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Manchmal glaubt Stina, dass sie blind war. Als Stina ihren späteren Ehemann Per kennenlernt, glaubt sie an die ganz große Liebe. Per ist klug und charmant, voller Lebensfreude und Tatendrang. Als auch er sich in sie verliebt, scheint ihr Glück grenzenlos. Doch die erste Schwangerschaft verändert ihr Leben. Per ist wie ausgewechselt, er schlägt und missbraucht sie. Erst nach der Scheidung kann Stina wieder aufatmen. Doch die Angst, ihre beiden Töchter zu verlieren, lässt sie nicht wieder los ... »Drastisch und gleichzeitig einfühlsam erzählt sie, wie Stina den ehelichen Albtraum erst erduldet und sich schließlich ihre Freiheit erkämpft.« Freundin »Ein erschütterndes und wichtiges Buch.« Für Sie
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2011
Marianne Fredriksson
Stinas Entscheidung
Roman
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
Fischer e-books
Ich werde aufhören, alles Unrecht aufzuzählen, das mir widerfährt. Das ist schwer. Die schlechten Gefühle kommen nicht aus dem Kopf, sie werden irgendwo im Bauch geboren und leben dort ihr eigenes Leben.
Wie beim ersten Mal, als ich in die Grube gefallen bin. Da war ich erfüllt von einem brennenden Zorn, der mich nachts nicht schlafen ließ und der mich tagsüber quälte.
Aber jetzt erwächst die Panik aus meiner Angst.
Sie haben meine Kinder weggelockt. Ich habe schreckliche Angst, sie zu verlieren.
Und was soll ich nur mit meiner Angst machen, die mich nachts nicht schlafen lässt und die mich tagsüber quält?
Wie es in diesem Herbst regnet!
Genau wie vor sechs Jahren. Ich weiß noch, wie ich auf Rache sann. Das war für mich eine neue Erfahrung. Sie machte mir entsetzliche Angst.
Ich war immer lieb. Leichtgläubig und naiv, sagen meine Freunde. Sie haben Recht. Und: Wie man sich bettet, so liegt man, heißt es im Sprichwort.
Aber ich hatte kein Bett und auch keinen sicheren Raum, in dem ich wohnen konnte. Ich weiß noch, wie ich mich gefragt habe: Wie soll Eine sich betten, die ihre Bettwäsche verloren hat? Jetzt habe ich alles: ein eigenes kleines Haus, ein schönes Schlafzimmer, freundliche Möbel.
Aber was soll ich nur mit meinem Zorn machen?
Es ist Herbst, die Dunkelheit setzt früh ein.
Ich laufe in meinem Wohnzimmer hin und her, schalte die Lampen ein, das Zimmer erhält seine Farben zurück und ist wieder mein Zuhause.
Für einige kurze Momente kann ich Freude empfinden. Das passiert mir sogar mitten im Alltag. Wenn ich spüle oder in der Küche aufräume. Und wenn ich meine Topfblumen gieße und den Fleißigen Lieschen danke, weil sie der herbstlichen Dunkelheit trotzen und Woche für Woche neue rosa Blüten öffnen.
Die Pflanzen schaffen es.
Ich aber bin müde.
Die kurzen Momente der Freude verwandeln sich schnell in Trauer. Und die Trauer ist von Dauer. Ab und zu kann ich weinen wie ein verlassenes Kind. Ich schleppe mich dann zum Computer und dem Buch, das ich dem Verlag versprochen habe. Aber da bleibe ich dann einfach sitzen.
Die Wörter haben sich verirrt, ich finde sie nicht.
Zurück in die Küche, noch mehr Kaffee kochen.
Freunde rufen an, sie sind fast ebenso wütend wie ich. Ihr Zorn ist eine Hilfe. »Wie kann man eine Mutter zwingen, ihre zwei kleinen Kinder über den Ozean zu schicken, zu einem Vater, den sie nie gesehen haben und der als Psychopath gilt?«
An diesem Abend nehme ich doppelt so viele Schlaftabletten. Erwache mit schwerem Körper und schwerer Seele.
Aber als ich erwache, fällt ein seltsames Licht durch die Vorhänge. Ich denke langsam, und deshalb dauert es eine Weile, bis mir aufgeht, dass die Sonne scheint.
Licht der Dämmerung. Schräg fallende Strahlen suchen sich ihren Weg durch die alten Bäume an der Straße, verharren eine Weile bei den Pfaffenhütchen, die rot in ihrer Nische im Felsen lodern. Der Ahorn lässt gelbe Blätter auf den Boden rieseln. Die alte hohe Esche steht schon nackt da.
Es geht auf den Winter zu.
Unleugbar.
Man kann nichts dagegen tun.
Aber ich ziehe mich an, hole mir Anorak und Stiefel und wandere eine Weile unter den Bäumen umher, hole mir eine Decke aus dem Haus, setze mich auf den feuchten Gartenstuhl vor der Südwand und schaue mit zusammengekniffenen Augen zur Sonne hoch.
Heute werde ich der Angst standhalten. Ich bin nicht angegriffen, verletzt oder betrogen worden, ich bin nicht einsam.
Wie beim vorigen Mal.
Ich weiß: Die Angst wurzelt in der alten Depression von damals, als ich so tief in die Grube gefallen war, dass die Gefahr bestand, dass ich dort für immer bleiben würde.
Meine Kinder lassen nichts von sich hören.
Mein Exmann hat eine neue Frau mit zwei Kindern kennen gelernt.
Das ist gut.
Die Sonne hat der Küche Farbe verliehen, die gelben Schranktüren leuchten und bald wird es nach frischem Kaffee duften.
Sind es meine schwarzen Gedanken, die mich am Sehen hindern?
Das Wunder verlangt Licht, überlege ich.
Es gibt nur einen Weg, sagt die Bibel.
Vergeben.
Die andere Wange hinhalten.
Das sind seltsame Worte.
Später denke ich, dass ich das mit der Wange mein Leben lang gemacht habe, ich, die Naive, die Gutgläubige. Ich habe mich selten gewehrt, habe mich den neuen Schlägen ausgesetzt, habe die Zähne zusammengebissen, geschluckt. Manchmal hat das geklappt und der Angreifer hat sich beschämt zurückgezogen. Vielleicht habe ich diesen Trick angewandt, um mir Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ich habe immer Angst vor Zorn gehabt.
Zu vergeben ist viel schwerer. Jetzt erst geht mir auf, dass ich nie verstanden habe, was dieses Wort bedeutet.
Ich schlage es im Wörterbuch nach:
»Die Strafe erlassen, verzeihen, darüber hinwegsehen, begnadigen, freisprechen, entschuldigen, nicht anrechnen.« Es gibt noch andere Wörter, die ebenso schwer zu verstehen sind. Aber nicht ein Einziges verrät, wie die Betroffene mit ihrer Trauer und ihrem Zorn umgehen soll.
An einem kristallklaren Morgen im schönen September des Jahres 2003 kam ein großer, dicker Brief aus Amerika, adressiert an meine offizielle Adresse in Schweden, nämlich die von Roger Skogs Anwaltskanzlei in Stockholm.
Ich brachte die Kinder in den Kindergarten, dann suchte ich meinen Anwalt auf. Mein Herz hämmerte. Roger Skog öffnete den Brief, las und lachte über die Forderung aus den USA. Dann machte er Kopien von dem Scheidungsurteil, das mir das Sorgerecht zugesprochen hat. Und von dem polizeilichen Bericht über die Misshandlungen und die Vergewaltigung. Per Stenberg war in Schweden zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nach seiner Freilassung hatte er sich in die USA abgesetzt.
Zum Schluss forderte mein Anwalt die bislang nicht geleisteten Unterhaltszahlungen ein.
Das alles wurde übersetzt und dem Kollegen in den USA zugesandt.
Kurz darauf stellte sich heraus, dass mein Exmann pleite ist! Und dabei hat er doch immer einen Rat gewusst und seinen Großvater angepumpt, der dann seine von Geld strotzende Hand ausstreckte und dem verlorenen Sohn einen Vorschuss aufs Erbe gab.
Nach einigen Wochen kam abermals ein Brief, in dem Per das Besuchsrecht für seine Kinder verlangte.
Mein Anwalt meinte, das könne man ihm schwerlich verwehren. Schließlich sei er ja ihr Vater.
Ich hatte stundenlange Gespräche mit Ingegerd, Pers Tante, die ich immer sehr gemocht habe.
Sie ist eine starke, warme Persönlichkeit. Verheiratet und wohnhaft in den USA.
Nach und nach konnten wir uns über die Bedingungen einigen. Die Kinder sollten in Ingegerds Haus wohnen. Sie wollte sich schriftlich verpflichten, alle Verantwortung für die Mädchen zu übernehmen. Der Aufenthalt sollte höchstens drei Monate dauern.
»Überleg es dir gut«, sagte sie. »Wenn du dich weigerst, dann besteht die Gefahr, dass er in Schweden auftaucht und deine Tür einschlägt …«
In den nächsten Wochen zerbrach ich mir dermaßen den Kopf, dass ich fast den Verstand verlor. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass Ingegerd Recht hatte. Wenn mein Exmann nach Stockholm zurückkehrte, würde ich wieder in das Entsetzen zurückgezerrt werden, nicht schlafen und nicht schreiben können. Und was sollten meine Freunde und Nachbarn denken, die mir zu einem neuen Dasein verholfen hatten?
Ich rief meinen Vater an.
Er rief nach einer Stunde zurück und sagte, er wage es nicht, die Verantwortung für meine Entscheidung zu übernehmen.
Ingegerd kam eine Woche darauf nach Schweden, kümmerte sich um die Kinder, brachte sie zum Kindergarten, spielte mit ihnen, las ihnen Märchen vor, nähte für sie Puppenkleider.
»Du redest aber komisch«, sagte Maria.
»Du weißt doch, ich wohne in Amerika, und da sprechen wir anders.«
»Das ist aber spannend«, sagte Maria.
Einige Abende darauf wollte Katarina in Ingegerds Bett schlafen.
Wir redeten viel miteinander, Ingegerd und ich.
Sie sagte, ich sei eine großartige Mutter, das sei den Kindern anzumerken.
Und ich heulte los.
Sie reichte mir ein Taschentuch und sagte:
»Und jetzt erzähle ich dir, was ich mir überlegt habe. Ich habe zwei erwachsene Söhne, beide sind Ärzte. Sie haben sehr nette Frauen und Kinder, die so alt sind wie deine. Meine Söhne kennen deine Geschichte und beide bezeichnen meinen Neffen Per als Psychopathen. Er darf mit seinen Kindern nicht allein gelassen werden. Also haben wir beschlossen, dass beide Familien bei uns in die beiden Seitenflügel ziehen werden. Norman, mein jüngerer Sohn, wird in dem Zimmer neben meinem schlafen, wo ich mit den Kindern bin.«
Ingegerd und Gunilla packten die Kleider und Schuhe der Kinder, die Teddys und Puppen, Marias Kissen und Katarinas Schmuselappen ein. Ich half ihnen nicht dabei, ich war wie vernichtet, bleich und zittrig, ich konnte die Kinder nicht einmal umarmen und hatte auch kein Abschiedswort für sie.
Ich war auch nicht dabei, als Gunilla sie alle zum Flughafen fuhr.
Ingegerd rief an, sobald sie in Washington gelandet waren. Es ginge den Kindern gut, sie hätten im Flugzeug fast die ganze Zeit geschlafen. Und sie erzählte weiter.
Per stand am Flughafen, umarmte Maria und warf einen forschenden Blick auf Katarina, die neue kleine Tochter, die er noch nicht gesehen hatte.
Und stellte zufrieden fest:
»Sie sieht mir ja wirklich ähnlich.«
Dann lachte er und sagte: »Die Leute glauben immer, Kinder entstehen aus Liebe. Aber dieses kleine Wesen ist im Zorn entstanden. Vielleicht wird sie später mal ein echter Zornesteufel.«
Maria blickte den Mann, den sie jetzt Papa nennen sollte, lange und nachdenklich an. Beide Mädchen schliefen im Wagen ein, in Ingegerds Armen. Norman fuhr, Per saß neben ihm.
Dann kamen sie zu dem großen Haus am Stadtrand von Richmond in Virginia, wo es von Mamas und Papas und Kindern nur so wimmelte, und alle waren lieb. Die beiden kleinen Schwedinnen wurden von allen verwöhnt. Sie lernten schnell, die Kinder aus den USA schnappten schwedische Wörter auf, Maria mischte bald englische in ihre schwedischen Sätze.
Per hatte nun doch plötzlich Geld genug, er kaufte den Kindern alles, worauf sie in den phantastischen Spielzeugläden nur zeigten. Er beschenkte seine Töchter, verreiste mit ihnen, immer zusammen mit Ingegerds Söhnen. Sie besuchten den Dschungel des Amazonas, die Strände Floridas und das Paradies Honolulu.
Ingegerds Telefongespräche waren immer lang und ausführlich, weil sie mich beruhigen wollte.
Jetzt lieben die Kinder ihren Papa, dachte ich.
Er ist ja auch viel lustiger als Mama, die zu Hause am Küchentisch sitzt, jede Münze dreimal umdrehen muss und jammert und weint.
Der Kaffee wird kalt, schmeckt bitter. Und ich überlege mir, dass man vielleicht eine besondere Intelligenz braucht, um sich gescheit zu verhalten? Offenbar wissen viele, wie man sich in dieser Kultur, in dieser Welt des Gewinns und des kalten Geldes, Vorteile verschafft.
Mein Telefon klingelt, es ist ein alter Freund, der über meine Frage lacht und dann meint, dass man wahrscheinlich viele Eigenschaften brauche, um gescheit zu werden. »Gefühlskälte ist vielleicht die wichtigste. Und ein enormes Bedürfnis danach, sich zu behaupten«, meint er.
Wir sprechen über den Zeitgeist. Er sagt, dass die gegenwärtige Entwicklung ihm Angst mache.
Und ich frage, was er über Gier denke.
Er lacht und meint, dass es die immer gegeben habe, immer habe sie die Ziele und Träume der Menschen gelenkt.
»Vielleicht ist es die Gier, die die Evolution vorwärts treibt«, sagt er und ich stöhne, ich habe intellektuelle Antworten auf Fragen, auf die es keine Antworten gibt, einfach satt.
Er lacht und stimmt mir zu.
Aber dann sagt er, der dominierende Gedanke in unserer Kultur sei doch, dass die Kindheit als die Wurzel allen Übels angesehen werde.
»Kinder bekommen zu wenig Liebe, Zeit, Fürsorge. Du weißt, wie das mit Kindern ist, die nicht genug Aufmerksamkeit erhalten. Sie machen Ärger, mobben andere, stehlen, prügeln sich, saufen und nehmen Drogen.«
In diesem Moment zeigen meine Schuldgefühle ihre hässliche Fratze, sie steigen aus dem Zwerchfell hoch und drücken mir die Kehle zu.
Ich sage deshalb ganz schnell »bis dann«, lege auf und sitze mit meinen ewigen Fragen da. Was habe ich meinen geliebten Kindern angetan? Die alte Antwort: Ich habe zu viel gearbeitet. Ich habe interessante Aufträge angenommen, spannende, witzige.
Gestern habe ich einen Artikel gelesen, in dem behauptet wurde, die Kinder müssten den Preis für die Emanzipation ihrer Mütter bezahlen.
Und ich war stocksauer.
Meine Mutter war Hausfrau und freiberufliche Übersetzerin. Von ihren kleinen Honoraren hätte sie nie selbständig leben können. Wenn zu Hause über irgendetwas gestritten wurde, dann ging es meistens ums Geld. Mein Vater arbeitete Tag und Nacht, und sie konnte das Geld nicht einteilen. Sein Geld. Ich erinnere mich daran und dass ich damals dachte, dass ich niemals so werden wollte wie meine Mutter und niemals so leben wie sie. Ich würde meine Kinder und mich selbst versorgen.
Ich schlief früh ein, nachdem ich eine Menge Schlaftabletten genommen hatte.
Der Tag heute ist lichter, das liegt nicht an der Sonne, sondern an einem Schimmern am Osthimmel. Vielleicht wird es jetzt endlich hell.
Auch in mir wird es heller.
Die letzten Tage waren Finsternis und Irrsinn.
Irrsinn.
Ich versuche, mich zusammenzureißen.
Mein kluger Kopf sagt mir, wenn ich mit diesen Gedanken nicht aufhöre, laufe ich Gefahr, in einer Psychose zu landen.
Ich verstehe, ich weiß es ja.
Der Weg zurück liegt im Erinnern, nicht im Augenzukneifen, im Verdrängen. Ich muss anfangen zu sehen, ich muss begreifen, was geschehen ist.
Ich kochte mir einen stärkeren Kaffee als sonst, schmierte zwei Brote und stellte ein Tablett bereit.
Nicht noch einen Tag am Küchentisch.
Ich ging mit dem Tablett ins Wohnzimmer und setzte mich in den einzigen bequemen Sessel im Haus.
Gestern habe ich lange mit meiner Mutter telefoniert. Heute kam ein Brief mit der Post, ein kurzer Brief von Mama.
»Du hast ein phantastisches Gedächtnis, wir haben ja immer gesagt, dass du einen Fotoapparat im Kopf hast. Und ich schlage jetzt vor, dass du mit dem Anfang beginnst. Mit dem Tag, an dem du Per kennen gelernt hast. Dir ist doch klar, dass die Verzweiflung, in der du jetzt lebst, dieselbe ist wie beim vorigen Mal. Fang mit deinem ersten Tag mit Per an. Sieh dir alle Bilder an, hör alle Gespräche ab, geh die Gefühle durch. Deinen Kindern geht es jetzt gut, und bald kommen sie nach Hause.«
Ich rief Mama an und sagte, dass ich es versuchen wollte. Aber es ist schwer, weil ich mich so entsetzlich schäme. Ich habe mein Leben doch selber zerstört.
Ich las den Brief noch einmal und dachte: Mama hat Recht.
Dann ging ich noch einmal in die Küche, füllte eine Thermoskanne mit starkem Kaffee und stellte sie auf den Couchtisch.
Sie fing am Strand ihrer Kindheit an, ganz am Anfang, wie ihre Mutter das gesagt hatte.
Sie war am Meer aufgewachsen. Im Sommer waren die Felsen von Badegästen besetzt, die Stege von Seglern, die Kioske von Kindern. Eis verlief auf braunen Bäuchen, und die Felsen rochen nach Sonnenöl statt nach Salz und Tang.
Wir Einheimischen fanden es wunderbar, zwischen den ausgebreiteten Decken und den ausgestreckten Sonnenanbetern hin- und herzulaufen und Frauen mit dicken Brüsten und Männer mit Schmerbäuchen anzustaunen.
Es war an einem solchen Sonntag im heißen Sommer 1997, dass sie mit einem hochgewachsenen, gut aussehenden jungen Mann ins Gespräch kam. Warme braune Augen, dunkle Locken und ein Körper wie der David in Florenz. Und das bezauberndste Lächeln, das sie je gesehen hatte.
Er lud sie zu einem Eis ein und nannte sie das süßeste Mädchen am ganzen Strand. Sie wusste, dass das gelogen war. »Du bist eine sehr gute Schwimmerin«, sagte er dann, und das konnte sie hinnehmen, das war sie wirklich. Also sagte sie: »Komm, wir machen ein Wettschwimmen, wer zuerst an der kleinen Insel dort draußen ist.« Dann ließ sie sich vom Sprungbrett fallen, und nie hatte sie einen eleganteren Sprung hingelegt.
Aber er gewann das Wettschwimmen. Und an Land küsste er sie dann. Sie lag still auf der Erde, aber sie war im Himmel.
Und da blieb sie eine ganze Woche lang.
Sie sprachen nicht viel, er mietete ein Kanu und sie paddelten hinaus zu den größeren und grüneren Inseln. Dort lagen sie im weichen Gras und liebten sich unter den großen Bäumen.
Er war zärtlich, seine Hände und sein Mund schienen alles über ihren Körper zu wissen, alle empfindlichen Stellen zu kennen. Wenn seine Zunge ihre Brustwarzen und den kleinen Knopf in ihrem Schoß berührte, jubelte sie zu Gott, der aus seinem Himmel zusah.
Durch die Blätter der Bäume über ihnen.
Per lachte stolz: »War das dein erster Orgasmus?«
»Ja.«
»Dann verspreche ich dir, dass es nicht dein letzter sein wird.«
Anschließend badeten sie, ließen sich ruhig im Salzwasser treiben. Und danach machten sie alles noch einmal.
Eines Abends gingen sie ins Kino, sie sah den Film nicht, sie war nur da für seine Hände, die ihren Nacken streichelten und mit ihren Brüsten spielten.
Danach gingen sie Hand in Hand den Strand entlang. Und sie sagte, es gebe ein Lied über sie:
»Sing!«
»Per und Stina zogen übers Land
hielten dabei einander an der Hand. …«
Per sang mit, während Stina schneller lief und zu ihrer Erleichterung sah, dass das Auto ihres Vaters nicht in der Auffahrt stand. Er war noch im Büro. Gut.
»Ich muss ja wohl deine Eltern kennen lernen«, sagte Per. »Aber zuerst muss ich für einige Tage nach Stockholm, ich habe Prüfungen in Betriebswirtschaft abzulegen. Und ich muss meine Großeltern besuchen. Wir werden aber ganz oft telefonieren.«
»Fahr vorsichtig.«
»Ich bin in ein paar Tagen wieder hier. Und dann mache ich dir sofort einen Heiratsantrag. Du hast also jetzt ein paar Tage Bedenkzeit«, sagte er und lachte.
Stina ging zu ihrer Mutter und trank dort eine Tasse Tee. Sie plauderten nicht wie sonst, sie schlichen umeinander herum wie die Katzen um den heißen Brei, und dafür war Stina dankbar. Sie sagte gute Nacht und ließ sich ins Bett fallen, schlief fast sofort ein, wachte jedoch in den frühen Morgenstunden wieder auf und stellte sich ernste Fragen. Wer ist er …? Dann ging ihr auf, dass die einzige Frage, auf die sie eine Antwort brauchte, lautete: »Wer bin ich?«
Wissbegierig, intelligent, stark. Sie studierte an der Universität Mathematik und Biologie. Ihr Traum war es, sich irgendwann der neuen Genderforschung widmen zu können.
Eine Ehe gab es bisher in ihren Plänen nicht. Sie war einige Male verliebt gewesen, hatte auch Sex gehabt, aber wichtig war das nie gewesen.
Aber jetzt, Himmel! Im Alter von sechsundzwanzig Jahren war sie wie besessen. Einige Tage darauf sprach sie mit ihrer Mutter. Sagte ihr alles ganz offen. »Er will zum Essen eingeladen werden.«
»Ist er so konventionell?«
»Das weiß ich nicht, aber ich habe den Eindruck, dass er aus einer besseren Familie kommt.«
Die Mutter hörte zu, stellte Fragen und lächelte.
»Ist es ernst?«
»Ich glaube schon.«
Am Donnerstagmorgen war Per wieder da. Sie trafen sich wie abgemacht beim Kanu und sie sagte: »Wir sind für heute Abend um sieben zum Essen eingeladen. Und mein Vater hat versprochen, keine Überstunden zu machen.«
»Was macht er denn?«
»Er ist bei der Kriminalpolizei, Kommissar und Chef der Kripo in Göteborg.«
Per zuckte zusammen, es gab einen Moment der Unsicherheit. Dann lächelte er auf seine bezaubernde Weise.
Und sie erzählte weiter über ihre Familie, ihre Mutter Sirkka war Finnin und übersetzte finnische Literatur, und sie erwähnte ihre Kusine, die am Sahlgrenschen Krankenhaus Medizin studierte.
Ich habe damals geprahlt, dachte sie verblüfft, als sie sich aus ihren Erinnerungen losriss.
In der Küche ihres Häuschens dachte sie überrascht: Ich kann mich an viel mehr erinnern, als ich geglaubt habe.
Es war seltsam, es war so lange her. Sieben Jahre, sieben harte Jahre. Und zwei Kinder, eine Dissertation und eine unerträgliche Menge von Tagen voller Verachtung und Misshandlungen.
Am nächsten Tag machte sie weiter.
Es gab damals schon Anzeichen, dachte sie, als sie in ihrem Sessel im Häuschen saß, mit ihrem kalten Kaffee, und als sie zusah, wie die Sonne dem Zimmer Farbe gab.
Aber es war windig, der Wind kam von Norden. Und sie merkte plötzlich, dass sie fror.
Sie brachte es nicht über sich, ein Feuer zu machen, sie ging in den Heizungskeller und drehte die Heizung höher. Setzte sich wieder hin. Kniff die Augen zusammen und reiste wieder zurück in die Vergangenheit.
Eigentlich hatte es viele Anzeichen gegeben.
Die Augen ihres Vaters, die immer schmäler wurden, als Per von seiner Jugend erzählte.
Pers Gesicht, das unter der Sonnenbräune erbleichte, als der Vater über Stinas Begabung sprach.
»Du musst wissen, dieses reizende Mädel hat das Gehirn einer Forscherin. Sie ist erst Mitte zwanzig und macht bald schon ihren Doktor.«
Per war zusammengezuckt, hatte aber gesagt:
»Die Liebe überwindet alles.«
Das war eine seltsame Bemerkung, aber in diesem Moment hatte Stina nicht weiter darüber nachgedacht.
Sie begriff, dass es half, die Bilder aus der ersten Zeit hervorzunehmen und zu erkennen, dass darin eine verborgene Wahrheit lag. Aber die Wahrheit hat viele Gesichter, dachte sie, als sie neuen Kaffee aufsetzte.
Ich werde weitermachen, sagte sie sich. Und dachte, sie habe wahrscheinlich einen Film im Kopf. Wo war ich stehen geblieben, ach ja, bei diesem Essen, als Per zum ersten Mal zu ihren Eltern gekommen war.
Es fing gut an, die Mutter stand in der Tür, hieß ihn willkommen, und Per überreichte seinen Blumenstrauß. Er trug eine weiße Hose und ein ganz normales hellblaues Hemd und hatte sich ein schwarzes Jackett über die Schultern gehängt.
Der Vater kam die Treppe herunter und hatte sich ebenfalls umgezogen.
Sie reichten einander die Hand und der Vater sagte:
»Das ist also der Knabe, der mir meine Kleine wegnehmen will.«
»Ja, das hatte ich vor.«
Die Mutter kniff die Augen zusammen und sagte in ihrem klangvollen Finnlandschwedisch:
»Was für ein scheiß Männergerede!«
Per hob angesichts dieses harten Wortes erstaunt die Augenbrauen, riss sich aber rasch zusammen und sagte:
»Ich habe mich noch nicht getraut, ihr einen Antrag zu machen.«
Alle lachten und Mama Sirkka sagte: »Ich habe es aber schon geahnt und Sekt gekauft. Also komm jetzt rein, Junge.«
Dann knallte der Korken und Per fragte vorschriftsmäßig:
»Wunderbare Stina, willst du mich heiraten?«
Stina antwortete laut und deutlich mit JA.
Per schaute sich um.
Es war ein gemütliches Zuhause, hell und typisch schwedisch. Geschmackvolle Bilder an den Wänden, schöne Farbgebung, bequeme Möbel.
Dann lief er zu dem großen Wohnzimmerfenster und sagte:
»So sollte man wohnen, mit dem großen Atlantik vor sich.«
In seiner Stimme lag Neid, aber das fiel wohl nur dem Vater auf.
Sie hoben ihre Gläser.
Die beiden Männer blieben am Fenster stehen und maßen und schätzten einander ab. Erik Rask war groß, elegant, sportlich durchtrainiert. Er war viel jünger, als Per sich das vorgestellt hatte, noch keine fünfzig, sonnengebräunt und blond, mit nur einer Spur von Grau an den Schläfen.
Per ließ die Augen des Vaters nicht aus dem Blick, sie waren hellblau, aber beunruhigend intelligent.
Nach einer Weile setzten sie sich in der geräumigen Küche an den Tisch. Es gab panierten Dorsch, der in Hummersoße schwamm. Als sie ihren ärgsten Hunger gestillt hatten, sagte der Vater: »Und jetzt erzähl von dir.«
»Verhör«, sagte Per.
Der Kommissar lachte.
»Ich heiße Per Niklas Stenberg, bin 25 Jahre alt, in Stockholm geboren. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich vier Monate alt war. Im Kofferraum fand die Polizei einen Kasten mit einem Baby. Unversehrt. Das war ich, und ich wurde zu den Eltern meines Vaters gebracht. Die waren alt und gebrechlich.«
Er kniff für einen Moment die Augen zusammen, dann erzählte er weiter.
»Reich, eingebildet, große Wohnung auf Östermalm. Jede Menge Bedienstete. Das jüngste Hausmädchen wurde abkommandiert, um sich um mich zu kümmern. Sie konnte Kinder nicht leiden. Was ich auf Östermalm gelernt habe, war: still zu sitzen, nicht zu weinen, nicht zu reden, wenn Erwachsene sich unterhalten. Als ich mit drei Jahren immer noch nicht sprechen konnte, meinte meine Großmutter, ich sei wohl geistig behindert. Sie holte einen Arzt, der genauso daneben war wie sie. Er stellte die Diagnose: »Zurückgeblieben«.
Sirkka fragte mit ihrer empörtesten Stimme:
»Und wie ist aus dir dann ein normaler Mensch geworden?«
»Das ist passiert, als meine Tante aus den USA kam. Sie war witzig, freundlich, kannte jede Menge Märchen und witzige und gruselige Geschichten. Sie ließ mich in die Welt hinaus, redete mit mir, und plötzlich konnte ich sprechen. Wir waren in der Stadt unterwegs und sahen uns seltsame alte Häuser an, wo es angeblich überall spuken sollte. Wir waren im Vergnügungspark und fuhren Karussell. Und von da an fing ich langsam an zu leben.«
Danach schwieg er, bis Stinas Mutter ihn bat, weiter zu erzählen.
Sein Gesicht hellte sich auf, er lächelte.
»Als Tante Ingegerd dann in die USA zurück musste, durfte ich sie begleiten. Im Flugzeug lasen wir Comics von Disney. Auf diese Weise wurde Englisch zu meiner ersten Sprache. In ihrem großen Haus wimmelte es nur so von Kindern, wir spielten, kämpften, zankten uns und wetteiferten miteinander.«
Per sah verlegen aus.
»Ich rede zu viel«, sagte er.
»Und was machst du jetzt?«
»Ich studiere an der Universität. Im Frühjahr mache ich mein Examen in BWL. Also werde ich wohl eine Familie versorgen können.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Stina, und ihr Vater lachte schallend und sagte:
»Da hast du etwas übersehen, etwas Wesentliches. Dieses reizende Mädchen ist außerordentlich intelligent, und sie wird bald ihren Doktor machen. Und dann wird sie gut verdienen und ihren Teil zum Lebensunterhalt beitragen können.«
Per riss die Augen auf und wusste nicht, was er sagen sollte. Er wurde jedoch nicht rot, er lächelte und schaltete seinen Charme ein, als er sagte: »Wir haben wohl noch nicht so viel miteinander geredet.«
Stumme Engel wanderten um den Tisch herum. Dann riss Per sich zusammen und sagte: »Ich habe meine Bude in der Stadt schon gegen eine geräumige Dreizimmerwohnung in Bergshamra getauscht, das ist ein schöner Stadtteil, der gleich an den großen Park von Schloss Ulriksdal angrenzt.«
»Und das hast du gemacht, ohne mit Stina zu sprechen?«
»Ja, das war sicher dumm von mir. Aber ich hatte solche Angst, dass sie nein sagen würde.«
Zum ersten Mal dachte Stina: Er lügt.
Sie warf einen Blick auf ihren Vater und wusste, dass der zu demselben Schluss gekommen war.
Als Per sich für das schöne Essen und die gastliche Aufnahme bedankt hatte, verschwand er draußen in der Sommernacht.
Stina verschwand im Badezimmer und schlich sich an der Küche vorbei, wo ihr Vater das Geschirr in die Spülmaschine stellte.
Sie hörte ihre Mutter sagen:
»Das ist ja ein sympathischer junger Mann, und so offen.«
Und der Vater antwortete:
»Viel zu offen, um wahr zu sein«, sagte der Polizist.
Sirkka überlegte und sagte: »Ja, vielleicht ein wenig zu anpassungsfähig. Aber ich kann verstehen, dass sie verliebt ist. Mir gefällt sein Lächeln, das sich so schnell ändert. Er hat wirklich Charme.«
In dieser Nacht konnte Stina kaum einschlafen.
Stina erhob sich aus ihrem Sessel, schüttelte die Erinnerungen ab und sammelte Tassen und Untertassen ein. Ich habe offenbar etwas gegessen, dachte sie überrascht, als sie in der Küche stand und den Schrank einräumte.
Ich habe eine kurze Reise in die Vergangenheit gemacht, dachte sie. Das war gut, es hatte ihr geholfen. Aber es hatte die Schande noch gesteigert: Was war ich doch für eine Idiotin!
Als sie in jenem Herbst von zu Hause ausgezogen war, hatte ihr Vater ihr ein Buch über Psychopathen gegeben. Das hatte sie nicht gelesen.
Warum nicht?
Es war schon seltsam, dass sie sich noch so genau an dieses Essen erinnern konnte, das vor so vielen Jahren in ihrem Elternhaus stattgefunden hatte. Sie wusste noch alle Einzelheiten, jedes Wort, jeden Stimmungswechsel.
Schon als Kind hatte sie von ihrem Vater gehört, sie habe ein phantastisches Gedächtnis, sie kannte jeden Felsen auf jedem Inselchen, wenn sie im Sommer in den Gewässern vor Bohuslän segelten. Jeden Markt in jedem Fischerdorf. Sie hatte klare Bilder von der Schönheit des Oslofjords, von den Straßen dieser Stadt und dem Museum mit den Wikingerschiffen.
Aber es blieb doch rätselhaft, dass sie von einem einzigen Tag einen ganzen Film ablaufen lassen konnte.
Und dann ging ihr auf, dass dieses ganze Gerede über ihre Begabung als Forscherin nicht gerade der Wahrheit entsprach. Sie war nicht kreativ, nicht intuitiv, nicht neugierig. Sie hatte ganz einfach eine Kamera und ein Tonbandgerät im Kopf.
Ihr ganzes Leben war so geworden, weil es ihr im Grunde an Neugier und Mut fehlte. Natürlich konnte sie mit ihrem guten Gedächtnis eine akademische Karriere machen. Zielstrebig zwar, jedoch eingegrenzt.
Sie konnte ganze Seiten eines komplizierten Lehrbuchtextes fotografieren und sie hervorziehen, wenn danach gefragt wurde. Aber neue Dinge zu entdecken, zu erforschen, dafür konnte sie keine Begeisterung aufbringen.
Trotz allem war es ein guter Tag gewesen, es war schrecklich und nützlich zugleich, sich zu erinnern. Die Panik im Zwerchfell legte sich, das merkte sie, als sie jetzt durch das Zimmer wanderte, die Kerzen anzündete und daran dachte, wie gut sie und die Kinder es in diesem Häuschen gehabt hatten. Gute Jahre, voller Geborgenheit und Freude.
Am nächsten Morgen wollte sie mit den Erinnerungen weitermachen. Um den Irrsinn aus ihrem Gemüt zu vertreiben. Sie würde noch einmal in die gemeinsame Wohnung in Bergshamra zurückkehren. Sie ging ins Bett, konnte ohne Tabletten einschlafen.
Zurück nach Bergshamra, das hatte sie sich vorgenommen. Aber als sie nun am anderen Morgen Kaffee kochte, kam die Angst.
Sie wollte nicht.
Sie musste.
Sie wurden im Rathaus von Stockholm getraut, es ging alles sehr schnell. Es war kurz vor Weihnachten 1997. Angehörige oder Freunde waren nicht dabei. Sie richteten die Dreizimmerwohnung ein, kauften bei Ikea Bücherregale, ein Sofa und Sessel. Per legte eine überraschende Geschicklichkeit an den Tag. Sehr schnell verwandelte er die platten Pakete in Möbel. Stina nähte Vorhänge, Teppiche mussten warten, bis sie mehr Geld hätten.
Sie fühlten sich wohl.
Er kaufte etwas Gutes zum Essen und zwei Flaschen Wein, sie aßen am neuen Küchentisch und tranken einander zu.
»Hier gibt es alle möglichen Läden«, sagte er. »Du wünschst dir bestimmt Blumen für die Fensterbank.«
»Ja, aber zuerst sollten wir ein Bücherregal vor die Längswand im kleinen Zimmer stellen«, entschied Stina.
»Warum das?«
»Weil das mein Arbeitszimmer sein soll.«
Er ballte die Fäuste und schrie:
»Nein, zum Teufel!«
Dann verschwand er und blieb die ganze Nacht weg.
Sie kämpfte mit den Regalen und füllte sie mit ihren Fachbüchern. Sie stellte ihren schmalen Arbeitstisch vor das Fenster, installierte ihren Computer und schob den Rollschrank darunter. Dann ging sie in die Stadt und kaufte ein schmales Bett.
Die Liebe, die so himmelstürmend begonnen hatte, starb in der Wohnung in Bergshamra.
Dort fing das Leben an, das Stinas Leben wurde. Einsamkeit, Kälte, Misshandlungen. Es gab keinen Ausweg, denn sie trug ein Kind unter dem Herzen.
Sie freute sich auf das Kind. Per ging ihr aus dem Weg, es gab keine sexuellen Kontakte mehr. Er wollte allein im Schlafzimmer sein. Sie sollte in ihrem Arbeitszimmer schlafen. Sie ekelte ihn an.
Sie sprachen nicht mehr miteinander, und er misshandelte sie systematisch, mehrmals so sehr, dass ihre Wunden im Krankenhaus genäht werden mussten. Sie schrie nie, sie weinte nicht einmal.
Schließlich machte sie ihren Erinnerungen ein Ende, sie fror und zitterte in ihrem eigenen Wohnzimmer, sie musste aufstehen, sich bewegen und im Kachelofen ordentlich einheizen.
Es regnete nicht mehr, ab und zu konnten sich sogar ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolken stehlen. Sie zog Jacke und Stiefel an und machte einen Spaziergang um ihr Haus und durch ihren Garten. Lange blieb sie vor ihren Rosen stehen, die dem Regen trotzten, und hellrosa, dunkelrot und weiß leuchteten. Die großen weißen hatten sogar die Kraft zum Duften.
Es ist schon seltsam, dass ich mich immer nur an das Schwere und Böse erinnere, und das Schöne, Freudige vergesse. Wie all die Mühe und Freude, die ich in diesen Garten investiert habe. Ich hatte es mir sogar erlaubt, stolz darauf zu sein.
Sie war müde, sie war im achten Monat schwanger, aber trotzdem pflichtbewusst wie immer. Per war in Malmö. Und Stina hielt ihr letztes Seminar an der Universität ab. Aber sie musste sich am Tisch festhalten, um gerade stehen zu können.
Vor sich sah sie junge Gesichter, erwartungsvoll und interessiert, wenn sie auch vielleicht der Meinung waren, Stina gehöre nach Hause ins Bett. Bei dem Bauch.
Unter diesen jungen und erwartungsvollen Blicken waren auch die einer Frau von Mitte vierzig, deren Gesicht viel Mitgefühl und Erfahrung ausstrahlte. Nach dem Seminar ging Stina zu ihr und sagte: »Wenn du Zeit und Lust hast, um Fragen zu stellen, kann ich dich in der Mensa zum Kaffee einladen.«
Die Frau nickte und sagte: »Schön, aber lass uns in ein kleines Café im Bergianska-Park fahren. Mein Wagen steht gleich draußen.«
Dort angekommen, setzten sie sich mit ihrem Kaffee in eine ruhige Ecke.
»Ich heiße Gunilla Skog, ich habe deine Dissertation mit großem Interesse gelesen. Aber als ich dich eben da vorn im Seminarraum gesehen habe, ist mir aufgegangen, dass du wahrscheinlich ziemlich einsam bist und große Probleme hast.«
Stina nickte und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Du hast Narben im Gesicht. Hattest du einen Verkehrsunfall?«
»Nein, das war kein Verkehrsunfall. Das sind die sichtbaren Folgen von vielen Schlägen«, sagte Stina. Dann erzählte sie stockend ihre Geschichte. Es war schwer, zum ersten Mal wagte sie, davon zu erzählen.
»Er hat mich aus dem Schlafzimmer geworfen, weil ich ihn anekele. Also schlafe ich jetzt in meinem Arbeitszimmer, und das ist gut so. An einem Samstagmorgen stand ich am Fenster und schaute hinaus auf den großen Park. Und da kam er angestürzt und schlug mir mit geballter Faust ins Gesicht.
Das wiederholte sich, und ich musste im Krankenhaus mehrmals genäht werden. Meine Nase war gebrochen. Aber das Schlimmste war, als er mir den Stirnknochen über der Augenhöhle zerschlagen hat. Nicht einmal meine Eltern wissen davon. Die Einzige, die etwas ahnt, ist die Ärztin im Krankenhaus Danderyd.«
Gunillas blaue Augen wurden schwarz und sie suchte nach Worten. Nach einer Weile sagte sie:
»Da es außer mir niemand weiß, musst du verstehen, dass ich hier jetzt eingreifen werde. So kann das doch nicht weiter gehen. Ich bringe dich nach Hause. Dein Mann ist in Malmö, hast du gesagt? Ich möchte auch mit deinen Eltern sprechen. Wie kann ich sie erreichen?«
Stina flüsterte fast: »Du kannst meinen Vater anrufen, er ist Polizeichef in Göteborg. Er heißt Erik Rask. Oder ruf ihn zu Hause an.«
Im Auto umarmten sie einander. Stina weinte immer weiter. Sie fuhren nach Bergshamra. Stina schrieb die Nummern ihres Vaters auf.
»Als Erstes besorgen wir ein Schloss für deine Zimmertür«, sagte Gunilla. Sie fuhren in die Innenstadt und machten für den folgenden Tag einen Termin mit einem Schlosser aus. Dann kauften sie ein Mobiltelefon mit Kartenguthaben für Stina. Gunilla speicherte dort gleich ihre Telefonnummer.
»Ich ruf dich morgen früh an, mein Mann ist Anwalt, ich werde mit ihm sprechen«, sagte Gunilla und verließ Stina, die todmüde war und schlafen musste.
Zu Hause rief Gunilla als Erstes bei der Polizei in Göteborg an und fragte nach Kommissar Erik Rask. Er sei in einer Besprechung, wurde ihr mitgeteilt, doch Gunilla ließ sich nicht abwimmeln, sagte, ihr Anliegen sei wichtig und privat. Erik Rask ließ ausrichten, dass er um fünf Uhr zu Hause sein werde.
Auf der Heimfahrt fühlte er sich gar nicht wohl in seiner Haut, obwohl seine Sekretärin gesagt hatte, dass es sich wohl nur um ein wichtigtuerisches Frauenzimmer handele. Ehe er ging, fragte er noch, wie die Frau sich angehört habe.
»Ruhige Stimme, höflich und kultiviert. Möglicherweise mit einem leichten Stockholmer Akzent«, sagte die Sekretärin.
Seine Unruhe wuchs, je mehr er sich seinem Haus näherte.
Kurz vor fünf saßen Erik und Sirkka mit ihren Telefonen am Küchentisch. Als Gunilla anrief und von ihrer Begegnung mit Stina erzählte, schrie Erik: »Das habe ich doch schon lange vermutet!«
Schon am nächsten Morgen setzte sich Sirkka ins Flugzeug nach Arlanda. Gunilla hatte versprochen, sie dort abzuholen.
Die beiden Frauen erkannten einander auf den ersten Blick, sie hatten sich die richtigen Bilder voneinander gemacht, die temperamentvolle Finnin und die elegante damenhafte Schwedin.
»Ich habe mit Stina telefoniert. Per hat gesagt, dass er kurz nach Kopenhagen musste und erst morgen wieder zu Hause sein wird. Also haben wir eine Atempause.«
Dann fügte Gunilla hinzu: »Ich habe auch mit meinem Mann gesprochen, er ist Anwalt und meint, dass wir sie zu uns nach Hause holen müssen. Sie darf keine Minute mehr allein mit diesem Mann sein. Mein Mann kennt sich aus mit diesen Fällen von schwerwiegender Frauenmisshandlung.«
»Habt ihr denn Platz genug?«
»Aber sicher, eine große Villa in einem der nördlichen Vororte. Ich habe schon die Betten in einem geräumigen Gästezimmer oben im Haus bezogen. Es gibt ein Badezimmer und eine Nische mit Spülbecken, Herd, Kühlschrank und Kaffeemaschine.«
»Warum engagierst du dich so stark?«
»Ich habe mich viel mit Frauenfragen beschäftigt. Aber vor allem liegt es wohl daran, dass ihre Doktorarbeit mir so gut gefallen hat. Und sie selbst. Ich erzähle dir mehr darüber, wenn wir die Zeit dazu finden.«
Gunilla fuhr schnell und geschickt, sie bog von der E 4 ab und hatte das Haus in Bergshamra bald erreicht.
Stina war weiß und zitterte, als sie ihrer Mutter um den Hals fiel. Beide weinten. Aber Sirkka konnte sich mit Hilfe ausgiebiger finnischer Verwünschungen aus ihrer Verzweiflung retten.
Und dann sagte sie: »Du musst hier weg. Wir werden bei Gunilla wohnen, weit weg, da kann uns niemand finden.«
»Aber warum ist sie so gut zu uns?«
»Ich glaube, sie ist ein Engel. Und mit einem Anwalt verheiratet, der dir bei der Scheidung helfen wird. Aber jetzt haben wir keine Zeit zum Reden, wir müssen packen, alles für das Kind, deine Kleider und Toilettensachen, deine Manuskripte und Bücher.«
»Darf ich den Computer mitnehmen?«
»Ja, natürlich.«
Sie fuhren nach Norden, vorbei an schönen Villen in großen Gärten. Am Ende glitt Gunilla durch das offene Tor vor einer großen weißen Villa mit einer riesigen Glasveranda. Auf der Treppe stand ein hochgewachsener Mann, nahm Stina in die Arme und geleitete sie ins Haus.
Es duftete aus der Küche und plötzlich merkten alle, dass sie Hunger hatten. Der Tisch war großzügig gedeckt, in der Mitte stand eine Schüssel mit Bauernfrühstück.
Als der Magen zufrieden war, breitete sich in Stina Ruhe aus, zum ersten Mal ließ der Krampf in ihrem Zwerchfell nach und sie wäre fast eingeschlafen. Gunilla führte beide Frauen die Treppe hoch ins Obergeschoss und dann in ein großes Schlafzimmer, wo ein breites Bett bereitstand.
»Mama, bist du da?«, flüsterte sie. Und Sirkka begriff, schlüpfte neben sie und legte den Arm um Stinas Schultern. Stina war eingeschlafen, noch ehe ihr Kopf das Kissen berührt hatte.
Nach drei Stunden wurden sie von Gunilla geweckt, die Kaffee brachte und ihnen Toilette und Dusche zeigte.
»Macht euch fertig«, sagte sie. »In einer Stunde müssen wir zum Arzt.«
Als sie die verdutzten Gesichter ihrer Gäste sah, fügte sie hinzu: »Roger hat einen Freund, der Gynäkologe ist und hier in der Nähe seine Privatklinik leitet. Er wird dich untersuchen und feststellen, ob alles in Ordnung ist.«
»Gut«, sagte Sirkka. »Dann musst du duschen und dich umziehen.«
Stina gehorchte wie ein Kind.
Frisch und neugekleidet kam sie die Treppe herunter. Unten wartete schon Roger.
»Ich fahr dich in die Klinik«, sagte er. Unterwegs erzählte er, dass er lange mit Stinas Vater telefoniert hatte.
»War er böse?«
»Nein, verzweifelt.«
»Ich schäme mich so schrecklich.«
Der Arzt war um die fünfzig, er war freundlich und fürsorglich. Er hörte sich ihre Herztöne an, maß die Herzschläge des Kindes und meinte, alles sehe gut aus.
»In einigen Wochen kommen dann die ersten Wehen, und alles wird gut gehen. Die Kleine benimmt sich so, wie es sich gehört.«
»Sie bewegt sich nicht so wie sonst«, sagte Stina.
»Es wird langsam eng für sie«, sagte der Arzt und lachte.
Dann wurde ihr noch Blut abgenommen und das Herz untersucht.
Am Ende bot der Arzt an, ihnen eine Kollegin vorzustellen, die sich auf Schönheitsoperationen spezialisiert hatte.
Nach der Entbindung könnte Stina dann ihr altes Gesicht zurückbekommen.
Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung.
Er rief die Kollegin an, und die versprach, Stina bei Gunilla und Roger zu besuchen.
»Wirklich?«
»Ja, ich habe selbst gesehen, welch wahre Wunder sie bewirken kann.«
Trotz ihres unbeholfenen Körpers tanzte Stina ins Wartezimmer, wo Roger in die Zeitung vertieft saß.
Als sie nach Hause kam, fiel sie ihrer Mutter um den Hals und rief, dass sie ihr Gesicht zurückerhalten würde.
»Ich dachte, dieser Arzt sei für dein Untergestell zuständig«, sagte Sirkka in ihrem singenden Finnlandschwedisch.
»Ich glaube, ich weiß Bescheid, er hat bei Birgitta Johansson angerufen«, sagte Gunilla und lachte. »Sie ist ungeheuer tüchtig, aber vor der Entbindung geht das alles natürlich nicht mehr. Kein Morphium, so lange das Baby noch nicht auf der Welt ist.«
»Birgitta kommt morgen her«, sagte Roger.
»Ich kenne sie, ich rufe sie an und erzähle ihr deine Geschichte«, sagte Gunilla.
»Aber … das soll doch niemand wissen!«
»Jetzt reiß dich zusammen, was geschehen ist, ist geschehen, und du hast es geschehen lassen«, sagte Sirkka.
»Jetzt trinken wir ein Glas Wein und beruhigen uns wieder«, sagte Roger.
Stina ging nach oben, um sich auszuruhen.
»Du bist so schrecklich ehrlich«, sagte Roger zu Sirkka.