Abgründe vor der Haustür: 10 Psychothriller Haffkrug
Horror-Kurzgeschichten und unheimliche Geschichten an der Ostseeküste
Mirko Kukuk
Impressum © 2025 Mirko Kukuk
Mirko KukukKleinfeld 10221149 HamburgUmschlaggestaltung: © Copyright by Mirko
[email protected] Rechte vorbehaltenHerstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
[email protected] Unterstützung bei Text/Bild: GeminiDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Inhalt
Titelseite
Impressum
Einleitung:
1. Das Kinderkarussell am Strand
2. Die Pension „Seebrise“
3. Das verlassene Bootshaus
4. Die Nebelinsel von Haffkrug
5. Das verfluchte Strandhaus
6. Die Sturmflut von Haffkrug
7. Das Haus am Ende der Mole
8. Die Spiegel des Hafens
9. Das Haus am Strandweg
10. Der Nebel von Haffkrug
Nachwort:
Danksagung Autor:
Weitere Krimis/Thriller:
Einleitung:
Haffkrug bei Nacht
Im Sommer wirkt Haffkrug wie ein idyllisches Küstenparadies. Doch wer genau hinsieht, bemerkt, dass dieser Ort tiefer, dunkler und älter ist, als es die Postkarten vermuten lassen. Hier flüstern die Schatten der malerischen Häuser auf dem Pflaster, und die Fischerboote treiben wie verloren an Land. Wenn der Wind von Süden kommt, tragen die Wellen nicht nur Salz und Tang, sondern auch unheimliche Stimmen mit sich.
Die Einheimischen schweigen über die merkwürdigen Dinge, die hier geschehen. Touristen berichten von Gestalten zwischen den Dünen, die so schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Kinder erzählen von unsichtbaren Freunden. Die Dorfbewohner sagen, dass die Realität hier dünn wird – dass Zeit und Raum sich verdrehen und längst Vergangenes nach neuen Opfern sucht.
In Haffkrug knistert die Bedrohung wie ein leiser Funke, und wer ihm zu nahekommt, merkt bald, dass das Meer mehr mitnimmt als nur Sand und Wasser. Das Dorf hält seine Geheimnisse geduldig verborgen, doch sie spiegeln sich in den Augen der Kinder, in den Stimmen der Möwen und in den Schatten, die sich zu bewegen scheinen.
In diesen Geschichten begegnet ihr den Schrecken, die unter der Oberfläche lauern: vom Karussell, das Kinder in fremde Dimensionen zieht, über die Möwen, die Schuld erkennen, bis zu den Leuchttürmen, die Türen zu anderen Welten öffnen. Haffkrug ist der stille, unnachgiebige Beobachter, und selbst die vertrautesten Gesichter sind nicht das, was sie zu sein scheinen.
Wer sich zu tief in diese Geschichten begibt, sollte wissen: Haffkrug vergisst nichts. Jeder Schritt am Strand, jede Begegnung bei Nacht und jedes Flüstern hinterlässt Spuren. Und manche Spuren führen zu einem Schrecken, der immer wiederkehrt – Jahr für Jahr, Sommer für Sommer.
Lasst euch treiben, aber schaut genau hin. Manchmal ist das, was nicht zu sehen ist, das Gefährlichste von allen.
1. Das Kinderkarussell am Strand
Kapitel 1: Die Ankunft
Der scharfe Sommerwind wehte über den Strand von Haffkrug. Er trug salzigen Tang und das ferne Kreischen von Möwen mit sich, das sich wie eine schrille, fremde Melodie in die Stille mischte. Jonas Petersen zog seine dünne Jacke enger um die Schultern. Die Sonne stand bereits tief und tauchte die Wellen in ein tiefes Rot, fast wie Blut. Trotz der Wärme des Abendlichts fröstelte er. Neben ihm lief seine Frau Katrin, deren Augen vor Erwartung glänzten. Sie hatte diesen Urlaub wochenlang geplant und eine Art kindlicher, ungestillter Unruhe lag in ihren Bewegungen.
Ihre kleine Tochter Lea sprang voran, die Sandalen in der Hand, die Füße im feuchten Sand. Ihr Gesicht war eine strahlende Maske aus purer Vorfreude. Es war ihr erster Urlaub an der Ostsee, und alles schien friedlich, beinahe zu perfekt – zu friedlich, wie Jonas bald merken sollte, denn Perfektion hatte in seiner Erfahrung immer einen Haken.
„Schaut mal, was ich sehe!“, rief Lea, ihre helle Stimme klang wie ein Vogellied, das in die Dämmerung hineinplatzte. Sie lief auf etwas zu, das wie eine Anomalie am südlichen Ende des Strandes stand: ein Karussell. Es war alt, knarrend und die abblätternde Farbe schien in der Dämmerung wie offene Wunden auszusehen. Die hölzernen Pferde darauf hatten abgewetzte Mähnen aus Stoff, und ihre einst glänzenden Glasaugen wirkten blind und kalt. Kein Mensch saß darauf. Kein Verkäufer, kein Betreiber. Es stand dort wie ein vergessenes Relikt, das allein aus dem Sand gewachsen war, still und unheimlich im Abendlicht.
Jonas blieb abrupt stehen, seine Stirn legte sich in tiefe Sorgenfalten. „Komisch ... Ich dachte, die fahren das nur tagsüber.“ Doch Katrin schüttelte den Kopf und lächelte, als wollte sie mit ihrer guten Laune die seltsame Stimmung einfach wegwischen. „Vielleicht ist es ein Geschenk für die Kinder? Einfach aufgestellt, damit die kleinen Touristen Spaß haben.“ Lea sprang schon auf das erste Pferd, das ihr ins Auge fiel, und hielt sich am Haltegriff fest. Sie schien die seltsame Aura des Ortes nicht zu bemerken, oder es war ihr egal.
Dann bemerkte Jonas das erste unbehagliche Detail, das die idyllische Fassade zerbröseln ließ: Ein leises Summen lag in der Luft. Kaum wahrnehmbar, fast wie ein Flüstern, das der Wind trug. Es war nicht das Kreischen der Möwen, nicht das Rauschen der Wellen – es war etwas anderes. Etwas Fremdes, ein tonloses Geräusch, das er spürte, bevor er es hörte. Lea drehte sich zu ihm um, ihr Lächeln wirkte nun seltsam unnatürlich, und ihre Augen schienen zu glänzen, als hätte sie etwas gesehen, das er nicht sah.
„Komm schon, Papa! Steig doch auch auf!“, rief sie und wedelte mit dem Arm. Jonas zögerte. Der Bauch zog sich ihm zusammen. Es war ein instinktives Gefühl, ein Alarm, den man nicht rational erklären konnte. Aber Katrin, immer noch in Urlaubsstimmung, schob ihn sanft voran. „Ach, mach doch nicht so ein Drama. Es ist nur ein Karussell.“
Jonas griff nach der Hand seiner Tochter. In dem Moment, in dem seine Finger ihre Haut berührten, zitterte ihr kleiner Körper leicht – nicht vor Kälte, sondern aus einem Grund, den er nicht zuordnen konnte. Das Summen wurde einen Hauch lauter, und er sah, wie die hölzernen Pferde im Wind leicht schwankten, obwohl sich kein Lüftchen regte. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken, und das Gefühl, beobachtet zu werden, wuchs in ihm an.
Die anderen Kinder am Strand, die eben noch gespielt hatten, waren plötzlich verschwunden. Sie schienen sich von diesem Ort entfernt zu haben, als würden sie eine unsichtbare Grenze respektieren. Keine Freunde, keine spielenden Nachbarskinder – nur Lea, das Karussell und eine unnatürliche Stille, die sie umschloss. Jonas’ Herz klopfte schneller, während seine Augen die Umgebung unbewusst absuchten, nach einem Hinweis, nach einer Erklärung, die er nicht fand.
„Papa?“, Leas Stimme war nun ein leises Flüstern, das aus der Ferne zu kommen schien. „Die Pferde wollen, dass wir reiten.“ Die Worte klangen seltsam fremd, zu alt, zu wissend für ein achtjähriges Mädchen. Etwas an ihr hatte sich verändert, in dem kurzen Augenblick, in dem sie auf das Karussell gesprungen war.
Als Jonas auf das Karussell blickte, bemerkte er zum ersten Mal die feinen Risse in den Holzplatten, die wie winzige, dunkle Adern wirkten und das alte Holz durchzogen. Und für einen Moment glaubte er, dass sich die Schatten der Pferde bewegten, unabhängig vom Licht, wie lebendig. Er spürte, dass etwas unter der Oberfläche dieses Strandes wartete. Geduldig. Lautlos. Jonas wusste instinktiv: Dieser Urlaub würde nicht so verlaufen wie geplant. Das Karussell war mehr als es schien. Und irgendetwas wollte Lea – oder war es schon zu spät?
Das Summen nahm zu. Es war nicht mehr nur ein Geräusch, es war ein Gefühl von Bedrohung, ein kaum hörbares, dunkles Lachen, das über den Sand schwebte. Jonas spürte, dass die ersten Funken echten Schreckens in der warmen Sommerluft zu knistern begannen.
Kapitel 2: Die ersten Fahrten
Lea war kaum zu bremsen. Ihre kleinen Hände klammerten sich mit einer unnatürlichen Festigkeit an den hölzernen Hals des Pferdes. Es war dasselbe Pferd, das Jonas mit einem zunehmend unbehaglichen Gefühl betrachtete. Langsam und mit einem leisen Knarren, als würde es sich einatmen, begann das Karussell sich zu drehen. Es war eine träge, fast müde Bewegung, die jedoch nicht durch einen Motor oder menschlichen Antrieb verursacht wurde. Sie imitierte den Rhythmus der Wellen, aber untergrub ihn gleichzeitig mit einer unheimlichen Stille.
„Es ... es bewegt sich von selbst“, stammelte Jonas, seine Stimme klang heiser. Katrin lachte nervös, ein Geräusch, das in der Stille fehl am Platz war. „Bestimmt nur der Wind. Setz dich hin, Jonas, du übertreibst.“ Doch selbst als er sich zögernd auf das zweite Pferd schwang, spürte er ein tiefes, kaltes Zittern im Holz, das nicht von Wind oder Wetter stammen konnte. Es fühlte sich an, als hätte es einen Puls.
Lea lachte, und das Lachen klang hell, ja, zu hell. Es war die Art von Lachen, das man von einem Kind erwartet, aber es war zu überbordend, zu ungestillt. „Papa, siehst du? Sie mögen mich!“ Ihre Augen glänzten jetzt wie Spiegel, in denen das Licht der untergehenden Sonne nicht widergespiegelt, sondern zersplittert wurde. Jonas spürte ein scharfes Ziehen in seinem Magen. Kinder sollten lachen, nicht flüstern wie alte Seelen, die Geheimnisse kennen, die niemand ihnen beigebracht hat.
Am Rande des Strandes tauchten für einen kurzen Augenblick ein paar andere Kinder auf, die im Sand spielten. Doch sobald Jonas seinen Blick auf sie richtete, waren sie verschwunden. Keine Eltern, keine Rettung in Sicht. Nur dieses leise Summen, das nun wie das Echo eines längst vergangenen, schmutzigen Jahrmarkts klang. Jonas rieb sich verzweifelt die Augen. Vielleicht, dachte er, träume ich. Vielleicht ist es nur die Hitze, der Stress – der Wahnsinn eines Vaters, der alles zu ernst nimmt. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Die Realität schien sich langsam aufzulösen.
Lea drehte sich zu ihm um, ihr Gesicht war plötzlich ernst, die kindliche Unschuld war wie weggewischt. „Papa, die Pferde wollen, dass wir bleiben. Für immer. Nicht runtersteigen.“
„Lea … das ist nur ein Karussell, Liebling. Wir steigen gleich wieder ab“, sagte Jonas, bemüht, die zitternde Angst in seiner Stimme zu verbergen. Doch ein schaler Geschmack, wie Metall und Salz, breitete sich in seinem Mund aus. Etwas im Sand, etwas unter seinen Füßen, vibrierte nun im Takt des leisen Summens. Das Karussell schien den Sand selbst zum Leben zu erwecken.
Die Drehgeschwindigkeit nahm abrupt zu. Aus dem trägen Rhythmus wurde eine unaufhaltsame Beschleunigung, und Jonas bemerkte, dass die Pferde sich nicht nur bewegten – ihre Augen wirkten lebendig. Sie schienen direkt auf die beiden zu blicken, als hätten sie ein Bewusstsein. Leas Lachen war nun nicht mehr kindlich, es klang älter, fremd und hatte einen Unterton von Ungeduld und Verlangen.
„Papa, wir fliegen!“, rief sie, und für einen Moment hatte Jonas das Gefühl, dass ihr kleiner Körper nicht mehr fest auf dem Pferd saß, sondern schwerelos schwebte, als würde das Karussell sie davontragen. Es war ein Gefühl des totalen Kontrollverlusts.
Er wollte aufspringen, das Karussell anhalten, seine Tochter retten – doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Ein kalter Schweiß brach aus, seine Finger klammerten sich an das Holz, das nun kalt und feucht war. Die Sonne war längst untergegangen, und die Dämmerung hüllte die Szenerie in ein blasses, ungesundes Grau. Doch das Karussell selbst schimmerte, als ob es von innen mit einem unheimlichen, kranken Licht beleuchtet würde.
Die ersten Stimmen erklangen. Leise, flüsternd, kaum verständlich, aber deutlich genug, um Jonas’ Herz in Panik zu versetzen. „Komm zu uns ...“ Die Stimmen schienen aus dem Holz zu kommen, aus den Mähnen der Pferde, aus dem Sand. Sie waren unzählige Kinder, die er nicht sehen konnte, aber die Namen flüsterten – Namen von vermissten Kindern, über die er vor Jahren in den Nachrichten gelesen hatte. Und nun riefen sie nach Lea.
Lea hielt sich an Jonas fest – oder vielleicht war es das Karussell, das sie festhielt. Ihr Blick war seltsam leer, ihr Lächeln zu weit, zu verzerrt, als ob jemand anderes hinter ihren Augen lauerte. Jonas spürte, dass ein Schleier sich zwischen die gewöhnliche Realität und den blanken Albtraum legte. Er erkannte, dass die Dunkelheit der Nacht nur ein Vorhang war, hinter dem etwas lauerte, das keinen Platz in der gewöhnlichen Welt hatte.
„Komm runter!“, schrie er. „Jetzt, sofort!“
Doch Lea schüttelte den Kopf, ihre Bewegung war ruckartig und unnatürlich, und ihre Stimme war nicht mehr ihre eigene. „Nicht jetzt ... wir müssen warten. Sie holen uns bald.“
Jonas begriff mit einem bitteren, kalten Schauer, dass er nicht gegen das Karussell kämpfen konnte. Es war kein Ding aus Holz und Farbe. Es war eine Maschine, ein lebendiges, hungriges Wesen, eine perfekte Falle. Und es wollte mehr als nur ein paar Kinder zum Lachen bringen.
Das Summen wuchs. Die Schatten der Pferde dehnten sich aus, verschmolzen mit der hereinbrechenden Nacht. Jonas wusste, dass dies erst der Anfang war. Der Sommer von Haffkrug hatte gerade begonnen, und das Grauen wartete schon, geduldig, hungrig und unaufhaltsam.
Kapitel 3: Nacht am Strand
Die Nacht senkte sich über Haffkrug, schwer und still, wie eine Decke aus dunklem Samt. Das Rauschen der Wellen wirkte gedämpft, fast respektvoll, als wüsste selbst das Meer, dass hier etwas lauerte, das man besser nicht stören sollte. Jonas stand am Rand des Karussells. Seine Finger krampften sich um die Holzbügel des Pferdes, auf dem Lea saß. Ihr kleiner Körper war still geworden, und ihr zuvor so helles, fröhliches Lachen war wie ausgelöscht. An seiner Stelle lag etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: ein Blick, zu alt, zu wissend für ein achtjähriges Mädchen.
„Lea …“, flüsterte er. Er war sich unsicher, ob er ihre Stimme noch hören konnte oder ob es nur der Wind war, der mit ihm sprach. Sie drehte den Kopf langsam, ihre Augen glänzten im kalten Schein des Mondes, der durch die Wolken brach. In diesem Moment wirkte alles um sie herum anders. Die Dünen schienen sich zu nähern, die Schatten, die er am Tag nicht bemerkt hatte, krochen über den Sand und streckten sich wie lange, dünne Finger in die Dunkelheit. Die Welt schien sich um das Karussell herum zu verzerren.
Das Karussell drehte sich nun schneller, ohne ersichtlichen Antrieb. Das Summen steigerte sich zu einem tiefen, vibrierenden Ton, der Jonas durch Mark und Bein ging. Jeder Schlag fühlte sich an wie der Herzschlag eines uralten Wesens, das nicht von Menschen, sondern von etwas Dunklem stammte. Die Pferde schienen zu atmen, ihre Nüstern zitterten, und die lackierten Holzaugen funkelten mit einem unheimlichen, lebendigen Glanz.
Jonas griff nach Lea, aber ihre kleine Hand weigerte sich, ihn loszulassen. „Papa … sie holen uns bald“, flüsterte sie wieder, und ihre Stimme war nicht ihre eigene. Ein kaum wahrnehmbares Zittern lief über ihren Körper, und Jonas fühlte, wie seine eigene Vernunft zu schwinden begann. Die klare Logik des Tages wurde von der Nacht und dem unheimlichen Summen verschluckt.
Plötzlich hörte er Schritte. Nicht auf dem Sand, nicht auf den Brettern des Karussells – unter ihm, aus der Tiefe des Strandes. Es war, als würden sich Dinge regen, die keine Beine hatten. Jonas kniete sich hin, um genauer hinzusehen. Was er sah, verwandelte seinen Magen in kaltes Eisen: Muscheln, Sandkörner, kleine Steine formten sich zu Schemen, zu den Umrissen von Kindern. Sie waren leise, stumm, ihre Augen leer und bittend. Sie waren die Seelen der Vermissten.
„Nein …“, keuchte er. Er hörte, wie das Summen zu Worten wurde. Ein Flüstern, das aus dem Holz, aus dem Sand, aus der Nacht selbst zu kommen schien: „Bleib … komm … spiel … für immer …“ Jonas stolperte zurück. Seine Knie gruben sich in den feuchten Sand. Doch das Karussell schien sich zu wehren. Es verlangsamte sich nicht, sondern drehte sich weiter, als wollte es ihn einfangen, ihn zwingen, ein Teil seiner unheilvollen Runde zu werden.
Katrin schrie. Diesmal war es kein nervöser Schrei. Es war blanke Panik. Sie schrie nicht nur vor Angst vor dem Karussell, sondern vor dem, was sie sah: Kindergestalten zwischen den Dünen, die sich bewegten, als wären sie Schatten, die aus der Vergangenheit zurückkehrten. Doch als Jonas hinblickte, waren sie verschwunden. Nur die Muscheln am Strand zeugten noch von ihrer Existenz, und Jonas verstand: Dieses Karussell nahm, formte, veränderte.
Lea flüsterte erneut, und diesmal klang es wie ein Chor aus vielen Stimmen, gleichzeitig alt und jung, hungrig und unendlich. „Papa … wir warten auf dich.“ Jonas spürte, wie Panik und Verzweiflung sich in ihm vereinten, wie ein Sturm, der seine Sinne erdrückte. Er begriff, dass dies kein Kinderspiel war. Dieses Karussell, diese hölzernen Pferde, der alte Strand – alles war lebendig, hungrig, bereit, ihn zu verschlingen, wenn er nicht vorsichtig war.
Der Mond glitt hinter die Wolken, und die Dunkelheit verschlang die Küste. Für einen Moment sah Jonas die Umrisse von Leas Pferd verschwimmen, als würde es selbst atmen. Etwas bewegte sich unter der Oberfläche des Sandes, näher und näher. Die Nacht war nicht still – sie wartete, hungrig und geduldig. Jonas wusste: Er hatte die Grenze überschritten, an der Kinderlachen zu Albträumen wird. Und er wusste, dass dies erst der Anfang war.
Kapitel 4: Das Verschwinden
Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen, und Haffkrug lag in einem unheimlichen, absoluten Schweigen. Kein Wind, kein Möwenschrei – nur das tief vibrierende Summen des Karussells, das leise wie ein Herzschlag aus einer anderen Welt durch die Dunkelheit pulsierte. Jonas stand neben Lea, doch seine Hände zitterten, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sie wirkte seltsam abwesend, wie in Trance. Ihr Blick war starr auf die hölzernen Pferde gerichtet. Es schien, als hätte sie bereits die Schwelle zu einem Ort überschritten, an den er nicht folgen konnte.
„Lea … hörst du mir zu?“, fragte er. Seine Stimme klang fremd und schwach in der Leere der Nacht. Doch Lea reagierte nicht. Ihre Lippen bewegten sich kaum merklich, und Jonas konnte ein leises Flüstern hören, als würde sie mit jemandem sprechen, den er nicht sehen konnte. Die Worte waren für ihn unverständlich, aber sie wirkten auf Lea wie ein Befehl, dem sie nicht widerstehen konnte.
Dann geschah es. In einem Augenblick, während Jonas nach ihrer Hand griff, löste sie sich mühelos aus seinem Griff. Es war nicht so, dass sie weggelaufen wäre – sie schien vielmehr von einem unsichtbaren Sog angezogen zu werden. Ihre kleinen Füße berührten nicht mehr den Sand. Das Flüstern wurde lauter und ein unheimliches Glühen erschien in ihren Augen. Ein kalter Schauer, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, raste über Jonas’ Rücken.
„Lea!“, schrie er und stürzte vor. Er stolperte über den nassen Sand. Doch sie war bereits auf das Karussell gesprungen, ihre Augen weit geöffnet, ein Lächeln auf den Lippen, das nicht kindlich war, sondern fremd und unnatürlich. Die Pferde drehten sich schneller, das Summen schwoll zu einem ohrenbetäubenden Kreischen an, das Jonas in den Ohren brannte.
Er griff nach ihr, schrie ihren Namen, doch irgendetwas Unsichtbares zwischen ihm und dem Karussell blockierte seine Bewegungen. Ein kalter, fester Widerstand, unnachgiebig wie Stahl, hielt ihn zurück. Die Nacht selbst schien seine Kraft zu absorbieren, während Lea langsam im fahlen Licht der Mondscheibe verschwand. Ihr kleiner Körper wurde von einer unsichtbaren Hand emporgehoben, schwebend über den Holzpferden.
Das Karussell drehte sich nun mit einer unheimlichen Geschwindigkeit. Die Schatten der Pferde streckten sich über den Strand, wurden länger und verschmolzen mit den Dünen, als wären sie Teil der Dunkelheit selbst. Aus dem Sand krochen Formen, zuerst winzig und verschwommen, dann deutlich: die Konturen von Kindern, die schon lange verschwunden waren. Sie starrten Jonas an, ohne Augen, nur leere, dunkle Höhlen. Sie flüsterten Namen, die er kannte – Namen von Jungen und Mädchen, die nie zurückgekehrt waren.
„Komm zu uns …“, flüsterten sie alle gleichzeitig. Es war ein verzerrter, unheimlicher Chor aus Kindheitsstimmen, der aus dem Sand stieg. Jonas fühlte, wie seine Knie weich wurden, wie er beinahe zusammenbrach. Die Realität brach zusammen, als ob das Karussell die Welt um ihn herum verzerrte und alles, was er gekannt hatte, verschlungen wurde.
Katrin, die ihn eingeholt hatte, schrie. Ihre Schreie hallten über den Strand. „Jonas! Wir müssen sie zurückholen!“ Doch ihre Stimme klang weit entfernt, wie unter Wasser. Sie wirkte klein, machtlos gegen die unsichtbare, monströse Macht, die das Karussell ausstrahlte.
Und dann war Lea verschwunden. Ein leerer Platz auf dem Pferd, nur noch die Bewegung, das Summen, das flackernde, kranke Licht, das ihre Abwesenheit verschleierte. Jonas starrte, unfähig zu begreifen. Sein Herz raste, seine Lungen brannten. Die Schatten bewegten sich, kamen näher, während das Karussell sich unaufhaltsam weiterdrehte, als hätte es ihn selbst in ein Spiel eingeladen, das er nicht gewinnen konnte.
Er stolperte rückwärts, fiel in den kalten Sand und hörte das letzte Flüstern, das ihn in den Wahnsinn trieb: „Papa … wir warten auf dich.“
Die Nacht war nicht länger nur dunkel. Sie war lebendig und hungrig. Und Lea war nun ein Teil davon, ein Kind unter vielen, verloren zwischen den Schatten der Pferde und dem unendlichen Summen des Karussells. Jonas wusste, dass dies kein Unfall war. Das Karussell nahm, es formte, es verschlang. Und noch während er dort auf dem kalten Sand kniete, spürte er, dass der Sommer von Haffkrug gerade erst begonnen hatte und das Grauen noch lange nicht vorbei war.
Kapitel 5: Die Wahrheit
Die Nacht hatte sich nun wie eine schwere, nasse Decke über den Strand gelegt, und Haffkrug versank in einem unheimlichen, absoluten Schweigen. Der Mond war hinter dicken Wolken verschwunden, und nur das konstante Summen des Karussells durchbrach die Stille, pulsierend wie ein Herzschlag aus einer anderen Welt. Lea war verschwunden, und mit ihr war die Unschuld, die der Sommer bisher versprochen hatte, aus der Welt gerissen worden. Verzweifelt und wütend zugleich spürte Jonas, dass er nicht länger warten konnte. Dieses Karussell, dieser Strand, dieses Dorf – alles war verdreht, verdorben, lebendig. Es war Zeit, die Dunkelheit zu betreten.
Er näherte sich vorsichtig dem Karussell. Die hölzernen Pferde schienen ihn zu beobachten, ihre Lackaugen glänzten in der Dunkelheit mit einem unheimlichen, lebendigen Licht. Als er eine Hand auf das Holz legte, fühlte er Vibrationen, nicht mechanisch, sondern organisch. Es war ein pulsierender Herzschlag, der aus der Tiefe des Sandes zu kommen schien. Unter seinen Fingern wurde das Holz warm, fast glühend, als würde es ihn einladen, tiefer zu gehen – in etwas, das kein Mensch hätte betreten sollen.
Dann bemerkte er eine schmale, kaum sichtbare Lücke zwischen den Brettern des Karussells. Ein Spalt, aus dem ein feines, bläuliches Licht flackerte, wie das Flüstern von Glühwürmchen in einer anderen Welt. Jonas kniete sich nieder und drückte sich durch den Spalt. Sofort umfing ihn eine Kälte, die tiefer war als alles, was er kannte. Unter dem Strand breitete sich ein feuchtes, sandiges Labyrinth aus. Die Wände bestanden aus driftendem Sand und rohem Holz, und die Gänge verzweigten sich, als hätten sie ein Eigenleben. Es war eine Welt, die sich dem Verstand widersetzte.
„Lea…?“ flüsterte er, seine Stimme zitterte vor Kälte und Furcht. Keine Antwort, nur das Summen, das nun wie ein Singsang klang, ein Chor aus vielen Stimmen, jung und alt zugleich. Sie schienen ihn zu rufen, ihn zu locken, ihn in die Tiefe zu ziehen. Jonas spürte, wie sein Herz raste, aber etwas in ihm – ein instinktiver, blinder Vaterinstinkt, vielleicht auch purer Wahnsinn – trieb ihn weiter.
Je tiefer er in das Labyrinth eindrang, desto klarer wurde ihm, dass dies kein gewöhnlicher Unterstand war. Der Sand bewegte sich unter seinen Füßen, formte gelegentlich die blassen, durchscheinenden Gestalten von Kindern, die ihn mit leeren Augen anstarrten. Sie sackten in sich zusammen und versanken in den Boden, als wären sie nie da gewesen. Die Gänge bogen sich und drehten sich, und Jonas erkannte, dass der Strand über ihm nicht mehr real war – er war ein Deckmantel, eine dünne Schicht, die die wahre, verdorbene Natur dieses Ortes verbarg.
Dann sah er sie. Lea stand in einem Lichtkreis, der aus glühendem Sand geformt war, umgeben von anderen Kindern, deren Gesichter ihm seltsam bekannt vorkamen. Es waren die Kinder, die in den letzten Jahren in Haffkrug verschwunden waren. Ihre Augen waren leer, doch sie drehte sich zu ihm, und für einen winzigen Moment erkannte er sein Kind wieder. In ihren Augen sah er eine Spur von Verzweiflung, einen stummen Hilfeschrei. Dann jedoch verschwamm das Bild, und sie wurde ein Teil der anderen Kinder, die Stimmen, die summen, flüstern, locken.
Jonas verstand nun die schreckliche Wahrheit: Das Karussell war ein Tor, ein lebendiges Wesen, das Kinder sammelte, formte und für immer in seinem Inneren hielt. Es war nicht einfach eine Maschine. Es war ein intelligentes, hungriges Ding, das sich von der reinsten aller menschlichen Ängste nährte: der Furcht von Eltern, ihr Kind zu verlieren.
Er wusste, dass er handeln musste, bevor er alles verlor – doch selbst als er nach einem Ausweg suchte, spürte er, dass er beobachtet wurde. Aus den Schatten und den sandigen Wänden krochen neue Gestalten, Kinder und Erwachsene, die sich bewegten wie Marionetten, deren Fäden jemand anderes hielt. Jonas begriff: Wer einmal dieses Labyrinth betrat, veränderte sich. Und Lea war bereits zu tief in diesem Albtraum gefangen, um sie einfach herauszuziehen.
Sein Vaterinstinkt verwandelte seine Angst in unerschütterliche Entschlossenheit. Er würde nicht aufgeben. Aber er wusste auch, dass die Nacht noch lange nicht vorbei war. Das Karussell wartete geduldig, hungrig, bereit, ihn zu verschlingen, wenn er einen Fehler machte. Während Jonas sich weiter in die Tiefe vorarbeitete, flüsterte der Sand: „Komm zu uns … Papa … wir warten auf dich.“
Die Grenze zwischen Realität und Albtraum war verschwommen, und Jonas erkannte, dass der wahre Kampf nicht nur darum ging, Lea zu retten – sondern darum, die Kontrolle über seine eigene Wahrnehmung, seine eigene Menschlichkeit nicht zu verlieren.
Kapitel 6: Das Ende
Jonas spürte, wie die Zeit sich dehnte, wie der Sand unter seinen Füßen zu einem lebendigen Labyrinth wurde, das ihn von seiner Tochter trennte. Jeder seiner Schritte hallte unnatürlich in der feuchten Dunkelheit wider, und das Summen des Karussells war nun zu einem ohrenbetäubenden Crescendo angeschwollen, das ihm durch Mark und Bein ging. Er sah sie. Lea, eingehüllt in ein Licht, das nicht von dieser Welt war. Ihre Augen waren leer und glänzend, ihre kleinen Hände ausgestreckt, als wollte sie ihn gleichzeitig locken und warnen.