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Mit "Abels Bruder" hat Marianne Fredriksson ihren mit "Eva" begonnenen Romanzyklus zur Schöpfungsgeschichte fortgesetzt. Mit liebevoller Einfühlung erzählt sie hier die dramatische Geschichte des biblischen Kain. Die Schuldgefühle nach dem Mord an seinem Bruder lasten wie ein Fluch auf ihm. Und eines Tages flieht er in das Paradies, von dem Eva ihm so viel erzählt hat, zu dem Volk, das keine Worte kennt - eine Begegnung, die dazu führt, dass Kain dem Anführer der Horde, Satan, das Messer in den Leib stößt. Wir begegnen einem kraftvollen, klugen, aber innerlich zerrissenen Kain. Sein Leben entwickelt sich zu einem großartigen und spannenden Abenteuer - aber niemals wird er Ruhe und Freiheit finden.
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2021
Marianne Fredriksson
Roman
Roman
Mit »Abels Bruder« hat Marianne Fredriksson ihren mit »Eva« begonnenen Romanzyklus zur Schöpfungsgeschichte fortgesetzt. Mit liebevoller Einfühlung erzählt sie hier die dramatische Geschichte des biblischen Kain. Die Schuldgefühle nach dem Mord an seinem Bruder lasten wie ein Fluch auf ihm. Und eines Tages flieht er in das Paradies, von dem Eva ihm so viel erzählt hat, zu dem Volk, das keine Worte kennt - eine Begegnung, die dazu führt, dass Kain dem Anführer der Horde, Satan, das Messer in den Leib stößt. Wir begegnen einem kraftvollen, klugen, aber innerlich zerrissenen Kain. Sein Leben entwickelt sich zu einem großartigen und spannenden Abenteuer – aber niemals wird er Ruhe und Freiheit finden.
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Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007.
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[Widmung]
ABELS BRUDER
Vorrede
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Meiner lieben Freundin Ulla
herzlichen Dank für die bereichernden Blickwinkel
ABELS BRUDER
Dies ist der Bericht über einen Mörder.
Im Laufe der Erzählung wird es viele – vollkommen unterschiedliche – Erklärungen dafür geben, wie er zu dem werden konnte, der er schließlich wurde.
Sie alle sind wahr.
Trotzdem können wir ihn nicht verstehen.
Ab und zu unterbrach er seine Arbeit und starrte auf seine Hände. Als ob er sich ihrer plötzlich bewusst wurde, besah er sie prüfend. Einstmals hatten sich diese Hände in rasender Wut um den Hals des Bruders gelegt und ihn so lange umklammert, bis die unselige Tat ausgeführt war. Manchmal klang etwas in ihm an. Dann fühlten die langen, geschickten Finger wieder, was damals geschehen war, und er dachte, allein die Hände wussten auf dieser Erde die Wahrheit über ihn.
Er selbst konnte sich an nichts erinnern. Das hatte er noch nie vermocht. Es war für ihn unmöglich zu verstehen, wie damals, als der Zorn ihn an jenem Morgen überwältigt hatte, auf eine Handlung die nächste gefolgt war. Alles war in Windeseile geschehen, so schnell, dass er es nie mehr nachvollziehen konnte, weder in den einzelnen Phasen noch als Ganzes.
Manchmal kam ihm der Gedanke, das gesamte Geschehnis habe sich außerhalb der Zeit abgespielt.
Das ist der Grund, weshalb es so unwirklich ist, dachte er.
Als hätte es nie stattgefunden.
Wie die Mutter es ausgedrückt hatte – ein unglücklicher Vorfall. Sie hatte die unselige Tat auf sich genommen und seine Schuld zu der ihren gemacht. Damit wurde der Schmerz, der ewige Schmerz, noch schlimmer. Doch nicht unerträglich, o nein, Kain hielt ihm stand. Selbst die Qual kann zur Gewohnheit werden.
Es gab jedoch auch gute Tage, Tage, an denen die Sonne auf den Acker schien und der Schmerz sich als murrender Begleiter im Hintergrund hielt. Dann wiederum konnte es passieren, dass der Schmerz Kain unverhofft an der Gurgel packte und er sich sehr zurückhalten musste.
Damit er nicht zuschlug.
Im Frühjahr war es am schlimmsten.
Kain ging über den roten Ackerboden und sah zufrieden, dass das Getreide, das er vor wenigen Tagen erst ausgesät hatte, bereits als zartes Grün zu sprießen begann. Er hatte neues Ackerland urbar gemacht. Noch vor dem Winterregen hatte er es geschafft, den Wald zu fällen und abzuflämmen und den Boden mit dem Holzpflug umzugraben; den Pflug hatte er den Pflügen nachgebaut, die er auf seiner Reise in den Süden einst gesehen hatte.
Ohne darüber nachzudenken, wusste Kain, dass körperliche Arbeit besänftigend wirkte, wie das Valeriana der Mutter. In fiebrigem Eifer grub er Stück für Stück die Erde um, vergrößerte das Ackerland, entwickelte neue Ideen. Im Winter hatte er einen neuen Schafstall gebaut, und noch vor der Erntezeit im Sommer wollte er die Sumpflandschaft entwässern und Wasser aus dem See zu den Äckern im Osten leiten.
Die Arbeit und deren Früchte gaben ihm Linderung. Und er erlebte auch befreiende Augenblicke, Stunden, in denen er hier auf Erden vollkommen eins mit sich war. Der Schlaf war eine Befreiung, vor allem der wohlverdiente Schlaf der Erschöpfung nach der Schufterei auf dem Acker.
Niemand konnte so arbeiten wie Kain.
Und seinen Lohn fand er darin, dass er das Geschehene verdrängen konnte.
Es gab noch einen Weg, Frieden zu finden, nämlich in der Umarmung. Die sanftmütige Letha war immer in Reichweite. In ihren Liebesstunden mühte er sich ab wie auf dem Acker, noch härter, noch tiefer drang er in sie ein, immer schneller, und dann, nach ungeheurer Anstrengung – die Befreiung.
Früher, bevor Letha zu ihnen auf den Berg gekommen war, um ihr Leben mit ihm zu teilen, hatte er die frühen Morgenstunden fürchten gelernt. Wenn er sich nicht vorsah, geriet er in jenem Niemandsland zwischen Schlafen und Wachen in den Würgegriff; war er nicht auf der Hut, holte ihn der Traum gerade noch auf der Grenze ein.
Der Traum, an den er sich später nie mehr erinnern konnte. Der sich aber als klebrige Qual an seinen Tag heftete.
Mittlerweile träumte er nicht mehr, nun hatte er Letha.
Jeden Morgen, noch schlaftrunken, nahm er sie und wachte mitten in der Anstrengung auf, wenn er entschlossen sein Glied in sie stieß.
Es konnte passieren, dass sie unwillig wurde und sich beklagte, wenn sie so brutal geweckt wurde, und es kam auch vor, dass er sich schämte und mit den Augen um Verzeihung bettelte.
Worte hatte er keine, sein Weg war es zu handeln, auf diese Weise stellte er Kontakt und Gemeinschaft her. Oft schwamm er in den ersten Morgenstunden auf den See in der Nähe des Wohnplatzes hinaus, pflückte einen Strauß von dem Lotus, den sie so mochte, und schenkte ihn ihr.
Wenn er dann ihre Freude sah, dachte er: Sie versteht mich. Heute werde ich nicht so schrecklich gequält.
An so einem Tag sah er seine Hände besser nicht an.
An diesem Morgen, wo sich Sonne mit heftigen Regenschauern und Vogelgezwitscher über den Feldern abwechselte, ging Kain zur gerodeten Waldlichtung, fünf Steinwürfe in nördlicher Richtung. Und er wusste, er war seinem Schmerz ausgeliefert. Letha hatte bei der morgendlichen Umarmung vor Furcht aufgeschrien, er hatte ihr wehgetan. Immer weniger Platz war für ihn in ihrem Schoß, das Kind nahm sie ihm weg.
Ein Kind würde in ihr wachsen, sagte Letha, sein Sohn. Ihre Freude war grenzenlos, sie würde einen Sohn gebären, und mit ihm würde sie einen angesehenen Platz im Leben erhalten.
Den Platz, der ihrer Mutter, die nie einen Sohn geboren hatte, verwehrt war.
Kain konnte wohl Gedankengänge verstehen, aber niemals Gefühle. Für ihn war das Kind in Lethas Schoß ein Eindringling, ja mehr als das, es erinnerte ihn an etwas, das früher einmal geschehen war.
Noch einmal sollte er verstoßen werden.
Schon jetzt fühlte er sich abgedrängt. All seine Fürsorge, seine mühselige Arbeit auf dem Acker und im Wald, seine Blumen … das alles würde nicht mehr zählen. Ein neues Wesen würde die Bedeutung von allem, das er geschaffen hatte, mindern, würde seine Anstrengungen aus ihrem Bewusstsein löschen.
Alles würde sich nur noch um das neue Kind drehen.
Ich hasse jetzt schon das Ungeborene, dachte Kain, als er auf der Waldlichtung die Axt an den größten Baum ansetzte.
Aber der Gedanke hatte keine Kraft, er war schwach wie die Trauer.
Das Wort Hass ist zu groß für mich, dachte Kain. Ich kann wohl gar nicht hassen.
Heute sah er bei der Arbeit mit der Axt oft auf seine Hände, betrachtete sie prüfend und machte lange Pausen.
Er ballte sie zu Fäusten, streckte sie wieder aus und beobachtete sie.
Er vertiefte sich in seinen Schmerz, verlor sich darin. Hier war er allein, musste keine Kraft aufwenden, um sich zu beherrschen, um sich abzukapseln.
Und plötzlich lagen die Hände wieder um den Hals des Bruders, hielten ihn umklammert, drückten zu – im weißen Licht jenseits der Zeit.
Kain erinnerte sich, etwas stand klar und deutlich vor ihm: Im äußersten Augenblick dieser unseligen Tat hatte er ein Gefühl von Befreiung gespürt, so ausschließlich, wie er es nie wieder, weder vor noch nach dieser Stunde, empfunden hatte.
Frei war er gewesen, frei von allen Qualen, glücklich wie bei einem ungeheuren Orgasmus.
Dieses Gefühl der Befreiung hielt während der ganzen folgenden Woche an, in der der Vater vor seinen Augen alterte und die Mutter wie eine verrückte Hündin schrie. Dieser Gewaltakt war notwendig gewesen, um sie wachzurütteln, endlich war Kain geboren worden und hatte sie gezwungen, ihn wahrzunehmen.
Eine Woche lang hatte er so gelebt, sichtbar für die anderen.
Und doch unnahbar.
Frei. In Frieden mit sich selbst.
Wirklich.
Dann hatte die Trauer auch ihn eingeholt. Wie die anderen vermisste er verzweifelt den kleinen Bruder, Abel, den er immer geliebt hatte. Und auf die Trauer folgte die Furcht.
Ebenso wie die anderen dachte er in eisigem Schrecken: Wer ist er, dass er zu solch einer Tat fähig war?
Und damit war er erneut in seine nie endende Marter zurückgekehrt.
Kain saß auf der gerodeten Lichtung mit dem Rücken zu dem gefällten Baum, betrachtete seine Hände und dachte: Dennoch gibt es außer dem Entsetzen noch etwas, etwas Wichtiges und Wahres. Gleich darauf wusste er es.
Die Tat hatte bewirkt, dass es ihn tatsächlich gab.
Es war eher wie eine Intuition, schwer zu begreifen. Er faltete kurz die Hände und betete: Du Gott Adams, höre mich.
Aber Gott war stumm wie immer.
Allmählich löste ein befreiendes Weinen das Gebet ab. Kain weinte sich in den Mittagsschlaf.
Als er aufwachte, lagen die verkrampften Hände unterhalb des Herzens über dem Schmerzpunkt, als müsste dort etwas zurückgehalten, festgehalten werden.
Die Hände und der Schmerz.
Auf dem Heimweg meldeten sich bei ihm neue Gedanken.
Jetzt wusste er, warum seine Tat um jeden Preis geleugnet werden musste, warum sie nie stattgefunden haben durfte.
Sie hatte bewirkt, dass es ihn, Kain, tatsächlich gab.
Und das hielten die anderen nicht aus, weder sie noch er.
Genau dort war die Quelle des Schmerzes in seinem Leben.
Dass er weder für sich selbst noch für die anderen je wirklich existent war.
Nur dieses eine Mal, bei einer unvorstellbaren Tat.
Eva sah ihn vom Norden her aus dem Wald kommen, und wie früher schoneinmalumgab ihn wieder die Furcht, ging ihm eine spürbare Ahnung von Schrecken voraus, als er den Pfad zu ihr herunterkam. Aber sie wies beides – das Gefühl und die Erinnerung – von sich.
Es war ihr Sohn, ihr Erstgeborener, der nach den Mühen des Tages nach Hause kam.
Und als Kain bei ihr anlangte, gab sie ihm das Kind, die kleine Tochter, die vor einem halben Jahr geboren war und Eva beinahe das Leben gekostet hatte.
»Halte sie mal, dann merkst du, wie schwer sie geworden ist«, sagte sie.
Kain stand vor ihr, mit dem Kind im Arm. Norea war von seinen Geschwistern diejenige, die ihm am ähnlichsten sah – mit ihren schwarzen Augen und der fein gebogenen Nase, wie der Schnabel eines Falken. Das Licht, das von dem Kind ausging, traf auf seinen Schmerz, durchdrang die Mauern von Stummheit und Beherrschung. Es half ein wenig, er lächelte.
Und doch brannte das flammende Feuermal auf seiner Stirn, rot leuchtete es, als er Eva das Kind zurückgab und sagte:
»Nun ja, sie wächst ganz normal.«
Dann ging er zu Letha und seiner eigenen Wohnhöhle hinüber, und wenig später hörte ihn die Mutter unten im See baden.
Eva hatte die flammende Narbe auf der Stirn gesehen, wie immer, wenn Kain erregt war.
Die Schwermut hat ihn wieder gepackt, dachte sie, wie so oft schon.
Schwermut, das war ein gutes Wort, es lenkte den Schmerz weg von ihm. Und von ihr. Es war wie Winterregen und Sommerdürre, etwas, worauf man keinen Einfluss hatte.
Sie hängte sich das Kind in dem Beutel über den Rücken und machte sich an die Zubereitung des Abendessens. Adam und Seth waren auf der Weide bei den Schafen draußen, die Schatten wurden länger und das Sonnenlicht goldener. Aber als Eva die schneeweißen Rüben in den Topf schnitt, der über dem Feuer hing, spürte sie das nagende Tier unter dem Herzen. Und es ließ nicht nach, auch nicht als Adam mit dem Kind hereinkam, dem kleinen Jungen, der so voller Lebensfreude, Fragen und Einfälle war, dass er die Aufmerksamkeit aller auf sich zog.
Wie so manches Mal dachte sie auch jetzt wieder: In Seth sind die Urkräfte zu Hause. Gut, dass er sich so zu Adam hingezogen fühlt, ich selbst hätte nicht die Kraft für ihn.
Sie nämlich brauchte fast alle Kräfte für das neue Kind. Auch diesmal, dachte sie. Der Gedanke tat weh, und sie schob ihn entschlossen von sich. Und als sie abends zu Bett ging, glitt sie unbekümmert über die Grenze ins Vergessen hinüber.
Wie gewöhnlich wurde sie geweckt, als die Welt noch in tiefem Dunkel lag. Norea nörgelte und hatte Hunger. Das Kind war bei der Geburt zart und viel zu leicht gewesen und musste beinahe Tag und Nacht gestillt werden. Jetzt hatte das Mädchen sein normales Gewicht, war rund und kräftig. Aber Eva brachte es nicht über sich, der Kleinen die nächtlichen Mahlzeiten zu entziehen und sie zu entwöhnen, weil sie die stille Stunde, allein mit dem schmatzenden Kind an der Brust, zu genießen gelernt hatte.
Das ist sicherlich mein letztes Kind, dachte Eva.
Dann lächelte sie dem Kind zu, lächelte auch über sich selbst und genoss eine Weile den Gedanken an Kains Kind, das in Lethas Schoß heranwuchs.
O, wie sie sich auf dieses Kind freute, ein Kind, das sie stark und mit ganzem Herzen annehmen wollte, nicht zerrissen von eigener Qual. Noch ein Kind, dachte Eva; sie blickte auf das Mädchen in ihren Armen und hatte fast den Eindruck, es sei schon wieder etwas gewachsen.
Ein Enkelkind, dachte sie. Vielleicht hat das ja etwas zu bedeuten, ein neues Wunder.
Es war eine warme Nacht, sie hatten die Luke im Dach offen gelassen, und Eva konnte eine Ecke des Sternenhimmels sehen. Aber die Sterne blinkten heute Nacht kalt zu ihr herunter, ihr schauderte ein wenig, und sie blickte auf die zusammengefallene Glut im Herd.
Das Kind schlief jetzt, vorsichtig legte die Mutter es in den Korb neben dem Bett, leise kroch sie neben den Mann unter die Decke.
Dann entführte Eva der Traum. Ein schlimmer Traum, der sie mit voller Gewalt ins Innerste traf.
Sie lief im Mondschein durch den Wald ihrer Kindheit, in rasender Eile auf der Flucht zur Mutter, stolperte dabei über Baumwurzeln, Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Er war ihr auf den Fersen, Satan, erregt, aufgegeilt von der Jagd. Und sie entkam ihm nicht, o Gott, es tat so weh, o Mutter, hilf mir, und dann das Blut an seinen Händen, Blut, das ihr über Beine und Bauch lief und sich mit Tränen und Rotz vermischte, als sie versuchte, Gesicht und Schoß zu verbergen.
Er schlug ihre Hände beiseite und lachte; blitzschnell traf sich ihr Blick. Und plötzlich wusste sie, dass diese Augen sie ihr Leben lang verfolgen würden, der Blick der Schwermut hatte sich in ihr für immer festgekrallt.
Dann auf einmal wanderte sie durch denselben Wald, und wieder schien der Mond. Auch jetzt wurde sie verfolgt, deutlich konnte sie seine Schritte hinter sich hören, und sie wusste ganz sicher: Sie würde nicht entkommen. Aber wenn sie ihre Schritte verlangsamte, machte es ihr Verfolger ebenso, wenn sie stehen blieb, hielt auch er seinen Schritt an. Wie ein Schatten.
Schließlich zwang sie sich, stehen zu bleiben, sich umzudrehen, den Mann noch einmal anzusehen. Der Mond schien klar, jede Einzelheit war zu erkennen, und vor ihren Augen verwandelte sich der Mann. Der gedrungene Körper wurde lang und geschmeidig, das grobe Gesicht bekam feine Züge. Jetzt war es Kain, der ihr durch die Schreckensnacht folgte, damals in ihrer Kindheit.
Sie drehte sich um, ging auf ihn zu und sah, dass er ein Kind auf dem Arm trug. Im selben Augenblick, als er es ihr entgegenstreckte, kam sie im Grenzland an zwischen Traum und Wachen, und sie erinnerte sich gerade noch: Ja, so hatte er ihr Norea gestern am späten Abend gereicht.
Sie war nun hellwach von ihrem eigenen Weinen und sah, wie sich Adam im Bett rührte und Seth sich die Decke mit dem Fuß weggeschoben hatte. Aber niemand war aufgewacht, das Baby atmete noch tief, seltsam geschützt gegen die Bilder, die in dieser Nacht durch die Höhle gehuscht waren.
Evas Herz klopfte hart wie Axtschläge, ihr Mund war trocken, bitter wie das Salz am Südhang des Berges.
Sie kam auf die Beine, griff nach der Holzkelle im Wasserbottich und trank. Dann breitete sie die Decke über den Mann und das Kind, setzte sich in die Höhlenöffnung und blickte zu den kalten Sternen hinauf. Die Nacht war noch nicht vorüber, aber sie wagte nicht, sich wieder schlafen zu legen.
Noch hatte sie keine klaren Gedanken, blieb nur an Worten hängen, die sie nicht verstand: Kain, mein Schatten.
Sie sagte es immer wieder vor sich hin, ohne klug daraus zu werden … »mein Schatten«.
Dann kehrten die Qualen aus dem Traum in ihren Körper zurück, so fürchterlich weh hatte ihr die Vergewaltigung getan, dass der Schoß noch immer wie im Krampf verspannt war. Es erinnerte sie an etwas, das weit zurück lag.
Sie sah Kains Geburt vor sich, hier auf dem Berg an ihrem neuen Wohnplatz, damals, als das Leben noch härter gewesen war. Kaum Schutz vor der Witterung, eine schwere Geburt, Sorge und Angst wegen des herannahenden Winters.
Und dann, in einer Vollmondnacht wie jener im Traum, der unerwartete Schmerz. Wie in ihrem Traum wollte sie vor dem Kind fliehen, das aus ihr herausdrängte, wollte davonlaufen vor der unerträglichen Qual. Und es war keine Frau da, ihr zu helfen, niemand, der ihr sagte, dass diese unerträglichen Schmerzen zu einer Geburt gehörten.
Damals hatte sie nicht flüchten können, der Impuls, in Panik davonzulaufen, suchte sich neue Wege, trieb sie in die Bewusstlosigkeit, auf den Tod zu. Adam hatte ihr kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, um sie zum Leben zu zwingen, dazu, sich dem Kampf gegen die Pein zu stellen, die sie zu zerreißen drohte und Wasser und Blut aus ihr herauspresste.
Eine ganze Nacht lang kämpften sie, und im Morgengrauen kam der Junge zur Welt, klein und dunkel, mit Augen, die sie vorwurfsvoll und traurig anstarrten. Aus ihnen blickt die Schwermut, hatte sie gedacht.
Und gleich darauf: Du hast das Recht zu diesem Blick. Unerwünscht bist du gewesen, unwillkommen.
Jetzt schlug ihr Herz wieder im gewohnten Rhythmus, nicht mehr heftig vor Erregung, so, als wollte es ihr den Brustkorb sprengen. Der Schreck hatte der Trauer Platz gemacht.
Kain war unwillkommen gewesen.
Sie blickte zu Seth, der Junge lag jetzt auf dem Rücken und schlief fest. Er war so anders. Und wie war es bei dem Mädchen? Die Geburt war nicht weniger schmerzhaft gewesen.
»Und obwohl ich müde und kaputt war«, sagte sie laut in die Nacht hinaus, »habe ich sie doch vom ersten Moment an geliebt. Deshalb hatte ihre Geburt einen Sinn. Und Kain, welchen Sinn hatte seine Geburt?«
Trotzdem hatte sie ihren erstgeborenen Sohn gestillt und versorgt, sagte sie sich. Ungeschickt und mit ängstlichen Händen hatte sie sich um ihn gekümmert, war einem Instinkt gefolgt, der zwingender war als ihre Gefühle und Gedanken.
Er hat selten geschrien. Sie versuchte sich zurückzuerinnern. Hier in der Nacht vor dem Höhleneingang versuchte sie alles, was in den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens geschehen war, noch einmal in Gedanken durchzugehen. Und so wenig nur fiel ihr ein. Wie hatte er als kleines Kind eigentlich ausgesehen …?
Keine Bilder.
Hat sie ihn überhaupt gesehen?
Sie versuchte, sich jetzt zu trösten: Ich war ja selbst noch ein Kind, dachte sie. Niemand hatte mir beigebracht, wie eine Entbindung vor sich geht oder was ein Kind brauchte, damit sein Leben einen Sinn bekam.
Plötzlich fiel ihr ein, was der Schamane gesagt hatte, als sie und Adam damals geflohen waren: »Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären …«
Hätte ich genauer zugehört, wäre ich vielleicht besser vorbereitet gewesen, dachte sie und musste beinahe lachen, denn im Alltag hier oben, mit seiner Geschäftigkeit, die sie voll in Anspruch nahm, hatte es für den Schamanen einfach keinen Platz gegeben. Er war ihr Feind im Kampf um Adam. In keinem einzigen Punkt konnte sie dem alten Unglücksvogel Recht geben.
Eine Weile weinte Eva vor Mitleid über sich selbst und über das Kind, das Sorgenkind, das nie wirklich hatte leben wollen. Anders als Seth, der Junge mit der Urkraft in sich.
Auch anders als Abel. Aber Abel war tot, er schlief dort im Grab auf dem Vorhof. Und flüsterte trotz allem manchmal vom Leben durch das frisch ausgeschlagene Laub im Frühling. Sie hatte genug um Abel getrauert. Jetzt musste sie sich um die lebenden Kinder kümmern, hatte Eva beschlossen, jetzt, wo mehr Kinder dazugekommen waren. Und im klaren Licht des Tages, während sie geschäftig ihrer Arbeit nachging, fühlte sie es auch so.
Aber in dieser Nacht durchfuhr sie eine brennende Sehnsucht nach dem toten Kind. O Gott Adams, warum durfte sie ihn nie mehr lachen sehen, nie mehr seine Fragen hören, seinen Geschichten lauschen?
Abel war ein Geschichtenerzähler gewesen.
Die Welt hätte seine Bilder, die er herbeizauberte, gut gebrauchen können, dachte sie. Seth konnte Abel nicht ersetzen, das war ein Märchen, das man sich zum Trost erzählt. Im Grunde wusste sie genau: Kein Mensch kann einen anderen ersetzen.
Und plötzlich spürte sie Hass auf Kain, hasste ihn wegen seiner Untat.
O du Satansbrut, dachte sie, niemand, aber auch niemand hat das Recht, hier auf Erden herumzulaufen, wenn er so etwas getan hat wie du. Sollst du doch mit Schwermut geschlagen sein, sie ist eine geringe Strafe gegenüber der grauenvollen Tat, der du dich schuldig gemacht hast.
Dem Leben gegenüber.
Mir gegenüber.
Jetzt strich der Morgenwind über das Gras, flüsterte in den Baumkronen im Apfelhain. Der Zorn schwand dahin, Zweifel meldeten sich.
Und dennoch.
Eva dachte an Abel, hatte auf einmal tausend helle Erinnerungen an ihn, wie Perlen einer Kette. Kinderarme um ihren Hals, mollige Händchen in ihrem Haar, die vielen Worte, die er früh schon plapperte, die ersten Schritte, der Stolz und die Freude darüber.
Aber an Kains Kindheit gab es keine Erinnerungen. Wo war er gewesen, während Abel fröhlich und mit schneller Auffassungsgabe heranwuchs?
Es war ihre Schuld, das wusste sie genau. Und ihr Zorn auf Kain würde nie stark genug sein, sie davon zu befreien.
Jetzt nahm der Morgenwind zu, im Osten zeigte sich das rosa Licht. Das Baby meldete sich im Korb. Eva musste sich wieder an die Arbeit machen. Ihr liefen die Tränen, während sie Feuer anfachte, Wasser heiß machte und frisches Brot holte. Im Höhleneingang gönnte sie sich noch einen tiefen Atemzug, ehe sie Adam wecken ging.
Und dabei erschien ihr endlich ein Bild von Kain. Eine messerscharfe Erinnerung stieg in ihr auf. An dem Morgen, als Abel starb, hatte Kain vor ihr gestanden, so wie er tatsächlich war: schön, kraftvoll und mächtig.
Auch an diesem Tag schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Und Brot und Früchte standen bei Eva und Letha auf dem Tisch bereit.
Nach dem Essen trafen sich die Männer auf dem schmalen Streifen zwischen Acker- und Sumpfland. Kain war auf dem Weg zur Waldlichtung, Adam unterwegs zum Schafstall. Sie standen beisammen und redeten eine Weile miteinander – wie immer ohne die Unstimmigkeiten zwischen sich anzusprechen. Kain wollte noch mehr Grasland umpflügen, Adam fürchtete um das Weidegebiet, das für die wachsende Herde bald nicht mehr reichen würde.
Als Kain daraufhin vorschlug, weiteren Wald zu roden, war die Vertrautheit zwischen beiden für eine Weile wieder hergestellt, vor allem, weil Kain sich der mühsamen Arbeit des Bäumefällens annehmen würde. Adam hat Probleme mit dem Rücken und weiß, dass Kain dies versteht.
In Kains Wesen ist etwas Zuverlässiges, denkt Adam anerkennend.
Und eines ist den Männern gemeinsam – beide sind sie wortkarg. Ganz einfach, weil man hier oben kaum Worte brauchte.
»Gestern habe ich nicht so viel geschafft, wie ich eigentlich wollte«, sagte Kain, und Adam nickte etwas verwundert.
Es geschah selten, dass Kain nicht voll und ganz das schaffte, was er sich für den Tag vorgenommen hatte. Aber Adam wollte ihm nicht zu nahe treten, indem er nach dem Grund fragte, auch wusste er, dass er keine Antwort bekommen würde.
Als sich die Männer trennten, trafen sich ihre Blicke, und Adam sah in den Augen des Jungen die Qual, sah auch das Feuermal auf dessen Stirn leuchten. Etwas unbeholfen legte er Kain die Hand auf die Schulter, aber der machte sich noch steifer. Und während Adam zu den Wiesen ging, dachte er wie so manches Mal zuvor: Er ist mir fremd.
Adam hatte schon immer die Fremdheit um Kain wahrgenommen, sie als solche gesehen, respektiert und gefürchtet. Die unselige Tat hatte eigentlich keinen Einfluss darauf, hatte lediglich das Bild bestärkt, das Adam schon immer von dem fremden Kind in sich getragen hatte, das hier oben geboren worden war, ganz am Anfang, als alles noch so verwirrend war.
Er dachte an die anderen Kinder: Seth, das Kind des Lichts, das Gott ihnen an Abels Stelle geschenkt hatte. Und Abel, den Gott so sehr geliebt hatte, dass er ihn frühzeitig zu sich nahm. Das Mädchen, ja, sie war anders, wie es Frauen eben sind, sie war aber nicht fremd wie Kain.
Nur Adam wusste, dass Kain von Gott geschickt war, als Gegenstück zu Abel, als die Pein. Der Mensch, der gefunden und geopfert werden musste, um der Menschheit die Möglichkeit zu geben, im Licht zu wachsen und sich mit dem Dunkel auseinander zu setzen.
Notwendig wie das Salz, dachte Adam.
Voller Kraft, wie ein Platzregen im Herbst, und ebenso unschuldig.
Leidenschaftlich, nicht liederlich wie Satan. Ganz, von Gott in einem Stück erschaffen. Nicht innerlich gespalten wie Adam selbst, keine Beute für die Schattenwesen. In der Schattenwelt wohnt die Schuld, sie verwirrt den Menschen und erschwert das Sehen, lässt ihn bei jedem Schritt zögern. Adam weiß das, sein ganzes Leben war sie sein Zuhause gewesen.
Kain zweifelt nie, dachte Adam, die Schuld hat ihn nicht berührt. Das ist der Grund für seine Kraft, seine Schaffenskraft. Und dankbar dachte Adam an all die Veränderungen, die Kain hier oben auf dem Wohnplatz vorgenommen hatte, das Ackerland und die Felder hatte er verdoppelt, neue Schafställe und mehr Wohnraum geschaffen.
Kain wurde auf der Erde gebraucht, für den Kampf, der die Menschheit weiterführen sollte.
Der Schmerz hatte seinen Platz in Kain, das war unabänderlich, so sah es jedenfalls Adam. Er war geboren aus der Einsamkeit, sie war kennzeichnend für sein Schicksal. Und die Kraft war es, die ihn vorantrieb.
Er hatte es nicht leicht, und Adam empfand Mitgefühl mit ihm, wenn er die Qual in den Augen des Jungen sah, so wie heute Morgen.
Jetzt bedauerte Adam, dass er ihm mit seiner unbeholfenen Geste auf die Schulter geklopft hatte. So etwas musste ihn kränken, es war nicht möglich, Kain zu trösten. Auch Worte erreichten ihn nicht, all die tröstenden Worte, die Eva immer wieder für ihn fand. Voller Zorn sah Adam plötzlich klar, und während er die Schafe auf die Wiesen im Westen trieb, bekam die Wut neue Nahrung.
Sicher wie Gott selbst war sie, seine Frau. Sie hatte die Schuld für Kains Untat auf sich genommen. In vollem Ernst glaubte sie, sie habe den Jungen zu dem gemacht, der er nun war. Das war Anmaßung, eine Gotteslästerung.
Wenn Mörder auch Macht besaßen, konnten sie dennoch keine Menschen formen, dachte er jetzt beinahe rasend vor Wut. Heute Abend werde ich ihr das sagen, ich muss ihr begreiflich machen, dass sie Demut zu lernen hat. Warum konnte sie, nach allem, was geschehen ist, nicht Gottes Hand dahinter sehen und sich der Allmacht im Himmel und auf Erden beugen?
Eva hatte viel Wissen, aber wenig Vertrauen. Sie konnte sich nicht mit dem Einfachen und doch so Schweren abfinden, dass alles sei, wie es ist.
Er konnte es auch nicht, aber es war ihm zumindest bewusst. Wer das Wissen hat, es aber nicht in die Tat umsetzt, wird dumpf und ohnmächtig, dachte Adam.
Kain besaß beides – Unwissenheit und Unschuld. Daher seine Stärke, daher seine Tatkraft. Kain war fähig zu handeln, ohne von Gedanken zerrissen zu werden. Daraus entstand viel Gutes, aber auch viel Düsteres.
Adam war jetzt am Bach bei der Tränke. Er war schnell gelaufen, etwas verwundert merkte er, dass die Herde hinter ihm zurückgeblieben war.
Na, sie wird schon nachkommen, dachte er und suchte sich an der Furt einen Stein; er setzte sich und hielt die Füße ins Wasser. Es war eisig kalt, die Kühle kroch ihm die Beine hinauf und breitete sich im Körper aus. Sie kühlte sein Gemüt, dämpfte es.
Merkwürdig, warum bin ich so wütend geworden, überlegte er. Ich kenne doch Eva, weiß, dass sie das, was nicht greifbar ist, leugnet. In ihrer Vorstellungswelt muss man Teil für Teil aneinander fügen können, um ein haltbares Muster zu schaffen.
Passte ein Teil nicht zum Gesamtbild, verwarf sie es.
Die Schafe hatten sich um ihn geschart, und Adam fiel ein, dass er das Morgengebet im Apfelhain versäumt hatte. Wegen der Begegnung mit Kain, wegen der düsteren Augen des Jungen hatte er es vergessen.
Deshalb war ich auch so aufgebracht, dachte er.
Umgeben von den weidenden Schafen fiel er am Ufer auf die Knie, und die Wärme zog wieder in seinen Körper ein, als er betete:
Du Allmächtiger,
Herr der Welt,
der Du uns das Leben gegeben hast
und es uns jeden Frühling wieder schenkst
nach Deinen unergründlichen Gesetzen.
Gib, dass ich mit mir ins Reine gelange
und gib mir Frieden
trotz all des Bösen, das ich dir getan habe.
Blicke auch gnädig auf Kain,
Deinen Diener des Zorns auf dieser Erde,
damit er sein Werk ohne allzu große Pein ausführe
und nicht von seinem eigenen Schmerz
vernichtet wird.
Das Gebet strömte durch Adam, reinigte und heilte ihn, und als er daraus auftauchte, sah er, wie schön die Welt um ihn herum war – das glitzernde Sonnenlicht auf dem See dort unten, die roten Anemonen an der Böschung des Baches und das saftige grüne Gras.
Töricht, dass jemand glauben konnte, all das Wundervolle auf dieser Erde könne ein Mensch je begreifen, dachte er.
Jetzt waren seine Gedanken milde gestimmt, nachsichtig. Auch ein bisschen dankbar, denn es war ja so: Evas Klugheit und ihr unablässiger Kampf um Verständnis gaben auch ihm Kraft.
Das Leben hier oben gab ihm Geborgenheit.
Eva wurde auf Erden gebraucht, so wie sie war und nicht anders. Ebenso Kain.
Der glitzernde See erinnerte ihn daran, wie sie früher einmal ein Floß gebaut hatten. Es hatte als Spiel begonnen, als Zeitvertreib für die Jungen an einem Frühlingstag wie diesem, mit kurzem Wechsel zwischen Sonne und Regen, Wärme und Kühle. Kain war die Idee dazu gekommen, nachdem er mit dem Fischen begonnen und gefroren hatte, als er stundenlang dort am Ufer stand, ohne etwas zu fangen.
»Dort draußen im Wasser sind die großen Fische, wenn man doch dorthin könnte …«
Jedes Frühjahr hatten sie Rindenschiffchen gebaut, immer ein bißchen größer, und sie lernten dabei, dass man sogar einen riesigen Stein hineinlegen konnte, ohne dass er unterging.
Und so war die Idee zu etwas geboren, das sie zu den Fischen aufs tiefe Wasser hinaustragen konnte. Gefährlich war es nicht, denn die Jungen schwammen sicher wie die Entenküken am Seeufer.
Sie schlugen zunächst armdicke Zweige in gleicher Länge ab und trockneten sie in der Höhle am Feuer (Adam verzog den Mund bei der Erinnerung an Evas Protest wegen der Zweige, die ihr überall im Weg waren). Dann verflochten sie die Zweige mit Rindenstreifen so dicht und fest, wie es nur irgend ging. Es dauerte eine Weile, bis sie herausfanden, dass die Rinde ordentlich gewässert werden musste, aber ganz dicht hatten sie ihr Floß nie bekommen.
Eines Tages kam Kain der Gedanke, Streifen aus Schafshaut zu schneiden, Stricke erleichterten die Arbeit, und das Floß wurde dichter. Trotzdem war es nur ein halber Erfolg, es sank zwar nicht, aber es schwamm etwas unterhalb der Wasseroberfläche. Die Jungen wurden beim Fischen bis zu den Beinen hinauf nass. Eva schimpfte, lieber wollte sie keinen Fisch, als dass die Kinder ständig durchweicht und triefnass nach Hause kämen. Sie könnten sich den Tod holen, sagte sie.
Es war ein kalter Frühling gewesen. Adam musste ihr Recht geben.
Adam und Abel gaben auf.
Nur Kain beschäftigte sich weiterhin mit dem Rätsel um das Floß. »Es muss größer sein«, sagte er.
Größer? Adam verstand nicht, weshalb es dann besser schwimmen sollte.
»Größer und leichter«, sagte Kain, und eines Tages begann er ganz von vorn, bog Zweige zu Spanten zurecht und hatte bald das Skelett für eine riesige Wanne. Dann verflocht er es mit Schilf. Adam erinnerte sich, dass sie ihn auslachten. Und ausschimpften, als er die mühsame Flechtarbeit mit Schafstalg bestrich, dem kostbaren Schafsfett, das nicht zum Spielen gedacht war.
Aber als Kain mit dem Boot fertig war, schwamm es leicht und dicht auf dem See und war so groß, dass sie zu zweit darin fischen konnten.
Abel, der es gewohnt war, alle Bewunderung auf sich zu ziehen, hatte nicht so recht ertragen können, dass die Aufmerksamkeit nun Kain zukam. Eva hatte nur erstaunt geschwiegen. Sie hatte eingesehen, hier war eine großartige Erfindung gemacht worden, Kain hatte Fähigkeiten, die ihr abgingen.
Adam hatte mit Verwunderung und Respekt reagiert und sagte sich, wie so manches Mal, an diesem Jungen war etwas Besonderes.
Hatte er es widerstrebend gesagt?
Hatte er jemals dem Jungen gezeigt, dass er ihn schätzte?
Er erinnerte sich nicht daran, es war ja auch so lange her.
Die Schafe befanden sich mittlerweile sicher auf dem Berg oberhalb des Baches. Er konnte eigentlich nach Hause gehen, da erinnerte er sich, dass Eva Schaffleisch haben wollte für ein Festmahl zur bevorstehenden Geburt des Enkelkindes.
Er hatte vergessen, Kain darum zu bitten. Jetzt war es jedesmal Kains Sache, zu schlachten, denn er handhabte das Messer geübt und geschickt.
Auch Letha war an diesem Tag ängstlich, sie schämte sich, ja hatte Angst. Sie hatte sich benommen, wie es sich für eine Frau nicht gehörte – hatte bei der Umarmung des Mannes gejammert.
Und Kains Zorn war groß gewesen, so groß, dass er an diesem Abend, als er von der Rodung zurückkam, nicht wieder zu ihr ging. Trotzdem hatte sie darum gebettelt, so gut sie es mit ihrer kleinen Gestalt und dem großen Bauch auszudrücken vermochte.
Andererseits war Letha die Einzige auf dem Wohnplatz, die sich von Kains wechselnden Launen, seiner Schwermut und dem aufbrausenden Wesen nicht beunruhigen ließ. Für das Mädchen aus dem großen Frauenzelt in Emers Lager waren die Männer unbegreifliche Wesen. Man hatte sich ihnen zu beugen, wie das Gras im Wind. Wer weiß schon, woher der Wind weht, warum er an einem Tag eiskalt und unbarmherzig war und am nächsten trocken und drückend heiß wie der Wüstensand. Zuweilen streichelte er auch ihre Wange, die weich war und herrlich duftete. Man musste dafür dankbar sein.
Am Anfang, als sie einander noch neu waren, voller unerforschter Möglichkeiten, hatte er mit ihr geredet, ständig hatte er das Gespräch und ihre Antworten gesucht. Es hatte sie beunruhigt, denn sie hatte keine Antworten, und sie wusste nicht, was sie mit der Vertraulichkeit anfangen sollte. Es widerte sie auch an, in gewisser Weise war es unanständig und unmännlich, mit einer Frau so viel zu reden. Sie fand, er erniedrigte sich, erniedrigte auch sie. Und sie versuchte, die Verwirrung von sich zu schieben, indem sie nicht zuhörte.
Bald hatte Kain gelernt zu schweigen.
Ihre Vertraulichkeit behielt sie Eva vor, das war Frauensache.
Damals, am Anfang, war die Liebe zwischen ihr und dem Mann weicher gewesen, das Spiel einfallsreicher. Er war sanft, konnte auf sie warten.
Als er aufgehört hatte, so viel zu reden, waren die Umarmungen härter geworden, ging er mehr zur Sache, oftmals nahm er sie von hinten. Manchmal vermisste sie die Sanftmut. Aber bloß halbherzig, denn sie hatte die Liebe oftmals nur kurze Augenblicke genießen können. Später dann hatte sie gedacht, ob es nicht unpassend sei, durfte ein richtiger Mann so sanft und empfindsam sein?
Letha wusste intuitiv, dass Härte und Verweigerung ihre Lust steigerten. Manchmal wünschte sie, er würde sie schlagen, erinnerte sich an die erhitzten Protestschreie der Frauen im Zelt dort unten, wenn eine von ihnen misshandelt wurde, aber auch an das eigenartige Lustgefühl bei den übrigen Frauen, wenn sie lindernde Salben auf die Wunden strichen, erinnerte sich auch an den Stolz der Verprügelten, inmitten aller Qualen.
Heimliche Erinnerungen, voller Scham und Lust.