"Aber Mama - wir kiffen doch nur!" - Christel - Irene Falk - E-Book

"Aber Mama - wir kiffen doch nur!" E-Book

Christel - Irene Falk

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Beschreibung

Eine niederschmetternde Entdeckung: Meine Tochter hat nicht Pubertät, sie ist definitiv drogenabhängig. Unser aller Leben verändert sich. Wir kommen mit ihr nicht mehr klar. Sie tauscht tatsächlich Drogen gehen ihre Freiheit ein, die ihr so wichtig ist. Ja, sie kifft sich mit jedem Joint tiefer in die Drogensucht. Eine lange wechselhafte Zeit mit Konflikten, Krisen und viel Kummer in meinem Herzen beginnt. Wie reagieren wir richtig? Mit Drogen kennen wir uns nicht aus, da fehlt uns jede Erfahrung, die jetzt weiter helfen könnte. Kann ich meinem Kind überhaupt helfen ein suchtfreies und selbstbestimmtes Leben zu führen? Das funktioniert nur, wenn sie selbst will. Ich will nicht kapitulieren, sondern einen guten Weg finden, um ihr Leben zu retten. Doch meine Liebe allein reichte nicht aus, um gegen diese grausame Sucht anzukämpfen. Wie kämpft man gegen einen unsichtbaren Feind, den man erstmal kennenlernen muss. Spannend ist, dass meine Tochter ihr Leben aus ihrer Sicht erzählt.

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Christel-Irene Falk

„Aber Mama, wir kiffen doch nur!“

Christel-Irene Falk

„Aber Mama, wir kiffen doch nur!“

Erfahrungen und Hilfestellungen im Umgang mit drogenabhängigen Kindern

1. Auflage

© 2022 Christel-Irene Falk

Umschlaggestaltung: Frank Krause, Markus Amolsch

Umschlagmotiv: kyle-cleveland-gLmeY_bJr0I-unsplash

Lektorat: Frank Krause, Dorothee Köhler

Satz: Christel-Irene Falk, Frank Krause, Dorothee Köhler

Porträtaufnahme der Autorin: Fotostudio Schruhl

Bibelzitate sind den folgenden Bibeln entnommen:

Die Bibel, Übersetzung nach Martin Luther revidiert 2017

Die Bibel, Neues Leben © deutsche Ausgabe 2017 SCM, R. Brockhaus

Begegnung fürs Leben − Neues Leben Studienbibel SCM Verlag

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

Paperback

978-3-347-68695-3

Hardcover

978-3-347-68696-0

e-Book

978-3-347-68697-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Website und Mail-Adresse der Autorin:

www.christel-irene-falk.de

[email protected]

Dieses Buch ist auf shop.tredition.com oder in jeder Buchhandlung erhältlich.

Inhaltsverzeichnis

Viva Italia

Rede und schweige nicht länger!

Das verhängnisvolle Geheimnis meines Lebens

Familienleben

Eine schockierende Entdeckung

Feuerwerk im Kopf

Ein mutiger Schritt

Ein langer Weg

Drogensucht ist kein Schnupfen!

Therapie im Schlößle

Jeder Tag ohne Drogen ist ein guter Tag!

Christin in Portugal

Ein Joint, ein guter Joint

Wach auf, Christin, wach auf!

Therapie im Neuen Land

Epilog

Ein Brief von Toms Vater

Danksagungen

Hilfe und Unterstützung bei Sucht- und Drogenfragen

Viva Italia

Wir lieben das italienische Leben und besonders die italienische Küche: Nudeln, Pizza, Eiscreme und Vino! Italien ist das Lieblingsurlaubsland meiner Familie. Wir sind vom Strandleben genauso begeistert wie von Sightseeing-Touren durch die alten, schönen Dörfer und Städte. Und die Landschaft – ein Traum, zum Genießen schön! Ein Besuch in Venedig gehört natürlich unbedingt dazu. Ein herrlicher Tag, wenn wir in der Gondel elegante durch Venedig schippern und der Gondoliere sein „O sole mio“ singt. Urlaub in Italien ist für uns perfekt!

Das einfache Leben auf dem Campingplatz mögen wir sehr. Das Beste für unsere Kinder sind die attraktiven Animationsabende, die von jungen Studenten aus den verschiedensten Ländern gestaltet werden. Dafür sind wir alle Feuer und Flamme! Das ist wie die Samstagabendshow im Fernsehen − nur live, und wir sind fröhlich mit dabei. Sobald die Erkennungsmelodie durch die Lautsprecher vom Campingplatz läuft, gibt es für unsere Kinder kein Halten mehr. Sie lassen alles stehen und liegen und rennen los, weil sie keine Minute verpassen wollen. Wir Eltern kommen kaum hinterher. Wir erkennen unsere Kinder kaum wieder, wie sie da hüpfen, tanzen und lauthals die Lieder singen oder besser: grölen. Sie lieben es, sich von diesen gut gelaunten jungen Leuten bespaßen zu lassen. Alle Eltern, die wollen, dürfen ihre Kinder bei den Spielen unterstützen. Natürlich machen wir mit! Da wird unser Wissen mit Ratespielen getestet. Unsere Geschicklichkeit dürfen wir im Kampf um die Punkte unter Beweis stellen. Wir haben viel Spaß! Jeder Abend macht uns neue Lust auf mehr.

Eines Abends hat unsere Tochter Christin keine Lust, mit uns zu gehen. Sie zieht mit dem netten jungen Mädel aus dem Wohnwagen nebenan allein los. Das ist okay für uns, denn sie weiß ja, wo sie uns findet.

Nach dem Abendprogramm taucht Christin jedoch nicht wieder auf. Wir machen uns auf die Suche nach den beiden Mädchen und finden sie am Strand. Sie sitzen mitten in einer großen Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in einem großen Kreis im Sand. In der Mitte des Kreises stehen viele Gläser, in denen Kerzen mit orangeroten Flammen wild flackern. Das Meer plätschert leise gegen den Strand und am wolkenlosen Himmel leuchten die Sterne. Drei Jugendliche spielen auf ihren Gitarren und einige summen die Melodien mit. Andere reden miteinander, kichern oder lachen. Eine besonders romantische Atmosphäre. Die Stimmung ist bestens. Ich sehe im Augenwinkel, wie eine Zigarette und eine Flasche Rotwein weitergereicht werden. Doch ich denke mir nichts dabei. Erst später erinnere ich mich daran, dass das keine normale Zigarette gewesen ist – sondern größer, dunkler und unförmiger als normale Zigaretten.

Christin sitzt mit ihrer Freundin mittendrin und fühlt sich pudelwohl. Ihr glücklicher Gesichtsausdruck erstarrt, als sie uns entdeckt. Ich winke ihr zu, sie solle kommen. Sie sagt etwas zu ihrer Freundin und geht anstandslos, aber still mit uns zum Zelt zurück. Wir bringen unsere Kinder ins Bett und lassen den Tag gemütlich bei einem Glas Rotwein vor unserem Zelt ausklingen.

Jahre später gesteht Christin mir, dass sie, als es auf unserem Stellplatz ruhig geworden ist, wieder aufgestanden ist. Sie hat mit ihrem großen Bruder ein eigenes kleines Zelt, und so ist sie, von uns unbemerkt, aus dem Zelt gekrochen und zurück zum Strand gelaufen. ~

Rede und schweige nicht länger!

„Fürchte dich nie, nie, niemals davor, das zu tun, was richtig ist, speziell dann, wenn das Wohl eines Menschen oder eines Tieres auf dem Spiel steht. Die Strafe der Gesellschaft ist nichts verglichen mit den Wunden, die wir unserer Seele zufügen, wenn wir wegschauen.“

Dr. Martin Luther King

In der Zeitschrift „Lydia“ fragt Elisabeth Mittelstädt, ob ich meine Geschichte erzählen will, damit andere Menschen Trost und Heilung, Ermutigung und neue Kraft zum Leben finden.

Dazu sage ich: „Ja, dafür will ich es gerne tun!“

Ob ich qualifiziert bin, ein Buch zu schreiben? Nicht wirklich – aber andererseits bin ich das natürlich schon. Das Leben selbst schenkt mir die Qualifikation dafür. Ich bin eine Mutter, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit ihrer drogenabhängigen Tochter aufschreibt. Ausgerechnet ich habe eine Tochter, die kifft! Dabei wollte ich mit Drogen nie in meinem Leben etwas zu tun haben. Niemals!

Es ist mir mittlerweile unmöglich, nicht von dem zu reden, was Drogen in unserer Familie angerichtet haben und immer noch anrichten. Leicht ist es nicht, wirklich nicht! Mein Leben zu öffnen, damit alle Welt erfährt, was in meiner Familie geschieht, ist eine schwierige Entscheidung für mich. Schamgefühle lassen mich zögern, dazu die Angst vor den zu erwartenden Folgen. Unser guter Ruf kann beschädigt werden. Mit allem, was ich schreibe oder weglasse, muss ich für mich und müssen wir als betroffene Familie leben. Das gilt es, gut zu bedenken.

Will ich es trotzdem riskieren, unsere Geschichte zu erzählen? Mein Herz sagt sofort: Ja, das riskiere ich! Mein Kopf braucht Monate, bis er sich entscheiden kann, den Weg meines Herzens zu gehen. Es braucht schon einen heldenhaften Mut für mich, über ein derart familiäres, privates Thema zu schreiben.

Aber: Drogensucht ist kein privates Problem!

Du darfst jetzt einen Blick in mein Leben werfen. Begleite mich und uns eine Zeitlang. Du bekommst dabei neue und tiefe Einblicke in das, was alles zu einem Drogenleben gehört. Friede und Freude gibt es da durchaus – aber eben auch viel Kummer, Leid und Schmerz. Du wirst von unserem Schicksal und von unseren leidvollen Erfahrungen profitieren. Du ahnst nicht, in wie vielen Familien Sucht eine große Rolle spielt. In unserem Land gibt es unzählige Menschen, denen es ganz genauso geht, wie uns. Sie müssen sich mit den Auswirkungen von Drogen auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Auf so ein entsetzliches Leben ist niemand vorbereitet. Und niemand kommt einfach so davon, ohne Blessuren. So ist das Leben, das einem die Drogen bescheren. Du kriegst das ganze Paket, das volle Programm, und nicht nur ein bisschen.

Wir sind eine glückliche und zufriedene Familie gewesen. Starke Familien haben starke Kinder – so steht es in guten Büchern geschrieben. Kinder aus guten Familien gehen auf dem Königsweg durch ihr Leben. Unsere Tochter aber wird drogenabhängig! Dies ist keinesfalls ihr Lebensziel. Unsere Tochter liebt die Freiheit, schon immer – und sie will frei leben! In dem Moment, als sie jedoch „Ja“ zu einem Joint sagt und ihn raucht, beginnt ihre Unfreiheit – und das Elend für unsere Familie. Drogen krempeln unser Familienleben von da an durch und durch um. Drogen rauben uns eine Menge Lebensqualität und Glück.

Drogensucht ist wie ein Krieg, und die Angehörigen sind die ungewollt Beteiligten. Darum ist mir wichtig, dass die Menschen am Beispiel meiner Familie erfahren, welche schwerwiegende Konsequenzen Drogensucht für mit sich bringt. Wer ahnt denn schon von diesem harten Los, von diesem täglichen Leid, das die Drogensucht imstande ist, anzurichten? Es ist eine furchtbare Katastrophe! Und wer davon hört, ist entsetzt und reagiert geschockt: „Dass es so schlimm ist, habe ich nicht gewusst!“

Ein drogenabhängiges Kind zu sehen, tut mir in der Seele weh. Ich kann nicht nur „Null-Toleranz gegen Drogen“ fordern, ich muss und ich werde meinen Teil dazu beitragen, andere aufzuklären. Wenn es um Drogen geht, mische ich mich ein. Ich kann nicht untätig zusehen – ich weiß einfach zu viel. Ausreden gibt es nicht und Rausreden gilt nicht – nicht für mich. Wenn nicht ich den Mund aufmache, wer dann? Also ran!

Drogen verschlagen einem die Sprache. Doch jetzt habe ich meine Stimme zurückbekommen. Dieses Buch ist für mich zu einer echten Herzensangelegenheit geworden. Ein Buch wie dieses hätte ich mir in der schweren Zeit, die wir durchgemacht haben, sehr gewünscht. Google und Internet gibt es noch nicht, als Drogen in unsere Familie einziehen. Das bedenke bitte, wenn du dieses Buch liest.

Ich sage mir: „Mut wird immer belohnt!“ So schreibe ich jetzt das Buch, das ich damals gerne gelesen hätte. Ich will mein Wissen nicht für mich behalten, sondern es teilen. Und über meine Nöte und Sorgen reden.

„Weisheit, die man für sich behält, ist wie ein vergrabener Schatz: Beide sind nutzlos!“

Apokryphen, Jesus Sirach 20, Vers 30, Luther-Bibel

Deshalb erzähle ich jetzt, was wir in den letzten Jahren durchgemacht haben. Ich werde endlich das sagen, was ich all die Jahre verschwiegen und runtergeschluckt habe.

Das Buch wird sich für dich als nützlich erweisen. Du bekommst Informationen und Einblicke darüber, wie ein Leben mit dem Kiffen und den Drogen aussieht. Da gilt es, Nöte durchzustehen, Probleme zu bewältigen und jede Menge Schwierigkeiten zu überwinden. Das kann aus deinem Leben einen Alptraum machen, weil sich alles nur noch um die Sucht dreht.

Du wirst durch meine Geschichte vieles besser verstehen und entsprechend handeln können. Aus unseren Erfahrungen kannst du lernen. Du wirst gestärkt und getröstet! Denn wie heißt es so schön: „Hinterher weiß man immer mehr und ist schlauer!“ Und das stimmt! Ich würde sehr viel darum geben, wenn ich mit meinem heutigen Wissen noch einmal von vorne leben dürfte, aber das geht nun einmal nicht. Doch ich kann dir davon berichten, was wir erleben mussten und was ich heute anders machen würde.

Woher habe ich diese besondere Kraft, der Drogensucht über so viele, lange Jahre die Stirn zu bieten? Diese übernatürliche Kraft hat mir Gott gegeben. Unsere Geschichte beweist das. Und nur Gott und ich wissen, was uns diese Jahre wirklich gekostet haben. Die Liebe zu meiner Tochter allein hätte niemals ausgereicht, eine so lange Zeit durchzustehen.

Ich habe eine lebendige und von Gott geschenkte Hoffnung und Zuversicht. Ohne Gott wäre ich verloren gewesen. Ohne Gott hätte ich vor vielen Jahren längst aufgegeben. Ohne Gott hätte unsere Geschichte kein gutes Ende genommen. Ohne Gott gäbe es auch dieses Buch nicht. Es ist ein von Gott geschenktes Wunder, dieses Buch schreiben zu können.

Nimm Gott ernst! Wenn einer helfen kann, dann ist es Gott, der Allmächtige. Ein Gespräch mit Gott ist immer eine gute Idee, weil Gott auf jedes unserer Gebete hört und reagiert. Gott hat mich niemals hängen oder im Stich gelassen! Er hat stets zur richtigen Zeit das richtige Wort, das mir Kraft zum Weiterleben gab. Was Gott für mich getan hat, kann er auch für dich tun.

Wer versteht diese entsetzliche Sucht? Wer kann sie anderen Menschen verständlich machen? Nur, wer seine Erfahrungen mit dieser furchtbaren Sucht machen musste. Wer diesen Weg selbst gegangen ist, der hat ehrliche, hilfreiche und klare Worte. Darum kann ich Menschen ermutigen und ihnen neue Freude zum Leben und Kraft zum Durchhalten schenken!

Sei zuversichtlich, egal, wie die Umstände auch sind! Ich will dich und euch von ganzem Herzen ermutigen: Gib dein Kind niemals auf! Gott ist ein Gott, der dich sieht, in deiner Hilflosigkeit und in deiner Verzweiflung. Kämpfen lohnt sich ganz sicher!

Ja, ich öffne dir mein Herz und biete dir gerne meine Hilfe an.

Und wenn dir das Buch am Ende geholfen hat, dann erzähle auch du anderen Menschen davon. Wenn wir das tun, können wir einander in schweren Zeiten sehr viel besser helfend zur Seite stehen. Wir müssen nur voneinander wissen. Reden wirkt Wunder.

Das verhängnisvolle Geheimnis meines Lebens

Ja, ich gebe mein wohlgehütetes Geheimnis preis. Ich muss es endlich loswerden, und das geht nur, wenn ich dir erzähle, worüber ich mich bislang niemals zu reden getraut habe. Denn nur dann wirst du verstehen, warum der Glaube an Gott für mich eine so bedeutende und wichtige Rolle spielt. Viel zu lange habe ich mich nur geschämt und still leidend schwiegen. Dieser eine verhängnisvolle Tag in meinem Leben hat fatale Folgen für mich, denn er hat mich in eine tiefe Krise mit negativen Langzeitfolgen gestürzt. Himmel noch mal, so ein schmerzvoller Schritt, du ahnst nicht, wie schwer das für mich ist! Bis heute war es mir unmöglich, darüber zu reden. Ich hätte mit meinen Kindern über dieses Thema reden müssen. Sie hätten aus diesen Fehlern für ihr Leben gelernt. Doch das war mir unmöglich. Es ging einfach nicht, so leid es mir tut.

Und dies ist meine Geschichte mit Jesus Christus, der zu meinem Lebensretter, Erlöser und Heiler, Helfer und Tröster geworden ist:

Ich wuchs mit meinen zwei Brüdern sehr behütet in einem christlichen Elternhaus auf. Wir lebten in einer kleinen heilen Welt. Jeden Sonntagmorgen gingen wir in unsere Baptistengemeinde. Das war ein langer Fußmarsch, vorbei an den offenen Fenstern der Reifenfabrik Continental in Hannover. Ich erinnere mich heute noch an diesen scheußlichen Gummigestank, der aus den weit geöffneten Fenstern in meine Nase drang.

Meine Eltern gingen in den Gottesdienst, und wir drei Geschwister liefen fröhlich die Treppe hinunter in den Keller zur Sonntagschule. Dort sangen wir laut und liebend gern die tollen Kinderlieder und machten die lustigen Bewegungen dazu. Mit großen Ohren hörten wir uns mucksmäuschenstill die spannenden Jesusgeschichten aus der Kinderbibel an. Wir bastelten, spielten und hatten alle viel Spaß. Aber dass Jesus wirklich lebt, wurde für mich erst zu einer Tatsache, nachdem ich eine traumatische Erfahrung in meiner Jugend gemacht hatte.

Er war ein smarter, gutaussehender Mann, der Traum von einem perfekten Schwiegersohn. Er war einer von denen, die glauben, sich alles erlauben zu dürfen. Er war auf der Jagd nach Mädchen, und wenn er sie hatte, waren sie für ihn erledigt. Er missbrauchte Mädchen nicht nur aus unserem Dorf. Das erfuhr ich allerdings erst viele Jahre später. Ich gehörte zu ihnen.

Unsere Mütter waren beste Freundinnen. Nachdem ich zu einem kurzen Besuch in seinem Elternhaus gewesen war, brachte er mich zu Fuß nach Hause und nahm den Umweg durch den Wald – weil wir so nett miteinander redeten, wie er mir lächelnd ins Gesicht sagte. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als er mich auf einer Lichtung umarmte und zärtlich küsste. Dann ging alles sehr schnell. Er überrumpelte mich total. Weil ich einen Rock trug, gab ihm das noch einen großen Vorteil. Er hatte ein leichtes Spiel mit mir. Ich war so naiv und leicht reinzulegen. Ich schwöre, ich wusste wirklich nicht, was mir gerade geschah. Das wurde mir erst hinterher klar, als ich nach Hause lief. Igittigitt!! Selbst die längste Dusche meines Lebens konnte mir nicht wirklich helfen, mich wieder sauber zu fühlen.

Das hatte ich so nicht gewollt: Mein „erstes Mal“ war weg – unwiderruflich weg! Mein erstes Mal wollte ich mir doch für die Hochzeitsnacht bewahren, für meinen Ehemann, als Zeichen meiner Liebe! Das wollten zu jener Zeit viele Mädchen, genau wie ich. Er wollte dieser Mann nicht sein. Für ihn galt wohl das Motto: Warum denn die eine nehmen, wenn ich alle kriegen kann?

Sein Interesse an mir galt nur für diesen einen Moment – das war eine sehr schmerzhafte Demütigung für mich. Ich war schwer gekränkt, weil er mir so wehgetan hatte. Das war eine Gemeinheit von der ganz üblen Sorte! Ich hatte einen seelischen Knacks weg und war völlig am Boden zerstört. An diesem Nachmittag, vor meinem Besuch bei ihm, hatte ich das letzte Mal mit meiner geliebten schönen Lieblingspuppe gespielt. Am Abend war meine heile Welt zerbrochen.

Mit meinen Eltern konnte ich unmöglich darüber reden. Das durften sie niemals erfahren, so eine Angst hatte ich vor meinem Vater. Schließlich hatte er damit gedroht, den Mann, der mir die Unschuld raubt, mit nacktem Po auf einen Ameisenbau zu setzen und an einen Baum zu binden, nur für eine Nacht. Als Soldat hätte er ganz sicher freudige freiwillige Helfer dafür gefunden und auch einen Ameisenhaufen im Wald, wie er mir versicherte. Das war kein leeres Gerede, das hätte er hundertprozentig getan! Dieses nächtliche Ameisenerlebnis hätte ich ihm natürlich gegönnt. Gar keine Frage.

So blieb ich nach diesem Missbrauch bitter enttäuscht, verschmäht und verzweifelt allein. Meine Kindheit war mit diesem Tag endgültig vorbei, meine Gefühlswelt ein Chaos. Ich verstand die Welt nicht mehr, und meine Eltern begriffen mich ebenfalls bald nicht mehr, weil ich plötzlich so schwierig war. Sie sorgten sich verzweifelt um ihre „Püppi“.

Vor lauter Scham vermied ich es, im Ort gesehen zu werden. Ich wollte mit niemand mehr etwas zu tun haben. Einem Jungen zu vertrauen, war von nun an schwierig für mich. So ein schreckliches Erlebnis wollte ich nicht noch einmal haben. Darum vermasselte ich mir auch jede noch so nette Beziehung in kürzester Zeit, weil ich keinem mehr so richtig glauben konnte. Wenn der erste Mann zur Enttäuschung wird, kann es für einen anderen ein steiniger Weg zum Herzen des Mädels werden. Das waren wirklich sehr schwere Tage in meinem Leben. Für meine Zukunft hatte ich bald keine große Hoffnung mehr.

Es beeindruckt mich bis heute, wie in wenigen Sekunden einer Menschenseele ein unheilbarer Schaden zugefügt wird. Eine Vergewaltigung, wie auch immer sie geschieht, ist ein ungeheuerliches Gewaltverbrechen. Missbrauchte Menschen brauchen eine gute Seelsorge, um dieses Trauma zu überwinden. Jeder Missbrauch hinterlässt eine hässliche Narbe im Herzen, das kann ich heute bestätigen. Solch ein Erlebnis ist nur schwer loszuwerden. Vergessen geht gar nicht! Diese Erinnerung ist stark, sie bleibt ein ganzes Leben lang.

Wenn ich von Missbrauch und Vergewaltigung höre oder lese, dann reagiere ich empfindlich darauf. Ich weiß, was das bedeutet: Leiden ohne Ende für die Opfer. Mein Blut kommt in Wallung, wenn diese Täter nicht oder nur so lasch oder gering bestraft werden, dass das für andere keine Abschreckung darstellt. Die Opfer tragen schweigend ihr Leid, meist ein Leben lang. Wenn unsere Kinder nicht vor Vergewaltigungen beschützt werden, dann wird uns die Quittung, die wir als ganzes Volk dafür erhalten, nicht gefallen. Missbrauch zu ignorieren, geht gar nicht. Wenn Vertrauen missbraucht wird, wiegt das schwer. Das ist wahr, und darum muss ich es sagen.

Eine Wiederherstellung ist möglich, wenn Jesus die Seele und das Herz eines Menschen mit seiner Liebe heilt. Und genau das erlebte ich mit Jesus. Er heilte meinen Schmerz!

Als ich mein erstes Auto, meinen VW Käfer hatte, bat Mutti mich oft, sie am Sonntagvormittag zum Gottesdienst zu fahren. Natürlich ging ich mit ihr in unsere Gemeinde, denn der Rückweg war zu weit. Es hätte sich nicht gelohnt, zwischendrin nach Hause zu fahren. Wieder sang ich die schönen Glaubenslieder und hörte mir die Predigten unseres Pastors an. Und mit jedem Sonntag verstand ich mehr: Wenn mir einer helfen kann, dann ist das Jesus Christus. Mir kam es so vor, als ob Jesus mir die Hand reichte und mich bat, ihm mein Leben mit allem, was mir Not machte, anzuvertrauen. Ich fing an, meine Bibel zu lesen, und was ich darin las, ermutigte mich. Es berührte mein Herz.

„Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, soll gerettet werden!“ Römer 10, Vers 13, Luther-Bibel

Ja, genau das wollte ich! Jesus sollte auch zu meinem Retter werden. So ging ich an einem Sonntagnachmittag vor meinem Bett auf die Knie und faltete meine Hände. Ich erzählte Jesus weinend alles, was mir so schwer auf meinem Herzen lag. Danach lud ich Jesus in mein Leben ein und bat ihn, mir meine Fehler und meine schlimmen Sünden zu vergeben. Da hatte sich so einiges angesammelt. Jesus war da und es war, als ob er mich liebevoll umarmte. Mir wurde dabei ganz leicht ums Herz und ein tiefer Friede breitete sich in mir aus, wie ich das niemals zuvor erlebt hatte. Ich erlebte in diesem Moment, wie groß Gottes Liebe zu mir ist, obwohl er wirklich alles von mir wusste. Das war so erstaunlich! Nach diesem berührenden Erlebnis war ich mir sicher: Jetzt bin ich ein echtes, richtiges Gotteskind, reingewaschen von allen meinen Sünden – wunderbar! Ich fühlte mich wie im siebten Himmel, so leicht und frei. Und wann immer mir in den kommenden Tagen und Wochen eine weitere Sünde einfiel, redete ich mit Jesus darüber und wurde sofort frei! Das waren Tage der Erlösung und der großen Freude!

Mein Lieblingslied aus meiner Kindheit wurde für mich wahr:

„Gott ist die Liebe – er liebt auch mich!“

Jesus Christus gab mir tatsächlich eine zweite Chance für mein Leben und die wollte ich unbedingt nutzen. Ich wurde in diesen besonderen Tagen neu geboren und traf eine kluge Entscheidung: Ab jetzt gehöre ich für immer zu Jesus und folge ihm nach! Ich wollte wie Christen leben und Jesus half mir dabei. So fröhlich und optimistisch wie in diesen Tagen hat meine Familie mich lange nicht gesehen. Ich lebte beschwingt und unbeschwert! Von nun an war Psalm 27, 11 Neues Leben Bibel, mein Lieblingsgebet:

„Herr, zeige mir, wie ich leben soll, und führe mich den Weg, der richtig ist!“

Mutig ging ich gleich am nächsten Sonntag zu unserem Pastor und meldete mich zur nächsten Taufe an. Er gab mir einen Termin zum Gespräch bei ihm im Büro. Tapfer erzählte ich ihm aufrichtig und ehrlich aus meinem Leben und wie es zu meiner Entscheidung gekommen war. Er schaute mich staunend mit großen Augen an, weil er eine solche Offenbarung von mir nicht erwartet hatte. Doch er freute sich wirklich mit mir über diese Entscheidung und gab mir den Termin zur Taufe gleich mit.

„Kannst du mir bitte noch sagen“, fragte ich ihn beim Abschied, „was ich tun muss, damit mir mein Leben gelingt?“

Er sagte wie aus der Pistole geschossen: „Lies in deiner Bibel und tu, was du verstehst. Bete jeden Tag und halte dich treu zur Gemeinde!“

Diese Antwort gefiel mir gut. Ja, das wollte ich gerne tun.

„Sag mal, liest du in deiner Stillen Zeit ein Andachtsbuch?“, fragte ich interessiert.

„Ja, ich lese seit Jahren immer dasselbe. Es ist ein kerniges Buch“, erwiderte er schmunzelnd: „Es heißt ‚Mein Äußerstes für sein Höchstes‘, von Oswald Chambers. Ein Weltbestseller. Du kannst es dir am Büchertisch ansehen.“

„Danke, ich schaue es mir an und kaufe es.“

„Wir sehen uns im Taufkursus. Gott segne dich.“

„Ja, danke, dich auch!“

Ich lebte gerade die beste Entscheidung meines Lebens. Ich spürte, dass ich endlich auf einem guten Weg war. Und das fühlte sich wundervoll an.

Mein Pastor empfahl mir, mich mit einer jungen Frau aus der Gemeinde zu treffen. Mit ihr könne ich reden, weil sie mich verstehen würde. Und so war es auch. Er stellte mich Maria vor und wir verabredeten uns. Wir trafen uns in ihrem Wohnzimmer und redeten bei Jasmintee mit Kluntjes.

Maria erzählte mir ihre Lebensgeschichte und von ihrer Beziehung zu Jesus. Ja, ihr konnte ich meine Geschichte erzählen. Maria hörte mir aufmerksam zu und erklärte mir mit der Bibel, wer Jesus Christus ist und was er für uns getan hat, damit wir mit Gott in Frieden leben können. Ich konnte spüren, wie Jesus bei uns ist. Maria hatte als Christin eine tolle Ausstrahlung und ich konnte ihr wirklich voll vertrauen.

Wir beteten jedes Mal, wenn wir uns trafen. Ich lernte zu beten und ich konnte Jesus meinen Schmerz hinhalten und um Vergebung auch für mein Fehlverhalten bitten. Maria vergab mir stellvertretend für Jesus meine Fehler und Sünden. Ich fühlte mich innerlich erlöst und frei.

In Johannes 20, Vers 23 Neues Leben Bibel, sagt Jesus:

„Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben. Wem ihr sie nicht vergebt, dem sind sie nicht vergeben.“

Gott schenkt uns das Privileg, dass wir uns göttliche Vergebung zusprechen dürfen. Das zu hören, war wichtig für mich. Noch heute kann ich mich an diese Worte und an diese für mich erlebnisreichen Tage erinnern, sobald negative Gedanken mich quälen.

Gottes Heiliger Geist hat mich erfüllt und ist seit diesen Tagen zu meinem Lebenshelfer geworden. Das Wort Gottes zu lesen und danach zu leben, hat mein Leben sehr zum Positiven verändert. Die Bibel ist mein allerbester Ratgeber. Mein Leben wurde wieder lebenswert und gefiel mir ausgesprochen gut. Ich lernte, für alles zu beten und auf Gott zu vertrauen.

Von da an ging ich regelmäßig zu den Veranstaltungen der Gemeinde. Die Bibelstunde hatte höchste Priorität für mich. Da erklärte uns unser Pastor, wie wir Gottes Wort verstehen sollen und wie wir danach praktisch leben können, damit wir ein gottgefälliges und kluges Leben führen.

Bald wurde ich zu einem Hauskreis von Jugendlichen eingeladen. Am Wochenende ging ich abends in die Stadt zur Teestube und am Sonntagnachmittag zum Jugendtreff in die Gemeinde. Ich war kaum noch zu Hause. Ein junger Mann, den alle „Onkel Buck“ nannten, war auch immer mit dabei. Die anderen Jugendlichen liebten es, ihn mit diesem Spruch zu necken: „Mein Bac, dein Bac – Bac ist für uns alle da!“ (Ein Werbespruch für das Bac-Deo in der Fernsehwerbung.)

Die Art, wie Onkel Buck seine Begeisterung für Jesus lebte, kam bei allen gut an, auch bei mir. Sogar sein Auto, seinen Käfer, hatte er mit Bibelversen dekoriert. Total verrückt? Oh, ja! Und wenn er etwas sagte, sprach mir das voll aus dem Herzen.

Waren wir ein Herz und eine Seele? Nein, das waren wir nicht, zumindest nicht von Anfang an. Das wuchs erst langsam. Aber dann wurde es ernst: Wir verliebten uns ineinander und verbrachten jede freie Minute zusammen. Irgendwann machte er mir einen Heiratsantrag, den ich freudestrahlend annahm! Nur um hinterher die große Panik zu kriegen, ob ich das denn hinbekommen würde. Das war eine schwierige Entscheidung für mich. Es kamen viele Bedenken in mir hoch. Ich hatte eine fürchterliche Angst davor, mich zu binden! Was mir half, war, dass ich seine Eltern seit meinem 13. Lebensjahr kannte und sie sehr gerne mochte. So wollte und so konnte ich mit all meinen Erfahrungen meine Vergangenheit komplett hinter mir lassen und freute mich auf eine glänzende Zukunft.

Mein Mann brachte viel Geduld und noch mehr Liebe für mich auf und musste doch lange warten, bis ich endlich soweit war und wir dann tatsächlich heiraten konnten. Ich liebte ihn ja und vertraute meinem Gott, dass er in unserer Ehe der Herr sein würde, der „Dritte im Bunde“.

Die Worte von König Salomo aus dem Buch der Prediger, Kapitel 4, Vers 12, Luther-Bibel, waren die entscheidende Ermutigung für mich:

„Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei!“

Zwei, die fest zusammenhalten – so sollte unsere Ehe sein. Was wir uns versprechen, das halten wir auch. Diese Gedanken flößten mir so viel Vertrauen ein, dass ich mit diesem Wissen den Mut zur Hochzeit fand. Mein: „Ja, ich will – mit Gottes Hilfe!“ zu meinem Mann war die zweitbeste Entscheidung meines Lebens!

Vieles lief dann wirklich sehr, sehr gut bei uns. Aus beruflichen Gründen zogen wir ein paar Jahre später ins schöne Weserbergland. Mir kam das so vor, als ob ich in die Wüste zog, aus der Stadt, in eine Kleinstadt aufs Land. „Hier ist doch nix los!“, dachte ich damals frustriert. Aber so war es nicht. Heute kann ich sagen: Es war eine gute Entscheidung. Denn hier konnten wir gut unser Familienleben gestalten.

Wir bekamen zwei Töchter und drei Söhne: großes Glück! Traurig war, dass unsere zweite Tochter mit sechseinhalb Monaten am plötzlichen Kindstod starb. Wie konnte Gott das zulassen? Wir waren völlig fertig! Wie sollen wir jetzt weiterleben? Ich wusste es wirklich nicht.

Eines Tages traf ich meine Nachbarin mit ihren beiden Kindern im Flur.

„lch sehe, dass ihr immer noch sonntags zu eurer Kirche fahrt. Wie könnt ihr das noch tun, nachdem Gott zugelassen hat, dass euer Kind stirbt?“, fragte sie.

„Du weißt doch, das Leben ist nicht fair“, antwortete ich, „aber Gott ist gut! Das geht anderen Familien doch genauso wie uns. Meine Gemeinde ist meine zweite Familie – sie helfen mir und uns durch diese schwere Zeit. Darauf würde ich im Leben nicht verzichten wollen.“

„Also, ich würde nicht mehr in die Kirche gehen“, sagte sie.

Das war mir einfach zu viel und darum flüchtete ich mich zurück in unsere Wohnung. Heulend setzte ich mich an den Tisch im Esszimmer und beschwerte mich bei Gott:

„Gott! Hast du gehört, was sie da gerade zu mir gesagt hat? Hat sie nicht Recht damit?“

Da sagte Gott laut und deutlich zu mir, als ob er direkt neben mir stünde: „Wenn du mich aufgibst, hast du gar nichts mehr!“

Ich hörte tatsächlich Gottes Stimme!

Natürlich gebe ich Gott nicht auf, dachte ich sofort. Im Gegenteil: Jetzt werde ich mich erst recht an ihn hängen. Wir brauchen Gott in diesen schmerzerfüllten Tagen der tiefen Trauer so dringend wie nie zuvor! Wie sollten wir denn sonst, ohne Gott, nach diesem Schicksalsschlag weiterleben?

Jetzt weißt du von den beiden traumatischen Erfahrungen meines Lebens. Du kennst meine Herzenswunden, die zu tiefen Rissen in meinem Lebensfundament geworden sind. Diese Narben sieht kein Mensch, doch sie beeinflussen und prägen mein Leben. Das, was uns passierte, als die Drogen in unser Leben kamen, toppte jedoch alles! Das war schlimmer als alles, was wir zuvor erlebt hatten.

Familienleben

„Wenn eure Kinder klein sind, gebt ihnen tiefe Wurzeln.

Wenn sie größer sind, gebt ihnen Flügel!“

Khalil Gibran

Wenn ein Kind drogenabhängig geworden ist, dann verändert sich das gesamte Leben der betroffenen Familie. Dann tauchen viele Fragen auf: „Warum?“, „Wie konnte ausgerechnet uns das passieren?“ oder „Woran hat’s gelegen?“ Ja, das wollte auch ich unbedingt wissen! Hätten wir da irgendetwas verhindern können? Was ist bei uns so brutal schiefgelaufen?

Ich will dir etwas sagen: Wir hatten nur die allerbesten Gedanken und Träume. Unsere geliebte Familie war unser Lebensmittelpunkt. Wir waren uns der Verantwortung für unsere Kinder sehr bewusst. So kümmerten wir uns mit großer Liebe um sie, so gut, wie Eltern das eben tun können. Wir gingen liebevoll und respektvoll miteinander um.

Das war mir wichtig: Jeder Mensch hinterlässt Spuren im Leben von anderen Menschen. Meine Spuren, die ich im Leben meiner Familie hinterlassen will, sollen gut und tief sein. Schließlich sind sie die wichtigsten Menschen für mich.

Augustinus Aurelius sagte:

„Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.“

Das bedeutet so viel wie: Unsere Taten reden lauter als unsere Worte. Es heißt, Kinder lernen Moral, die richtigen Prioritäten und gute Werte, indem sie das tägliche Verhalten ihrer Eltern beobachten. Also lautete unsere Parole: Wir gehen unseren Kindern mit gutem Beispiel voran! Wir leben vorbildlich. Das färbt auf sie ab!

Alles, was wir zum Leben brauchten, war da. Wir redeten über Gott und die Welt zu allen Tageszeiten, bei den gemeinsamen Mahlzeiten, im Auto, unterwegs und abends im Bett. Dabei besprachen wir alle ihre Fragen und kleinen Sorgen. Wir erzählten uns, was wir erlebt hatten, und wir besprachen den nächsten Tag mit Schule, Fußballtraining, Musikunterricht, Friseur- und Zahnarztterminen, Einkäufen und was sonst noch alles anstand. Die Kinder bekamen viel Ermutigung und Lob, Fürsorge und Liebe. All das taten wir, damit sie zu gesunden und starken Erwachsenen heranwachsen würden, die ihr Leben später gut geregelt bekommen.

Wir sorgten für Ordnung und Halt und gaben ihrem täglichen Leben eine Struktur. Wir übten geduldig das Leben ein, so kann man das wohl sagen. Meistens waren wir in bester Stimmung, denn es herrschte bei uns eine ungezwungene und warmherzige Atmosphäre. Es waren angenehme und sorglose Jahre, und wir waren glücklich mit unserem Bilderbuchleben. Wir liebten uns und verstanden uns echt prima! Die Feiertage und die Ferien gestalteten wir immer zu einer besonders attraktiven Zeit. Wir lernten andere Länder mit ihren Sitten und Gebräuchen kennen. Das war uns neben Spaß und Erholung genauso wichtig.

Die Botschaft an unsere Kinder lautete: Schaut auf uns! Wir leben mit euch zusammen ein abenteuerliches Leben. Wir spornen euch zu einem sinnvollen Lebenswandel an. Wir lieben euch und wollen die allerbesten Eltern für euch sein! Unser Ziel war es, dass wir eine glückliche Familie sind, die in guten und schlechten Tagen fest zusammenhält und ihr Leben genießt. Keine Familie ist perfekt – aber wundervoll! Die Jahre mit unseren Kindern waren die schönsten Jahre unseres Lebens, so viel steht fest.

Wir entschieden uns bewusst für ein christliches Familienleben, weil wir in Familien, die nach christlichen Regeln und Werten lebten, groß geworden waren. Der Maßstab der Bibel, kurz und knackig und gut zu merken:

„Gottes zehn Gebote sind die besten und klügsten zum Leben.“

2. Mose 20, Verse 1–17, Luther-Bibel

Jesus sagt in Matthäus, Kapitel 22, Vers 39, Luther-Bibel:

„Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“

Damit hatte ich die allerbesten Erfahrungen gemacht und darum sollte das nun auch für meine Kinder gelten.

„Na, bei diesem Engagement kann ich wohl entspannt in eine großartige Zukunft gehen.“ Das dachte ich mir so blauäugig, wie ich damals war.

Unsere Tochter Christin ist von Anfang an eine kleine Persönlichkeit. Sie hat ihren eigenen Willen und prägt unser Familienleben aktiv mit. Sie ist ein fröhliches Mädel und kann den ganzen Tag lang singen. Ein humorvolles und sympathisches, liebes Menschenkind mit leuchtenden, hellwachen blauen Augen und einem Kopf voller netter und kreativer Ideen für den Moment. Und so ist es die reinste Freude, das pure Vergnügen, sie um sich zu haben. Das Leben mit ihr ist nie langweilig. Ihre Ideen und Abenteuerlust zeigen, wie intelligent und neugierig sie ist. Wir müssen sie zügeln und bremsen – und das ist uns viel lieber, als wenn wir sie hätten antreiben oder ständig motivieren müssen.

Auch als Christin im Lauf der Zeit ihr Leben zunehmend selbst gestaltet, vertrauen wir ihr, weil sie ein recht aktives und selbstbewusstes Mädel ist. Wir haben mit ihr bislang keine schlechten Erfahrungen gemacht. Alles ist gut. Christin hat einen guten Charakter, gepaart mit einem gesunden und starken Selbstbewusstsein und ganz viel Herz. Sie weiß immer, warum, wieso und weshalb sie etwas will. Sie ist das reinste Energiebündel, quicklebendig und Langeweile ist ein Fremdwort für sie. Ich will sie mal mit Worten beschreiben, die mit einem f beginnen: fähig, fair, familiär, fantasievoll, feinfühlig, fleißig, flink, freundlich, friedlich und fürsorglich.

Irgendwann fällt uns jedoch immer häufiger auf, dass sich unsere Tochter anders als gewohnt verhält. Ich verstehe mein Kind an manchen Tagen nicht mehr. Keiner hat ihr etwas getan, aber Christin ist genervt und gereizt. Wie aus heiterem Himmel, ist sie entweder in bester Stimmung oder zu Tode betrübt. Sie kann von jetzt auf gleich entweder sehr anhänglich oder ganz auf Abwehr eingestellt sein. Plötzlich kann sie den ganzen Nachmittag schlaff vor der Kiste hängen und fernsehen. Schlechte Laune oder ein zickiges Verhalten kennen wir nur selten von ihr. An manchen Tagen müssen wir Christin nun jedoch mit Samthandschuhen oder wie ein rohes Ei behandeln, weil sie höchst empfindlich auf alles von uns reagiert. Warum ist sie nur so launisch unterwegs? Weil sie ein Mädchen ist?

Als Christin den Kinderschuhen entwächst, dreht sie richtig auf. Aber im positiven Sinne, denn sie hat in ihrem Köpfchen tausend tolle Gedanken, die sie verwirklichen will.

Christin:

lch bin nie der Prinzessinnentyp gewesen. Mir gefiel das gar nicht: Nagellack, Make-up und neue Frisuren ausprobieren. Selbst zum Klamotteneinkaufen musste meine Mutter mich überreden. Man kann stundenlang mit mir wandern gehen, aber Shoppen ist nicht mein Ding. „Bring mir was zum Anziehen mit, Mama! Du weißt doch viel besser, was mir passt!“

Sind das die ersten typischen Anzeichen für die Pubertät? Christin ist doch erst dreizehn! Beginnt vielleicht nur ein neues Kapitel in ihrem und damit auch in unserem Leben? Erleben wir gerade diesen Alptraum vieler Eltern, der sich „Pubertät“ nennt? Was kommt jetzt auf uns zu? Lauter Krisen wegen Liebeskummer oder Pickel im Gesicht? In der Pubertät lassen sich Kinder ungern etwas sagen. Darum schlagen sie gute Ratschläge auch in den Wind, weil sie wie alle anderen Jugendlichen leben wollen. Gehorchen war gestern, heute wollen sie selbst bestimmen, was sie tun und lassen. Sie sind alt genug und bestehen fest auf ihre Rechte. Sie tun Dinge, ohne uns zu fragen mit der größten Selbstverständlichkeit und fahren dabei volles Risiko. Und wenn sie wissen, dass uns das als Eltern nicht gefällt, tun sie es heimlich? Das ist doch nicht möglich. Oh doch, das ist sehr gut möglich! Wir waren als Teenager doch genauso frech!

„Teenager zu erziehen, ist wie Wackelpudding an die Wand nageln“, lese ich irgendwo. Wir wissen jedoch genau, wie wir mit unseren Kindern leben und gelebt haben. Sie haben alle ein stabiles und tragfähiges Lebensfundament mit auf ihren Lebensweg bekommen. Das wird ihnen in allen Situationen ihres Lebens helfen, gut auf sich selbst aufzupassen. Sollte das Leben für sie schwierig werden, dann können sie auf das, was sie bei uns gelernt und erlebt haben, zurückgreifen. So wird es sein, denn sie haben alle einen wertvollen und wunderbaren Charakter entwickelt, der ihnen bei allen ihren Entscheidungen helfen wird, das Richtige zu tun. Wir haben eine gute Saat in unsere Kinder gesät und die wird aufgehen. Davon sind wir felsenfest überzeugt.

Christin:

lch hatte für jede Wochen einen vollen Terminplan. Das Beste waren die Wochenenden mit meinen Freunden. Wir hatten Spaß und tranken viel Alkohol. Ich empfand den Alkoholgeschmack als widerlich. Mund weit auf, runter mit dem Zeug und einen Schluck Cola mit Zigarette hinterher und gut war es. Ich wollte cool sein wie die Älteren und dazu gehören. Wir haben eine Menge Alkohol weggehauen!