. Und stellt dabei die entscheidenden Fragen der Zukunft: Welche Art von politischer Führung wollen wir? Schließen sich Mitgefühl und Stärke tatsächlich aus?

Jacinda Ardern wuchs in einfachen Verhältnissen als Tochter eines Polizeibeamten in einer neuseeländischen Kleinstadt auf. Eine von Selbstzweifeln geplagte junge Frau, die über sich hinauswuchs und als Premierministerin ihre außergewöhnliche Führungsstärke unter Beweis stellte. Ihre empathische und zugleich energische Reaktion auf den Terroranschlag in Christchurch im Jahr 2019 fand weltweit Anerkennung. Jacinda Ardern lenkte ihr Land durch nie da gewesene Herausforderungen – einen Vulkanausbruch, eine nationale Krise in der Landwirtschaft, eine globale Pandemie – und verwirklichte gleichzeitig eine visionäre neue Politik zur Bekämpfung des Klimawandels, zur Verringerung der Kinderarmut und zur Sicherung internationaler Handelsabkommen. All dies, während sie zum ersten Mal Mutter wurde und mit größter Selbstverständlichkeit Mutterschaft und öffentliches Amt vereinte.

Mit ihren ganz persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen ermutigt sie alle, die über sich hinauswachsen und mit Überzeugung, Mitgefühl und Mut vorangehen wollen. »A Different Kind of Power« ist mehr als ein politisches Memoir – es vermittelt ein Gefühl dafür, was es wirklich bedeutet, zu führen, und stellt die Frage: Was, wenn ich zu mehr fähig bin, als ich mir jemals habe vorstellen können?

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Seitenzahl: 672

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Sie revolutionierte unsere Vorstellung davon, was eine Politikerin ausmacht. Sie gilt als Hoffnungsträgerin, Mutmacherin, Verfechterin von Empathie und Gerechtigkeit: Jacinda Ardern, ehemalige Premierministerin von Neuseeland. Bereits mit 37 Jahren schrieb sie Geschichte, als sie 2017 die jüngste weibliche Regierungschefin der Welt wurde und als zweite Frau überhaupt während ihrer Amtszeit ein Kind zur Welt brachte. Heute ist sie eine weltweite Ikone. Erstmals erzählt sie in diesem sehr persönlichen Memoir von ihrem außergewöhnlichen Aufstieg. Und stellt dabei die entscheidenden Fragen der Zukunft: Welche Art von politischer Führung wollen wir? Schließen sich Mitgefühl und Stärke tatsächlich aus?

Jacinda Ardern wuchs in einfachen Verhältnissen als Tochter eines Polizeibeamten in einer neuseeländischen Kleinstadt auf. Eine von Selbstzweifeln geplagte junge Frau, die über sich hinauswuchs und als Premierministerin ihre außergewöhnliche Führungsstärke unter Beweis stellte. Ihre empathische und zugleich energische Reaktion auf den Terroranschlag in Christchurch im Jahr 2019 fand weltweit Anerkennung. Jacinda Ardern lenkte ihr Land durch nie da gewesene Herausforderungen – einen Vulkanausbruch, eine nationale Krise in der Landwirtschaft, eine globale Pandemie – und verwirklichte gleichzeitig eine visionäre neue Politik zur Bekämpfung des Klimawandels, zur Verringerung der Kinderarmut und zur Sicherung internationaler Handelsabkommen. All dies, während sie zum ersten Mal Mutter wurde und mit größter Selbstverständlichkeit Mutterschaft und öffentliches Amt vereinte.

Mit ihren ganz persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen ermutigt sie alle, die über sich hinauswachsen und mit Überzeugung, Mitgefühl und Mut vorangehen wollen. »A Different Kind of Power« ist mehr als ein politisches Memoir – es vermittelt ein Gefühl dafür, was es wirklich bedeutet zu führen, und stellt die Frage: Was, wenn ich zu mehr fähig bin, als ich mir jemals habe vorstellen können?

Zur Autorin

Jacinda Ardern wurde im Alter von 37 Jahren zur 40. Premierministerin Neuseelands gewählt und war damit die jüngste Premierministerin des Landes seit mehr als 150 Jahren. Nach ihrer Regierungszeit hat Ardern das Field Fellowship zum Thema empathische Führung ins Leben gerufen. Darüber hinaus erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Harvard-Universität. Sie engagiert sich für den Klimaschutz und ist Schirmherrin des Christchurch-Aktionsplans zur Bekämpfung terroristischer und gewalttätiger Inhalte im Internet. Außerdem setzt sich Ardern für die Unterstützung von Frauen und Mädchen ein. Doch ihre wichtigste Bestimmung sieht sie in jenen Aufgaben, die sie ihr Leben lang innehaben wird – Mutter zu sein und stolze Neuseeländerin.

Jacinda Ardern

A Different Kind of Power

Ein Memoir

Aus dem Englischen von Sylvia Bieker und Henriette Zeltner-Shane

Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel A Different Kind of Power bei Crown, Penguin Random House USA.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2025 by Jacinda Ardern

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einer Vorlage von PRHUS unter Verwendung eines Fotos von Jessica Chou

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31989-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für alle, die weinen, sich sorgen und andere umarmen

Prolog

Es war eine normale Gästetoilette. So, wie man sie in einem Holzhaus aus den Fünfzigerjahren praktisch überall in Neuseeland findet. Mit dunklem Linoleumboden und kleinem Handwaschbecken – gerade groß genug zum Händewaschen, aber schon zu klein, um die Menge Wasser aufzufangen, die man dabei verbrauchte. Ich saß auf dem harten Plastik des zugeklappten Toilettendeckels und wartete. Mein Herz schlug ein bisschen schneller als sonst.

Ich hörte, wie meine Freundin Julia auf der anderen Seite der Tür in ihrer Küche hantierte – Bratpfannen landeten im Spülbecken, Teller klirrten beim Stapeln. Wahrscheinlich kratzte sie von meinem Teller gerade die Reste eines weiteren Abendessens ab, das ich mal wieder nur darauf herumgeschoben hatte. Diesmal hatte es Hühnchen mit gebratenen Süßkartoffeln, Kürbis, Kartoffeln und grünen Bohnen gegeben. Julia war eine ausgezeichnete Köchin, aber ich konnte kaum essen, wenn ich nervös war. Vor allem jetzt.

In den letzten sieben Wochen hatte ich mich von Käse, Crackern und den selbst gemachten Energy Bliss Balls meiner Mutter ernährt. Diese riesigen Energiekugeln aus zerkleinerten Datteln, Cashews und Chiasamen, die dazu neigten, zwischen meinen Schneidezähnen hängen zu bleiben. Das war kein Problem, solange ich die golfballgroßen Snacks zu Hause aß, aber ich hatte sie mir unterwegs auf Wahlkampftour gegönnt. Bei diesem Wahlkampf ging es darum, ob ich als Vierzigste das Amt der Premierministerin Neuseelands übernehmen würde. Seit dem Wahlabend waren schon Wochen vergangen, aber die Frage war immer noch nicht beantwortet.

Als ich in Julias Gästetoilette saß, ging es allerdings nicht um diese Frage.

Ich warf einen Blick auf mein Handy. Nur noch ein paar Minuten.

Der Abend bei Julia sollte eine Verschnaufpause sein. Eine Gelegenheit zum Durchatmen, während mein Partner Clarke oben im Norden eine Fernsehsendung aufzeichnete. Ich trug noch meine schwarz-weißen Sneakers, dazu Leggings und einen violetten Hoodie. Kaum hatte ich mit der kleinen Übernachtungstasche das Haus meiner Freundin betreten, schlüpfte ich aus der Arbeitskluft. Dann waren wir gemeinsam in der kühlen Luft des Spätnachmittags durch den nahen Park spaziert. Ich hätte es keine weitere Nacht in meiner Einzimmerwohnung in der Stadt ausgehalten, wo ich wohnte, wenn ich in Wellington für die Regierung arbeitete. Nicht nach diesen langen Tagen voller Verhandlungen und Warterei.

Am Wahlabend hatte keine der beiden großen politischen Parteien Neuseelands eine klare Mehrheit errungen, weder die konservative National Party noch die progressive Labour Party, die ich anführte. Das bedeutete, dass noch niemand eine Regierung bilden konnte. Für den Sieg und das Amt des Premiers brauchten wir eine Koalition mit einer kleineren Partei namens New Zealand First. Und daher hatten in den letzten acht Tagen beide Parteien Gespräche geführt, um eine Entscheidung herbeizuführen. Trotz des ganzen Hin und Hers in den Verhandlungen und aller Diskussionen über die von uns geplanten politischen Maßnahmen war die Rechnung eigentlich einfach. New Zealand First würde sich entweder für die National Party entscheiden oder für uns. Jeden Termin verließ ich mit seitenweise Notizen, doch ich achtete noch mehr auf die Körpersprache. Ein Kopfnicken. Blickkontakt. Etwas, irgendetwas, das mir verriet, auf wen ihre Wahl fallen würde. Doch da gab es nichts. Die Medien berichteten allabendlich ausführlich über die Gespräche. Auch sie verfügten über keine Einblicke dazu, was passieren würde, und so wiederholten sie nur ständig, was ich schon zu genau wusste: »Es steht einiges auf dem Spiel.« Während des gesamten Wahlkampfs hatte viel gegen uns gesprochen. Schließlich war ich erst siebenunddreißig Jahre alt. Noch keine achtzig Tage stand ich an der Spitze meiner Partei. Und zu Beginn des Wahlkampfs hatten wir mit mehr als 20 Prozent zurückgelegen. Unser Sieg war ganz und gar unwahrscheinlich. Und ich war keine geborene Anführerin.

Nervös zupfte ich an meinen Leggings. Bestimmt ist es schon so weit. Wieder ein Blick auf mein Handy. Noch eine Minute.

Mein ganzes bisheriges Leben lang hatte ich mit dem Gefühl gerungen, nicht gut genug zu sein. Jeden Moment konnte ich entlarvt werden, denn es war ja so, dass – was auch immer ich tat – es mir eigentlich nicht zustand. Daher war ich überzeugt davon, mich mit meiner Persönlichkeit eher für Arbeit hinter den Kulissen zu eignen. Ich war eine Macherin, die Dinge still und zuverlässig erledigte. Um eine richtige Politikerin zu werden, war ich nicht tough genug. Meine Ellbogen waren dafür nicht spitz genug, meine Haut war zu dünn. Ich war Idealistin und sensibel.

Dass ich Parlamentsabgeordnete geworden war, verdankte ich ganz sicher nur einem Zufall. Doch wie sich herausstellte, brachte ein wachsendes Verantwortungsgefühl meine Furcht, zu scheitern und Menschen im Stich zu lassen, zum Schweigen. Und so wurde ich entgegen aller Wahrscheinlichkeit erst stellvertretende Vorsitzende meiner Partei, dann Vorsitzende und jetzt möglicherweise Premierministerin.

Aus der Küche war nichts mehr zu hören. Julia saß wahrscheinlich wieder am Esstisch und beschäftigte sich mit irgendwas, bis ich wieder auftauchte. Sie war jünger als ich, aber trotzdem mütterlich, was vielleicht an ihrem Job im Gesundheitswesen lag. Unsere Gespräche fingen immer damit an, dass sie mich fragte: »Wie fühlst du dich?« Als ich ihr heute erzählte, dass es mir nicht so gut ging, und dazu ein paar ungewöhnliche Symptome schilderte, war sie losgegangen und hatte einen Schwangerschaftstest besorgt. Den zog sie nach dem Essen aus einer Einkaufstüte, als wäre es ein Pfefferminz.

»Nur für alle Fälle«, hatte sie gemeint.

Und jetzt lag dieser Test auf dem Waschbecken und wartete auf die große Enthüllung. Ich schaute auf den Timer meines Handys.

25 Sekunden, 23 Sekunden, 21.

Innerhalb der nächsten Tage würde ich erfahren, ob ich ein Land führen sollte, und nun hockte ich in einer Gästetoilette in Tawa, Neuseeland, um innerhalb von Sekunden zu erfahren, ob ich das mit einem Baby tun würde.

Ich schloss die Augen und hob mein Gesicht Richtung Decke. Dann holte ich tief Luft, öffnete die Augen und senkte den Blick.

Kapitel 1

Fährt man dreißig Meilen in den Kaingaroa Forest, fragt man sich, ob es auf der Erde überhaupt noch etwas anderes gibt als Bäume. Was man sieht: Monterey-Kiefern, jede einzelne rund dreißig Meter hoch, in ordentlichen Reihen soweit das Auge reicht. Der Wald ist so riesig wie dicht: Baum um Baum, Reihe für Reihe, Meile für Meile. Die Gleichförmigkeit wird nur von zwei Dingen gestört. Erstens die Straße, die die schattenhafte Landschaft durchschneidet, und zweitens die Monterey-Sprösslinge, die hier und da vorwitzig aus dem Boden schießen. Diese kleineren Exemplare der Wildwuchskiefern ähneln den Weihnachtsbäumen meiner Kindheit – fröhlich, aber auch ein bisschen armselig, jeder mit bloß ein paar dürftigen Zweigen, gerade mal genug für eine einzige Lamettagirlande, die den deutlich sichtbaren Stamm nicht mal annähernd versteckt.

Obwohl Kaingaroa von Menschen angelegt wurde – der Wald ist die zweitgrößte Holzplantage auf der Südhalbkugel –, fällt es leicht, sich hier vollkommen abgeschieden zu fühlen.

Der Wald ist dafür bekannt, Jäger und Wanderer regelrecht zu verschlucken, sie zwischen den Bäumen verloren gehen zu lassen. Es gibt häufig dichte Nebel, und dem Licht fällt es schwer durchzudringen, vor allem nachdem die Sonne hinter den grünen Gipfeln des Te-Urewera-Berglands untergegangen ist. Tannennadeln und Zapfen sammeln sich auf dem Waldboden, und die Luft ist vom Duft von Harz und Kiefern erfüllt.

Aber nach einer Stunde, wenn man gerade sicher ist, dass man mitten im Nirgendwo angekommen ist, ist da eine Lücke zwischen den Bäumen, und es gibt Zeichen menschlichen Lebens: ein heruntergekommenes Forstwirtschaftsgebäude mit einem rostigen Schild. Ein Blockhaus-Motel mit kleinen, gepflegten Zimmern. Dann, um die Ecke, eine Tankstelle mit drei Zapfsäulen, die den Anfang einer Stadt namens Murupara markiert.

Als junges Mädchen habe ich die Fahrt durch diesen Wald zahllose Male unternommen.

Schließe ich heute die Augen, kann ich mich sofort in Gedanken dorthin versetzen: die lange, einsame asphaltierte Straße, all die grauen Gebirgsketten, raue, bis in den Himmel ragende Baumstämme.

Als ich zum ersten Mal in Murupara war, war ich vier Jahre alt, hatte eine Erkältung und saß auf dem Rücksitz des beigen 1979er Toyota Corona meiner Eltern. Damals wurde mir im Auto immer schlecht, was ziemlich sicher durch meine Sitzerhöhung aus Cord, die kaum mehr war als ein Keil aus festem Schaumstoff mit einem Stoffüberzug, verschlimmert wurde. Dadurch saß ich zwar höher, aber jede Kurve fühlte sich so noch schlimmer an. Neben mir meine Schwester Louise, die nur anderthalb Jahre älter war als ich. Auch sie saß auf einer Sitzerhöhung, und auch ihr war übel, aber nicht so sehr, dass sie aufhörte, meine Eltern mit Fragen zu löchern: Wie lange noch? Warum können wir nicht anhalten? Was, wenn ich mal muss?

Wir beide hielten unsere Teddybären in den Armen, die uns auf unheimliche Art ähnelten. Meiner hatte ein freundliches rundes Gesicht, einen kompakten Körper mit kurzen Armen und Beinen und wurde schlicht Teddy genannt. Der Bär meiner Schwester, Cookie, war fast doppelt so lang wie meiner, mit schlankem Körper und langen Beinen.

Die Fenster im Auto waren gerade so weit heruntergekurbelt, dass ich die Finger über den Rand hängen und damit in der frischen Luft spielen konnte. Unter meinen baumelnden Füßen befanden sich die Gegenstände, die meine Mum auf jede lange Autofahrt mitnahm: ein altes Handtuch und ein leerer, großer Kunststoffbehälter, in dem früher mal Eiscreme gewesen war, für den Fall, dass wir uns übergeben mussten. Mum warf nie etwas weg, und selbst dieser Behälter würde wahrscheinlich auch später wiederverwendet, um selbst gebackene Blaubeermuffins aufzubewahren. Zwischen Louise und mir, in einer Transportbox mit kleinen Löchern im Deckel, befand sich der Reisepassagier, dem von uns allen am unwohlsten war: unser grauer Kater Norm, den wir aus dem Tierheim hatten. Das Beruhigungsmittel vom Tierarzt ließ langsam nach, denn er drückte sein Gesicht gegen den Deckel der Box, sodass die Schnurrhaare durch die Löcher lugten.

Es war Umzugstag. Wir hatten mehr als zwei Stunden nordwestlich, in der Stadt Hamilton, Freunde und Familie zurückgelassen, weil mein Dad einen neuen Job als Polizei-Sergeant in Murupara hatte, ein Ort, den ich überhaupt nicht kannte.

Mein Vater war in einer großen Familie in Te Aroha aufgewachsen, einer Farmer-Gemeinde im Schatten der Berge entlang des Waihou River. Wie jede neuseeländische Region war auch Te Aroha zunächst von den Maori besiedelt worden, die in Waka (Kanus) von Polynesien, von Sternen, Meeresdünung und Unterwasserwelt geleitet, hinübernavigiert waren. Seit Hunderten von Jahren lebten Maori-Ethnien in diesem Land. Der Legende nach stieg das große Oberhaupt Kahu auf den Gipfel eines Berges, um sich zu orientieren, und war so bewegt, seine Heimat von diesem Aussichtspunkt aus zu sehen, dass er sie Te Muri-aroha-o-Kahu, te aroha-tai, te aroha-uta nannte, was »die Liebe von Kahu für die Menschen an den Küsten und an Land« bedeutet. Heute ist der Gipfel als Mount Te Aroha, der Berg der Liebe, bekannt.

Die Familie meines Dads hatte in Te Aroha eine Firma für Rohrverlegung, und Ardern and Sons hatte in der Gegend die meisten Abflüsse gegraben. Als Junge hatte mein Dad in der Firma ausgeholfen, aber als seine Familie zur Church of Jesus Christ of Latter-day Saints konvertierte, vielen als Glaubensgemeinschaft der Mormonen bekannt, verließ Dad sein Zuhause, um auf das Mormonen-Internat in Temple View zu gehen. Nach einer kurzen Tätigkeit in einer Blei- und Zinkmine trat er im Alter von neunzehn Jahren in den Dienst der neuseeländischen Polizei und war zunächst uniformierter Polizist in Auckland und dann bei der Kriminalpolizei in Hamilton.

Dad ist ungefähr einen Meter achtzig groß und sah immer jünger aus, als er war, mit dichtem, dunklem Haar, das er damals zottelig nach hinten gekämmt trug, und mit einer Tolle an der Stirn, sodass er Fonzie aus der Fernsehserie Happy Days ähnelte. Dad ist extrovertiert, aber nachdenklich, mit einer ruhigen Stimme, die ich so gut wie nie laut erhöht hörte.

Sogar wenn Neuseelands geliebtes Rugbyteam, die All-Blacks, im Fernsehen zu sehen war, schaute Dad mit stiller Intensität zu, und sprang bloß auf, wenn er entweder seine Euphorie oder seine Enttäuschung nicht mehr zurückhalten konnte.

In meiner Kindheit nahm er an Zehn-Kilometer-Läufen teil. Wenn er nach Hause kam, tauschte er die Laufschuhe gegen abgetragene Schaffellpantoffeln und machte es sich in seinem La-Z-Boy-Sessel bequem, um Zeitung zu lesen. Dad ist am glücklichsten, wenn er liest, am liebsten über Weltgeschichte, die Erkundung der Antarktis und den großen Forschungsreisenden Ernest Shackleton.

Vor allem aber interessierte sich Dad für Menschen – er wollte immer etwas über deren Leben erfahren. Als Polizist wollte er nicht nur wissen, welche Verbrechen begangen worden waren, sondern auch, warum. Ich hörte ihn oft sagen, dass die Polizei nicht einfach nur alle festnehmen kann. Wenn man Kriminalität bekämpfen will, so meinte er, musste man verstehen, was zuvor passiert war. Er stellte gute Fragen, und die Leute redeten mit ihm. In Verhören meines Vaters war es nicht ungewöhnlich, innezuhalten und festzustellen: »Zumindest hören Sie mir zu.« Das soll nicht heißen, dass er weichherzig war. Ich bezweifle, dass man das von jemandem behaupten kann, der bei Verbrechen wie Morden, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und Gang-Aktivitäten ermittelt hat. Er betrachtete Probleme bloß anders.

Die Polizeiarbeit Neuseelands unterscheidet sich von der in vielen anderen Ländern. Zum einen tragen Polizisten nicht immer Waffen. Und obwohl sie die Befugnis haben, Verhaftungen vorzunehmen, wenden sie ein Prinzip des britischen Rechtssystems an, das als »Policing by Consent« bekannt ist. Das heißt die Grundvorstellung, dass Polizisten Bürger in Uniform sind und ihre Autorität aus der Zustimmung und Zusammenarbeit der gesamten Gesellschaft stammt. Auch wenn es in der neuseeländischen Polizei Beispiele für Machtmissbrauch gab, ist »Policing by Consent« der Maßstab, das Vorbild, dem die Beamten folgen sollen, und an dieses Prinzip glaubte auch mein Vater.

1980, vier Jahre vor unserer ersten Fahrt nach Murupara als Familie, begann mein Vater sich auf die Prüfung zum Detective Constable vorzubereiten. Damals war er bereits seit mehreren Jahren verheiratet und meine Mum – eine zierliche, energiegeladene Frau mit der pragmatischen Veranlagung eines Menschen, der auf einer Milchfarm aufgewachsen war – war im neunten Monat ihrer zweiten Schwangerschaft. Mum erbrach sich tagein, tagaus. In der Nähe von Nahrungsmitteln zu sein, wurde so mühsam, dass sie eine Plastikmatte auf den Küchenboden legte, den Hochstuhl meiner Schwester daraufrollte, das Essen auf das Tablett des Stuhls stellte und meine Schwester selbst essen ließ. Mum spähte bloß vom Türrahmen aus und beobachtete Louise aus einer Entfernung, die groß genug war, dass sie das Essen nicht riechen konnte, aber immer noch in Reichweite, falls Louise sie brauchte.

An einem kalten, sonnigen Wintertag, am Morgen von Dads dreistündiger Prüfung zum Detective Constable, wünschte ihm Mum viel Glück, als er das Haus verließ.

Es dauerte nicht lange, und schon überkam Mum der Brechreiz. Sie eilte durch den Flur ihres kleinen, holzverkleideten Hauses zum Badezimmer. Und dann passierte es: Die Fruchtblase platzte. Damals gab es noch keine Handys und damit keine Möglichkeit, Dad schnell zu kontaktieren. Und selbst wenn es Handys gegeben hätte, bezweifle ich, dass meine Mutter ihn angerufen hätte. Sie war fest entschlossen, dass er seine Prüfung ohne »Störung« beenden sollte, was eine ziemliche Untertreibung für eine bevorstehende Geburt ist. Stattdessen rief sie meine Großmutter an und bat sie, Louise abzuholen: Dann rief sie einen Nachbarn an, der einen großen Pick-up-Truck fuhr. Als der altmodische rote Truck die Auffahrt hochkam, hievte sich meine Mutter auf den Beifahrersitz und bat den Nachbarn, sie am Krankenhaus abzusetzen. Es ginge ihr gut, meinte sie immer wieder.

Das ist Mum: wenig Aufhebens, geradeheraus, bereit, die Dinge sofort anzupacken – eine typische Kiwi-Frau.

Als Dad dann nach der Prüfung nach Hause kam, wartete eine Nachricht auf ihn: Komm ins Krankenhaus. Er schaffte es rechtzeitig, um mich auf der Welt zu begrüßen.

Dad gefiel die Arbeit in Hamilton, und er wurde Kriminalbeamter, aber er wollte Leiter einer Polizeistation werden, statt nur in einer zu arbeiten. Darum begann er, als ich noch ein Baby war, für seine Sergeant-Prüfung zu lernen, nicht wenig mühevoll. Er hatte einen Vollzeitjob, eine junge Familie und war in der Mormonen-Kirche aktiv. Also stand er vor Tagesanbruch auf und lernte ein oder zwei Stunden, bevor wir anderen aufwachten. Abends lernte er dann noch bis nach Einbruch der Dunkelheit.

Aber selbst als Dad alle Prüfungen bestanden und die Zulassung hatte, als Sergeant anzutreten, bestand dennoch das Problem, eine freie Stelle zu finden.

Stellen für Sergeants waren rar und hart umkämpft, und ohne Führungserfahrung war es für ihn nahezu unmöglich, in Hamilton oder an einem ähnlichen Standort befördert zu werden. Das bedeutete: an einen Ort zu ziehen, an den kaum jemand sonst ziehen wollte.

Da waren wir also, kamen als ganze Familie zum ersten Mal in Murupara an: meine Eltern vorn im Auto, zwei grüngesichtige Mädchen auf dem Rücksitz und ein grauer Kater in einer Transportbox, der unbedingt freigelassen werden wollte.

Der Wald rund um Murupara wirkte alles überragend, aber die kleine Stadt selbst schien niedrig und offen, die Gebäude flach und zweckmäßig. Und obwohl viele Straßen nach Bäumen benannt waren – Kauri, Rimu, Puriri –, gab es nur sehr wenige, die von Bäumen gesäumt waren. Es war ein Waldstädtchen ohne Wald.

Unser neues Zuhause befand sich in der Kowhai Avenue, benannt nach einem kleinen immergrünen Baum, der im Frühling leuchtend gelb blüht. Das Haus war ein kompaktes Rechteck cremefarbener Ziegel, schlicht und praktisch, mit einer kleinen Wellblechgarage an der Seite. Es gab keinen Vorgarten, nur einen betonierten Weg, der zur Haustür führte. Aber nahezu vom ersten Moment an, als wir ankamen, machte sich meine Mutter daran, ein Zuhause für uns zu schaffen, indem sie Vorhänge aufhängte und im Garten Stiefmütterchen pflanzte.

Mum war eine »Herumwerklerin«, schrubbte ständig irgendetwas, wischte, sortierte und redete dabei vor sich hin, was sie tat und was als Nächstes tun würde. Sie war immer fröhlich, selbst morgens, wenn sie in mein und Louises Zimmer stürmte, die von ihr aufgehängten Vorhänge zurückschob und verkündete: »Aufwachen, aufwachen!«

Das Zimmer, das Louise und ich teilten, war gerade groß genug für zwei Einzelbetten und eine kleine Kommode, die Louise als Grenze benutzte, weil sie »ihre« Seite als die aufgeräumte bezeichnete. Das Schlafzimmer meiner Eltern war etwas größer und bot Platz für ein Queensize-Bett und ein paar Möbelstücke aus hellem Furnier. Am Ende des schmalen Flurs befand sich ein drittes Zimmer, in dem meine Mutter Kleidung nähte und endlose Stapel Wäsche zusammenlegte. Im Wohnzimmer gab es einen einfachen Kamin, der im Winter die ganze Nacht über brannte, um das Haus zu heizen. Die Küche war rein funktional, mit rosafarbenen Holzschränken, Metallgriffen und einer Edelstahlarbeitsfläche.

In diesem bescheidenen Haus arrangierten meine Eltern ihre wertvollsten Besitztümer: ein Sofa mit Kiefernholzrahmen, harten Armlehnen und kratzigen karierten Polstern, Mums und Dads Hochzeitsfoto in einem verschnörkelten Goldrahmen. Ein mattbraunes Service von Crown Lynn, ein Hochzeitsgeschenk, das zu benutzen Mum nur bei besonderen Anlässen erlaubte (und das daher meistens im Schrank ausgestellt blieb). Ein altmodischer Fernseher und darauf unser neuester Besitz: ein klobiger silberner Panasonic-Videorekorder, der meine Eltern ein ganzes Monatsgehalt gekostet hatte. Ich wusste das, weil wir fast jedes Mal an den Preis erinnert wurden, wenn der Rekorder benutzt wurde.

Was unserem neuen Haus an Platz fehlte, machte es durch einen riesigen, weitläufigen Garten wett. Er war groß genug für ein Trampolin und eine drehbare Wäschespinne, um die meine Schwester und ich Runden drehten, als wir Fahrradfahren lernten. Wenn Louise und ich auf dem Trampolin ganz hoch sprangen, konnten wir so eben das blaue Dach der Polizeistation sehen.

Nebenan im Haus wohnte Hamish, ein Kollege meines Dads, mit seiner Frau Joan. Ich kann mich kaum an Joan erinnern, außer an ihre Herzlichkeit. Hamish war ungefähr genauso alt wie mein Dad, schlank und hatte schon dünner werdendes blondes Haar. Es gab noch einen weiteren Beamten auf der Wache, und gemeinsam bildeten die drei die gesamte Polizeikraft von Murupara. Sie waren aber nicht nur für die Stadt Murupara zuständig, sondern auch für die großen ländlichen und abgelegenen Gebiete in der Umgebung. Verstärkung kam bei Bedarf aus fast einer Stunde entfernt.

Auf den ersten Blick war Murupara eine schwierige Stadt. Und dafür gab es Gründe, die zum Teil einige Hundert Jahre zurückreichten.

Die Stadt wurde 1953 offiziell als Stützpunkt für die Kaingaroa Logging Company und den staatlichen Forstdienst gegründet. In den 1970er-Jahren verdreizehnfachte sich die Einwohnerzahl, und Murupara hatte sich von einem winzigen Außenposten mit nur drei Geschäften zu einer blühenden Community entwickelt. Die meisten Männer in Murupara arbeiteten in der Forstwirtschaft, andere waren bei Unternehmen beschäftigt, die der Branche zulieferten. 1980 gab es in der Innenstadt von Murupara nicht nur einen, sondern gleich zwei Fish-and-Chips-Läden.

Doch in den 1980ern begann sich manches zu ändern. Die Kaingaroa Logging Company wurde von Tasman Forestry übernommen, was den Verlust von Hunderten von Arbeitsplätzen zur Folge hatte.

1984 wurde eine neue Regierung unter der Führung des Labour-Party-Vorsitzenden David Lange gewählt, und Finanzminister Roger Douglas leitete Reformen ein, die die neuseeländische Wirtschaft dem freien Markt öffnete – bis dahin eine der am stärksten regulierten und geschützten Volkswirtschaften der Welt. Wirtschaftsbereiche, die zuvor in Staatsbesitz waren, darunter auch die Forstwirtschaft, wurden privatisiert und nach einem Konzept, das Rogernomics genannt wurde, ausgeschlachtet.

In Murupara wirkten diese Veränderungen einschneidend. Und in den Jahren vor unserer Ankunft hatte mehr als die Hälfte der städtischen Forstarbeiter ihre Arbeit verloren. Viele, denen das möglich war, zogen fort. Unternehmen schlossen, und viele Familien verarmten immer mehr.

Das war nicht der erste Schlag für diese Kleinstadt. Die Maori, die den Großteil der Stadtbevölkerung ausmachten, trugen bereits die Narben der Kolonialisierung. 1642 erblickte der niederländische Entdecker Abel Tasman erstmals das Land, das wir heute als Aotearoa, Neuseeland, kennen – das Land der langen weißen Wolke. Später traf James Cook ein, gefolgt von Walfängern, Händlern, christlichen Missionaren und Siedlern. Die Wellen von Neuankömmlingen hatten oft brutale Folgen für die Tangata Whenua, die Ureinwohner des Landes, beispielsweise Landenteignung, Kriege, Verlust von Menschenleben, Einkommen und mana – Würde. Die Rogernomics verschlimmerten diese Entwicklung nur noch mehr.

Als wir nach Murupara zogen, schienen einige der wohlhabendsten Menschen in der Stadt Mitglieder lokaler Gangs zu sein: des Mongrel Mob oder der Tribesmen. Jeweils an den Aufnähern zu erkennen, die die Mitglieder auf der Rückseite ihrer Lederjacken trugen. Das Abzeichen des Mongrel Mob zeigte eine Bulldogge mit einem Spikes-Halsband, und manchmal trug der Hund einen deutschen Stahlhelm auf dem Kopf. Das Symbol der Tribesmen war ein Totenkopf. Die eine Gang hatte ihr Hauptquartier in einer nahe gelegenen Stadt, die andere in Murupara, wo das Quartier von einem langen Wellblechzaun umgeben war, der so hoch war, dass man das Haus dahinter nicht sehen konnte.

Häufig hörte ich die Gangmitglieder schon in der Stadt, lange bevor ich sie sah, das Dröhnen ihrer Chopper-Motorräder war so laut, dass Louise manchmal stehen blieb, um sich die Ohren zuzuhalten. Wenn die Motorräder an der Schule vorbeifuhren, rannten die Kinder zum Fenster, um hinauszuschauen. Schließlich besaß niemand solche Motorräder wie die Gangmitglieder.

In Murupara ging ich zum ersten Mal zur Schule. Ich war noch nicht ganz fünf Jahre alt, aber die Schulleitung meinte, es hätte wenig Sinn, auf meinen Geburtstag zu warten, und ich könnte genauso gut in die Vorschule gehen, sobald Louise in die zweite Klasse kommt. An dem Tag, an dem es so weit war, war tiefer Winter, und wir hielten uns an den Händen, als wir uns gemeinsam auf den Weg machten.

An diesem ersten Morgen rief der Lehrer die Namen in alphabetischer Reihenfolge auf. Mein Nachname brachte mich an die Spitze der Liste, und als mein Name aufgerufen wurde, setzte ich mich auf der Matte aufrecht, die Beine vor mir gekreuzt, und rief begeistert: »Ja!« Während der Lehrer die Anwesenheitsliste weiter abarbeitete, antworteten manche Kinder mit: »Ae«, das Maori-Wort für »Ja«. Ich nahm das bloß zur Kenntnis, mehr nicht. Ich war mit Maori-Begriffen aufgewachsen, die abwechselnd mit englischen Wörtern verwendet wurden. Wörter wie stomach (Magen), family (Familie), European (Europäer, Europäerin) und love (Liebe) wurden oft durch puku, whānau, pākehā und aroba ersetzt.

Auf beiden Seiten meiner Familie gab es Maori-Verwandte, wir waren Mormonen, und in Neuseeland machten Maori einen Großteil der Mitglieder von Mormonen-Kirchen aus. Trotzdem war dies das erste Mal, dass ich von Kindern umgeben war, die so frei und offen Te Reo Maori, die Sprache der Maori, sprachen.

Heute weiß ich, dass ich mich auf dem Land des Ngāti-Manawa-Volkes befand, der Maori-Ethnie der Region. In den vergangenen Jahrzehnten hatten immer wieder Konflikte auf ihrem Land zum Verlust von Ernten geführt, die Krone hatte Pachtverträge gebrochen, und Krankheiten hatten die Bevölkerung dezimiert.

Im Alter von fünf Jahren wusste ich davon noch nichts. Ich registrierte die Wörter, so wie ich auch andere Dinge registrierte: Dass das Schulgelände riesig war, groß genug für langes Fangenspielen. Dass wir Turnen hatten und vorgelesen bekamen. Dass wir freitags Fish and Chips bestellen durften, die in fest eingewickeltem Zeitungspapier geliefert wurden, das wir abrissen, um in das dampfende Essen zu beißen. Dass die anderen Kinder im Sommer genauso gern barfuß liefen wie wir – manchmal sogar zur Schule.

Einige Zeit nach der Einschulung gingen Louise und ich zusammen nach Hause. Da hörten wir ein Weinen. Es war ein kleiner Junge, sogar noch kleiner als ich. Er war auf der anderen Straßenseite unterwegs, mit dem Rücken zu uns. Er war allein. Es war kalt, die Art von Kälte, bei der Schnee auf den Berggipfeln zu sehen ist und sich Eis auf den Pfützen bildet. Die Art von Kälte, die in die Knochen fährt, aber der Junge hatte Shorts an und seine Füße waren nackt.

Er trug einen riesigen Rucksack, sodass er wie ein winziger Zwerg aussah. Aus seinen Shorts liefen braune Streifen an seinen Beinen herunter, Durchfall.

Meine Schwester und ich wurden langsamer. Das Schluchzen des Jungen war laut und klang ein bisschen wie Würgen. Ich war noch sehr klein, aber doch alt genug, um ganz sicher zu wissen: Der Junge sollte nicht allein sein. Louise und ich hielten uns an den Händen und beobachteten ihn schweigend. Ich glaube, wir dachten beide, es wäre besser, wenn er nicht wusste, dass wir ihn sahen. Wir schauten zu, wie er sich immer weiter von uns entfernte, und die ganze Zeit über wünschte ich mir so fest ich konnte, aber schweigend: Bitte. Lass jemand kommen und ihn finden.

Murupara war so klein, dass Louise und ich allein zu den Geschäften im Stadtzentrum gehen durften, weniger als fünf Minuten zu Fuß, wenn wir die Abkürzung hinter der Polizeistation nahmen. Der örtliche Wachmann, der die Geschäfte bewachte, parkte manchmal mitten auf dem Parkplatz und döste in seinem Auto. Ein anderes Mal standen in der Nähe Pick-up-Trucks mit dem großen Kadaver eines Wildschweins oder eines Hirsches auf der Ladefläche und der Motor lief im Leerlauf, bereit für eine weitere Ehrenrunde durch die Stadt, bevor die Tiere nach Hause gebracht wurden, um gehäutet und zerlegt zu werden.

Zu den Geschäften gehörten eine Apotheke, das Postamt, ein Metzger, ein Four Square (ein Minisupermarkt), nur noch ein Fish-and-Chips-Laden und ein Dairy an der Ecke. Das sind kleine Krämerläden, in dem es einfach alles gibt, einschließlich Süßigkeiten. Dort traten wir mit Münzen in der Hand an den Verkaufstresen. Für zwanzig Cent konnten wir eine oben zusammengedrehte weiße Papiertüte kaufen, die mit zähen Marshmallow-Milchfläschchen, Brauselollis und Fruchtgummi in Form von Düsenjets gefüllt war.

Auf dem Weg zum und vom Krämer kam man am Murupara Hotel vorbei, das eigentlich gar kein Hotel war, sondern ein Pub. Ein unscheinbares weißes Gebäude mit einem verblassten grünen Dach und Jalousienfenstern, die keinen Blick ins Innere gewährten. Von der Straße aus war schwer zu sagen, ob man sich vor oder hinter dem Haus befand. Die Türen waren mit schweren Metallstangen versehen, über denen das Wort WHOLESALE für Großhandel stand. Absolut jede und jeder ging ins Hotel. Wenn es schloss, gingen die ausdauernderen Gäste oft nicht nach Hause. Stattdessen versammelten sie sich um einen kleinen Trafo im Hinterhof, wo sie bis spät in die Nacht weitertranken.

Diese provisorische Trinkstelle hatte sogar einen sehr originellen Namen: Trafo Bar.

Brauchte unsere Familie Lebensmittel, stiegen wir in den Toyota Corona und machten uns auf die einstündige Fahrt zum Pak’n Save in Rotorua. Auf dem Rückweg fuhren wir durch den tiefen, dunklen Wald, bis der Duft der Kiefern den Schwefelgeruch der heißen Quellen von Rotorua vertrieb. An einem Samstag wurde mir wegen meiner Reisekrankheit schlecht, und ich übergab mich auf meine Kleidung. Die restliche Fahrt blieb das Fenster ganz heruntergelassen, während meine Mom fluchte, weil sie diesmal keinen alten Eisbehälter eingepackt hatte. Als wir in Rotorua ankamen, fuhr mich mein Vater zur Polizeistation, wo er mich – wortwörtlich – abduschte, während mir Mum ein brandneues Outfit kaufte. Ich erinnere mich genau: ein blassgrüner geblümter Rock mit bestickter Borte und eine passende Bluse mit rundem Kragen. Eines der wenigen Outfits, das ich damals besaß und das weder selbst genäht noch ein Erbstück war. Nach diesen Bonusklamotten fürchtete ich mich etwas weniger vor der Reisekrankheit.

Trotz der langen Fahrt freuten Louise und ich uns auf die Samstagsausflüge nach Rotorua, besonders in der ersten Zeit, als wir noch nicht viele Freundinnen hatten. Die anderen Kinder in der Schule waren verständlicherweise uns gegenüber misstrauisch.

Wir waren nicht nur die Neuen, die Außenseiter, sondern die Töchter des Polizei-Sergeants, des Mannes, der Leute einsperrte. Louise bekam die volle Wucht dieses Misstrauens zu spüren. Sie wurde beschimpft und gehänselt, also begann ich, Louise mittags in der großen Pause wie eine selbsternannte Beschützerin zu folgen.

Es sollte noch Jahre dauern, bis ich begriff, dass in Murupara seit Langem tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat in allen möglichen Facetten herrschte. Aber schon als Kind hatte ich das Gefühl, dass der Polizei besonders misstraut wurde, und ich glaube, ich konnte sogar nachvollziehen, warum. Die Polizei verhaftete nicht nur Kriminelle – namenlose, gesichtslose Bösewichte. Sie verhaftete Menschen aus der Gemeinde: Väter, Brüder, Schwestern, Tanten und Mums. Wurde von irgendeinem Kind ein Elternteil verhaftet, war es nicht ganz unwahrscheinlich, dass mein Dad etwas damit zu tun hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich das anfühlen musste: Jemand in Uniform taucht an der Tür auf, und dann wird ein Familienmitglied weggebracht. Aber sie kennen meinen Dad nicht, sagte ich mir. Ich war überzeugt, die Dinge stünden besser, wenn sie ihn kennen würden.

Vielleicht hatte mein Vater deshalb von Anfang an eine eigene Wache leiten wollen. Seit er Polizist war, hatte er häufig mitbekommen, wie sich Eltern, die ihn in Uniform sahen, zu ihren Kindern hinunterbeugten und ihnen so etwas wie eine Warnung zuflüsterten. Siehst du den Polizisten da drüben? Wenn du unartig bist, kommt er und nimmt dich fest. Dad erzählte mir, wie sehr es ihm missfiel, wenn man zu Kindern so etwas sagte. Er wollte, dass die Menschen glaubten, dass ihr Leben besser war, weil es die Polizei gab. Aber diese Art von Polizeiarbeit erfordert Vertrauen, und Vertrauen braucht Zeit.

Eines Tages ging ich in die Stadt und kürzte vom Garten auf den Parkplatz der Polizeistation ab. Dort sah ich eine Gruppe von Männern in Lederhosen und -jacken, die eine Person in blauer Uniform umringten: meinen Dad. Er war kleiner als die Männer um ihn herum, und er war allein. Die Männer bewegten sich langsam und bedrohlich auf dem mit losem Kies belegten Platz. Selbst aus der Ferne konnte ich sehen, dass Dads Körper angespannt war – er hielt eine Hand hoch, als wollte er die Männer beruhigen und auf Distanz halten. Obwohl ich zu klein war, um zu verstehen, was da vor sich ging, wusste ich, die Situation war nicht gut.

Ich wollte nicht, dass mein Vater mich sah, aber wenn ich mich umdrehte und zurücklief, würde er mich wahrscheinlich genauso bemerken wie bei dem Versuch, vorbeizuhuschen. Also ging ich weiter, näherte mich auf Zehenspitzen, setzte einen nackten Fuß vor den anderen und versuchte, mich so klein wie möglich zu machen. Doch ich konnte meine Augen nicht von dem Geschehen abwenden. Dads Blick traf meinen. Ich erstarrte.

Als mein Vater sprach, klang seine Stimme bedächtig und ruhig.

»Geh weiter, Jacinda«, sagte er.

Das tat ich und bewegte mich so schnell, wie es die nackten Füße auf den schmerzhaft spitzen Kieselsteinen zuließen. Als ich den asphaltierten Bürgersteig erreichte, rannte ich los. Aber ich machte mir so große Sorgen um meinen Dad, dass ich riskierte, ihn zu verärgern, indem ich umkehrte und auf demselben Weg wieder nach Hause lief. Inzwischen war der Parkplatz menschenleer.

Als Dad an dem Abend nach Hause kam, fragte ich ihn, wie er aus der Situation rausgekommen war. Ich konnte mir keinen anderen Ausweg vorstellen als Gewalt anzudrohen. Ich muss auch etwas in der Richtung gesagt haben, denn er legte die Stirn in Falten und sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er von mir enttäuscht war.

»Jacinda«, sagte er. »Meine Worte werden immer das beste Hilfsmittel sein, das ich habe.«

Ein paar Monate nachdem wir nach Murupara gezogen waren, kam es auf dem Rasen zwischen unserem Haus und dem von Hamish zu einer Schlägerei. Ungefähr zwanzig Männer strömten aus einer nahe gelegenen Party, betrunken und fluchend, und schlugen wild aufeinander ein, während meine Mutter vom Küchenfenster aus zusah. Schlägereien wie diese waren nichts Ungewöhnliches, und normalerweise waren sie schnell zu Ende. Aber diese hier ging immer weiter. Irgendwann wandten sich die Männer voneinander ab, als würde ihnen urplötzlich bewusst, wo sie sich befanden.

»Lasst uns die Fenster vom Sergeant einwerfen!«, rief einer.

Unter den Fenstern, die am nächsten waren, schliefen meine Schwester und ich. Meine Mutter überlegte kurz. Sollte sie uns wecken und umquartieren oder schlafen lassen? Sie beschloss, Louise und mir die Panik des nächtlichen Gewecktwerdens zu ersparen und widmete sich stattdessen dem besten Schutz, den sie sich vorstellen konnte: Sie betete.

Meine Mutter war als Tochter konservativer Landwirte auf einer hundertvierundvierzig Hektar großen Milchfarm aufgewachsen und presbyterianisch erzogen worden, im ländlichen Waikato, wo die nächste Kleinstadt fünf Meilen entfernt war. Sie war eines von fünf Kindern. Es wären sieben gewesen, aber meine Großmutter verlor Zwillinge kurz nach deren Geburt – ein Verlust, den sie mit den Mühen des Farmlebens erklärte und damit, dass sie bis kurz vor der Geburt Kühe gemolken hatte.

Das Leben auf der Farm war schwer. Für das erste Melken der Kühe standen meine Großeltern jeden Morgen um fünf auf, und sie arbeiteten oft bis nach Einbruch der Dunkelheit. Mein Großvater Eric war ein sehr direkter Mann. Machte man einen Fehler oder war ungeschickt oder handelte gedankenlos, seufzte er verärgert und korrigierte einen scharfzüngig. Es gab einfach zu viel zu tun, um die Zeit mit Fehlern zu verschwenden. Meine Großmutter Margaret war ähnlich pragmatisch veranlagt, der Typ von Frau, die ihre kleinen Kinder in einen Laufstall neben dem Kuhstall setzte, während sie sich ums Melken kümmerte.

Als Mum größer wurde, arbeitete sie hart: zuerst auf der Farm, dann bei der Buchführung einer Tankstelle und schließlich im Postamt in Te Aroha.

Das war ihre Arbeit, als sie Dad kennenlernte, nicht den ersten Mann, den sie datete, aber derjenige, den sie heiraten wollte.

Dad fuhr damals Motorrad, trug die Haare lang, dazu Schlagjeans und karierte Hemden. Aber er hielt meiner Mum die Tür auf, und als Mormone trank er keinen Alkohol, was meine Mutter erleichterte. Dad versuchte nie, meine Mutter zu seinem Glauben zu bekehren. Aber kurz nachdem sie zusammenkamen, machte Mum Urlaub an der Gold Coast von Australien, und dort traf sie Mormonen-Missionare und las zum ersten Mal das Book of Mormon. Irgendetwas in ihr machte klick. Ihr gefiel die Doktrin, die unmittelbare und persönliche Beziehung, die die Mitglieder der Kirche zu Gott hatten, der Fokus auf den Gottesdienst und wie man sich umeinander kümmerte. Für sie fühlte es sich wahrhaftig an. Für die Konvertierung benötigte sie nicht den Segen ihrer Eltern, und sie bekam ihn auch nicht. Meine Großeltern waren Baptisten und betrachteten Mormonentum nicht als echte Religion. Trotz der Einwände ihrer Eltern ließ sich meine Mutter mormonisch taufen und heiratete in einer Mormonen-Kirche.

Und so betete sie, während eine betrunkene Bande überlegte, die Fenster ihres Hauses einzuwerfen, unter denen ihre Töchter schliefen. Ob nun göttliches Eingreifen oder schlicht gutes Polizeitraining, mein Vater und Hamish trafen ein und es gelang ihnen schließlich, den Menschenauflauf zu zerstreuen, und unsere Fenster blieben unversehrt. Kurz darauf errichtete die Polizei einen Zaun vor unserem Haus.

In vielerlei Hinsicht war unser Zuhause immer eine Art Außenstelle der Polizeistation. War die geschlossen, kamen die Leute zu uns nach Hause. Das Tagebuch meiner Mum aus dieser Zeit belegt nonstop Besuche und Anrufe. An einem Abend kam Dad um sechs von der Arbeit. Um neun klopfte es an die Haustür und dann noch mal um zehn. Um halb zwölf läutete das Telefon: Ein Mann war beim Spazieren an der Straße von zwei Jugendlichen angefahren worden. Um drei Uhr nachts kehrte Dad von dem Vorfall zurück. Er ging gerade ins Bett, als jemand von unserer örtlichen Kirchengemeinde an die Haustür pochte. Das Auto des Mannes war gestohlen worden und darin befanden sich seine Werkzeuge, darum bat er um die Hilfe meines Vaters, danach zu suchen. Dad half ihm suchen bis halb sechs am Morgen. Er war danach bloß eine Stunde im Bett gewesen, als es wieder an der Haustür läutete, der Beginn eines neuen Tages.

Diese ständigen Störungen waren nicht ungewöhnlich. Eines Tages und genervt von dem permanenten Läuten an der Tür, drohte meine Mutter, die Türglocke mit dem Hammer zu zertrümmern.

Meine Mutter war bedacht darauf, meinen Dad nicht mit irgendwas zu behelligen. Sehr darauf bedacht. Eines Abends hatte ich die Handschellen meines Vaters gefunden und es irgendwie geschafft, mich selbst damit zu fesseln. Meine Mutter konnte nirgendwo im Haus die Schlüssel für die Handschellen finden. Darum hockte ich, obwohl Dad direkt nebenan in der Polizeistation war, mit diesen schweren Handschellen um die Handgelenke herum und lernte meine Lektion, bis er ganz normal abends nach Hause kam.

All der Rummel war hart für Mum. Sie war erst neunundzwanzig Jahre alt, als wir nach Murupara zogen, und hatte genug damit zu tun, auf zwei kleine Kinder aufzupassen. Ihre Familie wohnte weit weg, Dad arbeitete immer. Auch ihr bezahlter Job bot nicht viel Abwechslung. Wenn Dad nach Hause kam, ging sie nämlich rüber in die Polizeistation und putze dort für vier Dollar achtzehn die Stunde.

Zwischenzeitlich hatte Louise Probleme in der Schule. Sie war groß gewachsen für ihr Alter, aber dünner und schüchterner als ich. Einmal war ich zu Hause, weil ich krank war, als Louise, immer noch erst sechs Jahre alt, weinend nach Hause kam. Sie erzählte Mum, dass eine Gruppe Jungs sie auf den Boden gedrückt, auf ihr gehockt und auf ihren Kopf und Körper geschlagen hätten.

Mum wusste bereits, dass Louise Probleme damit hatte, Freunde zu finden, und es uns die anderen Kids manchmal nicht leicht machten. Aber bis zu diesem Nachmittag hatte sie keine Ahnung davon, dass ich meiner Schwester auf den Spielplatz folgte, um sie zu beschützen, oder wie übel die Dinge standen und dass Louise körperlich angegangen wurde. Das war zu viel für Mum.

Unsere Mutter fuhr zu einer Schule in der Nähe, acht Meilen außerhalb der Stadt, und bat darum, uns aufzunehmen. Der Schuldirektor lehnte ab. Mum wartete eine Woche, kehrte dann zurück und fragte erneut. Vielleicht hatte der Direktor einen Sinneswandel vollzogen. Oder vielleicht wurde ihm klar, dass Mum so lange darauf bestehen würde, bis er zustimmte. Also gab er nach. Von da an stiegen Louise und ich jeden Morgen um Viertel vor acht vor dem Murupara Hotel in einen Schulbus und fuhren eine halbe Stunde zur Schule in Galatea.

Im Tagebuch meiner Mutter aus der ersten Zeit in Murupara gibt es einen nüchtern formulierten Eintrag. Dad hatte einen Einsatz in einer nahe gelegenen Siedlung, um jemanden zu verhaften, und kam mit zerrissener Uniform zurück. Als Mum fragte, was passiert sei, fiel die Antwort auffallend knapp aus. Sie schloss aus dem, was er nicht sagte, dass er bei der Verhaftung angegriffen worden war. Der Tagebucheintrag dazu ist bemerkenswert, weil er so emotionslos ist.

Mum gab nur Fakten wieder, das war alles.

Doch kurze Zeit später beschreibt Mum, dass sie Probleme beim Atmen hatte. Wenn ich diese Seiten heute lese, ist mir klar, dass sie mehr und mehr unter Panikattacken litt.

Aber das waren die 1980er, lange bevor Begriffe wie »Panikattacke« alltäglich wurden. Und nicht einmal dann fanden sich in ihrem Tagebuch ausführliche Beschreibungen, kein Jammern, wie schwierig sie all das fand. Sondern bloß die Bemerkung, dass es Momente gab, in denen sie keine Luft bekam.

Mum blieb stoisch und optimistisch. Und das genau bis zu dem Augenblick, als sie das nicht mehr konnte.

Ich kann mich kaum daran erinnern, dass meine Mutter je mit etwas Schwierigkeiten hatte. Sie gab sich ungeheure Mühe, das vor uns zu verstecken. In ihrem Tagebuch steht, immer wenn wir nach Murupara zurückfuhren, nachdem wir Lebensmittel eingekauft hatten, gab es unterwegs eine Abzweigung, an der sie unweigerlich anfing, still zu weinen. Doch sie war fest entschlossen, meine Schwester und mich das nicht sehen zu lassen. Einmal aber sah ich es doch. Mum und ich waren allein zu Hause. Ich kam in die Küche und Mum lehnte nach vorn gebeugt an der Arbeitsplatte. Sie drehte sich nicht um, wie sie das sonst tat, fragte auch nicht wie üblich, was ich wollte – eine ihrer Gewohnheiten jedem Menschen gegenüber, den sie liebte und der ihr am Herzen lag. Mum schien nicht mal zu bemerken, dass ich da war. Sie hantierte oder klapperte nicht mit irgendetwas herum, backte keine Scones oder bereitete das Mittagessen vor.

Sie hatte mir den Rücken zugewandt, die Bänder ihrer Schürze waren um die Taille gebunden. Beide Hände waren auf die Kante der Edelstahlarbeitsfläche gestützt. In einer Faust hielt sie ein Geschirrtuch so fest umklammert, dass es aussah, als sollte es ihr im Gegenzug für die Kraft etwas zurückgeben. Sie bewegte den Oberkörper ganz leicht vor und zurück. Ich musste nicht ihr Gesicht sehen, um zu wissen, dass sie weinte.

Ich wollte, dass sie wusste, ich war da. Ich dachte, das würde sie vielleicht von ihrem Kummer befreien, woher er auch kam. Also stellte ich mich neben ihr Bein. Aber als ich sie berührte, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zur Hintertür. Das Geschirrtuch immer noch in der Hand verschwand sie zur Tür hinaus.

Ich starrte ihr hinterher. Dann lief ich ihr nach, rannte fast, um zu ihr aufzuschließen. Doch meine kurzen Beine konnten mit ihren Schritten nicht mithalten. Ich sah, wie sie immer weiter von mir wegging, Verwirrung und Angst machten sich in meinem Herzen breit. Ich wollte mich vergewissern, dass alles mit ihr in Ordnung war. Außerdem wollte ich nicht allein sein. Ich war zu klein, um allein zu sein.

Mum lief durch den Garten bis zum Tor, das unser Grundstück von dem von Hamish trennte. Dann verschwand sie zum zweiten Mal. Als ich Hamishs Hintertür erreichte und die Küche betrat, saß meine Mutter schon am Küchentisch und hatte den Kopf in das Geschirrtuch vergraben. Hamishs Frau Joan war neben ihr. Erinnere ich mich heute an diesen Moment, kann ich Joans Gesicht nicht sehen. Ich erinnere mich eher an ihre Gegenwart – ihre Beine neben denen meiner Mum, eine Hand auf Mums Schulter. Joan war zu mir und Louise immer freundlich. Doch als sie sich nun von Mum kurz abwandte und mich anschaute, tat sie das konzentriert und ernst.

»Geh nach Hause, Jacinda«, sagte sie. Der Tonfall unmissverständlich und bestimmt.

Aber mein Zuhause ist doch hier, dachte ich. Denn meine Mutter ist hier.

Kapitel 2

Ich erinnere mich nicht wirklich an die Tage nach dem Zusammenbruch meiner Mum. Zwar weiß ich, dass sie bei uns zu Hause war, aber heute sagt sie, dass sie damals die meiste Zeit im Bett verbrachte. Keiner erklärte viel. Wobei ich mir nicht sicher bin, wie man einem Kind einen Nervenzusammenbruch angemessen erklärt. Heute weiß ich, was damals passierte.

Ich weiß auch, dass mein Vater tat, was er konnte, um zu helfen. Er kam von seinem Dienst nach Hause und machte Essen oder bügelte und half uns, unser Zimmer aufzuräumen. Zur Abwechslung machte er mit uns allen hin und wieder einen Ausflug zum Strand beim Mount Maunganui, und offenbar half das.

Doch auf der Rückfahrt flossen wieder die gleichen stummen Tränen, die meine Mutter immer an der Abzweigung zum Rainbow Mountain plagten. Nach so einem Ausflug schrieb sie in ihr Tagebuch, dass sie sich »wieder unwohl« fühlte. Am nächsten Morgen riss sie sich lange genug zusammen, um meine Schwester und mich in die Schule zu schicken, und kroch anschließend zurück ins Bett.

Sechs Wochen später beendeten Hamish und Joan die geplante Zeit in Murupara und machten sich bereit, in ihre Heimat Nelson zurückzukehren. Meine Mutter bereitete ihnen das letzte Abendessen und am nächsten Morgen ein Frühstück zu, während die Möbelpacker ihre Sachen in den Lkw luden. Sie hielt das in ihrem Tagebuch fest und auch, dass mein Vater vorhatte, mit seinem Vorgesetzten zu sprechen, weil es bei ihr »keine Besserung« gab.

Als sie das schrieb, hatte sie noch zweieinhalb Jahre in Murupara vor sich.

Letztlich denke ich, dass drei Dinge Mum halfen weiterzumachen: ihr Glaube, ihre Kirchengemeinde und Forellenangeln.

In der Nähe von Murupara gibt es mehrere Flüsse, und irgendwann beschloss Mum, sich das Forellenangeln beizubringen. Dieses Hobby bot ihr eine Miniflucht und war vielleicht die Möglichkeit, etwas Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Dann schnappte sie sich ihre Angel, packte widerwillig mich und Louise ins Auto und fuhr mit uns irgendwohin. Ich sehe sie immer noch vor mir: Wie sie mit ihrer riesigen Brille am Rand des rauschenden Gewässers steht; in knallgrünen Sportshorts mit weißer Borte und einem engen T-Shirt mit Brusttasche. So harrte sie stundenlang aus, absolut konzentriert. Inzwischen hingen Louise und ich am Ufer herum und langweilten uns fürchterlich. Wir spielten mit Stöcken und dachten uns irgendwelche Beschäftigungen aus, bis wir es nicht mehr aushielten.

»Muuuum …«, jammerten wir. »Können wir jetzt nach Hause fahren?«

Stumm warf Mum die Angel wieder aus.

»Mummmm, wir müssen aufs Klo!«

Den Blick unverwandt aufs Wasser gerichtet, erwiderte sie ungeduldig: »Tja, dann sucht euch irgendeinen Baum.«

Das machten wir letztendlich auch.

Manchmal boten Leute ihre Hilfe beim Angeln an. Vielleicht ließ sie sich mal etwas zeigen oder hörte auf den Rat hinsichtlich einer neuen Stelle, an der sie es versuchen sollte. Aber ich denke, Mum zog es vor, allein da draußen zu sein und diese neue Herausforderung zu meistern. Ich sah sie unzählige Male die Angel auswerfen, aber ich erinnere mich nur an einen Fisch, der gefangen wurde. Der war nicht riesig, aber groß genug, sodass Dad ihn im Garten hinterm Haus über einem offenen Feuer zubereiten konnte und wir alle Mum sagen konnten, wie köstlich ihr hart erkämpfter Fang schmeckte.

Mum engagierte sich auch in der Mormonen-Gemeinde von Murupara. Genauso wie in jeder anderen Kirche, die wir regelmäßig besuchten. In Hamilton hatten wir die Kirche in Dinsdale besucht: ein großes weißes Gebäude oben auf einem Hügel, mit hellem Teppichboden und langen, massiven Holzbänken. In Murupara fanden die Gottesdienste dagegen in der örtlichen Grundschule statt und wurden allwöchentlich nur von einer Handvoll Gemeindemitglieder besucht. Aber ein netter Aspekt an der Kirche der Mormonen ist, dass, wo auch immer man sich trifft – ob in einer behelfsmäßigen Halle oder einer brandneuen Kirche –, einem die immer gleichen vertrauten Objekte begegnen. Da gibt es das grün gebundene Gesangbuch mit der goldenen Prägung, das Buch Mormon – oft in schwarzes Leder gebunden, wenn man es selbst gekauft hat, oder als blaues Taschenbuch, wenn man es von den Missionaren bekommen hat. Dann sind da die Bilder von Jesus mit dunklem Haar, dunklen Augen, weinrotem Gewand und beruhigender Miene. Egal wo man ist, singt man dieselben Choräle – »We Thank Thee, O God, for a Prophet«, »High on the Mountain Top«, »Families Can Be Together Forever«. Während des Sakraments hört man das gleiche Gebet und sieht Leute in den gleichen ehrenamtlichen Rollen, ob als Bischöfe oder Lehrer.

Und egal wo man hinkommt, man ist willkommen. Jeden Sonntag versammelten wir uns in diesem Klassenzimmer für drei Stunden zum Gottesdienst. Die erste Stunde verbrachten wir zusammen beim Sakrament und ein paar Predigten. Für meine Eltern bedeuteten Gottesdienste in der Kleinstadt, darauf vorbereitet zu sein, jeden Augenblick aufzuspringen und eine Predigt zu halten, falls das Gemeindemitglied, das dafür vorgesehen war, nicht auftauchte. Anschließend gingen Louise und ich zu Unterweisungen und Aktivitäten, während die Erwachsenen die Sonntagsschule besuchten und danach getrennte Gruppen besuchten: die Frauen die Relief Society, die Männer die Priesthood Meetings.

Wir lernten die Handvoll anderer Gemeindemitglieder kennen, und Mum gab sich alle Mühe, jeder Person zu helfen, die Unterstützung benötigte. Da war etwa das Paar, das sich gerade erst ein Haus gekauft hatte und sich dann trennte. Mum half ihnen, ihre Angelegenheiten zu ordnen. Vor allem stand sie der Ehefrau zur Seite, die plötzlich alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und noch dazu schwanger war. Mum ging oft hin und brachte ihre Fähigkeiten in Buchführung, Geldangelegenheiten und was sie sonst noch brauchte ein. Als das Baby auf die Welt kam, besuchte Mum die Frau in der Entbindungsklinik. Ich erinnere mich, von der Tür aus beobachtet zu haben, wie Mum diese Frau umarmte und ihr Gesicht zu strahlen begann. Heute ist mir klar, dass die beiden Frauen einander brauchten.

Was mich anging, ich hatte meinen eigenen Freund in der Kirche: Walter, einen niedlichen Jungen, ungefähr in meinem Alter. Walter war dünn und zierlich, hatte dunkle Haare und große braune Augen. Schon mit seinen fünf Jahren war Walter eine liebenswürdige, gute Seele – ein Mensch, der in allem das Wunderbare entdeckte und ein riesengroßes Herz hatte. Walter kam oft zu uns nach Hause. Dann hockten wir – Walter, Louise und ich – stundenlang auf dem Boden und spielten mit Puppen oder verkleideten uns. Als die Kirche ein Kinderstück aufführte, nähte Mum uns Kostüme. Ich war Rotkäppchen, und Walter spielte den Wolf, wobei ich ihm ansah, dass er viel lieber meinen roten Umhang getragen hätte.

Manchmal brachte Walter seine Kartensammlung mit. Viele Kinder unseres Alters sammelten beispielsweise Karten von Boxern. Walter dagegen sammelte die Karten, die zu Parfümproben gehörten – jede mit einem Spritzer des jeweiligen Dufts versehen. Die Karten klebte er in ein altes Schulheft, und wir blätterten gemeinsam darin. Walter zeigte uns sein Lieblingsparfüm oder benutzte die Karten, wenn wir Apotheke spielten. Ich hielt das Heft an mein Gesicht und bemühte mich, noch irgendwelche Reste von Blütenaromen oder Vanille zu erschnuppern. Oft roch ich gar nichts. Aber ich tat so, als ob. Wichtiger als der Duft war Walters Gesichtsausdruck reiner Freude, wenn wir uns über seine kostbaren Karten beugten.

Auch Dad machte Fortschritte und arbeitete hart, um überall zu sein, wo er gebraucht wurde. Die Leute hatten begonnen, ihm etwas mehr zu vertrauen. Einmal entdeckte er in der Stadt das Mitglied einer Gang, gegen das ein Haftbefehl vorlag. Dad ging auf den Mann zu, bereit, ihn in Gewahrsam zu nehmen und zur Polizeiwache abzuführen, die nur ein paar Hundert Schritte entfernt lag. Der Mann sah sich um und blickte auch zu ein paar seiner Kameraden in der Nähe hinüber. Dann beugte er sich dicht zu meinem Dad.

»Gibt es eine andere Möglichkeit dafür?«, murmelte er.

Mein Vater blickte sich um und merkte, dass die anderen sie beobachteten. Da wurde Dad klar, dass der Mann sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte, aber in der Situation um einen Funken Würde rang. »Ich kann Sie hier verhaften«, meinte mein Vater leise zu ihm, »oder Sie kommen in den nächsten fünf Minuten selbst auf die Wache.« Dann ging mein Vater, und fünf Minuten später spazierte das Gangmitglied freiwillig in die Wache, um sich festnehmen zu lassen.

Diese Methode funktionierte allerdings nicht immer. Einmal befand mein Vater sich in einer kleinen Siedlung mit nur ein paar Hundert Einwohnern in der Nähe, die Ruatāhuna hieß, um mit jemand zu reden, der in großem Umfang Cannabis anbaute. Der Ort lag eine Autostunde von der Wache in Murupara entfernt, also forderte mein Vater den Mann auf, vorstellig zu werden, wenn er das nächste Mal in die Stadt käme.

Doch der Mann beschloss stattdessen, sich »in die Büsche zu schlagen« und in einer Hütte tief im Wald zu verschwinden. Sein plötzlicher Umzug war kein Geheimnis, doch er verließ sich darauf, dass die große Distanz als Abschreckung genügen würde. Mein Vater ist nett, aber auch standhaft. Andere mögen sich nicht an Abmachungen halten, er schon. So stand Dad am einunddreißigsten Geburtstag meiner Mutter um sechs Uhr morgens auf, nahm seinen Rucksack und verließ das Haus. Vier Stunden lang wanderte er durch die Außenbezirke von Ruatāhuna und querte einen tiefen Fluss achtmal, bevor er bei der Hütte des Mannes ankam.

Der begrüßte ihn mit resignierter Miene. »Ich hatte schon Sorge, dass Sie hier aufkreuzen würden«, meinte er seufzend.

Nachdem wir ungefähr ein Jahr in Murupara waren, meldete mein Vater sich freiwillig für den Dunk Tank beim Sommerfest der Schule. Das Wetter war kühl. Auf den Fotos von dem Tag tragen viele Leute Sweatshirts und Jacken. Eines der Bilder zeigt Dad, wie er auf einem wackeligen Holzbrett über einem mit kaltem Wasser gefüllten Tank hockt. Seine Füße sind nackt, aber ansonsten trägt er seine komplette Uniform. Er lächelt mutig, doch seine Finger sind weit gespreizt, als bereite er sich auf den Moment vor, da jemand das Ziel mit einem Ball treffen und er daraufhin ins Wasser plumpsen würde. Um den Tank herum stehen Leute aus der Stadt – Kinder, Eltern, Lehrer. Alle scheinen darauf zu warten, dass sie an die Reihe kommen und den Polizeichef ins Wasser fallen lassen können.

Auf dem nächsten Foto ist Dad pitschnass und erholt sich offenbar gerade vom Schock eines seiner vielen Tauchgänge. Rundherum wird gelacht. Meine Mutter ist nicht zu sehen, aber ich weiß, dass sie in unmittelbarer Nähe war, nur eben außer Sichtweite der Kamera. Sie lächelte ihm zu und hielt ein trockenes Handtuch sowie Ersatzkleidung für ihn bereit.

Von einem dieser Schulfeste existiert auch ein Foto von Louise und mir. Wir sitzen auf einem Anhänger – einem Heuwagen, glaube ich. Auf dem Bild stehe ich in einem roten Pulli und mit knallroter Jacke da, was meinen blonden Mullet gut zur Geltung bringt. Neben mir kauert Louise und späht ängstlich über den Rand des Anhängers, als fürchte sie, dass der Traktor mit einem Ruck losfahren könnte. Wir sind umgeben von Kindern jeden Alters. Ein vielleicht zwölfjähriger Junge in kariertem Flanellhemd winkt fröhlich in die Kamera. Ein anderer winkt mit einer Hand und hat den Daumen der anderen im Mund. Mehrere Mädchen stehen mit dem Rücken zur Kamera vor dem Anhänger Schlange, um bei der Heuwagenfahrt an die Reihe zu kommen. Wenn ich mir das Foto heute ansehe, fallen mir Dinge auf, die ich damals nicht bemerkte – etwa die Gang-Gesten, die ein paar der Kinder machen, und dass die einzigen Pākehā-Gesichter auf dem Anhänger Louises und meines sind. Damals waren wir einfach ein Haufen Kinder. Manche von uns spielten gern Rugby oder Bullrush. Fast alle mochten Lollis, Fish and Chips und Sausage Sizzles, also Bratwurst im Brötchen. Manche von uns besaßen keine Schuhe und einige wohnten vielleicht in Häusern mit zerbrochenen Fensterscheiben, aber wir alle liebten die Heuwagenfahrt beim Schulsommerfest.

Anfang 1988, nach knapp drei Jahren in dem kleinen quadratischen Haus hinter der Polizeiwache, packte meine Familie wieder den Toyota Corona voll. Gleichzeitig fuhr ein großer Lkw rückwärts in den Garten vor dem Haus, um unsere kratzige Couch und das gute Service von Crown Lynn einzuladen. Ich hatte damals schon die Hälfte meines Lebens in Murupara verbracht, doch Dad hatte wieder einen neuen Job bekommen.

Wenn Leute mich später fragen werden, woher ich komme, werde ich nicht Murupara antworten. Doch als ich zwei Jahrzehnte später als frisch gewählte Parlamentsabgeordnete in meinem Büro saß, stellte eine Journalistin mir eine andere Frage. Unsere beiden Stühle standen sich gegenüber. Die Frau balancierte einen Block auf ihren Knien und hielt ein Diktiergerät in der ausgestreckten Hand.

»Also«, fragte sie mich, »wann haben Sie begonnen, politisches Bewusstsein zu entwickeln?«

Ich verschränkte die Hände im Schoß und sah erst sie, dann das Diktiergerät an. Hinter der Journalistin stand ein großes Bücherregal aus Holz voll mit blau gebundenen Gesetzessammlungen. Hinter meinem Schreibtisch mit der Bespannung aus grünem Leder und dem verstellbaren Sessel mit hoher Lehne konnte man direkt ins Atrium des Parlaments schauen.

Nur für einen Moment blinzelte ich ins helle Licht der Lampe in der Ecke und dachte an einen ganz anderen Ort. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Häuserzeile und breite, offene Straßen. Ich sah die Sonne sich in der schwarzen Matte eines Trampolins spiegeln, nackte Füße über Risse im Pflaster hüpfen, Tüten voller Lollis für zwanzig Cent das Stück. Ich sah einen kleinen, zierlichen Jungen, der sein Buch mit Parfümkarten fest umklammerte, und einen anderen mit riesigem Rucksack, der weinend allein die Straße entlanglief. Ich dachte an Fairness und daran, wie äußere Umstände eine Community in Schwierigkeiten bringen können – und wie die Menschen der Community es trotzdem noch schafften, sich mana, ihre Würde, zu bewahren. Ich dachte an meine Eltern – an Dad, der sein Bestes gab, um den Leuten zu helfen, statt ihnen Leid anzutun, und an Mum, die ebenfalls ihr Bestes gab. Und dann wusste ich es. Die Antwort lautete: Murupara.

Ich entwickelte politisches Bewusstsein, weil ich in Murupara gelebt hatte.

Kapitel 3

Ich habe ein besonderes Merkmal im Gesicht, und damit meine ich nicht das breite Lächeln, das höfliche Menschen mir bescheinigen würden. Wer links von mir steht, kann sie nicht übersehen: Eine feine weiße Narbe verläuft von meinem inneren Augenwinkel schräg bis zum Rand des Nasenlochs. Die Narbe ist ein dauerhafter Beleg für mein fast ständiges Bedürfnis, mich »nützlich« zu machen. Außerdem ist sie eine physische Erinnerung an die kleine, etwa zwölftausend Quadratmeter große Obstplantage am Rand von Morrinsville, dieser auf Milchwirtschaft ausgerichteten Kleinstadt, die ich für immer meine Heimat nennen werde.