Sofia und Anders - Marianne Fredriksson - E-Book

Sofia und Anders E-Book

Marianne Fredriksson

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Sofia den blinden Jungen Anders kennen lernt, spürt sie eine Seelenverwandtschaft - bis ein unerhörtes Ereignis Sofias Familie in höchste Aufregung versetzt und die Schatten der Vergangenheit heraufbeschwört. Marianne Fredriksson hat ein spannendes Buch geschrieben, voller Trost und Einsichten. Auf sensible Weise zeigt die Autorin des Bestsellers »Hannas Töchter«, wie fern voneinander Realität und Wahrnehmung sein können, und wie tief verborgen unsere Sehnsüchte sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marianne Fredriksson

Sofia und Anders

Roman

 

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

 

Über dieses Buch

 

 

Als Sofia den blinden Jungen Anders kennen lernt, spürt sie eine Seelenverwandtschaft - bis ein unerhörtes Ereignis Sofias Familie in höchste Aufregung versetzt und die Schatten der Vergangenheit heraufbeschwört. Marianne Fredriksson hat ein spannendes Buch geschrieben, voller Trost und Einsichten. Auf sensible Weise zeigt die Autorin des Bestsellers »Hannas Töchter«, wie fern voneinander Realität und Wahrnehmung sein können, und wie tief verborgen unsere Sehnsüchte sind.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007.

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

II

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

III

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

IV

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

V

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

VI

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

VII

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

VIII

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

IX

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

Für Anita mit Dank für ihre hilfreiche Offenheit

Eine Welt für sich ist jeder Mensch, bevölkert

von blinden Geschöpfen in dunklem Aufruhr

gegen das Ich, den König, der über sie herrscht.

In jeder Seele sind tausend Seelen gefangen,

in jeder Welt sind tausend Welten verborgen,

und diese blinden Welten, diese Unterwelten

sind wirklich und lebendig, wenngleich nicht ausgereift,

so wahr, wie auch ich wirklich bin. Und wir, Könige

und Fürsten der tausend Möglichkeiten in uns,

sind selbst Untergebene, selbst Gefangene

in einem größeren Geschöpf, dessen Ich und Wesen

wir ebenso wenig fassen wie unser Meister

seinen Meister. Durch ihren Tod und ihre Liebe

haben unsere Gefühle jeweils ihren Farbton erhalten.

 

Als wenn ein riesiger Dampfer weit hinten

am Horizont vorbeizieht, im Abendglanz.

– Und wir wissen nichts von ihm,

bis eine Schiffswelle uns am Strand erreicht,

erst eine, dann noch eine und viele weitere,

die sich überschlagen und heranrauschen, bis alles wieder ist wie zuvor. – Und doch ist alles ganz verändert.

 

Dann ergreifen uns die Schatten einer sonderbaren Unruhe,

wenn jemand uns sagt, es seien Leute abgereist,

einige seien möglicherweise befreit worden.

 

Gunnar Ekelöf

I

1

Langsam, ganz langsam schwebten die Kinder dem Dach entgegen.

Sie machten eine Drehung um Jesus, als lüden sie ihn ein, mit ihnen zu kommen. Aber er konnte sich nicht von dem Kreuz lösen, an das die Menschen ihn genagelt hatten.

Deshalb schüttelte das Mädchen traurig den Kopf, als sie dem Gewölbe der hellblauen Kirche weiter entgegenschwebten. Ihre Hand um die des Jungen griff fester zu.

Die Geschwindigkeit der beiden steigerte sich.

»Mein Gott«, flüsterten die Leute vor Schreck, da sie jeden Augenblick erwarteten, dass die Kinder gegen die Mauern prallten.

Aber ein Wind kam auf und öffnete das Gewölbe, ein kräftiger Sturm, der durch das Gebäude brauste und den Kirchengeruch hinaustrieb. Und sie sahen den Himmel, alle sahen den Himmel, als die Kinder auf ihrer Reise der Sonne entgegen verschwanden, von den Windböen gewiegt wie leichte Vögel im Sturm.

Dann schloss sich das Kirchendach, und es war, als wäre nichts geschehen.

 

Es war während des Hauptgottesdienstes an einem Adventssonntag in der Kirche von Östmora. Zweihundertundacht Seelen hatten sich eingefunden. Die meisten kamen einfach aus Lust und Laune, unvertraut mit dem Ritual, mit vagen Erwartungen. Dreiundvierzig gehörten zu den üblichen, treuen Kirchengängern. Sie kannten einander seit vielen Jahren, nicht nur dem Namen nach.

Maria Elofsson wurde vermisst. Das war sicher der Rücken, flüsterten sie. Der Doktor war da, wie immer, seit seine Frau gestorben war. Die Brüder Björkman saßen in der zweiten Reihe, frisch gewaschen und rotwangig, verströmten sie den üblichen Duft nach altem Kaffee. Sie hatten, wie stets am Sonntagmorgen, die Flecken auf ihren schwarzen guten Anzügen mit dem Satz aus dem Kaffeekessel ausgerieben.

Drei Mädchen, die im Frühling konfirmiert werden sollten, waren auch da, rechts in der ersten Bank.

Der Pfarrer war jung, schwach im Glauben und stark in der Rede.

Kurz gesagt, nichts hatte erahnen lassen, dass Östmora an diesem Tag von einem Wunder heimgesucht werden sollte.

Das einzige Ungewöhnliche waren die Kinder gewesen. Sie hatten direkt vor dem Altar gesessen, ganz weit vorn in der ersten Bank, und das Mädchen, das größer war, hatte seinen Arm um die Schulter des Jungen gelegt. Mia Johansson, die eine Ausnahme unter Gottes Kindern bildete und in allem nur Gutes sah, dachte gerührt, dass Kerstin Horners merkwürdiges Enkelkind sicher ein gutes Herz hatte und außerdem viel Geduld mit Berglunds blindem Jungen.

Aber dann überlegte sie etwas beunruhigt, dass die Berglunds, die ja dem schwedischen Missionsverbund angehörten, es vielleicht gar nicht so gern sahen, wenn das Mädchen den armen Blinden mit in die Staatskirche nahm.

In der Bank hinter sich hörte sie die Schwestern Enström flüstern, es ärgere Kerstin Horner bestimmt, dass ihre Enkelin Gott aufsucht. Heidin, die sie war, und hochmütig dazu.

Der Pfarrer stand auf der Kanzel und las laut seine Predigt, deutlich und mit langen Pausen. Die Akustik des Kirchenraums zwang ihn zu den Unterbrechungen, und jedes Mal, wenn er das Echo der Kuppel abwartete, spürte er die Angst.

Ich sollte mir einen anderen Job suchen, dachte er.

Eigentlich hätte er darauf vorbereitet sein müssen, der Neupfarrer Karl Erik Gustaf Holmgren. Hatte er doch seinen Tag mit einem verzweifelten Gebet an den Gott begonnen, an den er nur so schwer glauben konnte. Ein Gebet ohne alle Hoffnung auf ein Wunder, das ihm das Vertrauen seiner Kindheit wiedergeben könnte.

Aber als die Kinder dem Kirchendach entgegenflogen, empfand er genauso viel Angst wie alle anderen, genauer gesagt sogar noch mehr. Hätte er nur seine Stimme und die richtigen Worte gefunden, so hätte er geschrien: Hör auf, Gott, hör doch auf. Ich habe es nicht so gemeint …

Nun geschah das Wunder aber nicht während seiner Predigt, sondern erst während des Kirchenlieds »Bereitet den Weg für den Herrn! Die Berge versinken, die Tiefen erheben sich«.

Unerhörte Worte, dachte der Pfarrer, von viel größerer Bedeutung als zwei Kinder, die zum Kirchendach hinaufflogen. Im selben Augenblick, als er dies dachte, hörte er Gott lachen.

Gott lachte. Er stellte das Wunder von Östmora infrage, machte es ganz einfach lächerlich. Aber nur der Pfarrer hatte Gottes Lachen gehört, und das würde ihn von nun an sein Leben lang wie eine besondere Gabe begleiten.

 

Nachdem die Kinder verschwunden waren und das Kirchendach sich wieder geschlossen hatte, saßen die Leute wie versteinert da.

Sie sahen erschrocken auf ihren Hirten, er musste doch etwas sagen, was sie wieder auf den sicheren Boden der erklärbaren Tatsachen zurückführte. Aber er stand unbeweglich da, das Gesicht dem geschlossenen Dach zugewandt. Und lachte, ja genau, das tat er.

Das wurde hinterher lebhaft besprochen, das Lachen des Pfarrers. Bei weitem nicht alle hatten es gesehen, viele bezweifelten es. Die drei Konfirmandinnen, die in der ersten Bank gesessen hatten, bestritten es.

»Ach was, er hat nur blöd geguckt.«

»Er sah selig aus«, sagte Mia, die immer nur das Beste wollte.

Einig waren sich jedoch alle darin, wer den Bann in der Kirche gebrochen hatte, alle erinnerten sich daran, wie Nils Björkman sich erhoben hatte und rief:

»Aber um Gottes willen, wir müssen die Kinder finden!«

Das half. Plötzlich konnten sie sich bewegen; sie holten tief Luft und zwängten sich durch die Kirchentür, um in alle Richtungen auszuschwärmen und zu rufen: »Sofia, Anders!«

Die Brüder Björkman nahmen sich den Friedhof vor, suchten hinter jedem Stein, hinter jeder Mauer und jeder Hecke. Linnea Haglund, die Schmerzen in einem Bein hatte, erklärte, sie seien dumm, es müsse doch jedem klar sein, dass die Kinder weit weggetrieben worden seien – bei der Geschwindigkeit, die sie draufhatten, als sie durchs Dach sausten.

Der Doktor kam auf die Idee, den Eltern Mitteilung zu machen. Er selbst übernahm es, Kerstin Horner anzurufen.

Seine Hand, die den Telefonhörer hielt, zitterte. Was in Gottes Namen sollte er nur sagen, überlegte er, während er in der Sakristei stand und versuchte, seinen Blick an den Pfarrersgewändern auf ihren Bügeln festzuhalten.

»Horner«, sagte die ruhige Stimme im Hörer.

»Ja, hallo, hier ist Åke Arenberg. Ich, ich wollte hören, wie … wie es Sofia geht?«

»Das ist aber nett«, sagte die Stimme. »Weißt du, sie hat diese Weihnachtsgrippe, die gerade umgeht, leichtes Fieber und so. Aber ich glaube, es ist nichts Ernstes.«

»Aber wo ist sie?«

Jetzt schrie er, und sie sagte ganz ruhig und verwundert, dass Sofia schlafe, wie Kinder es tun, wenn sie Fieber haben. Sie sei nach dem Frühstück wieder eingeschlafen.

»Ich habe ihr eine Tablette gegeben«, sagte sie entschuldigend. »Gegen die Kopfschmerzen. Aber warum fragst du?«

Lange Zeit blieb es still, schließlich brachte er gepresst heraus:

»Hier gibt es Leute, die meinen, sie hätten sie gesehen.«

»Wo?«

»Auf … auf dem Weg aus der Kirche.«

»Dann haben sie Gespenster gesehen«, sagte Kerstin lachend. Und der Doktor, der es nicht länger aushielt, legte den Hörer auf.

 

Zur gleichen Zeit kamen die Brüder Björkman zurück in die Kirche, keuchend und heftig aufeinander einredend. Sie waren bei den Berglunds gewesen und hatten mit eigenen Augen Anders schlafen sehen, ziemlich unruhig aufgrund des hohen Fiebers. Der Blinde hatte den ganzen Vormittag geschlafen, seine Mutter war beunruhigt und wollte gern, dass der Arzt vorbeikomme und sich den Jungen einmal anschaue.

2

Kerstin Horner blieb mit dem Hörer in der Hand stehen, überrascht und ein wenig erschrocken über Arenbergs Worte. Er war ein ruhiger Mann und ein guter Arzt.

Vernünftig. Aber Kerstin mochte ihn nicht.

Kerstin war Lehrerin. Sie hatte sich für diesen Beruf entschieden, weil sie an Kindern interessiert war.

Womit sie meinte, dass sie neugierig auf kleine Menschen war, auf ihre Gedanken und Meinungen. Und vielleicht in erster Linie auf ihren Zustand, diesen Ewigkeitszustand, wie sie es nannte.

Das sagte sie natürlich nicht laut; wovon sie sprach, als sie noch jung war, und woran sie glaubte, das waren die in jedem Kind schlummernden Möglichkeiten. Aber der Glaube ging in der Schule verloren. Wie die Ewigkeit.

Ausläuten, einläuten.

Sie war noch nicht einmal fünfunddreißig Jahre alt gewesen, als sie den üblichen Auffassungen nachgab. Aber durch alle Berufsjahre hindurch hatte sie sich die Gabe erhalten, das Besondere bei jedem Kind zu sehen und zu hören.

Jetzt legte sie den Hörer auf, schüttelte den Kopf und ging zu ihren Schreibheften zurück. Sie saß davor, ohne sich konzentrieren zu können. Ihr Blick wanderte durch das Fenster hinaus, durch die Zweige des Birnbaums und weiter auf die weißen Felder mit den langen Schatten. Ihre Gedanken gingen zu Sofia.

Dem gesegneten Kind.

Eigentlich hatte sie genau das Kind, von dem sie immer geträumt hatte, dachte Kerstin. Es hat eine Phantasie, die die Welt zum Glühen bringt, und ein Herz mit weit aufgerissener Tür, groß wie die Tür zum Viehstall.

Und dennoch diese Unruhe.

Wie so oft dachte sie an den Abend, als Sofia verschwunden war. Dunkelheit, peitschende Märzwinde, Matsch. Das Kind war zum Mittagessen nicht nach Hause gekommen und auch nicht zum Abendbrot. Kerstin war an den Strand gegangen, um sie zu suchen.

»Sofia, Sofia!«

Ihre Taschenlampe hatte nur wenig in der Dunkelheit um die Felsen am Meer ausrichten können.

Groß, schwarz, dröhnend.

Und dann sah sie Johanssons Haus dort draußen, das Licht der Fenster und das Kind, das ihr entgegensprang.

»Ich habe mich verlaufen.«

»Aber hier läufst du doch immer herum.«

»Da war Licht in einem Fenster, und ich wollte an die Scheibe klopfen.«

»Und warum hast du es dann nicht getan?«

»Es war das falsche Fenster.«

Dann hatte das Kind seine Hand in ihre geschoben:

»Oma, sei nicht böse.«

Sie schüttelte Sofia, drückte sie aber schließlich so fest, dass ihr fast der Atem ausblieb.

Sie hatten sich im Gegenwind auf der Heide hingehockt. In der Dunkelheit lauerte der Wind mit scharfen Spitzen. Sie waren gelaufen, hatten eine Abkürzung über die Äcker genommen. Der Schlamm spritzte um ihre Stiefel herum.

Am Küchentisch bei Butterbroten und heißem Kakao sagte Kerstin dann:

»Du weißt doch, dass ich immer wütend werde, wenn ich Angst habe.«

Der Blick des Mädchens wurde ganz leer. Aber Kerstin ließ nicht locker.

»Was meintest du damit, dass es das falsche Fenster war?«

Sofias Augen waren auseinander gerutscht, wie immer, wenn sie lügen wollte. Doch dann sagte sie ganz logisch:

»Als ich gesehen habe, dass es Johanssons Haus war, wusste ich ja, wo ich war. Da konnte ich nach Hause finden.«

Ihr Blick war wieder klar, und sie sah Kerstin in die Augen:

»Es ist doch alles gut, Oma.«

»Ja, natürlich, mein Kind, alles ist gut.«

In diesem Moment gab es Hoffnung, als könnten ihre zwei Welten einander treffen. Sofia hatte angefangen zu erklären.

»Weißt du, ich bin ganz normal auf dem Weg gegangen. Da habe ich plötzlich gehört, wie der große Berg, weißt du, die Wand, zu mir gesprochen hat.«

»Gesprochen?«

»Ja, nein, er hat geflüstert. So, dass ich ihn nicht so gut verstehen konnte. Da habe ich meine Hand auf die untersten Steine gelegt und gesagt: Sprich lauter. Aber die Steine haben gesagt, das kann der Berg nicht.«

Dann ein lautes Lachen, und die Mädchenstimme fuhr fort:

»Und dann hat der Berg die Welt angehalten. Der Wind stand still, und die Wellen haben nicht mehr gegen die Klippen geschlagen. Das war so spannend, dass ich fast tot umfiel.«

Das Mädchen zitterte, sodass der Kakao in der Tasse in seiner Hand überschwappte.

Kerstin hatte ganz still am Küchentisch gesessen.

»Der Berg denkt sehr langsam«, hatte Sofia gesagt. »Das kommt daher, weil er so alt ist, weißt du.«

Kerstin hatte ihr nicht antworten können, also fuhr das Mädchen mit seiner Geschichte fort.

»Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich den Berg verstanden habe. Ich sollte auf ihn klettern und nach Norden gehen. Da oben war ein Weg, ein langer Weg. Der leuchtete, weißt du. Aber er war steil, der Berg, meine ich. Manchmal kam ich nur auf allen vieren voran.«

Sie flüsterte, und ihr Blick war weit weg, als sie fortfuhr:

»Ich habe einen Vogel gehört und dachte, dass er in dem Garten singt, von dem der Berg erzählt hatte. Aber dann wurde es ganz plötzlich dunkel. Und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Deshalb bekam ich Angst und bin einfach drauflosgelaufen.«

Kerstin hatte immer noch kein Wort gesagt, aber sie musste blass ausgesehen haben, denn Sofia hatte gesagt:

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Da hatte Kerstin sich zusammengerissen und Worte gefunden.

»Nein, nein. Ich bin nur etwas müde.«

Das Kind verzog seine Mundwinkel vor Verachtung, und die Augen sagten: Du lügst. Sie hatte Recht, denn Kerstin hatte wirklich ein Gespenst gesehen, einen Mann, der Sofia ähnlich war, in einem Zimmer mit Gittern vor dem Fenster. Dieser Mann hatte voller Eifer behauptet, er könne mit den Steinen auf dem Tisch vor sich reden. Er hatte einen Stein nach dem anderen angehoben, an ihm gelauscht und gesagt: Nur ich kann sie hören und verstehen.

Hinter ihm konnte sie Klara erkennen, auch sie vom Berg verzaubert.

Eine halbe Stunde später hatte sie das Kind ins Bett gebracht. Dann hatte sie sich aufs Sofa im Wohnzimmer gesetzt und versucht, ihr Herz, das unnatürlich schnell schlug, zur Ruhe zu bringen.

 

Den ganzen Sommer über hatte Kerstin sich bemüht, das Gespräch zu vergessen. Warum kam ihr die Geschichte heute wieder in den Sinn, während das Kind sicher in seinem Zimmer schlief, in dem die Adventskerze ruhig und anheimelnd brannte?

Sie schlich sich die Treppe hinauf, über den Flur, und machte die Tür einen Spalt weit auf. Sofia schlief.

Aber hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich ihre Augen. Sie träumt, soll sie lieber weiterträumen.

In der Küche kochte Kerstin Tee, wärmte Milch und schmierte Butterbrote.

»Hallo, es ist Zeit aufzuwachen. Und etwas zu essen.«

Das Mädchen schien nicht mehr so heiß zu sein, vielleicht war das Fieber gesunken. Wie üblich war sie sofort wach, sah erstaunlich zufrieden aus und sagte jubelnd:

»Wir haben es geschafft. Wir sind durchs Dach der Kirche hinausgeflogen.«

Im gleichen Moment klingelte es an der Tür.

»Fang schon an zu essen, ich mache auf.«

Sie hörte ein zweites, ungeduldiges Klingeln, als sie die Treppe hinunterging. Dennoch nahm ihr Körper sich seine Zeit, und sie dachte überrascht, dass die Unruhe wie Kleister in ihren Kniegelenken saß.

Es war Åke Arenberg:

»Ich bin gerade hier vorbeigekommen und habe gedacht, ich könnte mir schnell mal Sofia ansehen.«

»Das ist wirklich nett, aber es geht ihr schon viel besser.«

»Außerdem wollte ich das Telefongespräch erklären.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Kerstin scharf.

»Das Unheimliche daran ist«, fuhr der Doktor fort, »dass ich sie mit eigenen Augen gesehen habe, Sofia und Anders, wie sie durchs Kirchendach geflogen sind.«

Seine Stimme klang schrill, ganz anders als sonst. Kerstin hatte auf der Treppe einen Schatten gesehen, das Mädchen lauschte. Sie legte einen Finger auf den Mund und sagte:

»Lass uns lieber in der Küche weiterreden.«

Sie schlug die Küchentür mit Schwung zu und ließ sich schwer auf einem Stuhl nieder.

Die Worte prasselten nur so aus dem Doktor heraus, und immer wieder kam er darauf zurück, dass er es selbst gesehen hatte.

»Mit eigenen Augen«, sagte er.

»Das wird deinem Ruf schaden«, sagte sie schroff.

»Meinst du nicht, dass ich daran auch schon gedacht habe.«

»Und was schlimmer ist: Es wird den Kindern schaden.«

»Deshalb bin ich ja hier«, sagte er flehend. »Ich möchte mit gutem Gewissen bescheinigen können, dass beide Kinder krank in ihren Betten lagen.«

Kerstin ging vor ihm die Treppe hinauf, als er sagte:

»Was Anders betrifft, ist die Sache klar. Er hat so hohes Fieber, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann.«

Kerstin dachte unruhig an Sofias Besserung, beruhigte sich aber sofort, als sie die Tür zum Mädchenzimmer geöffnet hatte. Denn dort lag Sofia mit fieberheißen Wangen und brennenden Augen.

Nachdem der Arzt gegangen war, zufrieden, weil er eine Infektion in Nase und Rachen, hohes Fieber und hohen Puls festgestellt hatte, sagte Kerstin entschlossen: »Jetzt erzählst du mir die Wahrheit.«

»Welche Wahrheit?«, fragte Sofia. »Ich bin krank, und ich habe geträumt.«

Sie schloss ihre Augen im selben Moment, als Kerstin ihr Schielen bemerkte. Danach schlief sie. Und dann klingelte das Telefon. Es war die Lokalzeitung, und Kerstin fauchte:

»Wenn Sie unschuldige Kinder in diese Räubergeschichte reinziehen, werde ich Sie verklagen.«

3

Erst muss es mir besser gehen«, sagte das Kind streng zu sich selbst, um nicht in Panik zu geraten. »Dann werde ich nachdenken.«

Sie schlief eine ganze Stunde lang.

Dann hörte sie, wie ihre Oma am Telefon sprach, und erinnerte sich, dass sie das Telefon den ganzen Abend lang durch ihren Schlaf hindurch klingeln gehört hatte.

Arme Oma.

Jetzt hatte sie kein Fieber mehr und konnte klar denken. Ich muss mit dem Anfang beginnen, dachte sie und wurde unsicher. Denn wo zum Teufel war der Anfang?

Sie beschloss, dass es der Tag gewesen war, an dem sie sich mit Anders angefreundet hatte. Solange sie denken konnte, war sie neugierig auf ihn gewesen, hatte überlegt, was er dort drinnen in seiner Dunkelheit wohl sah. Eine andere Welt musste das sein, vielleicht wie die Welt des Bergs oder des Brachlands, hatte sie sich überlegt.

Unheimlich und wunderbar.

Eines Tages wollte sie ihn fragen. Deshalb wartete sie freitagsabends auf den Bus, mit dem er von seiner Schule kam, wo er die Woche über wohnte. Oma hatte ihr erklärt, dass sehbehinderte Kinder in eine Spezialschule gehen und mit den Fingern lesen lernen mussten.

Aber nie konnte sie ihn ansprechen, denn immer waren seine Eltern an der Haltestelle und verschwanden schnell mit ihm im Auto.

Einige Zeit später hörte sie jemanden erzählen, dass Anders jeden Samstagmorgen ganz allein zum Kiosk ging, Süßigkeiten kaufte, bezahlte und alles. Das war Marta aus dem Geschäft, die das erzählte, und sie war ganz überrascht: Wie ein normales Kind, sagte sie.

Also wartete Sofia an einem sonnigen Samstagmorgen im Frühling vor dem Kiosk. Er kam mit seinem weißen Stock an, rechter Fuß vor und Stock nach links, linker Fuß vor und Stock nach rechts. Das sah elegant aus, fand Sofia.

»Hallo«, sagte sie, als er eingekauft hatte. »Ich bin es, Sofia dort hinten vom Hügel, weißt du. Ich möchte so gern wissen, was du siehst, wenn du träumst.«

»Ach«, sagte der Junge, »ich träume von Engeln, großen, weißen mit langen Flügeln, in die sie mich einhüllen können.«

»O Mann«, sagte Sofia, neidisch und beeindruckt.

So wurden wir Freunde, dachte Sofia.

Sie ging mit ihm heim zu seiner Mutter, die dabei war, die Betten zu machen.

»Wie schön«, sagte sie, »dass du eine Freundin gefunden hast.«

Und dann bekamen sie Saft, und die Mutter schlug vor, sie könnten ihn doch im Garten trinken. Sie saßen unter einem alten Apfelbaum, und genau zu dieser Zeit blühte und duftete er, und es summte von Bienen.

»Kannst du mit den Bäumen reden?«

»Natürlich«, sagte der Junge. »Kannst du das nicht?«

»Nein, nur schlecht«, antwortete Sofia und fühlte sich unterlegen. Aber dann fiel ihr der Märzabend ein.

»Einmal hat der Berg zu mir gesprochen.«

»Und was hat er gesagt?«

Sofia erzählte die ganze Geschichte, deshalb konnte sie den schmählichen Schluss schlecht auslassen:

»Und deshalb habe ich nie erfahren, was der Berg wollte.«

»Aber warum bist du nicht wieder hingegangen und hast gefragt?«

Sofia dachte über die Antwort nach und sagte überrascht:

»Ich habe alles Oma erzählt, und sie hat Angst gekriegt.«

»O Mann«, sagte der Junge, »den Erwachsenen sollte man nie was erzählen.«

»Aber was machst du denn, wenn sie fragen?«

»Natürlich lügen.«

»Mir sieht man es an, wenn ich lüge. Ich schiele dann.«

»Das kannst du dir abtrainieren«, sagte der Junge. Und dann rief er ins Haus, dass er sich bei Sofia zu Hause die neugeborenen Kätzchen angucken wollte.

»Hat Kerstin denn eine Katze?«, fragte seine Mutter.

»Na, das wissen doch alle«, antwortete der Junge. »Komm, wir gehen.«

»Sei vorsichtig«, sagte die Mutter, und Sofia nahm Anders bei der Hand und verabschiedete sich. Sie war ganz erschöpft vor Bewunderung. So, dachte sie, so möchte ich auch lügen können.

Sie gingen den Waldweg zum Berg hinauf, und Sofia merkte sich gut, was Anders sagte. Dass nicht alles in seiner Welt dunkel war, er sah Licht, das sich veränderte. Und dass er den Blick nach innen richten konnte und dort Farben, Bäume und Blumen und natürlich den Himmel sehen konnte. Er musste seinen Blick nur so ausrichten: Sie blieben stehen, und Sofia schaute genau zu, wie Anders seine Augen öffnete und sie schräg nach oben rechts wandern ließ.

»Da kann ich sehen, in mir. Verstehst du?«

»Natürlich«, sagte Sofia.

Nach einer Weile wagte sie zu flüstern:

»Kannst du die Toten auch sehen?«

»Nee, konnte ich noch nie. Kannst du das?«

»Ich habe es versucht«, erklärte sie. »Im letzten November, an Allerheiligen, weißt du. Denn in der Nacht stehen die Toten auf, um Östmora anzugucken. Aber ich habe keine gesehen.«

»Wohin gehen sie denn?«

»Zu ihren alten Häusern und Gärten. Sie wollen sie angucken, und dann wollen sie die Lebenden grüßen. Aber die Lebenden sind nie da, und ihr Haus hat keinen Eingang. Dann werden die Toten traurig.«

Jetzt hatten sie den Berg erreicht. Sie gingen bis nah an die Steilwand und blieben still, ganz atemlos, stehen.

Leider schwieg auch der Berg.

»Vielleicht ist das Wetter zu schön«, sagte Sofia, aber Anders, der sein Ohr an die Bergwand gelegt hatte, hieß sie schweigen.

»Jetzt flüstert er«, sagte er.

Sofia presste ihren Kopf fest an den Berg, hörte aber nichts.

»Ich kann viel besser hören als du«, sagte der Junge.

»Was sagt er denn?«, fragte das Mädchen.

»Das Gleiche, was er zu dir gesagt hat. Wir müssen raufklettern.«

Sofia schaute die steile Wand hoch und dachte, dass das gefährlich sei für einen Jungen, der nicht sehen kann.

»Ich sehe mit den Fingern«, sagte Anders. »Ich habe in jeder Fingerspitze tausend Augen.«

Zum ersten Mal kam Sofia der Gedanke, dass Anders angab, und ihr fiel ihr Versprechen ein, vorsichtig zu sein.

»Das machen wir morgen«, sagte sie. »Ich werde Hans‹ Seil ausleihen, das hängt unter der Kellertreppe. Und dann klettern wir wie die Bergsteiger im Fernsehen.«

Anders willigte ein und langsam gingen sie wieder nach Hause.

 

Sofia hatte ein fotografisches Gedächtnis, sie konnte sich Stück für Stück den Fernsehfilm von den französischen Alpen ins Gedächtnis zurückrufen. Am Abend wusste sie genau, wie sie es machen musste. Sie würde zuerst hinaufklettern, das Seil am Fels befestigen, sich dann wieder hinunterlassen und das Seil um sich selbst und Anders knoten.

Aber am nächsten Morgen regnete es, und nicht einmal Anders konnte sich für einen Ausflug freilügen. Sie mussten bis zum nächsten Samstag warten.

 

Das war eine lange Woche, doch als der Samstag kam, strahlte die Sonne über Östmora. Sofia hatte auch noch das Glück, dass ihre Oma etwas in der Stadt zu erledigen hatte. Kerstin wollte Sofia eigentlich mitnehmen, gab aber schnell auf, als das Mädchen sagte, sie wolle mit Anders einen Ausflug machen.

»Aber du bist vorsichtig, nicht wahr?«, war ihr einziger Kommentar.

»Wir wollen nur spazieren gehen.«

Sofia lachte zufrieden, als sie sich jetzt im Bett daran erinnerte. Anders hatte ihr bereits beigebracht zu lügen, ohne dabei zu schielen.

Dann erinnerte sie sich weiter.

Sobald Kerstins Auto den Hof verlassen hatte, war Sofia in den Keller gelaufen, hatte das Seil und Hans‹ alten Rucksack geholt, der an der Decke der Tischlerwerkstatt hing. Er war groß, dennoch bekam sie das Seil kaum hinein.

»Was um alles in der Welt hast du da im Rucksack?«, fragte Anders‹ Vater, als sie ihn auf dem Gartenweg vor Berglunds Haus traf.

»Saft und Butterbrote«, sagte Sofia schnell und stellte zum zweiten Mal an diesem Morgen fest, dass sie nicht schielte. Aber er sah sie zweifelnd an, deshalb musste sie erklären:

»Anders und ich wollen einen Ausflug machen.«

»Das ist aber nett von dir, dass du dich um Anders kümmerst«, sagte er. Aber da wurde Sofia wütend:

»Das ist überhaupt nicht nett. Wir haben viel Spaß zusammen.«

Berglund ist nicht dumm, dachte Sofia, als sie im Bett lag, ihren Erinnerungsfilm abspulte und sah, dass es ihm peinlich war.

Es war ein schöner Tag, dieser Maisamstag. Sofia tat, wie sie geplant hatte, und den Berg hinauf kam sie ohne jedes Missgeschick.

Dort erstrahlte die Welt in Blau.

»Oh, Anders, hast du jemals so viele wilde Stiefmütterchen gesehen!«

Der Junge stand ruhig da, schnupperte gegen den Wind. Dann legte er sich in die Herrlichkeit und strich mit den Händen über die Blumen.

Jetzt sieht er mit den Fingern, dachte das Mädchen.

Die Stiefmütterchen liefen ihnen die Pfade über den Berg entlang voraus, die Abhänge hoch wuchsen sie in jeder Spalte in der kargen Erde, ergossen Gelb und Lila über die rauen, grauen Steine.

»Ich hätte nie geträumt, dass es auf der Welt so viele Blumen geben könnte«, sagte Sofia.

Hand in Hand, ohne ein Wort zu sagen, als wollten sie nicht stören, gingen die Kinder den Pfad hinauf. Nach einer Weile nahm die Herrlichkeit ein Ende, während der Pfad sich weiter durch hohes Gras wand.

Dann wurde der Grund wieder karger. Sie liefen über Heideboden, Stiefmütterchen wuchsen hier und da in kleineren Grüppchen, und hoher Wacholder zeichnete sich gegen den Himmel ab. Weit unten hörten sie das Meer gegen die Felsen schlagen.

»Wacholder«, sagte Anders. »Riechst du ihn?«

Sofia ging näher heran und rieb die Zweige, um den Duft besser erschnuppern zu können.

»Wie die Buttermesser in Omas Schublade«, sagte sie.

Hier und da zwischen dem Wacholder lagen Felsen, große Brocken, von Riesen hingeworfen, sagte Sofia, aber Anders wusste Bescheid.

»Das waren keine Riesen, das waren die Gletscher der Eiszeit.«

»Ach was«, sagte das Mädchen. »Mit den Riesen ist es viel witziger.«

Sie kletterten auf einen großen Stein und setzten sich dort in die Sonne, zufrieden mit ihrem Abenteuer. Anders fand, dass es wie in der Kirche war, irgendwie feierlich.

»Ich war noch nicht oft in der Kirche«, sagte das Mädchen.

Da sang er einen Psalm für sie: »Felsen, der du zerbrachst für mich«. Strophe für Strophe sang er, und Sofia saß verzaubert da.

»Bei jedem flüchtigen Atemzug,

und wenn ich eines Tages sterbe,

wenn ich in ein unbekanntes Land gehe,

wenn ich vor deinem Richterstuhl stehe:

Felsen, der du zerbrachst für mich,

lass mich in dir mich

verbergen.«

Die helle Jungenstimme klang aus, und Sofia saß noch lange still da, bis sie sagte:

»Dieses Lied habe ich noch nie gehört.«

»Diesen Psalm«, sagte Anders, aber das Mädchen wollte nicht unterbrochen werden.

»Aber ich weiß, wovon es handelt. Ich habe mich auch schon einmal im Berg versteckt, als ich klein war. Ich bin direkt hineingegangen, kannst du dir das vorstellen?«

»Und wie war es da drinnen?«, fragte der Junge überrascht.

»Das ist ja das Schlimme«, sagte Sofia. »Ich kann mich nicht mehr dran erinnern. Es ist etwas passiert, aber es hat keine Spuren hinterlassen. Und es fällt mir nicht mehr ein. Kannst du die letzte Strophe nicht noch einmal singen?«

Anders sang, und Sofia unterbrach ihn ganz aufgeregt, als er zu »wenn ich in ein unbekanntes Land gehe« kam.

»So war es«, schrie sie, »genau so.«

»Aber das Lied handelt doch von den Verstorbenen.«

»Du bist vielleicht blöd«, sagte das Mädchen. »Ich bin doch schließlich lebendig.«

»Ja, natürlich«, sagte der Junge.

»Das Dumme ist nur, dass ich wirklich in den Berg gehen könnte, wenn Hans mir helfen würde. Alle Berge öffnen sich ihm, denn er ist der Bergkönig. Aber er wird nur wütend, wenn ich ihm das sage.«

 

Eine Weile später begannen sie über Gott zu sprechen und waren sich schnell darüber einig, dass sie überhaupt nicht verstanden, worüber die Erwachsenen redeten. Anders, der mit seinen Eltern von klein auf in die Kirche ging, flüsterte:

»Ich werde dir sagen, was ich glaube. Aber das darfst du nie jemandem erzählen.«

»Ich schwöre«, sagte das Mädchen.

»Ich glaube, die Erwachsenen verstehen es auch nicht, die tun nur so. Und wenn sie beten, dann tun sie so, als würde Gott ihnen antworten.«

»Aber er hängt doch da in der Kirche an einem Kreuz«, sagte Sofia. »Ich habe ihn selbst gesehen. Beim Weihnachtsgottesdienst. Wir gehen immer zum Weihnachtsgottesdienst, wenn Hans zu Hause ist.«

»Wirklich?«, fragte der Junge verwundert und begann zögernd zu erzählen, dass er manchmal den Verdacht hatte, mit der Kirche seiner Eltern stimmte irgendwas nicht. Aber vielleicht gab es Gott ja in der richtigen Kirche, in der alten mit dem hohen Turm.

 

So hatte es also angefangen, dachte Sofia, während sie in ihrem Bett lag und sich erinnerte, nur einmal von Kerstin gestört, die hereinkam, um nach ihr zu schauen, bevor sie selbst ins Bett ging. Sofia tat, als schliefe sie, ihr war aber klar, dass ihre Oma das merkte.

 

Sie hatten den Weg erreicht, der den Berg hinunterführte, den gleichen Weg, auf dem Sofia sich verlaufen hatte. Also mussten sie nicht den Steilhang hinunterklettern. Und auch nie wieder hinauf. Ihnen war der Zugang zum Geheimnis des Bergs durch ihr heldenmütiges Klettern gleich am ersten Tag gestattet worden.

Danach kamen sie immer wieder, an jedem Wochenende im Frühling und in den Sommerferien fast täglich. Und sie unterhielten sich immer wieder über Gott und die Kirchen.

Aber am meisten sprachen sie über ihre Träume. Sofia war neugierig auf Anders‹ Engel mit den großen weißen Schwingen, und Anders wollte mehr wissen über Sofias besten Traum, den mit dem Boot, das des Nachts, wenn es noch dunkel war, man aber schon den ersten Schimmer des Morgengrauens sehen konnte, über die Fluten glitt.

Eines Tages beschlossen sie auszuprobieren, ob sie zusammen träumen konnten.

Sie fingen an zu üben, jeden Abend zur gleichen Uhrzeit einzuschlafen. Und dann verabredeten sie, welchen Traum sie träumen wollten.

Zwei Wochen lang glückte es ihnen nicht, aber in der Nacht zum achtundzwanzigsten Juni trieb Anders mit dem Boot des Mädchens über die Fluten. Und Sofia sah ihn auf der Ruderbank sitzen, die Hand im Wasser, den Blick fest in ihren vertieft.

Und Anders konnte sehen!

Das war so hoffnungsvoll, dass sie aufwachte.

Sie weinte fast, als sie jetzt im Bett lag und sich daran erinnerte, wie glücklich sie gewesen waren, als sie sich am nächsten Tag trafen, wie äußerst erstaunt Tante und Onkel Berglund ausgesehen hatten, als Sofia den Gartenweg heruntergewirbelt war und mit Anders im Arm getanzt hatte.

Danach haben wir uns das mit der Kirche vorgenommen.

Sie hatten Pläne geschmiedet. Zuerst waren sie sich einig, dass der Traum beweisen sollte, dass es Gott gab: Sie würden in der ersten Reihe sitzen. Wenn die Gemeinde den Psalm sang, würden sie sich zur Decke erheben und Jesus mit sich nehmen. Das Gewölbe würde sich öffnen, wenn sie mit ihm gen Himmel flögen.

»Das müsste sich doch machen lassen, wenn er irgendwelche Macht hat«, hatte Sofia gesagt.

Aber zunächst musste Anders ganz genau wissen, wie die Kirche aussah. Sie stand den Sommer über offen, wenn die Touristen durch Östmora fuhren, und die Kinder schlichen sich hinein und setzten sich ganz vorn hin.

Sofia beschrieb – die Farben, die Höhe, das Gewölbe, den Altar, die Teppiche, die Kerzenständer – Detail für Detail. Anders nahm alles auf und nickte jedes Mal, wenn ihm eine Sache vollkommen klar geworden war.

Es gab nicht viele Touristen, sodass sie fast immer ungestört blieben.

Im August gelang ihnen der gemeinsame Traum zum zweiten Mal, und Sofia sah Anders‹ Engel. Er war unförmig, grau und merkwürdig, sodass sie anfangs Angst hatte. Aber dann merkte sie, wie gut er roch, und plötzlich hörte sie die Musik.

»Er hat Geige gespielt«, erzählte sie überrascht Anders, der stolz wie ein König nickte.

»Haydns Violinsolo«, sagte er.

»O Mann«, sagte das Mädchen beeindruckt.

Sie erzählte ihm nicht, dass sie Angst gehabt hatte.

 

Dann begann die Schule, und sie konnten nur noch an den Wochenenden üben. Sie hatten beschlossen, bis zum ersten Advent zu warten. Wegen des Kirchenlieds, das so gut passte: »Bereitet den Weg für den Herrn! Die Berge versinken, die Tiefen erheben sich.«

Am schwierigsten war es, die Zeit hinzubekommen. Wie sollten sie mitten am Tag während der Hauptmesse schlafen und träumen? Aber wie üblich hatte Sofia die Lösung: Sie müssten halt die Grippe kriegen.

»Aber vielleicht klappt das nicht«, sagte Anders, der nicht gern krank war.

»Ach was«, winkte Sofia ab, »im Dezember haben alle Leute Grippe.«

Und auch damit hatten sie Glück, Anfang Dezember lag halb Östmora daheim und schniefte.

»Siehst du«, sagte Sofia am Telefon. »Das sind die höheren Mächte, sie halten zu uns.«

Alles hatte wie am Schnürchen geklappt, abgesehen davon, dass die Leute in der Kirche sie gesehen hatten. »Wer um alles in der Welt hätte das ahnen können«, sagte Sofia laut und starrte fragend in die Winternacht. Dann schlief sie ein.

Am folgenden Morgen war sie fieberfrei, musste aber noch im Bett bleiben, hatte Kerstin gesagt, die mit Tante Inger in dem Anbau abgesprochen hatte, dass diese nach dem kranken Mädchen sehen und ihr etwas zu essen bringen sollte.

Die Zeit war knapp. Kerstin hatte kaum ihr Auto angelassen, als Sofia bereits Berglunds Nummer wählte. Und seufzte, seine Mutter war zu Hause.

Anders gehe es besser, sagte sie. Aber er schien so traurig.

»Grüß ihn von mir«, sagte Sofia. Das war der Code, dass Anders anrufen sollte, sobald seine Mutter zur Arbeit im Supermarkt gegangen war.

Sie hatte eine unruhige halbe Stunde – warum war er traurig? Er kümmerte sich doch sonst auch nicht darum, was die Leute redeten, das war er gewohnt.

Dann rief er an, und das wurde fürchterlich. Doch, er hatte alles gesehen, die Kirche, das Kreuz mit Jesus, das Dach, das sich öffnete. Und nie hätte er gedacht, dass die Welt so erschreckend sein könnte.

»Es war so furchtbar«, sagte er. »Grelle Farben und Unmengen von Licht, die wehtaten. Und laut und gefährlich.« Nie, niemals wollte er in dieser Welt leben.

»O Scheiße«, schrie er, »o Scheiße, was für eine Welt.«

Dann sagte er noch etwas Sonderbares:

»Es gibt keine Barmherzigkeit«, und legte den Hörer auf. Sofia weinte und versuchte sich an den Traum mit dem verschwommenen Engel zu erinnern.

War er barmherzig gewesen? Sie wusste es nicht, verstand nicht so recht, was das Wort eigentlich bedeutete.

Sie weinte, bis schließlich Tante Inger kam und rief, dass sie jetzt für das kranke Küken etwas zu essen mache. Und als sie mit ihrer ekligen Grütze hochkam, sagte sie:

»Das ist ja schlimm, was für rote Augen du hast und wie verschnupft du bist.«

4

Nachdem Anders den Hörer aufgelegt hatte, kroch er wieder ins Bett und rollte sich wie ein Fötus zusammen, die Knie bis unters Kinn hochgezogen. Das Fieber war gesunken, es war nicht so einfach weiterzuschlafen.

Es war auch nicht mehr so schön, denn er fürchtete den Albtraum. Es war ein Traum, den er schon oft geträumt hatte, aber jetzt war er schlimmer geworden. Etwas Schreckliches jagte ihn, er versuchte zu entkommen. Aber es war gefährlich, ins Unbekannte zu laufen, er versuchte es, traute sich aber nicht, schneller zu werden. Da barst die Erde unter ihm, er sank, schrie und erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen.

Jetzt lag er da und dachte an das erste Mal, als er von dem Boden geträumt hatte, der sich öffnete und ihn verschlang. Das war in der Nacht nach der großen Entdeckung gewesen.

Wie alt konnte er gewesen sein? Vier, fünf?

Er sollte von den Kusinen auf dem Lande ein Kätzchen bekommen. Sie hatten sich schon kennen gelernt, die Katze und er. Sie war zart und außergewöhnlich, weiß mit blauen Augen, hatten die Kusinen gesagt, als er auf dem Hof war und sie begrüßt hatte.

Am Samstagmorgen wurde eine Kollegin im Supermarkt krank. Mama musste hin. Papa war nicht zu Hause, deshalb sollte Anders mitkommen und auf einer Palette neben Mama sitzen. Ihm gefiel es gut dort – Stimmen, die über Butter und Kaffee sprachen, wie teuer alles war, das Klimpern von Geld und die Kasse, die surrte und klingelte.

Es roch auch gut im Supermarkt, nach Geld, Schweiß, Süßigkeiten und Brot.

Endlich kamen sie heim, standen im Flur an der Tür zu dem schrecklich langen Wohnzimmer mit dem Sofa am anderen Ende, und Mama sagte:

»Nun schau nur, sie haben die Katze schon gebracht.«

»Wo?«, fragte der Junge, atemlos vor Aufregung.

»Sie liegt auf dem Sofa und schläft«, sagte Mama.

Dann holte sie die Katze und legte sie Anders auf den Schoß. Er strich ihr über den Rücken, war aber so verwirrt, dass er sich nicht freuen konnte. Er konnte die Katze nie richtig lieb gewinnen, und daran war die große Entdeckung schuld.

Wie konnte Mama wissen, dass die Katze auf dem Sofa lag?

Und mit der Zeit die Einsicht: Die anderen wissen etwas auf Abstand.

Er testete die große Entdeckung und erhielt Beweise. Er konnte seine Jacke falschherum anziehen und sich in die Küchentür stellen, während Mama am Spülbecken stand. Und es klappte immer:

»Aber mein kleiner Anders, jetzt hast du dich falsch angezogen.«

Sie wusste es. Auf weite Entfernung!

Es war nach der großen Entdeckung, dass er anfing, sich die Finger in die Augen zu bohren und sich zu fragen, wieso andere etwas damit erkennen konnten.

Er fand die Lösung nicht. Da begann der Albtraum.

 

Er hatte ja schon seit seiner jüngsten Kindheit gehört, dass etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung war. Allmählich hatte er begriffen, dass er anders war. Aber wie? Mit der Zeit hatte er überlegt, warum alle so nett zu ihm waren, viel netter als zu anderen Kindern.

Das war gut so gewesen. Bis er das Flüstern hörte: der Arme, der arme Blinde.

Nach der großen Entdeckung war er so traurig, dass Mama den Sozialberater anrief. Er kam und redete viel. Aber Anders schwieg wie üblich, und schließlich beschlossen sie, dass er zu einem Arzt müsste. Der sprach zunächst mit den Eltern und dann mit ihm. Ein sonderbares Wort schnappte er auf – sehbehindert.

Sehbehindert.

Aber der Arzt sagte noch etwas Wichtigeres. Dass es viele Kinder wie Anders gab, dass die allermeisten gut in der Schule waren und eine gute Arbeitsstelle fanden. Er sollte in eine Schule für Sehbehinderte gehen.

»Du musst dich doch ziemlich einsam fühlen jetzt«, hatte der Arzt gesagt. »In der Schule wirst du Freunde finden.«

Anders wusste nicht so recht, was Einsamkeit war, damals noch nicht. Aber ihm gefiel die Schule, denn er gehörte zu den Kindern, die gerne lernten.

Das Beste war das Lesenlernen. Und dass es in der Schule Bilder gab, die man ertasten konnte. In den Büchern stand immer, wie die Menschen aussahen, und Anders versuchte lange Zeit, sich im Spiegel zu sehen. Ohne Erfolg. Aber dann half ihm eine Lehrerin, sein Gesicht mit den Fingern zu sehen – Nase und Augen, Mund und Haare.

Die seien dunkelbraun, sagte sie. Und dann sagte sie, dass er ein netter, ein richtig hübscher Junge sei.

Das war gut, aber Anders war immer noch wütend, dass es keine Spiegel gab, auf denen man fühlen konnte, wie man aussah.

Ab und zu schlug die große Entdeckung zu, auch in der Schule. Er erinnerte sich an den Sturm, wie er des Nachts um das Schulgebäude geheult hatte. Sie hatten in ihren Betten gesessen, seine Freunde und er, einander an den Händen gehalten. Voller Angst, bis der Lehrer kam und es ihnen erklärte.

Er erzählte von dem Wind, der so stark sein konnte, dass er Dächer und Autos in die Luft hob. Dann wurde er Sturm genannt, sagte er. Das war nicht gefährlich, denn die Schule war solide gebaut. Aber ein Baum im Park war umgeweht worden.

Ein großer Baum, sagte der Lehrer. Am nächsten Morgen sollten sie hinausgehen und es sich anschauen.

An diesem Tag lernte Anders, dass ein Baum ein Ende hatte. Er fühlte die Wurzeln, den Stamm, den er wieder erkannte, die Krone, das Laub, und dann war es zu Ende.

Ein Mädchen, das mitgekommen war, begann zu weinen. Aber Anders blieb stumm, wie immer, wenn etwas Wichtiges passierte.

Seine Freunde und er unterhielten sich auch ab und zu über die Sehbehinderung, was das bedeuten könnte. Aber meistens sprachen sie über die üblichen Dinge, Geschichten, die sie lasen, die Rechtschreibung und wer sich traute, am schnellsten zu laufen.

Einige Kinder hatten sehen können, waren dann jedoch verunglückt und hatten die Fähigkeit zu sehen verloren. Die konnten einem besonders Leid tun, denn sie waren immer so traurig.

Anders übte seine Finger, er konnte am besten die Farben sehen, Rot, das in den Fingerspitzen prickelte, Blau war ruhig und brav.

Ferien mochte er nicht. Daheim am Wochenende und in den Ferien lernte er verstehen, was der Arzt mit Einsamkeit gemeint hatte. Er bekam ein Kaninchen und fand es viel klüger als die Katze, die überfahren worden war, weil sie so unbedacht herumgelaufen war.

Das Beste, was ihm jemals daheim passierte, war Sofia, die auftauchte und ihn nach seinen Träumen befragte. Er platzte heraus mit dem Engel mit den großen weißen Flügeln, eifrig und bemüht, dass sie es interessant finden sollte.

Doch, er hatte wirklich manchmal von Engeln geträumt. Denn es traf ja auch ein, als sie beide gemeinsam träumten.

 

Jetzt rollte er sich im Bett zusammen und umschloss seinen Kummer. Sie hatten so viel Spaß miteinander gehabt, als sie den Berg hinaufgeklettert waren, mit dem Seil festgebunden. Anders hatte nicht verstanden, warum es gefährlich sein sollte. Aber jetzt begriff er es.

Denn jetzt hatte er Höhe und Tiefe gesehen, im Traum in der Kirche.

Der Schrecken tat ihm im Bauch weh, er musste sich aufsetzen, sich hin und her wiegen, vor und zurück, die Hände auf den Magen gepresst. Er hatte es in der kurzen Zeit, als sie den Psalm in der Kirche sangen, mit seinen Augen erfahren: hoch und runter, Licht und schroffe Kanten.

Nie, niemals hatte er geglaubt, dass die Welt so gefährlich war.

Und so unheimlich und grell. Sogar die Farben, an die er immer als etwas Freundliches gedacht hatte, waren gefährlich und schrien.

Er musste es vergessen.

Sofia hatte ihn gefragt, ob er Bilder gesehen habe. Die Frage fand er dumm, natürlich hatte er den Raum gesehen, die Menschen, Bäume und Blumen.

Er sah auf seine Art und Weise.

Plötzlich fiel ihm der Junge in der Ecke des Schlafsaals in der Schule ein. Den konnte er ganz deutlich sehen mit seinem hässlichen Lachen und seinen langen Armen. Alle Kinder sahen ihn, das wusste er, weil sie davon sprachen. Obwohl sie ihn nicht immer gleichzeitig sahen.

Er dachte wieder daran, wie sie den Berg hochgeklettert waren, Sofia und er.

Sie war nicht ganz bei Trost.

Nein, sie war nicht ganz bei Trost. Er hatte wohl mitbekommen, wie über sie geredet wurde, dass sie merkwürdig und anders war. Jetzt verstand er, was die Erwachsenen damit meinten.

Sofia war verrückt.

Im gleichen Moment, als er das dachte, stieg das trockene Weinen in ihm hoch. Sie hatten viel Spaß zusammen gehabt, sie mochte ihn, er liebte sie.

Einmal hatte er gesagt:

»Du hast goldblondes Haar und blaue Augen.«

Sie hatte protestiert, dabei hatte ihre Stimme aber sehr glücklich geklungen:

»Na, nicht so richtig goldblond.«

»Aber ich sehe es mit meinen Fingern.«

Er hatte nicht gesagt, wie es wirklich war, denn es hätte doch allzu kindisch geklungen, von den Prinzessinnen in den Märchen zu erzählen, die immer goldene Locken und blaue Augen hatten.

Sie war keine Prinzessin. Verrückt war sie, das hätte er doch schon erkennen müssen durch ihr ganzes Gerede, dem Baum zuzuhören, dem Berg und den Verstorbenen.

Er legte sich wieder ins Bett, jetzt auf den Rücken. Und da fiel ihm ein, dass er selbst den Berg hatte flüstern hören.

Blödsinn, sagte er laut, rollte sich auf der Seite zusammen und versuchte zu schlafen.

Aber da kamen die Bilder aus der Kirche zurück, deutlich, bunt und erschreckend.

5

Kerstin hielt am Briefkasten an und zog die Zeitungen heraus. Nicht, dass Sofia sie normalerweise las, aber bei ihr konnte man nie wissen.

An der Haltebucht vor der Hauptstraße fuhr sie auf die Bushaltestelle und überflog die Titelseiten. Die Uppsala Nya brachte nichts über das Wunder in der Östmora-Kirche, das war gut.

Die Lokalzeitung begnügte sich mit einem Zweispalter ganz unten auf der ersten Seite: »Wunder« in Östmora.

Kerstin fluchte mit zusammengekniffenen Lippen, tröstete sich aber mit den Anführungszeichen um Wunder. Auch der Text war in scherzhaftem Ton gehalten: Keine Spur im Gewölbe, dass das Kirchendach angehoben worden war, die beiden fliegenden Kinder nachweislich krank und so weiter. Kein Name außer dem der Brüder Björkman, die versicherten, dass die ganze Gemeinde das Ereignis gesehen habe. Der Pfarrer hatte sich geweigert, etwas zu sagen, der Kantor auch. Zum Schluss tischte der Reporter eine Diagnose auf: kollektive Halluzination.

Gut. Jetzt hatten die Bewohner von Östmora einen Namen für das Kind.

 

Wie die meisten anderen alten Siedlungen an der Küste war auch Östmora in den 60ern in die Höhe und Breite geschossen. Aus dem Konsum war der Domus-Supermarkt geworden, dreigeschossige Wohnblöcke zerschnitten die Hauptstraße, die neuen Mitbürger bauten ein Kino, eine Diskothek und wimmelten in den Geschäften mit ihren Plastiktüten herum.

Schlechte Sitten.

Anfangs hatten die neu Hinzugezogenen es schwer, unverstellt, wie sie waren. Aber während die Jahre vergingen und sie immer zahlreicher und sicherer wurden, lernten sie, die alten, unfreundlichen Ureinwohner zu ignorieren. Inzwischen hatten sie die deutliche Majorität und schauten auf die Urbevölkerung wie auf eine Sammlung von Originalen herab. Aber dennoch gab es in beiden Gruppen die unumstrittene Ansicht: Es war feiner, hier geboren zu sein, und am allerfeinsten war es, seit Generationen hier ansässig zu sein.

Deshalb war Kerstin fein, als Tochter des alten Lotsen. Und gleichzeitig war sie eine Art Dorfunikum, wie sie selbst es in einer Anwandlung von Galgenhumor nannte.

Sie freute sich über die Zuwanderung, denn sie hatte es während ihrer Jugend schwer gehabt. Die Leute waren engstirnig und jeder beobachtete jeden.

Plötzlich fiel ihr ihre Liebesaffäre mit dem Arzt ein, die versteckten Blicke und die tratschenden Mäuler in der ganzen Stadt. Sie schmunzelte ein wenig, während sie im Auto saß und daran dachte, wie oft sie überlegt hatte, ob sie nicht wegziehen sollte.

In die Großstadt.

Aber da war die Sache mit Hans, dem Mann, der Östmora liebte. Und er bekam seinen Willen, sie kauften eines der alten Häuser am Rande der Siedlung, und dort war sie mit Kind und jetzt sogar mit Enkelkind sitzen geblieben.

Östmora liebt man am besten aus der Ferne, dachte Kerstin. Und Hans befand sich fast immer in der Ferne.

Heute Abend werde ich ihn anrufen. Aber was in Herrgottsnamen soll ich sagen – »Tja, wir haben hier Probleme, weil Sofia in ein Wunder verwickelt ist.«

Nein, so etwas sagte man nicht über Sprechfunk, der in jeder Kabine des Schiffs abgehört werden konnte. Ganz zu schweigen von all den Leuten, die hier Göteborg Radio heimlich mithörten.

Klara müsste ich auch anrufen, dachte sie. Aber wie üblich bei dem Gedanken fühlte sie sich schwerfällig und handlungsunfähig.

In der Schule summte es wie in einem Bienenstock. Im Lehrerzimmer stellte sie zufrieden fest, dass keiner aus dem Kollegium in der Kirche gewesen war, zum Glück waren die Lehrer heutzutage nicht mehr so gläubig.

Aber dennoch war das Ganze sonderbar, darüber war man sich einig. Und als die Sozialarbeiterin, Kajsa Hagvall, kam, die bekannt war für ihre Bodenständigkeit und praktische Veranlagung, wurde es still.

Sie war Kirchengängerin.

»Ob sie …«

»Ja«, sagte sie, und alle stellten fest, dass sie ungewöhnlich blass war. »Doch«, sagte sie, »ich habe es gesehen. Ihr könnt ja den Arzt fragen, er war auch da.«

»Die ganze Geschichte hier ist äußerst unangenehm«, sagte der Rektor. »Ich gehe davon aus, dass du nicht darüber redest.«

Kajsa öffnete den Mund, aber sie erfuhren nie, was sie sagen wollte, weil es in dem Moment zur ersten Stunde klingelte.

Kerstin hatte an diesem Morgen in ihrer eigenen Klasse Schwedisch, das gab ihr ein gutes Gefühl, weil sie die Kinder so gut kannte, all die Vierzehnjährigen in der Achten. Sie waren offen und wissbegierig, sie würden ihr erzählen, was im Ort so geredet wurde.

Es wurde abrupt still, als sie hereinkam, »Hallo« sagte und ihren Blicken begegnete, die vor Neugier leuchteten.

Sie hatten Satzlehre.

»Ich möchte nur eine Sache im Hinblick auf die merkwürdigen Gerüchte sagen«, verkündete sie. »Meine Enkeltochter hat nichts damit zu tun, sie lag mit hohem Fieber im Bett.«

»Woher wissen Sie, dass sie sich nicht rausgeschlichen hat?«, fragte Peter und leckte sich die Lippen. »Ich kenne Sofia, bei ihr kann man nie sicher sein.«

Sie lachten, leicht geniert und lange genug, um Kerstin Zeit zum Überlegen zu geben.

»Ich habe den ganzen Sonntagvormittag oben im Flur gesessen und Schreibhefte korrigiert«, erklärte Kerstin und dachte, dass das eine gute Lüge sei, an der wollte sie festhalten.

»Die Tür zu ihrem Zimmer war offen und ich hatte sie die ganze Zeit im Auge«, fuhr sie ruhig fort.

»Warum das denn?«

Das war wieder Peter, und Kerstin antwortete sachlich und überzeugend.

»Weil ich mir Sorgen um sie gemacht habe. Sie hatte hohes Fieber und schlief unruhig. Um elf Uhr am Vormittag war ich bei ihr, habe ihr ein frisches Nachthemd angezogen und ihr Alvedon gegeben.«

Elf Uhr, das ist gut, dachte Kerstin. Aber dann wurde sie unsicher, ob diese Heidenkinder überhaupt etwas von Kirchenzeiten wussten:

»Ihr wisst doch sicher, dass die Hauptmesse in der Kirche um elf Uhr anfängt.«

Doch, sie nickten. Danach sagte Louise, während sie wie üblich die rote Haarlocke an ihrer Schläfe drehte:

»Was bedeutet kollektive Halluzination?«

Kerstin sprach also in der Stunde über Parapsychologie, was man zu wissen glaubte, wie man versuchte, nachvollziehbare Experimente zu machen. Telepathie, sagte Kerstin, und alle hatten über Hellsehen gelesen, einige hatten sogar eigene Erfahrungen. Sie ließ sie erzählen in dem sicheren Gefühl, dass das genau das war, was sie jetzt brauchten. Erst als sie mit Gespenstergeschichten anfingen, hob sie warnend die Hand. »Wir müssen«, sagte sie, »dem Aberglauben bestimmte Grenzen setzen.«

Sie waren sich einig darin, dass es so vieles zwischen Himmel und Erde gab. Und widerwillig erklärte Kerstin, dass man für die Erlebnisse der Menschen einen gewissen Respekt aufbringen müsse, auch wenn man skeptisch sei.

Darüber musste die Klasse lachen:

»Respekt vor diesen Kirchenheinis? Wenn man an die unbefleckte Empfängnis glaubt, ist man doch nicht ganz klar im Kopf!«

»Aber Jesus ist doch auch in den Himmel geflogen«, sagte Peter und erntete lautes Lachen. »Dann war das wohl auch eine kollektive Halluzination.«

Kerstin sagte streng, dass man den Glauben der anderen achten solle und dass es religiöse Erfahrungen jenseits der Vernunft gebe.

»Doktor Arenberg ist ja auch gläubig«, sagte sie boshaft. »Er war bestimmt auch in der Kirche.«

Dann klingelte es, und Kerstin ging zum Neun-Uhr-Kaffee, zufrieden mit sich, aber ein wenig beschämt darüber, was sie über den Arzt gesagt hatte.

Als die Essensschlange in der Schule ein paar Stunden später am lautesten klapperte, flog das Gerücht durch die Kantinentür herein. Die überregionalen Abendzeitungen waren mit Fotografen und Journalisten im Ort. Sie hatten den Pfarrer gesucht, aber er war nicht zu Hause.

»Er ist nach Uppsala berufen worden«, sagte das Gerücht, und Kinder und Lehrer flüsterten: Das konnte man sich ja denken, das konnte man sich ja denken. Kerstin machte sich Sorgen um Sofia, sie bewegte eine Kollegin dazu, ihre Nachmittagsstunden zu übernehmen, und fuhr heim.

»Wenn ich einen Zeilenschinder bei uns zu Hause finde, bringe ich ihn um«, sagte sie der Kollegin, die lachte und meinte, das wäre dann erst eine richtige Sensation für Östmora.

Sie fuhr bei Berglunds vorbei und klingelte. Katarina war zu Hause, bleich und unruhig. Anders gehe es besser, sagte sie, mit der Erkältung. Aber ansonsten sah es schlecht aus mit dem Jungen, er lag im Bett und weigerte sich, mit ihr zu sprechen.

»Und dann dieses schreckliche Weinen, weißt du«, sagte sie.

Kerstin kannte es, dieses trockene Weinen.

»Hat er sich dieses dumme Gerede über den Flug in der Kirche so zu Herzen genommen?«

»Ich glaube nicht, dass es das ist«, entgegnete Katarina. »Wir haben es ihm gestern erzählt, und da hat er nur mit den Schultern gezuckt. Aber heute Morgen hat er etwas Merkwürdiges zu mir gesagt, dass es stimme, was die Leute in der Kirche gesehen haben. Sie seien durchs Dach geflogen, Sofia und er.«

Kerstin hatte so einen trockenen Mund, dass sie sich anstrengen musste, etwas herauszubringen:

»Vielleicht solltest du den alten Arzt anrufen.«

Katarina nickte, ja, daran hatte sie auch schon gedacht.

»Ich werde mit Sofia reden«, sagte Kerstin. »Wenn ich etwas herausbekomme, rufe ich dich an. Und noch was, lass bloß keine Journalisten rein.«

»Einen habe ich schon rausgeworfen. Der kommt nicht wieder, da bin ich mir ganz sicher.«

Kerstin versuchte zu lachen, sie konnte sich vorstellen, was Katarina gesagt hatte.

 

Daheim stand kein Auto auf dem Hof, zum Glück. In der Küche saß Inger und legte Patiencen. Es duftete nach Kaffee.

»Möchtest du eine Tasse?«

»Danke, gern. Ich will nur erst schnell nach Sofia sehen.«

»Sie ist so schrecklich verschnupft.«

Aber das war kein Schnupfen, das sah Kerstin auf den ersten Blick. Das Kind war verheult und verzweifelt.

»Du sollst bei mir schlafen.«

»Ja, gut. Ich muss nur erst Inger wegschicken.«

Kerstin brauchte keine fünf Minuten, um zu berichten, was über die Geschehnisse in der Kirche erzählt wurde. Wie erwartet, wurde Inger ganz fiebrig vor Aufregung, mein Gott, wie interessant.

»Ich habe ja immer schon gesagt, dass Sofia besondere Gaben hat«, sagte sie, und Kerstin schluckte die Worte runter, die ihr bereits auf der Zunge lagen.

»Willst du in die Stadt, um einzukaufen?«

»Ja, sicher.«

»Dann komm doch auf dem Rückweg vorbei und erzähl mir, was du gehört hast.«

»Das mache ich.«

Kerstin trank ihren Kaffee im Stehen, um danach schnell zu Sofia hinaufzueilen.

»Ich mache alles für uns im Schlafzimmer zurecht«, sagte sie. »Kannst du gehen, oder soll ich dich tragen?«

Das war ein Scherz, aber Sofia verzog keine Miene. Sie nahm ihr Kissen unter den Arm, wie damals, als sie noch klein war, und dann krochen beide zusammen in das große Bett. Kerstin legte einen Arm um das Mädchen und zog sie an sich.

Lange Zeit war es still, bis Sofia flüsterte:

»Anders ist so schrecklich traurig.«

»Ich weiß, ich bin vorbeigefahren und habe mit seiner Mama gesprochen.«

»Hat er was gesagt?«

»Nein, du weißt doch, dass Anders zu allem, was für ihn schwierig ist, lieber schweigt.«

Sofia schloss die Augen, Kerstin blieb still: Keine Fragen, jetzt keine Fragen.

»Ich bin die Einzige, die weiß, warum er so traurig ist«, sagte das Mädchen.

»Vielleicht erleichtert es dich, wenn du darüber sprichst.«

»Aber Oma, es hat doch keinen Sinn, dir so etwas zu erzählen. Du verstehst immer alles falsch und kriegst Angst.«

»Ich werde versuchen, das nicht zu tun«, sagte Kerstin und spürte, wie die Angst in ihr hochstieg. Doch ihre Stimme war ruhig, als sie sagte:

»Warum ist Anders traurig?«

»Weil er die Welt gesehen hat, wie sie ist, und er sie schrecklich findet. Für ihn ist nichts mehr so, wie es war, verstehst du?«

»In etwa. Aber vielleicht solltest du von Anfang an erzählen.«

»Wir haben geübt, zusammen zu träumen, weißt du.«

»Von Anfang an, Sofia.«

Und dann kam sie, die ganze lange Geschichte vom Berg, der mit ihnen sprach, von den wilden Stiefmütterchen, dem Wacholder und der feierlichen Stimmung auf dem Bergplateau.

»Das kann ich verstehen«, sagte Kerstin. »Die Stimmung dort oben auf der Heide ist merkwürdig. Ich war oft dort, als ich noch klein war. Ich glaube, das liegt an dem großen Grab.«

»Dem Grab?«

»Du kennst doch diese Steine, die zwischen den Wacholderbüschen liegen. Das sind die Reste eines Hünengrabs, eines Schiffsgrabs, das die Menschen für ihren toten Häuptling errichtet haben.«

»Toll«, sagte Sofia. »Ich dachte, das wäre der Wurf eines Riesen, aber Anders hat gesagt, das war die Eiszeit.«

»Da habt ihr euch beide geirrt. Aber erzähl jetzt weiter!«

Sofia erzählte, wie sie mit den Kirchenliedern anfingen. Zuerst mit »Felsen, der du zerbrachst«.

»Das gefiel mir am besten«, sagte sie, und Kerstin schluckte die Frage herunter, die in der Luft hing.

»Wir haben viel über Gott gesprochen«, sagte Sofia schließlich. »Anders meint, dass die Erwachsenen nicht wirklich an Gott glauben, er sagt, die tun nur so. Und geben an, wenn sie so reden, als würden sie ihn kennen. Glaubst du an Gott, Oma?«

»Manchmal schon, aber es ist nicht einfach, darüber zu reden. Irgendwie ist Gott zu groß für Worte.«

Sie spürte die Verwunderung des Mädchens. Darüber hätten sie schon lange reden sollen.

»Warum gehst du dann nicht in die Kirche – wenn du glaubst?«

»Dort finde ich ihn nicht«, antwortete Kerstin. »Für mich ist er eher im Wald, am Meer und so. Bei anderen Menschen, vor allem bei dir, in deinen Augen.«

Sofia setzte sich auf, holte tief Luft und sagte: »Aber Oma, jetzt bist du nicht recht gescheit. Er hängt doch da in der Kirche am Kreuz. Übrigens ist er nicht mitgekommen, er saß mit all den Nägeln fest.«

»Leg dich wieder hin und denke dran, dass du mir alles von Anfang an erzählen wolltest.«

Dann erfuhr sie von den Träumen, von Anders‹ Engel: Er war grauer, als er gesagt hatte, und sonderbar verschwommen. Und von Sofias Boot, das des Nachts durch die Fluten glitt.

»Da sind wir auf die Idee mit der Kirche gekommen.«

Sofia erzählte, wie sie geübt hatten, wie sie sich den Sonntag ausgesucht hatten, an dem die Gemeinde sang: »Bereitet den Weg für den Herrn! Die Berge versinken, die Tiefen erheben sich.«