Abschied von der Lindenstraße - Siegfried Maaß - E-Book

Abschied von der Lindenstraße E-Book

Siegfried Maaß

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Beschreibung

Stuck“, sagt Vera, „es ist ja nur, weil ich dir etwas zu sagen habe.“ „Darauf warte ich schon seit ’ner halben Stunde.“ „Darauf nicht. Ich bin schwanger, Stuck, das ist es.“ Mit diesem neuen Konflikt nehmen die Lebensgeschichten der jungen Leute Vera und Stuck aus dem Buch „Lindenstraße 28“ ihren weiteren Verlauf. Stuck ist aus der Armee entlassen und hat Pläne für die Zukunft. Natürlich gemeinsam mit Vera. Er hofft, dass sie ihre Unbeständigkeit überwindet und nie wieder Kontakt zu Egons Bande aufnimmt und damit in ihre kriminelle Vergangenheit zurückfällt. Darin stimmt er mit den Frauen der Abpackstation, in der Vera arbeitet, überein. In ihnen findet er Verbündete, die sich Veras annehmen und sich um sie kümmern. Aber auf die Tatsache, dass er Vater werden wird, war er nicht vorbereitet. Damit stellt sich eine scheinbar unüberwindbare Hürde in den geplanten Lebensweg, den er auch für Vera ebnen will. Gelingt es beiden, ‚hinter den Horizont sehen’ zu können und sich den Platz erobern zu können, den ihnen niemand streitig machen kann? Spannende Lebensgeschichte junger Leute aus den achtziger Jahren in der ostdeutschen Provinz. INHALT: Das Fenster Johannes Vera Stuck Elke Karla und Hans Wuttke Vera Stuck Cornelia Bernhard und Anette Vera Der Alte (Otto Niemann) Das Fenster

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Impressum

Siegfried Maaß

Abschied von der Lindenstraße

ISBN 978-3-95655-205-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1986 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Die Wirklichkeit wird sie jedoch nicht völlig ausschließen.

Das Fenster

Die Mauer neben ihm ist aus grob behauenen Feldsteinen zusammengesetzt und sieht selbst bei Sonnenschein schmutzig grau aus. Jetzt, an einem trüben und späten Novemberabend, wirkt sie schwarz, als wäre sie erst vor Kurzem mit Teer angestrichen worden, und unwillkürlich sucht Stuck nach einem Pappschild mit der eilig hingepinselten Warnung: Vorsicht, frisch gestrichen!

Aber das Teerschwarz, weiß Stuck, existiert nur in seiner Einbildung.

Die Mauer ist zweihundertdreißig Schritt lang, das konnte er in der vergangenen Stunde mehrmals feststellen, nachdem er, um sich die Zeit zu vertreiben, zu zählen begonnen hatte. Müsste er nicht befürchtet haben, aus dem gegenüberliegenden Haus heimlich beobachtet zu werden, hätte er womöglich sogar Paradeschritt gewagt und wäre sich wie auf dem Marx-Engels-Platz im vergangenen Jahr vorgekommen, und nachträglich muss Stuck nun bei dieser Vorstellung lachen. Aber Paradeschritt und Armee gehören endgültig der Vergangenheit an. Was war, ist vorbei, denkt Stuck wie Vera.

Also zweihundertdreißig Schritt, überlegt er, das macht etwa zweihundert Meter aus. Zweihundert Meter tiefschwarze Mauer halten, ihn von dem Geschehen in dem Haus mit den vielen erleuchteten Fenstern fern.

Wenn er genau an der Mauer steht, kann er nur die obere Fensterreihe erkennen. Ist es dort? Er wechselt schnell auf die andere Straßenseite, wo er sich auf den Steinsockel eines Lattenzauns stellen kann. Nun hat er zusätzlich auch die unteren Fenster im Blickfeld. Welches ist es? Soll er vielleicht noch einmal die unfreundliche Pförtnerin ansprechen, um zu erfahren, wo sich der Kreißsaal befindet?

Dazu hat Stuck keine Lust, weil ihn die Frau erst vor Kurzem wie einen dummen Jungen abgefertigt hat.

„Sind Sie der Vater?“, wollte sie wissen, nachdem er sich höflich nach Vera erkundigt hatte.

Übereilt antwortete Stuck: „Der Vater? Nein, nein, der Mann bin ich, der Mann ...“ Erst das überhebliche Lächeln der spitznasigen Frau ließ ihn seinen Irrtum erkennen.

„Ja, natürlich, der Vater!“, rief er hastig und fühlte das Blut in seine Ohren steigen und einen schmerzhaften Druck in den Schläfen. „Vera Stuckmann ist meine Frau, und ich möchte nur wissen, ob sie schon …“

Die Pförtnerin hatte zuvor das Guckkastenfenster einen Spalt breit geöffnet, schlug es nun wieder zu und legte ihr Strickzeug zur Seite, um mit dem Finger auf einer Namensliste entlangfahren zu können. Nachdem sie endlich einen bestimmten Punkt erreicht hatte, klappte die Pförtnerin mit der anderen Hand das Fenster wieder ein Stück auf.

„Ihre Frau ist ja erst gegen einundzwanzig Uhr gekommen, das ist noch keine zwei Stunden her!“, sagte sie vorwurfsvoll. „Geduld müssen Sie schon haben, junger Mann. Oder glauben Sie vielleicht, das geht hier rutsch, rutsch wie bei den Karnickeln?“

„Können Sie nicht trotzdem mal anrufen und eine Schwester fragen?“

Die Frau blickte ihn über ihre Brillengläser an und schob die Stirn in Falten. „Um mich dann anschnauzen zu lassen? Sie schüttelte heftig den Kopf, wobei das hochgesteckte Haar, das wie ein Vogelnest wirkte, bedenklich hin- und herschaukelte. „Die haben auf Station mehr zu tun, als dauernd nur an der Telefonstrippe zu hängen und die lästigen Fragen ungeduldiger Väter zu beantworten. Sie können ja morgen früh mal nachfragen. Vielleicht ist es dann so weit." Sie nickte ihm zu, als wollte sie ihm Mut machen, und schloss eilig das Guckkastenfenster.

Stuck starrte noch eine Weile auf das „Vogelnest“ und sah dann auf die Stricknadeln in den Händen der Frau - ihn, den aufdringlichen Besucher, nahm die Pförtnerin schon nicht mehr wahr.

Entmutigt verließ Stuck schließlich das Pförtnerhäuschen. Das Tor daneben war und blieb geschlossen, nicht einmal eine Katze hätte in das Klinikgelände eindringen können.

Was bildet die sich bloß ein, dachte Stuck und fand in seiner Enttäuschung und Wut eine Menge unfreundlicher Bezeichnungen, wovon ihm „dumme Kuh“ am besten gefiel - die dumme Kuh kommt sich wohl unheimlich wichtig vor ...

Im Schein der Straßenlampe sieht er zur Uhr. Gleich Mitternacht. Was soll er nur tun? Unmöglich, jetzt nach Hause zu gehen, allein zu sitzen und zu warten. Und worauf sollte er auch warten? Niemand wird zu ihm kommen, um Bescheid zu sagen, wenn alles vorbei ist. Ein Fremder, etwa ein Bote der Klinik, würde das Hinterhaus, das Stuck Penthouse getauft hat, nicht einmal finden.

Hätte er dort etwa Ruhe und Geduld zum Warten?

Die Gaststätten schließen jetzt. Außerdem hat er Vera versprochen, nicht in die Kneipe zu gehen und auch zu Hause nichts zu trinken, damit er ohne eine Alkoholfahne zu ihr in die Klinik kommt. „Später dann, na, von mir aus“, hat sie großzügig eingeräumt. „Ihr Männer könnt ja sowieso nicht anders.“

Stuck zittert vor Kälte. Die nebelfeuchte Luft dringt in alle Knopflöcher ein, in der Eile hatte er nur die Windjacke übergezogen, die er auch an kühlen Sommertagen trug. Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als ins Penthouse zu gehen, sonst liegt er womöglich mit einer Grippe fest, wenn die zwei nach Hause kommen.

Mein Gott! Stuck lacht laut, als er sich vorzustellen versucht, was wohl geschehen würde, wenn er am Tage der Entlassung auch nur eine leichte Erkältung hätte! Vera würde es fertigbringen, so lange in der Klinik zu bleiben, bis zu Hause wieder alles „keimfrei“ wäre.

Dieses Wort gewann in der letzten Zeit im Penthouse an Bedeutung; mit ihm begründete Vera ihre neue Art der Lebensführung, in der plötzlich nicht mehr gelten sollte, was bisher war. Eines Abends setzte sich Vera an den Tisch vor ein leeres Blatt Papier, sah ihn herausfordernd an und schrieb schließlich ihre „Zehn Gebote der Sauberkeit und Ordnung im Haus“ auf. Zwischendurch stand sie öfter auf, weil ihr längeres Sitzen schwerfiel, und jedes Mal schob sie dann Stuck den Zettel mit einem weiteren Gebot zu - er lachte laut, anders konnte er nicht. Was dachte sie sich zum Beispiel dabei, als sie aufschrieb, dass Schuhe künftig (also nach der Geburt des Kindes) im Penthouse nichts zu suchen hätten, sondern draußen abgestellt werden müssten? Wo? Einen Flur hatten sie im Penthouse nicht. Also auf dem Hof? Nun gut, sollte sie es ihm im Winter vormachen.

Alles hätte keimfrei zu sein, forderte Vera, und Stuck fragte daraufhin, was nach ihrer Meinung geschehen müsste, wenn einer von ihnen beiden mal Schnupfen bekäme ...

Vera, von ihrer Idee besessen, schlug entsetzt die Hände zusammen. „Das darf einfach nicht vorkommen …“

„Mach dich nicht lächerlich“, sagte Stuck darauf. „Darf nicht vorkommen ... Und wenn doch? Zum Beispiel ich? Wenn ich bei Wind und Wetter in unserer zugigen Halle bin oder Waggons entladen muss? Dabei fängt man sich schnell einen Schnupfen oder ’ne Halsentzündung ein, das weißt du doch selbst. Dann darf ich wohl nicht nach Hause kommen?“ Er lachte dabei, aber Vera erwiderte völlig ernst: „Es wäre wirklich am besten, wenn du dann wegbleiben würdest. Aber wo sollst du dann hin? Das ist das Problem. Auf keinen Fall darfst du in die Nähe des Kindes kommen, Stuck! Und sowie du dann zu Hause bist, musst du Mund- und Nasenschutz tragen. Anders geht es leider nicht.“

Stuck konnte so etwas nicht ernst nehmen; er riss hastig ein Taschentuch hervor, band es sich vors Gesicht und lief um den Tisch herum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er wollte Vera auf diese Weise zum Lachen bringen. Umsonst. Sie schüttelte den Kopf und sagte mahnend: „Dafür nehmen wir dann eine Windel, Stuck. Lass um Gottes willen dein Taschentuch stecken! Oder willst du etwa die Bazillen schön gleichmäßig verstreuen?“

Er gab es schließlich auf, sich mit ihr über die „Gebote“ zu unterhalten, die sie vor die Scheibe des alten Küchenschranks steckte. Er war davon überzeugt, dass sie bald in Vergessenheit geraten würden.

Aber er hatte sich geirrt; Vera trainierte täglich, als wäre das Kind schon geboren worden und ins Penthouse gekommen.

Er müsste also damit rechnen, dass sie mit dem Kind so lange in der Klinik bliebe, bis das Penthouse wieder keimfrei wäre. Oder würde sie vielleicht auf den Gedanken kommen, er sollte ausziehen, solange seine Erkältung anhielte? Geh zu deinem Freund Johannes, könnte sie beispielsweise sagen, dort kannst du höchstens alte Uhren infizieren. Und in diesem Zusammenhang wird es Stuck plötzlich bewusst, dass er in Brückstedt tatsächlich niemand außer seinem Reifemeister hat, an den er sich in bestimmten Situationen wenden könnte, zum Beispiel, wenn er mit Vera Schwierigkeiten haben sollte. Seine Mutter und ihr Mann Bernhard wohnen nicht mehr in Brückstedt, und zu Veras Eltern hat er immer noch keinen Kontakt, weil Vera ihn daran hindert. So bleibt ihm nur seine Frau. Tatsächlich nur sie.

Vermisst er irgendetwas, irgendwen? Und als müsse er sich insgeheim bei Vera dafür entschuldigen, dass ihn solche Gedanken überhaupt beschäftigen, spricht er laut ihren Namen aus und fügt sofort hinzu, was er bei ähnlichen Gelegenheiten gern macht: „Vera heißt im Russischen Glaube. Ich glaube an dich, du glaubst an mich ...“ Stuck lacht. Ich glaube, denkt er, dass du es schon geschafft hast, Vera. Bestimmt ist unser Kind schon da. Oder vielleicht kommt es ausgerechnet in diesem Augenblick zur Welt?

Stuck entschließt sich, nach Hause zu gehen. Brückstedt scheint eine entvölkerte Stadt zu sein. Es kommt ihm vor, als habe er als einziger eine furchtbare Katastrophe überlebt, und plötzlich fallen ihm die Berichte und Informationen über diese entsetzliche Bombe ein, die alles Leben vernichtet, aber die Häuser stehen lässt. Stuck will diesen Gedanken schnell wieder von sich schieben und sich stattdessen vorstellen, was hinter einem der Klinikfenster im Augenblick geschehen mag; doch das verheerende Bild einer menschenleeren neutronenverseuchten Stadt lässt sich nicht verdrängen. Den Protestbrief, der im Sommer während einer Versammlung im Fruchthof verlesen worden war, hatte Stuck mit gutem Gewissen und ehrlichem Bekennen unterschrieben, wenn er auch daran zweifelte, dass sich der Mann im Weißen Haus davon beeindrucken lassen würde. Aber vielleicht stürzt aus aller Welt eine Flut ähnlicher Briefe auf ihn herab, dass er eines Tages nicht anders kann, als seine Anordnung zum Bau dieser Bombe zu widerrufen?

Der Anblick der menschenleeren Straßen und die Vorstellung, dass Vera vielleicht in diesem. Augenblick einen kleinen Menschen aus sich herauspresst, der auch ein Teil von ihm ist, lassen Stuck mit einem Mal schmerzhaft fühlen, was er bisher nur mit seinem Verstand erfasst hatte - würde es diese furchtbare Waffe jemals geben, geriete auch sein Kind in Gefahr! Sein Kind, das er noch nicht kennt, von dem er noch nichts weiß, das er aber bald ganz genau kennen wird - nein, denkt Stuck, und er möchte es am liebsten in die wie verlassen wirkende Stadt hinausschrein: Nein, dazu darf es nicht kommen!

Als würde es keinen anderen Platz für ihn geben und als müsste er das Haus mit den vielen erleuchteten Fenstern bewachen, damit niemand die Mütter und Kinder darin gefährden kann, kehrt er auf dem Absatz um, wie er es als Soldat gelernt hat, und bezieht wieder seinen Beobachtungsposten an der Klinikmauer.

Wo wird Vera jetzt sein? In dem Bett in ihrem Zimmer?

Oder im Kreißsaal?

Wenn er nur wüsste, wo sich dieser schreckliche Kreißsaal befindet, von dem die Frauen im Fruchthof behaupten, er müsse besser Kreischsaal heißen.

Ist sein Kind schon da?

Es wird es gut haben bei ihm, seinem Vater, und als müsse Stuck seine Überlegungen beenden, sagt er sich, dass die menschliche Vernunft nicht zulassen wird, sein Kind dieser mörderischen, nicht vorstellbaren Gefahr auszusetzen. Er wird alles tun, um das unbekannte Kleine zu beschützen. Und natürlich auch Vera, die so großen Wert auf „keimfrei“ legt. Er möchte dafür sorgen, dass das Leben ringsum keimfrei bleibt. Was er dafür tun muss, weiß er noch nicht, ist aber überzeugt, dass es ihm rechtzeitig einfallen wird.

Mit einem Mal spürt Stuck, dass etwas in ihm vorgegangen sein muss, für das ihm jetzt kein anderes Wort als „Wandlung“ einfallen will.

Ist die Armee dafür verantwortlich? Hat das Soldatsein ihn mehr verändert, als er sich bisher eingestehen wollte?

Wandlung? Stuck lauscht in sich hinein. Hat er sich verändert? Jetzt ist er verheiratet und in diesem Moment vielleicht schon Vater. Aber das scheint es nicht zu sein, was Stuck zu spüren glaubt, die Veränderung seines Familienstandes macht er für das neue Gefühl nicht verantwortlich. Liegt es daran, dass er sich erwachsener fühlt und plötzlich alles Zurückliegende mit anderen Augen sieht, mit Augen, denen der jugendliche Traumschleier weggerissen wurde?

Hatte er wirklich einmal daran gedacht, wie Che Guevara in die Berge zu gehen und mutige bärtige Männer um sich zu scharen, um zum Beispiel diesen Pinochet zu vertreiben? Dass es keine andere Möglichkeit als diese gäbe, Gewalt und Krieg, Unterdrückung, Elend und Hunger zu bekämpfen? Wie lange ist es her, dass er mit einem selbst gemalten Che-Guevara-Kopf auf dem Trikothemd umherlief und sogar in der Disco damit auftrat, weil er meinte, anders als Che es getan hat, könnte man Gerechtigkeit in der Welt nicht erreichen?

Waren wirklich erst drei Jahre seitdem vergangen?

Vera hatte das Trikothemd sorgfältig aufbewahrt, solange er als motorisierter Schütze diente. Doch nach seiner Rückkehr von der Armee wollte er es nicht wieder anziehen, und Vera fragte erstaunt, ob er seine Meinung geändert und seine früheren Vorsätze aufgegeben habe.

Nein. Doch er versuchte nicht, ihr sein Verhalten zu erklären, weil er ahnte, dass es ihm nicht gelingen würde.

Das Trikothemd blieb zwischen anderen Wäschestücken im Schrank liegen, bis es Vera später hervorholte und fragte, ob sie es anziehen dürfe. Stuck hatte nichts dagegen einzuwenden.

Auf Veras bald immer stärker anschwellendem Leib blies der gute Che mehr und mehr die Backen auf, sein Gesicht verzerrte sich, und die Augen gerieten schließlich zu Schlitzen, sodass Stuck eines Tages empört sagte: „Zieh es aus! Du machst ja eine Fratze aus ihm. Das will ich nicht!“

„Aber es ist so schön bequem“, meinte Vera.

„Wenn schon. Kauf dir ’ne Umstandsbluse oder zieh meinetwegen ein Hemd von mir an. Aber damit läufst du nicht mehr rum.“

Murrend hatte sie sich von Stucks Trikothemd getrennt, es am nächsten Tag gewaschen und wieder in den Schrank gelegt.

Stuck denkt an diese Zeit zurück. Er erinnert sich so genau, als habe sich alles erst gestern zugetragen. Im Februar hatte er seinen letzten Urlaub gehabt. Ende April war er in die Reserve versetzt worden, wie es offiziell hieß. Am Tag der Entlassung traf er erst viel später als vereinbart in Brückstedt ein, weil er mit zwei Genossen ausgiebig ihre Rückkehr ins zivile Leben gefeiert hatte. Er hoffte auf Veras Verständnis. Die paar Stunden kann sie doch verschmerzen, dachte er, rechnete auch nicht damit, sie am Bahnhof zu treffen, immerhin hatte er mehrere Züge abfahren lassen, und sie konnte nicht wissen, wann er endlich ankommen würde.

Doch genau das Gegenteil trat ein - sie stand am Ende des Bahnsteigs, zeigte für seine Verspätung jedoch kein Verständnis. Das sah er ihr sofort an, denn auf ihrem Gesicht war nicht einmal ein zaghafter Ansatz zu einem Lächeln zu erkennen. Ihre Begrüßung fiel so kurz und alltäglich aus, als hätten sie sich erst am Morgen getrennt.

Stuck war enttäuscht und augenblicklich nüchtern. Den Bikini, den sie sich schon so lange gewünscht und den er als Geschenk für sie in seiner schwarzen Tasche hatte, holte er nicht hervor, obwohl er sich seit Tagen diesen Augenblick vorgestellt hatte - so ganz nebenbei wollte er das Päckchen auf den Tisch legen und sich dann an ihrer kindlichen Erregung sattsehen Ihre Finger würden nicht schnell genug das Band lösen können, sodass sie schließlich bitten müsste: Sag schon, was es ist, Stuck! Und endlich hätte sie das Geschenk aus dem Papier gehüllt, würde ihm in ihrer Freude um den Hals fallen und sagen: Ich probiere ihn gleich mal an ... Dann käme der ersehnte Augenblick, da er sie ganz langsam und vorsichtig aus dem neuen Stück befreien würde ...

Statt dessen schmiss er seine schwarze Tasche achtlos in die Ecke, setzte sich an den Tisch und fragte nach Bier, mit dem er seine Enttäuschung hinunterspülen wollte.

„Hast du denn noch nicht genug?“, tadelte ihn Vera, die in der Tür stehen geblieben war, als wollte sie das Penthouse gleich wieder verlassen.

„Nein“, erwiderte er. „Wenn du mich mit diesem Griesgramgesicht empfängst, muss ich noch was trinken. Hast du was?“'

Wortlos ging sie ins Hinterzimmer und kehrte mit einem Korb voller Bierflaschen zurück, den sie wütend auf den Tisch stellte.

„Reicht das?“

„Was ist denn eigentlich los?“, fragte Stuck und schob seine Hand über den Tisch. Seine versöhnende Geste fand auch dieses Mal keine Beachtung. Zornig stand er auf. „Ja, ich habe was getrunken. Mit zwei Freunden. Ist das so schlimm? Was glaubst du, wann die zu Hause sein werden! Und dann voll wie …“ Er winkte ab. „Dass du so kleinlich bist, habe ich nicht gedacht.“ Er lief um den Tisch herum und stellte sich dann vor Vera hin. „In Schutz genommen habe ich dich, als sie lästerten: ‚Deine Alte wird dir ganz schön die Hölle heiß machen, wenn du mit einer Fahne von der Fahne kommst. Die hat sicher schon die Bettdecke aufgeschlagen und wartet auf ihren lieben Stuck.‘“ Er stieß sie an, weil sie noch immer einer Statue glich. „Meine“, habe ich gesagt, „versteht das, die ist nicht so, die ...“

„Stuck“ , sagte Vera, „es ist ja nur, weil ich dir was zu sagen habe.“

„Bitte!“ Er nickte und machte eine großzügige Geste. „Darauf warte ich schon seit ‚ner halben Stunde.“

„Darauf nicht.“

„Nun mach es nicht so spannend. Haben wir im Lotto gewonnen?“

„Ich bin schwanger, Stuck, das ist es.“

Was habe ich eigentlich darauf geantwortet? fragt er sich jetzt. Obwohl er sich sonst an alles ganz genau erinnert, an dieser Stelle gibt es einen Riss. Konnte ich überhaupt antworten? Gedacht habe ich wohl, dass sie mich reingelegt hat. Ausgemacht war zwischen uns, dass erst ein bisschen Geld ins Haus kommen müsste.

Irgendwann an diesem späten Abend fragte er sie jedenfalls, ob sie die Pille absichtlich vergessen habe, da saß Vera bereits neben ihm auf der Couch, die ihnen Veras Freundin Elke bei ihrem Auszug aus dem Penthouse vererbt hatte.

Seine Frage sollte eine Brücke sein auf dem Weg zu ihr. Wie könnte sie denn so dumm sein, es absichtlich zu machen, hatte er gedacht. Wir haben nichts, wir sind nichts ... In diese miese Lage gehörte doch kein Kind, darin waren sie sich einig.

Aber dann antwortete Vera: „Stimmt, Stuck, ich konnte nicht anders.“

Er weiß, dass ihn ihr Geständnis von der Couch hochschnellen ließ, als hätte ihn eine Sprungfeder durch den zerschlissenen Bezug getroffen. Er ging zum Tisch, öffnete hastig eine Flasche und stürzte das Bier hinunter, als wäre er soeben aus der Wüste heimgekehrt und kurz vorm Verdursten. Wozu haben wir Pläne gemacht, hatte er gedacht. Jeder Plan ein Kartenhaus, und nicht eins nach dem anderen stürzt ein, sondern alle zugleich.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, rief er so laut, dass Mahnke im Vorderhaus keine Mühe haben würde, ihn zu hören. „Du hast mich reingelegt, ist dir das klar? Was hatten wir denn ausgemacht?“

„Schrei nicht so, Stuck, das geht doch nur uns beide an.“

„Richtig, uns beide. Aber was hast du gemacht? Schicksal gespielt und mich überhaupt nicht gefragt." Er griff zur nächsten Flasche. „Das ist ’ne schöne Grundlage für ein gemeinsames Leben! Keine Spur Vertrauen, nichts ...“

„Ich konnte nicht anders, Stuck.“

„Ach was, du konntest nicht anders ... Was soll denn das heißen?“

„Seit Elke mit der Kleinen weg ist, Stuck, bin ich ... Wie soll ich dir das bloß beschreiben? Krank bin ich, richtig krank ... Und wenn ich dann abends nach Hause komme ...“

„... hast du mich“, fiel er ihr ins Wort. „Oder zähle ich schon nicht mehr?“

„Komm her, Stuck, setz dich zu mir. Sag so was Dummes nicht wieder.“

Er folgte ihrer einladenden Geste tatsächlich, setzte sich allerdings in die andere Ecke der Couch und glaubte, mit dem Abstand seine Haltung zu wahren. Aber Vera rückte zu ihm, legte sich seinen Arm um die Schultern und sah Stuck an. „Deswegen war ich so enttäuscht, als du heute ewig nicht kamst. Zu jedem Zug bin ich gelaufen. Diesmal bestimmt, habe ich gedacht, diesmal kommt er ... Ich musste es doch unbedingt loswerden, Stuck.“ Sie strich mit dem Handrücken über seine Wange. „Kannst du dich nicht ein bisschen freuen?“

Er schüttelte den Kopf, stellte jedoch erstaunt fest, dass seine Wut so schnell verflogen war wie Äther an der Luft.

„Lass nur“, meinte Vera, „das kommt schon noch. Wenn du dich erst an den Gedanken gewöhnt hast ...“

„Seit wann?“ fragte er. „Seit Februar?“

Sie nickte. „Ich bin schon beim Arzt gewesen.“

„Wenn schon.“

„Interessiert dich nicht, ob alles in Ordnung ist?“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja.“

Er erinnert sich, dass er in jenem Augenblick die Vorstellung hatte, nun nicht mehr mit Vera schlafen zu können. Er wusste, dass dieser Gedanke unsinnig war, aber er konnte einfach nicht glauben, dass er wie bisher mit ihr ... Würde nicht immer etwas zwischen ihnen sein? Und könnte dieses kleine Etwas, das da in ihr wuchs, es überhaupt ohne Schaden überstehen? Aber er wagte nicht, davon zu sprechen, weil er Veras Lachen fürchtete. Heinz Stuckmann, du wirst zweiundzwanzig, könnte sie sagen, aber deine Gedanken sind wie die eines Jugendweihlings ...

Sie gingen danach bald ins Bett, und Stuck betastete Veras Bauch und legte sein Ohr darauf, aber Vera meinte lachend: Jetzt spürst du doch noch nichts ...

Danach war es nicht anders als sonst, nur ihre Brüste fühlten sich jetzt praller und größer an und passten viel besser in seine ausgearbeiteten Hände.

„Frau Stuckmann!", jemand rüttelt Vera an der Schulter, mühsam reißt sie die Augen auf. Eine Schwester steht im Lichtstrahl, der durch die offene Tür vom Flur hereinfällt, neben ihrem Bett. „Ich soll Sie von Ihrem Mann grüßen!“

„Hat er angerufen?"

„Angerufen? Sie kennen wohl Ihren Mann nicht? Er war hier, hat plötzlich vor der Stationstür gestanden. Ich frage mich, wie er unten durch die Pforte gekommen ist, obwohl ,die Eiserne‘ Dienst hat.“

„Doch, ich kenne ihn", erwidert Vera lächelnd und schließt die Augenlider wieder, die so schwer sind, als würden Bleiplatten sie niederdrücken.

Sie weiß nicht, wer die Eiserne ist, aber sie kann noch so hart sein, gegen ihren Stuck kommt sie nicht an. „Danke“, sagt sie und fragt dann: „Haben Sie ihm gesagt, dass es ein Junge ist?“

„Ich durfte es eigentlich nicht. Aber ich war so durcheinander, weil er mitten in der Nacht vor der Station stand. Er hat sich mächtig gefreut und Grüße an Sie ausgerichtet.“

„Danke. Schwester!“

Vera hört die Zimmertür zuschnappen und hat mit einem Mal das Gefühl zu fallen. Aber ohne jede Angst. Sie fällt und fällt, aber sie weiß, dass irgendwo Stuck stehen und sie auffangen wird.

Ein Junge, und ihr Stuck war schon hier. Mitten in der Nacht. Vor der Stationstür. Wie spät ist es? Aber die Bleiplatten auf ihren Lidern lassen nicht zu, dass sie die Augen aufschlägt, und die andere Frau, die noch alles vor sich hat, scheint fest zu schlafen. Was kümmert sie auch die Uhrzeit? Die ist jetzt nicht wichtig.

Ob der Kleine schläft? Im Film können auch die Mütter nach der Entbindung schlafen. Warum gelingt es ihr nicht? Sie muss sich doch jetzt erholen …

Morgen früh darf Stuck bestimmt zu ihr kommen, dann lässt er sich natürlich auch Thomas zeigen und wird staunen, wie niedlich der schon ist. Die kleinen Runzeln sind wahrscheinlich schon weg. Stuck wird angestrengt nach Ähnlichkeiten forschen. Wie sie ihn kennt, ist er sicher stundenlang vor der Klinik auf und ab gelaufen. Wie hat er es nur geschafft, mitten in der Nacht bis vor die Stationstür zu gelangen? Hat er der Eisernen einen Zwanziger durch das Fensterchen geschoben? Oder Pralinen? Unsinn, woher sollte er mitten in der Nacht Pralinen haben? Das wäre auch nicht Stucks Art. Viel eher traut sie ihm zu, einfach über die Mauer gestiegen zu sein, nachdem ihn die Eiserne abgewimmelt hat.

Hoffentlich ist es bald Morgen.

Also ist ihr die Uhrzeit doch nicht so gleichgültig, wie sie noch vor Augenblicken glaubte? Am Morgen wird sie ihren Thomas zu sehen bekommen, sogar in den Arm darf sie ihn dann nehmen, und zu stillen versuchen. Bekommt die Frau nebenan ihr Kind gar nicht erst zu sehen, weil sie diese Erklärung unterschrieben hat? Schrecklich! Wie kann eine Mutter bloß erklären, noch dazu schriftlich, ihr Kind weggeben zu wollen?

Vera richtet sich schwerfällig auf und blickt zu dem anderen Bett hinüber; die Frau hat sich schon lange nicht bewegt. Ob sie schläft?

Lieber sterben, als das eigene Kind weggeben, denkt Vera und lässt sich wieder ins Kissen zurücksinken. Ob sie vielleicht keinen Mann hat? überlegt Vera. Sie ist nicht mehr jung. Kann das der Grund sein? Trotzdem ... Wenn sie sich vorstellt, die Klinik ohne Kind verlassen zu sollen ... Und wenn Thomas nun im Babyzimmer von einer Schwester vertauscht wird? Was dann?

Dieser schreckliche Gedanke verschafft Vera so viel Energie, dass sie sich nochmals ruckartig aufrichten kann. Die Bleiplatten scheinen von den Lidern herabgefallen zu sein. Ob so eine Verwechslung schon mal vorgekommen ist? Soll sie die freundliche Schwester rufen und fragen? Die würde sie ganz bestimmt auslachen.

Vera legt sich wieder zurück und schließt die Augen. So ein Unsinn! Das kann doch überhaupt nicht passieren! Es gelingt ihr, den schrecklichen Gedanken schnell zu verdrängen. Mit geschlossenen Augen erkennt sie genau, was in einer Woche sein wird - dann steht Stuck nämlich wieder vor der Stationstür und nimmt sie und Thomas in Empfang. Auf dem Klinikhof wartet inzwischen das Taxi ...

Sein komischer Stolz! Als es so weit war, hätte er am liebsten ein Taxi in die Lindenstraße gerufen. Vom Krankentransport wollte er absolut nichts wissen.

Sie hatte lange versucht, sich nichts anmerken zu lassen, den ziehenden Schmerz atemlos überwunden und dabei Stuck beobachtet, der am Tisch saß und eine Zeitung nach der anderen in die Hand nahm - er hoffte, ein günstiges Wohnungstauschangebot zu finden und kam darum jeden Tag mit einem dicken Packen Zeitungen nach Hause. Vera hatte bisher gar nicht gewusst, dass es allein in ihrem Bezirk so viele verschiedene Zeitungen gab.

Einmal muss Stuck hochgesehen haben. Dabei hat er ihre Atemlosigkeit und das schmerzverkniffene Gesicht bemerkt. Die Zeitung fiel ihm aus der Hand, und gleich darauf stand er schon bei ihr an der Couch. „Was ist, Vera? Geht es etwa los?“

Nachdem sie sich von dem Schmerz erholt hatte, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Ist schon vorüber.“

Er sah sie zweifelnd an. „Schwindele nicht. Wirklich vorüber? Oder soll ich jetzt losrennen?“

„Nein, warte! Wir müssen die Abstände der Wehen wissen. Danach fragen sie in der Klinik. Das will auch der Krankenfahrer wissen.“

„Krankenfahrer?“, erwiderte Stuck empört. „Ich besorge ein Taxi!“

„Bist du dumm? Willst du das schöne Geld zum Fenster rauswerfen? Kommt gar nicht infrage! Wozu bezahlen wir denn Sozialversicherung?“

„Du kennst doch die Lindenstraße. Wenn hier der Krankentransport hält, stehen sofort alle Leute an den Fenstern.“

„Sollen sie doch! Ich krieg ’n Kind, Stuck, was ist dabei? Ich hab doch nicht irgendeine ansteckende Krankheit.“

Er gab sich schnell zufrieden, setzte sich wieder an den Tisch und nahm die Zeitung erneut zur Hand. Vera spürte jedoch seinen Blick, der sie belauerte - sollte dieses Mal zufällig eine günstige Anzeige veröffentlicht sein, würde er sie ganz bestimmt übersehen.

Vera erschrak, als es plötzlich feucht zwischen ihren Beinen wurde, und bevor sie noch etwas sagen konnte, sprang Stuck schon wieder auf. Offenbar hatte ihr Gesichtsausdruck sie verraten.

„Schon wieder? Dann laufe ich jetzt los.“

„Die Fruchtblase ist gesprungen, Stuck. Jetzt musst du gehen. Aber mach bloß nicht die Pferde scheu!“

Hinterher wunderte sie sich, dass ihr ausgerechnet dieser Spruch eingefallen war, den ihre Mutter manchmal im Streit mit dem Vater gebraucht hatte. Wie war sie nur daraufgekommen? Sollte Stuck ihren Eltern eigentlich Bescheid geben, wenn es vorüber war? Vielleicht wollte ihre Mutter gar nicht wissen, dass und wann sie Oma geworden war?

Als sie ihrer Mutter vor einigen Wochen zufällig in der Stadt begegnet war, hatte diese sie von oben bis unten abfällig gemustert. „In deinem Zustand steckst du in Jeans?“, sagte sie vorwurfsvoll. „Du willst dein Kind wohl schon im Mutterleib ersticken?“

Am liebsten hätte Vera die Jacke aufgeknöpft, Stucks Hemd, das sie trug, hochgehoben und der Mutter die Gummilitze gezeigt, mit der sie den Hosenbund überm Bauch erweitert hatte. Sie und ihr Kind ersticken! Was wusste diese Frau, die ihre Mutter war, eigentlich von ihr?

„Na ja“, hatte die Mutter dann gesagt und sich nach den Passanten umgeblickt, als schämte sie sich, mit Vera gesehen zu werden, „wer in Jeans heiratet und mit dem Motorrad zum Standesamt fährt, schreckt wohl vor nichts zurück.“

Vera wusste, woher der Wind wehte - in Brückstedt war dieses Ereignis natürlich zur Sensation hochgespielt worden: Mit dem Motorrad zum Standesamt! Und die Braut in Jeans!

Ihre Mutter fühlte sich offenbar von dem Stadtklatsch persönlich betroffen. Obwohl seit der Heirat schon Monate vergangen waren, musste sie nun unbedingt noch darauf anspielen. Ach, dachte Vera, soll sie doch ...

Mit den Worten: „Ich laufe gleich zu Mahnke zum Telefonieren!“, hatte Stuck das Penthouse verlassen, und Vera dachte: Ausgerechnet zu Mahnke, mit dem er sich sonst immerzu streitet. Warum nicht in die Kneipe vorn an der Ecke?

Plötzlich kam sie sich einsam vor. Als wäre Stuck für ewig fortgegangen.

Sie verließ ihren Platz und holte ihren Koffer aus dem Hinterzimmer. Damit hatte Stuck sie schon vor einigen Wochen überrascht. Zur Entbindung, meinte er, sollte sie nicht mit der schäbigen schwarzen Reisetasche losgehen, die er als Soldat benutzt hatte.

Sie verkniff sich ein Lächeln. Glaubte Stuck etwa im Ernst, sie könnte womöglich die Babywäsche in seine schmutzige Soldatentasche stecken?

Noch am selben Abend packte sie den Koffer und verstaute darin besonders sorgfältig die Sachen für das Kind. Mit ihren eigenen Nachthemden und Handtüchern gab sie sich weniger Mühe. -

Keuchend kehrte Stuck zurück. Zwischen zwei heftigen Atemstößen sagte er, der Krankentransport würde gleich hier sein.

„Du hattest recht“, meinte er, nachdem sein Atem ruhiger geworden war, „die haben wirklich wissen wollen, wie groß die Abstände sind und ob es das erste Kind ist.“

Er ging ins Hinterzimmer und kehrte mit den Jacken zurück.

„Kommst du denn mit?“, fragte Vera und musste sich darauf seinen empörten Blick gefallen lassen.

„Was denn sonst?“

Schon eine halbe Stunde später standen beide vor dem Guckkastenfenster am Eingang der Klinik. Stuck wollte sich aufregen, als die Frau sie aufforderte, in den Aufnahmeraum zu kommen. „Es geht doch gleich los!“, sagte er aufgebracht, aber Vera und die Frau hinter dem Fenster konnten ihn beruhigen.

„Hier vorn hat noch keine ihr Kind bekommen“, meinte die Frau lächelnd.

Dann konnte er endlich an der Stationstür klingeln. Er trippelte auf der Stelle, während Vera sich an die Wand lehnte und die sich ankündigende Wehe erwartete. „Wie lange dauert das bloß!“, sagte Stuck, schon im Begriff, erneut zu klingeln, als hinter der Milchglastür ein Schatten sichtbar wurde. „Endlich!“

Die Schwester nahm ihm den Koffer ab und hakte Vera unter. „Verabschieden Sie sich!“, forderte sie Stuck auf.

„Hier?", fragte er erstaunt.

Die Schwester lächelte. „Auf der Station können wir Sie nicht gebrauchen, junger Mann. Sie haben getan, was Sie konnten. Das hier ist jetzt unsere Sache.“

Die Tür klappte zu, und Stuck verschwand hinter dem Milchglas, wo Vera nichts mehr erkennen konnte, obwohl sie sich noch mehrmals umwandte.

Vom Gelände der Klinik streckten einige Kastanienbäume ihre leeren Zweige über die Feldsteinmauer auf die Straße hinüber, und einen Augenblick lang hatte Stuck daran gedacht, auf einen der Bäume zu klettern und dann von der Mauer auf die Straße zu springen. Aber warum sollte er sich um die Freude bringen, das Gesicht die Pförtnerin zu sehen, wenn er quietschvergnügt die Tür der Anmeldung öffnen und höflich bitten würde, ihn auf die Straße hinauszulassen?

Er wurde dann auch nicht enttäuscht. Nicht nur das Gesicht der Frau, auch ihre Sprachlosigkeit amüsierte ihn. Die Pförtnerin, die noch immer mit Stricken beschäftigt war, musste zunächst mehrmals kräftig schlucken, bevor sie in der Lage war zu fragen: „Wo kommen Sie denn her?“

„Von der Entbindungsstation“, erwiderte er ehrlich und freundlich. „Meiner Frau geht es gut, Sie brauchen nicht nachzufragen. Wir haben einen Sohn. Können Sie gleich auf Ihrer Liste vermerken. Thomas heißt er. Ich weiß nicht, ob das für Sie wichtig ist.“

„Das wird ein Nachspiel haben“, sagte die F’rau und wandte sich ihrer Liste zu. „Wie war doch Ihr Name?“ Stuck sagte es ihr und bat sie gleich noch einmal, ihm die Tür zur Straße zu öffnen.

„Zehn Jahre sitze ich schon hier, aber das ist bis jetzt noch nicht vorgekommen. Wie sind Sie denn hinein? Etwa über die Mauer?“

„Nee, doch nicht über die Mauer! Sehe ich vielleicht wie ein Einbrecher aus?“

Die Frau wartete auf seine Erklärung. Da kannst du aber lange warten, dachte Stuck. Wenn du selbst nicht daraufkommst, bist du tatsächlich ’ne dumme Kuh. Kann sie sich wirklich nicht vorstellen, dass man durch das geöffnete Tor schlüpfen kann, wenn gerade ein Krankenfahrzeug hineinfährt, hinter dem man sich dann verbirgt, ohne vom Guckkastenfenster aus gesehen zu werden? Komisch, dass vor ihm noch keiner auf diese Idee gekommen sein soll!

„Sie wollen es also nicht sagen? Gut, dann muss ich dem Chefarzt ’ne Meldung machen.“

„Machen Sie“, erwiderte Stuck, „meine Personalien haben Sie, die hat Ihre Kollegin, die so freundlich ist, gestern Abend aufgeschrieben. Aber jetzt möchte ich raus.“

Offensichtlich wusste die Frau, die ihn vorher so eisern abgewiesen hatte, nicht, was sie tun sollte. Aber dann entschloss sie sich endlich, auf einen Knopf am Rand ihres Schreibpults zu drücken. Stuck vernahm ein leises Summen, und neben ihm sprang die schmale Tür auf, die ihm am Abend so beharrlich den Eintritt verwehrt hatte.

Stuck läuft durch seine Stadt, die er von kleinauf kennt, und hat das Gefühl, Schritt für Schritt Neues zu entdecken. Der Springbrunnen vor der Brückstedter Lokalredaktion der Bezirkszeitung ist jetzt, im November, abgedeckt. Wird das in jedem Winter gemacht? Von der Gaststätte auf der anderen Straßenseite weht der Geruch von verbranntem Fett herüber. Ist der ihm auch früher schon einmal aufgefallen? Hinter der ersten Flussbrücke, deren Geländer nebelfeucht ist, der Jugendklub, in dem er früher seine Diskotheken veranstaltet hat. Hier lernte er Vera kennen, und hier haben sie auch ihre Hochzeit gefeiert.

Stuck bleibt vor dem Jugendklub stehen und starrt auf dessen Fassade wie auf eine große Leinwand, auf der ein Film abläuft: Er erkennt die Disco und bemerkt Vera, die jedoch nicht wie die anderen tanzt, sondern heimlich den Discjockey in dem Trikothemd mit dem Che-Guevara-Kopf auf der Brust beobachtet.

Junge, ruft er ihm in Gedanken zu, sieh dich doch mal um! Er ist fast empört, weil die Filmgestalt Stuck nicht auf seinen gut gemeinten Rat reagiert. Was ist denn mit dir los? Das Mädchen lässt dich nicht aus den Augen, aber du hast rur die Musik und deine Platten im Sinn ...

Er ist froh, als sich Vera endlich zu dem Discjockey begibt, wobei sie sich mit kräftigen Hand- und Armbewegungen zwischen den Tanzenden hindurchwindet, als befände sie sich als einsamer Schwimmer in wogender See. Sie bleibt dann vor Stuck stehen, stemmt eine Hand in die Hüfte und fragt: „Tanzt du eigentlich nie?“

Mit dieser Frage hatte alles begonnen.

Wie wäre sein Leben bis heute verlaufen, wenn Vera ihn nicht angesprochen hätte? Gar nicht auszudenken, meint Stuck. Er kann sich nicht vorstellen, ohne Vera er selbst zu sein. Ohne sie ... Nein, dann wäre er jetzt ganz bestimmt ein anderer.

Wenn er noch wie früher den Schlüssel zum Klub besitzen würde, könnte er jetzt hineingehen, die Lichtorgel einschalten und eine Platte auflegen ... Wenn er nur wüsste, welche Vera damals immerzu hören wollte ... David Dundas? Richtig! „Jeans On“. Heute längst ein Oldy, der keinen mehr vom Stuhl reißt. Aber damals ... Vera war ganz verrückt danach und konnte die Platte immerzu hören.

Von diesem Tag an begleitete sie ihn zu jeder Disco; zuerst schien es ihr nichts auszumachen, entweder nur dabeizustehen oder manchmal mit anderen tanzen zu müssen, weil er seine Phonobar nur selten verließ. Aber später spürte er dann ihren Unwillen, den er jedoch nicht ernst nehmen wollte. Um so erstaunter war er, als sie eines Abends einfach von der Disco weglief und nicht zurückkehrte.

In ihrer Wut verkroch sie sich in einer Gartenlaube, die ihr noch aus einer Zeit bekannt war, in der sie ...

Stuck erinnert sich nicht gern daran, hat aber viel Zeit in dieser Nacht ... Wenn diese Gedanken ihn sonst bedrängen wollten, stieß er sie stets wieder in die Tiefe zurück - er mochte sich nicht damit beschäftigen. Aber heute würden sich seine Erinnerungen jedem Versuch, ihnen wiederum auszuweichen, hartnäckig widersetzen, das spürte Stuck.

Vera war vor ihrer Begegnung in der Disco mit einem windigen Typ gegangen, der Egon genannt wurde und eine Bande anführte. Mit ihren Motorrädern machten sie die Stadt und die Umgebung unsicher, plünderten Lauben und stiegen nachts in Kaufhallen ein ... Noch heute kann sich Stuck nicht erklären, was Vera an diesem Egon gefallen hat. Ähnlichkeit mit Belmondo will sie bei ihm festgestellt haben? Hatte sie sich etwa deshalb zu diesem Einbruch anstiften lassen? Oder womit war es ihm gelungen, sie zu seiner Komplizin zu machen? Ist sie einfach zu gleichgültig gewesen, um nachzudenken, und hat alles an sich herankommen lassen? Wollte sie auf diese Weise vielleicht gegen ihre Eltern und deren wohlgeordnetes Leben, das sie lange genug auch von ihr verlangt hatten, protestieren?

Eines Tages jedoch hat sich Vera aus eigener Kraft von Egon und seiner Bande befreit; das rechnet ihr Stuck hoch an, denn einfach wird es ihr der Typ nicht gemacht haben, von ihm wegzukommen. Das war bald nach dem Einstieg in die Kaufhalle. Wahrscheinlich hatte sie damals gespürt, überlegt Stuck, wenn sie den Absprung jetzt nicht wagte, dann womöglich nie mehr ...

Nach ihrer Trennung von Egon kam sie dann in den Klub ... Warum verkroch sie sich ausgerechnet in der Laube, dem heimlichen Treffpunkt ihrer früheren Bande, sodass eine nochmalige Begegnung Veras mit der Bande unvermeidlich war. Der Chef, Veras früherer Freund, wollte nun natürlich alles von ihr wissen, und irgendjemand flüsterte ihm dann auch zu, dass Vera jetzt mit dem Discjockey aus dem Jugendklub ginge. Daraufhin fiel die gesamte Bande in den Jugendklub ein und zettelte während einer Diskoveranstaltung eine wilde Schlägerei an, um ihn, Veras neuen Freund, spüren zu lassen, wer über die „stärkere“ Macht verfügte ... Sturzhelmbewehrt schlug die Bande um sich, und erst der vereinten Übermacht der Discobesucher gelang es, die Störenfriede zu vertreiben, die dann aber ihm, Stuck, auflauerten, als er Vera in der Nacht in die Lindenstraße begleiten wollte. Vera war es schließlich gelungen, die Polizei zu verständigen, die Egon und seine Bande, aber auch ihn, Stuck, ins Kreisamt brachte, das er jedoch am anderen Morgen wieder verlassen durfte.

Eine kleine Narbe auf Stucks Stirn erinnert an seinen Kampf mit dem Anführer der Bande, den sein Integralhelm geschützt hatte.

Nach diesem Überfall gestand Vera endlich: „Ich muss dir was sagen. Das ist nämlich alles meine Schuld ...“ Und Stuck erinnert sich, damals gedacht zu haben, Vera wäre vielleicht unter die Märchenerzähler gegangen. Er war maßlos von ihr enttäuscht.

Warum hatte sie so lange geschwiegen? Glaubte sie vielleicht, so etwas könnte ihm für immer verborgen bleiben?

Was hat sie sich damals dabei gedacht? fragt sich Stuck. Wollte sie zu Egon zurückkehren, weil er, Stuck, sich zu wenig um sie kümmern konnte?

Oder hatte sie sich geschämt?