7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €
„Weil ich endlich leben will, wie es mir gefällt!“, sagt Vera. Sie hat ihr Elternhaus verlassen, um der Enge sowie der Aufsicht ihrer uneinsichtigen Eltern zu entkommen, die fürchten, mit ihrer ‚aufmüpfigen’ Tochter unangenehm aufzufallen und dem eigenen Ansehen zu schaden. In einem abrissreifen Hinterhaus der Kleinstadt findet Vera Unterschlupf und trifft in einer Diskothek auf Stuck, der dort in seiner Freizeit Platten auflegt. Er sträubt sich gegen das Vorhaben seiner Eltern, ihn auf die Schauspielschule zu schicken. Er zieht zu Vera, die sich um das Kind ihrer Freundin kümmert, denn gern wäre sie Erzieherin geworden. Aber ihrer Zeugnisse wegen hatte man sie abgelehnt. Im ständigen Widerstreit mit der Gesellschaft der Erwachsenen, die sie nach ihrer Lebensauffassung formen will, versuchen Vera und Stuck ihren Platz zu finden und sich zu behaupten. Trotz schmerzhafter Erfahrungen entscheiden sie selbstbewusst über ihren Lebensweg. „Ich bin wie eine Klette!“, sagt Vera zu Stuck. „Mich wirst du nie wieder los!“ Auch Stucks Einberufung zur Armee wird daran nichts ändern. Lebensgeschichten junger Leute aus den achtziger Jahren in der ostdeutschen Provinz. Das Buch erschien erstmals 1980 beim Verlag Neues Leben Berlin.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2012
Siegfried Maaß
Lindenstraße 28
ISBN 978-3-86394-235-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1980 bei Verlag Neues Leben, Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Das Haus ist ein griesgrämiger dreistöckiger Kasten aus der sogenannten guten alten Zeit und steht in einer von großen Linden gesäumten Straße der Brückstedter Altstadt.
Stuck bekommt jedes Mal schlechte Laune, wenn er mit seinem Fahrrad in die Lindenstraße einbiegt und schließlich vor Nummer 28 anhält. Das Haus hat hohe schmale spitzbogige Fenster, die Stuck wie Schießscharten einer mittelalterlichen Burg vorkommen. Sobald die Linden ihre Blätterfülle entfalten, dringt kaum Tageslicht in die Wohnungen. Hoch und schmal ist auch die Haustür, und will Stuck mit seinem Fahrrad hindurch, muss er erst die verriegelte Hälfte öffnen und darf nicht vergessen, die unverriegelte zuvor mit einem Haken an der Wand zu befestigen, denn sie ist mit einem Mechanismus versehen, der jeden zur Eile drängt: "Sotu schließt selbst".
Früher soll es verboten gewesen sein, sein Fahrrad durch den Flur zu führen, früher, als es noch einen Hauswirt gab, der an jedem Monatsersten das Mietgeld kassierte. Heute trägt man es auf die Bank oder die Sparkasse, wo man es auf ein Konto einzahlt, das der KWV gehört. Was die mit dem Geld macht, weiß Stuck nicht, er sieht nur, dass sie es nicht für das Haus verwendet, sonst hätten die Fenstersimse längst neue Bleche erhalten, und die Blatternarben in der Fassade wären wenigstens verputzt worden.
Wenn Sotu-schließt-selbst tätig geworden ist, befindet sich Stuck mit seinem Fahrrad bereits in dem schmalen Flur, den er am anderen Ende durch eine enge Tür wieder verlässt, denn er muss erst den Hof überqueren, um sein Ziel zu erreichen. Dort, im Schatten des Vorderhauses, klebt an der das Grundstück Nummer 28 abschließenden Backsteinmauer ein kleines einstöckiges Haus, das einmal als Lager für einen Lebensmittelladen errichtet worden war. Dieser hatte sich im Vorderhaus befunden und dient längst als Wohnraum, wie das ehemalige Lager auch. Gelingt es der Sonne manchmal doch, einige Strahlen durch das Blätterdach der Linden zu zwängen und das Innere des Vorderhauses vorübergehend zu erhellen und zu wärmen, so ist das kleine Hinterhaus in dieser Beziehung noch mehr vernachlässigt, weil es von allen Seiten eingeschlossen ist und Sonne noch seltener zu spüren bekommt. Es bietet jedoch seinen Bewohnern den nicht zu unterschätzenden Vorteil, unter sich sein zu können. In diesem Penthouse, wie es Stuck gleich zu Anfang getauft hat, wohnen Vera, Stucks Freundin, und Elke, die Veras Freundin ist. Auch sie haben bisher Geld auf das Konto der KWV gezahlt, aber Stuck hat damit Schluss gemacht. Eines Abends hatte er die Festbeleuchtung im Penthouse eingeschaltet, beide Fenster weit aufgerissen und laut den Bewohnern des Vorderhauses verkündet, dass aus dem Penthouse kein Pfennig mehr auf das Konto der KWV fließen würde, solange die Bürokraten dort nichts für das Penthouse tun würden. Für diese vermieften und kaputten Buden sollten auch sie dort im Vorderhaus kein Geld mehr zum Fenster rausschmeißen. Dann hatte er sich umgewandt und mit ausgestreckten Armen auf das Innere des Penthouse gewiesen, wo Putz von der Decke rieselt, sobald man nur die Tür zuklappt, wo die verblichene Tapete in den Ecken mit Reißzwecken festgehalten werden muss, weil die salpeterhaltigen Wände sich gegen die Papierverkleidung sträuben, und wo die Lichtleitungen schwungvoll herabhängen. Und in diesem Sommer, der einer afrikanischen Regenzeit gleicht, können die morschen Fensterrahmen die auf sie stürzenden Fluten nicht aufhalten, so dass es fast jeden Tag eine Überschwemmung im Penthouse gibt.
Nachdem Stuck den unsichtbar gebliebenen Bewohnern des Vorderhauses dies alles hinübergeschrien hatte, beruhigte er sich bald, nur an das Mietgeld durfte ihn keiner erinnern, dann flammte seine Wut gleich wieder auf. Jeden Monat 21 Mark, und Elke wohnte nun schon über zwei Jahre hier! Die machen sich damit vielleicht einen Fetten oder staffieren damit für andere erstklassige Komfortwohnungen aus. "Ab sofort wird das Geld verprasst, Mädchen, da machen wir lieber 'ne tolle Fete von. Die von der KWV müssen euch überhaupt dankbar sein, dass ihr diese Bude bewohnt! Draufzahlen müssten sie euch noch was, Gefahrenzulage und was weiß ich noch alles."
Vera hatte hinter ihm vor Vergnügen gekreischt, während ihn Elke aufforderte, mit seiner Vorstellung Schluss zu machen. Im Vorderhaus hatte man schnell die Fenster geschlossen, aber Stuck war natürlich klar, dass die Leute hinter den dunklen Scheiben standen und herübergafften. Sollen sie nur, die Fettbäuche! Aber er hatte dann die Fenster wieder geschlossen, weil es stärker zu regnen begann und ihm Elke keine Ruhe ließ. Also gut, Schluss der Vorstellung! Stuck schaltete auch die Festbeleuchtung aus und ließ nur die kleine Stehlampe neben dem Fenster an, die er wegen ihres roten Schirms scherzhaft "rote Laterne von Sankt Petri" genannt hat, weil sich am Ende der Lindenstraße die Kirche gleichen Namens befindet. Aber diese "rote Laterne" kann keine Besucher ins Penthouse locken, weil das große Vorderhaus es völlig verdeckt und kein noch so winziger Schein roten Lichts zur Straße dringen kann. Es hätte auch kaum etwas genützt, weil der Dicke aus der ersten Etage, der sich sonst um nichts weiter im Haus kümmert, immer halb acht die Haustür abschließt. Es kann Sommer oder Winter sein, halb acht schlurft der Dicke hinunter und schließt die Tür ab. Manchmal schleicht Stuck, sobald der Dicke in seiner Wohnung verschwunden ist, über den Hof und schließt mit Elkes Schlüssel wieder auf, wenn er zum Beispiel Johannes, mit dem er im Fruchthof im Bananenkeller arbeitet, ins Penthouse eingeladen hat.
Einmal hatte es Stuck zu eilig gehabt, da war der Dicke noch nicht wieder in seiner Wohnung. Kaum hatte Stuck den Schlüssel herumgedreht, tauchte der Dicke schnaufend auf dem Treppenabsatz auf und drohte mit erhobener Faust. "Sofort schließen Sie wieder zu!"
Stuck starrte auf die Hand, die der Dicke noch immer nicht sinken ließ; es schien ihm, sie müsse nun immer so drohend erhoben bleiben als Abschreckung für alle, die es wagten, die Haustür wieder zu öffnen, nachdem der dicke Mahnke sie geschlossen hatte. Stuck kam der Aufforderung nicht nach, stattdessen fragte er: "Haben Sie hier was zu sagen? Sind Sie der Hausgewaltige?"
Mahnke kam noch zwei Stufen herunter, dabei sackte endlich der Arm herab, und das Schlüsselbund in seiner Hand klimperte. "Ich will dir zeigen, wer ich bin!" Stuck musste lachen. Das machte Mahnke noch wütender; er nahm die letzten Stufen und wollte nach Stuck fassen, aber der wandte sich schnell zur Seite, so dass der Griff des Dicken ins Leere ging. Er hatte dabei so viel Schwung bekommen, dass sein massiger Körper nicht zu stoppen war. Der Dicke schlug gegen die der Treppe gegenüberliegende Wand.
"Ach", sagte Stuck.
Der dicke Mahnke wandte sich schnaufend zu Stuck um, sein Gesicht war nun rot wie der Hydrant vor der Haustür. "Du..." Er rang nach Luft. "Was willst du eigentlich hier? Du hast hier überhaupt nichts zu suchen! Gib mal den Schlüssel her! Du wohnst hier nicht, da..." Er wollte Stuck den Schlüssel entreißen, aber Stuck wich ihm abermals aus und stieß dabei mit dem Fuß gegen die neben ihm befindliche Wohnungstür. Hier hatte sich früher der Lebensmittelladen befunden. Stuck wusste, dass dort eine ältere Frau wohnte, die, wenn sie ihn kommen sah, ihr Fenster zuschlug und die Gardine vorzog. Die Tür wurde jetzt vorsichtig einen Spalt geöffnet, und Stuck entdeckte die spitze Nase der Grauhaarigen. "Können Sie denn eine alte Frau nicht in Ruhe lassen? Was wollen Sie denn? Warum poltern Sie an meine Tür?"
Stuck versuchte der Frau zu erklären, dass es ohne Absicht geschehen sei, aber der dicke Mahnke verbündete sich sofort mit der Spitznase und ließ Stuck nicht zu Wort kommen. Stuck wäre ein frecher Eindringling, sagte er, der bei den beiden Schlampen im Hinterhaus aus und ein gehe, am besten, man benachrichtige die Volkspolizei.
Stuck warf sich gegen ihn und rief: "Haben Sie Schlampen gesagt? Das nehmen Sie zurück! Sofort, sag ich Ihnen! Schon mal was von Beleidigungsklage gehört?" Stuck konnte den massigen Körper des Dicken nicht länger gegen die Wand drücken, darum ließ er von ihm ab, stellte sich jedoch sofort abwehrbereit auf. Was würde der Dicke jetzt machen? Die Spitznase hatte inzwischen fast alle Bewohner des Vorderhauses zusammengeschrien, erst jetzt bemerkte Stuck diese ungewöhnliche Hausversammlung.
"Schlampe bleibt Schlampe", sagte der dicke Mahnke, der sich noch sicherer fühlte, seit er vor Augen und Ohren der Öffentlichkeit für Recht und Ordnung stritt.
"Sie wollen Ihren Namen wohl gern in der Zeitung lesen? Nehme die Beleidigung, die ich neulich ausgesprochen habe, mit tiefstem Bedauern zurück. Wollen Sie das?" Stuck ging auf den dicken Mahnke zu.
Aus der Ansammlung löste sich ein schlanker sportlicher Typ mit rötlichem Haar und einer Menge Sommersprossen auf der Nase. "Machen Sie uns jetzt nicht unnütze Scherereien, Herr Mahnke! Entschuldigen Sie sich!"
Die anderen verhielten sich abwartend, nur die spitznasige Alte mischte sich ein und rief, das habe Herr Mahnke überhaupt nicht nötig, was wahr ist, müsse wahr bleiben... Weil aber niemand auf ihre Worte achtete, verschwand sie beleidigt und empört in ihrer Wohnung.
Endlich hatte der dicke Mahnke den Kampf in seinem Innern ausgetragen, er sagte: "Also gut. Der Klügere gibt nach. Ich nehme das zurück. Aber jetzt schließen Sie gefälligst die Tür wieder ab!"
Stuck sah keine andere Möglichkeit, als der Aufforderung nachzukommen. Als er sich dann durch die Menge einen Weg zum Hof bahnen wollte, redete ihn der Sporttyp an. Der schien es gewohnt, bei Versammlungen das große Wort zu führen. Seine Hände auf das Treppengeländer wie auf ein Rednerpult gestützt, fasste er Stuck ins Auge. "Weil wir hier alle grade mal versammelt sind, möchte ich Ihnen folgendes sagen, junger Mann, und ich bin sicher, dass ich's im Namen aller sage: Wir wollen gar nicht wissen, was dahinten in dem kleinen Haus geschieht, verstehen Sie? Lassen Sie uns mit Ihren Geschichten in Ruhe! Ob Ihre Freundinnen Miete zahlen oder nicht, ist nicht unsere Sache. Und in Zukunft reißen Sie bitte nicht mehr die Fenster auf, wenn Sie Disko veranstalten oder was Sie sonst dort tun. Lassen Sie uns damit in Ruhe! Das wollte ich Ihnen bloß mal sagen." Auf Zustimmung wartend, sah er sich um und nickte schließlich zufrieden, nachdem ihm die anderen beigepflichtet hatten.
Stuck erwiderte nichts. Der ist doch total kaputt, dachte er. Noch mehr als der dicke Mahnke. Bei dem Dicken weiß man wenigstens, woran man ist, der ist ganz klar gegen uns, auf den kann man sich einstellen. Aber dieser Rothaarige wuselt sich so durch mit Bittesagen und seiner Ruhe, die er haben will. Bloß nichts sehen und hören. Zum Kotzen, der Typ.
Stuck ging.
Seitdem achtet er darauf, dass der dicke Mahnke tatsächlich in seiner Wohnung verschwunden ist, ehe er, Stuck, die Haustür wieder aufschließt. Vielleicht würde Johannes diesmal wirklich kommen? Stuck hatte seine Einladung schon oft wiederholt, er hofft nämlich, dass Johannes Gefallen an Elke finden würde. Er hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, die beiden miteinander bekannt zu machen. Zu Anfang hatte ihn nur gestört, dass Elke so ganz überflüssig bei ihnen hockte; viel lieber wäre er mit Vera allein gewesen. Dann jedoch begann ihm Elke leid zu tun. Sollte sie denn immer nur Zuschauer sein? Eines Tages erzählte er darum Johannes vom Penthouse und schwärmte ihm von Elke vor, so dass er sich am Ende fragte, warum er sich nicht selbst für sie entschieden habe. Er verschwieg allerdings das Kind, dessen Vater Elke in seiner Gegenwart nie erwähnte. Sollte doch Johannes erst einmal ins Penthouse kommen! Aber bisher hat er sich noch nicht in der Lindenstraße blicken lassen. Eines Tages sagte Stuck darum zu ihm: "Also noch mal wiederhole ich's nicht. Wenn du Lust hast, kommst du eben. Bist immer gern gesehen!" Aber bisher hat Stuck vergeblich auf Johannes gewartet.
Manchen Abend ist die Kleine unruhig und weint. Dann holt es eins der Mädchen aus dem hinteren Zimmer und legt es im Kissen auf den Tisch. Während Elke nachsieht, ob es trocken ist, wärmt Vera auf dem Kocher die Flasche oder bereitet einen feuchtwarmen Bauchwickel vor, weil das Kind Krämpfe haben könnte. Stuck sitzt dann auf Veras Platz am Fenster und sieht dem mütterlichen Treiben mit gemischten Gefühlen zu. Er hat nichts gegen kleine Kinder. Aber wenn sich der Fratz so wichtig macht, dass sich alles nur um ihn dreht, während er wie ein überflüssiges Möbelstück achtlos in die Ecke verfrachtet wird, kommt er sich unerwünscht in dieser Welt vor. Das hält er meist nicht lange durch, und darum verlässt er an solchen Abenden oft vorzeitig das Penthouse.
Einige Wochen zuvor hatte er es zum ersten Mal betreten.
An jenem Abend stand Stuck hinter seiner Phonobar im Diskoklub, der sich mitten in der Stadt unmittelbar neben dem Kulturhaus befindet, wo zur selben Zeit eine Altherrenkapelle "Tanz für die ganze Familie" veranstaltete. Stuck legte gerade eine neue Platte auf, die er zuvor laut als seine neueste Errungenschaft gepriesen hatte, als ein Schatten auf den Plattenteller fiel. Er sah auf und bemerkte Vera dicht vor sich. Das Licht des Scheinwerfers verfing sich in ihrem blonden Haar, und Stuck kam es einen Augenblick lang vor, als wäre es von Silberfäden durchzogen, so sehr flimmerte es.
"Tanzt du eigentlich nie?"
"Hallo!", sagte Stuck, weil er so jeden begrüßte, wenn er hinter seiner Phonobar stand. Als der Teller schließlich rotierte und David Dundas sein "Sleepy Serena" hinausschrie, erwiderte Stuck: "Bloß manchmal." Und dann blickte er das Mädchen an und fragte: "Zum ersten Mal hier? Hab dich noch nie hier gesehen."
"Stimmt", sagte Vera. Sie wies dann auf die kreisende Platte. "Die hab ich auch. Könnte sie Tag und Nacht hören. Aber die zweite Seite ist noch stärker."
"Kannst du gleich hören", sagte Stuck, der an jenem Abend ein hellblaues Trikothemd mit einem selbstgemalten Bildnis Che Guevaras trug.
Vera deutete auf seine Brust. "Wer ist das? Auch 'n großer Star?"
Stuck lachte laut. "Kann man wohl sagen." Dann nannte er den Namen Che Guevara.
"Der ist das?", sagte Vera erstaunt. "Hab ich mir ganz anders vorgestellt. Und wen hast du hinten drauf?"
"Hinten?" Stuck lachte wieder und wandte sich kurz um. "Nichts, wie du siehst. Den Rücken halte ich mir lieber frei."
Sie lachten nun gemeinsam, bis Vera fragte: "Machst du das hier schon lange?"
"Schon 'ne Weile. Ist 'n prima Hobby. Außerdem tu ich damit 'n gutes Werk, wie du siehst." Stuck verstellte den Scheinwerfer, der dicht über ihm angebracht war, so dass ein runder Lichtfleck auf einige Paare fiel, die sofort scherzhaft zu drohen begannen und ihm zuriefen, er solle das grelle Licht wegnehmen, sich sonst jedoch nicht weiter stören ließen.
"Warum malst du dir als Diskjockey nicht lieber 'n Beatle aufs Hemd?"
Stuck hatte den Scheinwerfer wieder in seine Ausgangsstellung gebracht. "Hast du was gegen ihn?" Dabei tippte er mit dem Daumen auf das Bildnis auf seiner Brust.
"Nee", sagte Vera, aber für Stuck klang es nicht überzeugend. "Passt bloß nicht so richtig zusammen, finde ich, 'n Diskjockey mit einem kommunistischen Revolutionär auf der Brust."
"Passt ganz gut zusammen, finde ich", erwiderte Stuck. "Hast du vielleicht irgendwo mal gehört, dass er", wieder spießte er seinen Daumen auf das Bild, "was gegen Musik gehabt hat?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Na also. Der nicht, sag ich dir. War nämlich 'n uriger Kerl." Stuck legte die B-Seite auf.
"Dreh doch mal richtig auf!", rief plötzlich ein Junge, der unbemerkt bei ihnen aufgetaucht war und nun Veras Hand griff und das Mädchen ins Getümmel auf der Tanzfläche entführte. Stuck stellte sich an den Scheinwerfer und verfolgte die beiden mit dem Lichtkegel. Veras Haar glitzerte wieder. Dann winkte er einen Jungen heran, der sich meist in der Nähe der Phonobar aufhielt, um Stuck zu vertreten, wenn er mal tanzen wollte. "Mach mal weiter!"
Stuck sprang von seinem Podest und bahnte sich einen Weg, indem er die Tanzenden einfach zur Seite schob, was sich diese von ihm, ihrem Diskjockey, ohne zu meutern gefallen ließen. Vor Vera blieb Stuck stehen. Einen Meter daneben strampelte der andere, der Vera entführt hatte, weltvergessen auf dem Parkett, und es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass das Mädchen inzwischen mit Stuck tanzte. "Was soll 'n das?" Er baute sich vor dem Nebenbuhler auf. "Glaubst du, weil du hier der Diskjockey bist, kannst du..." Weiter kam er nicht, weil ihn Stuck, ohne seinen Tanz mit Vera zu unterbrechen, zur Seite drängte, wo er wie ein Ball von einem zum anderen weitergereicht wurde, bis er gewissermaßen außerhalb des Spielfelds war. Der Junge wandte sich noch einmal wütend um und verließ dann unterm Gelächter der übrigen schnell den Klub.
"Was machst du nachher?", fragte Stuck. Vera hob die Schultern, die sich dabei weit unter ihre langen Haare schoben.
"Gehn wir ein Bier trinken? Ich lade dich ein." Er konnte nicht wissen, dass er damit genau ins Schwarze traf, denn Vera besaß zwar eine abgegriffene Geldbörse, die jedoch so gut wie leer war, was sie ihm gleich darauf gestand. Sie sagte ihm auch, dass sie vor einiger Zeit die Arbeit geschmissen habe und auf der Suche nach einer neuen sei. Aber das Richtige wäre das alles nicht, was sich bis jetzt geboten habe.
"Hast du nichts gelernt?"
"Gelernt?" Sie hob wieder ihre Schultern. "Löten. Leiterplatten. Schon mal gesehen, so ein Ding?"
"Klar." Diese Dinger kannte er. Es ist zwar schon einige Jahre her, dass er im UTP Leiterplatten sortiert hat, aber an diese kleinen kantigen Platten kann er sich noch gut erinnern. "Warum tust du's dann nicht?"
"Löten? Leiterplatten?" Stuck fühlte ihren Blick stechend auf sich gerichtet. Hatte er was Falsches gesagt? Er hatte doch nur gefragt, warum sie nicht Leiterplatten lötet, wenn sie es doch kann. Schließlich hätte sie dann keine Ebbe in der Geldbörse. Irgendwas muss der Mensch doch tun. Er zum Beispiel arbeitet im Fruchthof, wie sie sagen, offiziell heißt das "GHG Obst, Gemüse, Speisekartoffeln". Dort ist er im Bananenkeller, und wenn gerade keine Bananen am Lager sind, fährt er als Warenauslieferer auf dem LKW mit, nicht nur in der Stadt, sondern durch den ganzen Kreis, streng nach Tourenliste geht das zu. Dafür, dass jede Verkaufsstelle und Betriebskantine genau nach Zeitplan beliefert wird, ist er zuständig. Tür auf, Ladeklappe herunter und genau nach Bestellliste liefern. Das ist seine Aufgabe. Und die Leute in den Verkaufsstellen und Kantinen wissen inzwischen: fährt Stuck mit auf Tour, können sie sich auf pünktliche Belieferung verlassen, und es fällt ihnen darum nicht schwer, sich bei ihm mit einem anerkennenden Wort zu bedanken. Stuck wehrt zwar ab, aber in Wirklichkeit geht ihm das Lob wie Öl hinunter. Sind jedoch Bananen da, bleibt er im Keller, dort gibt es dann genug zu tun, und Johannes, der Reifemeister, kann auf Stuck nicht verzichten. "Bananen sind wie kleine Kinder", sagt Johannes, "sie müssen überwacht und gepflegt werden, dürfen weder zu kalt noch zu warm stehen, und wie Kinder genügend Sauerstoff haben müssen, brauchen die Bananen ihr Äthylen."
Johannes lässt außer Stuck keinen anderen an die Bananen heran. Sonntags zum Beispiel, wenn die Temperatur und der Druck in den Reifezellen überprüft werden müssen. Entweder der Reifemeister selbst oder Stuck fährt dann zum Fruchthof hinaus. Stuck weiß das zu schätzen, weil Johannes in dieser Beziehung keinen Spaß versteht. Schlamperei mit den Bananen duldet er nicht.
So wie Vera möchte er nicht leben, vielleicht bloß so gammeln und darauf warten, dass ihr einer möglichst fertige Arbeit ins Haus bringt – das ist nichts für ihn. Und dann stellt er sich plötzlich vor, sie würde draußen im Fruchthof arbeiten.
So eine Kiste Bananen ist erst mal nichts weiter als eine Last, die von einer auf eine andere Stelle transportiert werden muss, zunächst nämlich aus den Waggons, die an der Laderampe stehen, in den Keller und später wieder aus dem Keller auf die andere Rampe, wo die LKWs mit ihren hungrigen Mäulern schon auf sie warten. Aber wenn Stuck sich nun vorstellt, dass, wenn er die Paletten mit den Kartons absetzt, plötzlich Vera neben ihm stünde, erhielte eine Bananenladung eine ganz andere Bedeutung für ihn. Ich werde sie fragen, ob sie bei uns arbeiten will, beschloss er an jenem Abend. In der Abpackstation zum Beispiel sind nur Frauen, und dort gibt es jetzt Arbeit in Hülle und Fülle. Die nehmen sie bestimmt mit Kusshand. Sie selbst hat dann keine leergepustete Börse mehr, und er wird noch mehr Spaß an seiner Arbeit finden.
Doch er behielt seinen Plan zunächst für sich. Vielleicht würde sie ihn auslachen? Er nahm sich vor, damit zu warten, bis sie später beim Bier sitzen würden. Stuck fasste Veras Hand und zog das Mädchen aus dem Getümmel. Vor einer kahlen Wand blieb er stehen. "Hier kommt eine Lichtorgel her", sagte er. "Dann leuchten jede Sekunde andere Lichtkompositionen auf."
Vera konnte sich darunter nichts vorstellen, darum erklärte Stuck es ihr, aber ihr Interesse war nicht groß. Sie fragte: "Bist du hier eigentlich der Boss?"
"Seh ich vielleicht so aus? Nee, wir haben hier einen Klubrat, und zu dem gehöre ich. Da legen wir immer die Veranstaltungspläne fest und besprechen, was noch im Lauf der Zeit verbessert werden soll oder muss. Zum Beispiel das mit der Lichtorgel..."
"Da habt ihr wohl auch festgelegt, dass es in eurem Klub bloß Cola und Brause gibt?"
"Das nicht, deswegen hat's sogar mächtigen Krach gegeben. Es war 'ne Anweisung von oben. Einige hatten sich nämlich unheimlich vollaufen lassen und haben dann randaliert und wollten 'ne Schlägerei anfangen. Darum hieß es plötzlich: Ab sofort nur noch Alkoholfreies. Aber es ist wenigstens Ruhe seitdem."
Sie tanzten noch einmal, dann aber wollte Stuck an seine Phonobar zurück. Vera erlaubte er, die Platten auszusuchen, die er bis zum Schluss auflegte.
Später saßen sie in der "Stadtklause", tranken Bier und aßen Schnitzel mit Salat. Danach verlangte Vera nach einer Zigarette. Sie hatte schon zwei Tage nicht geraucht.
Sie liefen anschließend den Pfad entlang, der zur Flussinsel führt. Vera war satt und zufrieden. Jetzt ließ sie sich treiben, als sei sie völlig willenlos. Die Schuhe in der Hand, wateten sie durch brackiges Wasser zur Insel, wo sie sich auf einem Grasbuckel niederließen. Hinter den Erlen, auf der anderen Uferseite, flackerten die Lichter des Schlachthofs. Vera erkannte die Umrisse der Gebäude und den wie einen Drohfinger aufragenden Schornstein. Im Schlachthof hatte sie zuletzt gearbeitet. Aber sie denkt nicht gern daran. Vom Anblick und von dem Geruch des blutigen Fleisches ist ihr so oft übel geworden, dass sie der Brigadier eines Tages zum Frauenarzt schicken wollte. "Unsinn", hatte sie gesagt, sich weigernd, seiner Aufforderung zu folgen. "Ich kriege kein Kind. Das hat damit überhaupt nichts zu tun." Sie nimmt die Pille, wie soll sie da ein Kind kriegen? Aber der Brigadier, der sich gut aufs Fleisch von Schweinen und Rindern versteht, hatte abgewinkt. Das interessiere ihn nicht, er wolle nur schwarz auf weiß haben, dass sie keine gefüllte Pute sei. Das hatte ihr gereicht. Sie war einfach nicht wieder hingegangen.
"Lass uns gehen", sagte sie zu Stuck. Sie fror.
"Wohin?", fragte er mürrisch. Was hat sie denn plötzlich? Ziert sich wohl wie 'ne Primaballerina! Das ist sein Lieblingsausdruck. Für ihn findet er jeden Tag mehrmals Verwendung.
"Wenn du willst, kannst du mit zu mir kommen. Hier ist's mir zu kalt."
Was hatte Stuck daraufhin erwartet? Ein gemütliches Zimmer in der Wohnung der lieben Veraeltern? Oder vielleicht eins in einem Wohnheim, wo man eine Leiter braucht, um ins obere Bett zu kommen? Er wusste es später nicht zu sagen, wusste nur: Ein Paradies wie dies, in das sie ihn schließlich führte, hatte er nicht erwartet. Zwar wusste Stuck nicht, ob im Paradies die Tapeten nur mit Reißzwecken hielten und die elektrischen Leitungen freischwingend herabhingen, aber so frei und unabhängig zu wohnen kam ihm tatsächlich paradiesisch vor. Eine eigene Bude, Mensch, dachte Stuck, ohne Bewachung von Vater und Mutter, wer hätte denn das gedacht!
Brachte er mal ein Mädchen mit und Anette, seine Mutter, war zu Hause, kam er sich wirklich immer wie unter Bewachung vor. Einmal wollte er einem Mädchen nur seine Plattensammlung zeigen, als er Anettes Schritte im Korridor hörte. Darum sprang er schnell auf und verschloss die Tür. Das machte aber seine Mutter erst recht unruhig; sie tappte eine Weile draußen rum und klopfte schließlich. Ob sie denn nicht etwas essen wollten, fragte sie, doch Stuck antwortete nicht und gab dem Mädchen zu verstehen, ebenfalls zu schweigen. Aber dann kam er einmal mit einem anderen Mädchen, das an seiner Plattensammlung überhaupt nicht interessiert war. Um seine Mutter zu täuschen, legte er eine Platte auf, während er mit dem Mädchen im Bett lag. Und die Tür war nicht verschlossen.
So etwas konnte hier in diesem Penthouse, wie er es gleich zu Anfang getauft hatte, nicht geschehen. Obwohl da noch dieses andere Mädchen wohnte, das Vera erst erwähnte, als sie schon vorm Penthouse standen.
Elke... Sie ist ein ganz anderer Typ als Vera. Wie Zimt und Zucker sind die beiden, sagte sich Stuck, als er sie zum ersten Mal nebeneinander sah. Elkes Haare sind schwarz wie Pech, und ihre Haut sieht aus, als wäre sie mit Bronze überzogen. "Stammst du vielleicht von Indianern ab?", fragte er, nachdem er im Penthouse schon fast zu Hause war. In seiner Vorstellung mussten Indianer unbedingt wie Elke aussehen. Aber nicht von Indianern, sondern von einem Zigeuner stammte Elke ab, und zum Trotz nannte ihre Mutter sie Elke, obwohl Manuela oder Ramona viel besser zu ihrem Aussehen gepasst hätten.
Stuck war zunächst enttäuscht, Elke im Penthouse vorzufinden. Kannst zu mir kommen, hatte Vera zu ihm gesagt und damit eine bestimmte Hoffnung in ihm keimen lassen. Sollte er aber Vera umarmen, während Elke... Seine Bedenken waren jedoch umsonst, denn Vera zog ihn bald ins hintere Zimmer, wo die Mädchen zwei eiserne Bettgestelle an die Wand gerückt hatten und wo in einer Ecke hinter einem bunten Vorhang, den Stuck aus Neugier ein Stück zur Seite schob, ein leeres Kinderbett stand. Er blickte sich erstaunt zu Vera um. "Hast du denn...?" Er deutete auf das Kinderbett. Vera schüttelte den Kopf und lächelte.
"Hab ich dir denn nicht gesagt, dass Elke ein kleines Mädchen hat?" Natürlich wusste sie genau, dass Stuck davon keine Ahnung haben konnte. "Es ist in der Kinderklinik. Nächste Woche bekommen wir es wahrscheinlich wieder."
Stuck warf noch einen flüchtigen Blick auf das weiße Gitterbett, ehe er den Vorhang wieder zuzog. Was würde ich jetzt tun, wenn es Veras Kind wäre? dachte er.
Es war dann schon fast Mitternacht, als sie zu dritt im großen Zimmer beieinander saßen. Stuck, der seine Blicke nicht von Vera abwenden konnte, sagte: "Wenn du willst, besorg ich dir Arbeit bei uns im Fruchthof. Nicht schlecht, kannst du mir glauben, machst dich da nicht kaputt. Und ganz billig bekommst du immer Südfrüchte. Kannst dich richtig satt dran essen."
Er hatte vom ersten Augenblick an gewusst, dass sie ihm mehr als alle anderen Mädchen gefiel – ihr langes blondes Haar und die Augen, die... Richtig blau sind die eigentlich nicht, überlegte Stuck, aber auch nicht grau oder grün. Ihre Farbe scheint mit dem Licht zu wechseln. Vor allem wie sie sich bewegt, gefällt ihm. Beim Tanzen und auch wenn sie geht. Wie geht sie bloß? Jedenfalls lockt ihr Gang die Blicke an, nicht nur seine, das ist ihm klar.
Jetzt, nach dieser Stunde in dem hinteren Zimmer, glaubte er, keinen Tag mehr ohne sie verbringen zu können. Wie mit ihr hatte er es noch nie erlebt. Er betrachtete sie, während sie im Lichtkreis der roten Lampe auf dem Boden saß, die Hände nach hinten weggestützt und den Kopf ins Genick gelegt, so dass ihre Haare fast den Boden berührten. In dieser Haltung kamen selbst ihre kleinen Brüste zur Geltung, und am liebsten wäre Stuck aufgestanden, um seine Hände darumzulegen.
Von der Arbeit im Fruchthof hielt Vera nichts.
"Aber irgendwas musst du doch tun", sagte Stuck.
"Muss ich?"
"Klar. Oder willst du ewig mit nichts in der Tasche rumziehen und warten, bis dir mal einer Schnitzel und Bier spendiert?"
"Den ich dann zum Dank in mein Bett lasse? So meinst du's doch?"
"Nein!" Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Doch wenn er es genau überlegte... Konnte es nicht tatsächlich so sein? Sie hatte ja schon am ersten Abend mit ihm geschlafen.
"In deinen Augen sind wir wohl Nutten, was?", fragte Elke, die ihre Fingernägel mit rotem Lack bestrich. Wochentags durfte sie es nicht, weil sie als Verkäuferin am Backwarenstand einer Kaufhalle arbeitete und bestimmte Vorschriften beachten musste. Doch zum Wochenende leistete sie sich regelmäßig diesen Luxus.
"Bestimmt nicht", sagte Stuck. "Dann wäre ich nämlich gar nicht mit Vera hergekommen."
Elke schien mit seiner Antwort zufrieden, und Vera sagte, als hätten sie von nichts anderem gesprochen: "Ich kann mir ja mal deinen Fruchthof ansehen. Appetit auf Bananen habe ich nämlich immer."
Stuck schlief in dieser Nacht zwischen den beiden Mädchen.
Heinz Stuckmann, wie Stuck mit vollem Namen heißt, bezeichnet sich selbst gern als "Kistenrocker", wenn er nach seinem Beruf gefragt wird. In Wirklichkeit hat jedoch Bernhard, der Mann seiner Mutter, diese Bezeichnung erfunden. Er wollte damit die Minderwertigkeit von Stucks Beschäftigung im Fruchthof kennzeichnen und ihn auf diese Weise bewegen, zu seiner früher geäußerten Absicht, ebenfalls Schauspieler werden zu wollen, zurückzukehren. Aber Stuck konnte und kann er damit nicht treffen, im Gegenteil, "Kistenrocker" gefällt ihm, und wo der Ausdruck passt, bringt er ihn ins Spiel. Oder soll er mit aller Umständlichkeit sagen, Facharbeiter für Lagerwirtschaft, wenn ihn jemand nach seinem Beruf fragt? Und wo? will dann vielleicht jemand wissen. Im Fruchthof? Ach, da rollen Sie wohl immer die Apfelsinen die Treppe runter? So blöd können sich manche anstellen. Sagt er jedoch "Kistenrocker!", schweigen die meisten und sehen bloß auf sein schulterlanges Haar und glauben ihm den Rocker sofort. Was er mit Kisten zu tun hat, will dann kaum einer mehr wissen.
Tatsächlich hat er früher einmal daran gedacht, wie Anette und Bernhard Schauspieler zu werden, was bei Anette und ihrem Mann sofort Zustimmung hervorgerufen hatte. Beide sind seit Jahren am Brückstedter Stadttheater. Bernhard spielt jetzt (im Gegensatz zu früher) große Rollen, kommt als Held in prächtigen Kostümen auf die Bühne, während sich Anette meist mit den Wurzen zufrieden geben muss. Nur im alljährlichen Weihnachtsmärchen, das auch zu Ostern noch gespielt wird, darf sie in die Rolle der Prinzessin schlüpfen, davon muss sie dann aber bis zum nächsten Märchen zehren, denn, wie gesagt, über die Wurzen kommt sie sonst nicht hinaus, und bei den Proben verbringt sie die meiste Zeit mit Warten.
Solange Stuck noch ein Märchenschüler war, sonnte er sich im Prinzessinenglanz seiner Mutter. Da saß er zwischen November und Ostern jeden Sonntagnachmittag in der Loge und verfolgte das Bühnenspiel Anettes gespannt wie beim ersten Mal. Seine Ohren brannten, wenn die Prinzessin in Gefahr war, und aus Leibeskräften schrie er mit den anderen, um sie vor dem Bösewicht zu warnen. Stockte dann am Schluss der Vorstellung der Beifall zu früh, klatschte er so lange, bis auch die übrigen wieder ihre Hände rührten, und später brannten seine Hände schlimmer als seine roten Ohren. Im Vorraum, wo die Mäntel aufbewahrt wurden, fragte er dann jedes Mal: "Die Prinzessin war schön, oder?" Und stimmten ihm einige begeistert zu, sagte er: "Sie ist meine Mutter."
Einmal spielte auch Bernhard im Weihnachtsmärchen und stolperte als tollpatschiger, blöder Riese über die Bühne, und alle Kinder schrien dem tapferen Schneider ihre Warnung zu, wenn Bernhard erschien, so dass Stuck am Ende keinen Wert darauf legte zu sagen: Er ist mein Vater!
Den Lehrern wie den Mitschülern kam niemand anders in den Sinn als Stuck, wenn es zu feierlichem Anlass ein Gedicht zu rezitieren galt. Dann paukte er zu Hause unter Aufsicht Bernhards, bis dieser endlich zufrieden war und Stuck mit der Bemerkung lohnte, er habe Talent, aus ihm könne einmal ein guter Schauspieler werden. Um so erstaunter war Stuck dann, wenn seine Lehrer anderer Meinung waren und ihm noch kurz vor dem großen Auftritt eine andere Betonung einzubläuen versuchten, was einmal dazu führte, dass Stuck mitten im Text abbrach, weil er vergessen hatte, welche Betonung die richtige war. Anschließend waren ihm sowohl Bernhard als auch die Lehrer böse, und Stuck schwor sich daraufhin, nur noch auf Bernhard zu hören, schließlich war er Schauspieler und musste besser als die Lehrer wissen, wie man etwas sagt. Die Lehrer haben ja keine Ahnung von großer Kunst, sagte er sich und nahm sich vor, geduldig auf den Tag zu warten, an dem er ihnen zeigen und beweisen konnte, dass sein Talent trotz des ewigen Hineinredens nicht verkümmert war. Eines Tages würde er in einem prachtvollen Gewand auf der Bühne des Brückstedter Stadttheaters stehen und als dieser Ferdinand, den jetzt noch Bernhard spielte, so wunderbar echt an der vergifteten Limonade sterben, dass den Lehrern im Zuschauerraum vor Schreck und Anteilnahme das Herz stehen bleiben würde.
Tatsächlich waren dies einmal Stucks Überlegungen; heute ist er froh, wenn ihn niemand an seine dummen Gedanken von damals erinnert. Zum "Faxenmacher" taugt er nämlich gar nicht, davon ist er überzeugt, Stuck möchte lieber immer er selbst sein, statt sich in andere verwandeln und Worte sprechen zu müssen, die nicht seine eigenen sind.
"Faxenmacher!" Stuck weiß nicht, wann er zum ersten Mal diesen Ausdruck gebraucht hat. Fest steht jedoch, dass er bereits zur Jugendweihe, bei der Anette und Bernhard das festliche Programm mitgestalteten, schon nicht mehr in ihre Fußtapfen treten wollte. Warum, wusste er nicht, weiß es nicht einmal heute genau zu begründen, weiß nur, dass er nicht in fremde Rollen schlüpfen möchte. Vielleicht hatte er sich schon damals als Diskjockey gesehen, bereits damals entdeckt, dass es ihm mehr Vergnügen machen wird, Musikprogramme zu gestalten, als mit den Worten anderer auf den Lippen über die Bühne zu stolzieren? Muss wohl so sein, denn statt der Schiller- und Goethetexte, die ihm Bernhard bereitwillig zur Verfügung stellte, las er viel lieber die kleinen Hefte mit Schlagertexten, die er vor Bernhard in seinem Zimmer verbergen musste. Zu dieser Zeit kaufte er auch seine ersten Platten, die er jedoch nur hören konnte, wenn Bernhard nicht zu Hause war, denn einen eigenen Plattenspieler besaß Stuck noch nicht. Anette aber duldete es schweigend, dass er im Wohnzimmer hockte und den Vokalisten anhand der gedruckten Schlagertexte kontrollierte.
Wenn es Stuck also ganz genau überlegte, musste sich zu dieser Zeit bereits der Gedanke in ihm festgehakt haben, später einmal Diskjockey zu werden. Wie soll er es sich sonst erklären, dass er den Wunsch nach einem Moped unterdrückt und sich stattdessen lieber einen Stereoapparat zugelegt hatte? Fast alle Jungen seiner Klasse und auch einige Mädchen besaßen schon im Jahr nach ihrer feierlichen Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen Mopeds. Aber Stuck fährt bis heute mit dem alten Fahrrad, das Anette und Bernhard schon vor Jahren billig erworben hatten.
Bernhard hat es längst aufgegeben, in Stuck einen künftigen Schauspieler zu sehen, aber leicht, glaubt Stuck, wird ihm diese Einsicht nicht gefallen sein. Jedoch mit der Tatsache, dass Stuck ausgerechnet "Kistenrocker" geworden ist, kann er sich bis heute nicht abfinden. Ist das vielleicht eine Beschäftigung für den Sohn musisch interessierter und intelligenter Eltern? Stuck kennt Bernhards Ansicht, aber er hat sich von ihr nicht beeinflussen lassen, und die Bezeichnung "Kistenrocker", wie gesagt, hat ihn nie gekränkt.
Neunzehn ist Stuck, und die Armee wartet bereits auf ihn. Den Tag seiner Einberufung kennt er noch nicht, aber den Monat kann er sich leicht ausrechnen, dazu gehört nicht viel. Dann wird er von den schulterlangen Haaren Abschied nehmen müssen. Aber Stuck wird dem Friseur schon flüstern, wie er seine Haare zurechtstutzen soll, Toppschnitt oder Kanten mit Zierleiste kommt für ihn nicht in Frage. Auch als Soldat will Stuck seine besondere Note bewahren.
Gern geht er nicht, zumal als mot. Schütze. Da, denkt er, ist man Mädchen für alles, kleiner müder Sandlatscher. Diese Einstellung muss ihm bei der Musterung auf der Stirn gestanden haben. Oder wie wäre der Oberstleutnant sonst dazu gekommen, ihm die Sandlatscher schmackhaft machen zu wollen und zu behaupten, die mot. Schützen wären viel besser als ihr Ruf, seien längst eine Spezialeinheit wie zum Beispiel die Panzer. Stuck konnte es sich nur damit erklären, dass nur wenige zu den mot. Schützen wollen. Deswegen haben die Offiziere vom Wehrkreis inwendig gewissermaßen eine Platte aufliegen, die sie bei Bedarf abspielen und die dann den Song vom mot. Schützen ertönen lässt – geht da nur hin, Jungs, die sind gar nicht so übel...
Aber dieses Lied hatte Stuck nicht überzeugen können; weil er jedoch einsah, dass er den Oberstleutnant sowieso nicht umstimmen konnte, sparte er sich jeden Einwand, er hätte zu nichts geführt. Damit kürzte er sogar das ganze Verfahren erheblich ab, und der Oberstleutnant sah erstaunt zur Uhr – er hatte beim künftigen mot. Schützen Stuckmann eine Menge Zeit gespart. Prima Kerl, mag der hagere Offizier gedacht haben, bei dem muss ich meine Platte nicht ein paar Mal ablaufen lassen, der hat gleich begriffen, worauf es ankommt. Jedenfalls hatte er, zufrieden mit sich, den künftigen mot. Schützen wohlwollend aus dem Musterungsstützpunkt entlassen.
Also mot. Schütze, denkt Stuck, dagegen ist nichts zu machen. Aber ob mot. Schütze oder Panzersoldat, Befehl bleibt Befehl, darüber wird nicht diskutiert. Doch zum Beispiel auf Befehl singen zu müssen stört Stuck bereits jetzt.
Er singt gern, sogar schon am frühen Morgen, wenn alle anderen kaum einen Gruß übet die verbissenen Lippen bringen. Aber Stuck singt. Und dazu laut, das bringt die Disko mit sich. Besonders wenn er in der Wanne steht und sich duscht. Nebenan in der Küche bereitet dann meistens Anette das Frühstück und will dabei Radio hören, aber Stuck übertönt die aufmunternde Radiomusik. Das Pochen an der Wand hört Stuck nur selten, denn das Rauschen des Wassers und sein eigener Gesang verschlucken alle anderen Laute. Aber das Singen auf Befehl ist ihm ein Gräuel. Es braucht nur einer zu sagen: "Stuck, du hast so eine gute Stimme, sing doch mal!" Schon ist ihm, als habe er noch nie einen Ton von sich gegeben, er ist leer und verklemmt, und nicht eine Textzeile fällt ihm ein. Die Stimmung ist einfach nicht da. So etwas muss aus ihm selbst kommen, zu allem, was er tut, muss er in der richtigen Stimmung sein. Aber nicht nur das Singen auf Befehl stört ihn. Auch diese Ordnung, die man als Soldat in seinem Spind halten muss! Jetzt kann es vorkommen, dass er in seinem Zimmer etwas ganz Bestimmtes sucht. Im Schrank hat er's nicht gefunden, also kann es nur in dem kleinen Regal sein, das zwischen Bett und Fenster steht. Das kippt er dann einfach um und wühlt in den auf dem Boden zerstreuten Sachen herum, bis er überzeugt ist, dass er das Gesuchte doch im Schrank finden wird. Er findet immer alles, was er sucht, nie fehlt etwas. Wie soll das werden, wenn er alles ordentlich Kante auf Kante ausrichten muss? Einmal, bloß so zum Spaß, hat er seinen Schrank auf diese militärisch vorgeschriebene Weise einräumen wollen, aber nach einer guten halben Stunde hat er es aufgegeben. Überhaupt, diese Disziplin! Die wird ihm manchen Streich spielen, denn jetzt, jetzt hält er für Disziplin, was ihm gerade in den Sinn kommt. Aber damit fällt er natürlich bei der Truppe aufs Kreuz.
Am besten wär 's, wenn es keine Soldaten geben müsste. Gar nicht auszudenken für Stuck, wie viel Geld und Material dann vorhanden wären, um alles Mögliche herzustellen. Und dann hätten sie in ihrem Fruchthof auch immer genügend Leute, die Bananen wären im Handumdrehen aus den Waggons, diese könnten schon am Abend wieder in Rostock stehen und von neuem beladen werden. Die Frauen aus der Abpackstation brauchten dann nicht jedes Mal ihre Arbeit zu unterbrechen, um beim Entladen zu helfen, und vielleicht wären auch diese Hau-Ruck-Einsätze nicht nötig, wenn die Kinder der Brückstedter Schulen ihre Stadtspartakiade durchführen und natürlich ihren Beutel mit frischem Obst erwarten. Ist dann Not am Mann, geht auch Stuck freiwillig in die Abpackstation und schuftet dort bis in die Nacht hinein, Hauptsache, es ist nicht gerade Diskotag, da lässt er nämlich über zusätzliche Arbeit nicht mit sich reden.
Aber dass dieses Land in dieser Zeit nicht ohne Soldaten auskommen kann, sieht er natürlich ein. Doch Stuck würde es am liebsten wie Che machen – in die Berge gehen und zuverlässige Leute um sich scharen, um dann zum Beispiel diesen Pinochet zu vertreiben. Soll dieser sehen, wo er bleibt! Mag sein, dass er in Südafrika bei den Rassisten mit offenen Armen empfangen wird. Aber auch dort würde er vor Stuck und seinen bärtigen Männern nicht sicher sein.
Was dann jedoch aus Vera werden würde, weiß er nicht. Wollte er sie denn einfach zurücklassen? Und wenn nicht, könnte sie für ihn vielleicht eine Art Tamara Bunke sein? Ungläubig schüttelt er den Kopf, als er sich dies vorzustellen versucht. Oder irrt er sich? Vielleicht braucht Vera nur endlich die richtige Aufgabe, eine, die sie ganz fordert und für die sie sich begeistern kann? Dann schreckt sie vielleicht aus ihrer Bequemlichkeit und Lustlosigkeit hoch! Natürlich hält sich Stuck nicht für klüger als die Meister und Kaderleiter, deren Betriebe Vera bisher wie ein eiliger Besucher durchlaufen hat. Aber kann es denn nicht sein, überlegt er, dass die Leute dort einfach nicht die richtigen Worte für Vera fanden und keine Ausdauer aufbrachten, um sie an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen? Brannte bei Vera die Sicherung durch, ging wahrscheinlich auch bei diesen gutbezahlten Leitern gleich das Licht aus. Kein Wunder, dass sie dann mit den Köpfen aneinander stoßen mussten.
Wenn er nur wüsste, wie er Vera zum Arbeiten bringen kann! Einfach mal mit der Kaderleiterin des Fruchthofs sprechen? Die Frau muss schließlich etwas davon verstehen. Außerdem müsste sie Stuck dankbar sein, wenn er sagen würde: Ich weiß da jemand, der vielleicht für die Abpackstation in Frage kommt, bloß etwas schwierig ist das Mädchen... Können Sie mir einen Rat geben?