Ins Paradies kommt nie ein Karussell - Siegfried Maaß - E-Book

Ins Paradies kommt nie ein Karussell E-Book

Siegfried Maaß

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Beschreibung

Ein nächtlicher Jungenspaß: In der Stadtrandsiedlung ‚Paradies’, Zickzackhausen genannt, geben sich zwei Jungendliche nächtliche Lichtsignale, wodurch sogleich der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei erscheint und seine Vermutungen äußert. Daran erinnert sich Karo, nachdem er fluchtartig die Siedlung und damit auch seine Eltern verlassen hat und auf dem Rummel arbeitet, mit dem er durch das Land zieht. Ausgerechnet das altertümlichste Karussell hat er sich ausgesucht. Damit verwirklicht er seinen Traum von Freiheit und Unabhängigkeit – etwas, was er nicht wieder aufgeben will. Zumal er Ulrike in seiner unmittelbaren Nähe weiß. Sie ist mit dem Fahrgeschäft ihres Vaters, dem Riesenrad, unterwegs. Im Gegensatz zu Karo erfüllt sie notgedrungen ihre Pflicht und möchte den Rummel endgültig verlassen. Kann es ihnen gelingen, ihre unterschiedlichen Wünsche und Lebensvorstellungen mit ihrer Liebe zu vereinbaren? LESEPROBE: „Hast du eine gute Nacht gehabt?“, rief Pachnitzke, und als ich ihn unterm Handtuch hervor anblickte, entdeckte ich sein spöttisches Lachen, womit er verriet, genau zu wissen, wie gut meine Nacht gewesen war. „Weißt du“, meinte er dann und prahlte dabei so laut, dass ich befürchtete, Langewalds würden jedes Wort verstehen können, „du musst mal ’ne Handvoll Staufferfett nehmen und deine Wagentür schmieren. Sonst kriegt nämlich jedes Mal der ganze Rummel mit, wann du nach Hause kommst.“ „Gut“, sagte ich, „werde ich machen.“ Über die vergangene Nacht konnte ich mich eigentlich nicht beklagen. Aber sollte ich etwa auf Pachnitzkes Ton eingehen und ihm unter die Nase reiben, dass ich bis zum Morgengrauen bei Ulrike gelegen hatte? Das ging ihn schließlich nichts an. Vielleicht hatte er aber gar keine Einzelheiten hören, sondern mich wirklich nur vor neugierigen Nachbarn warnen wollen? Bisher hatte er sich nie darum gekümmert, was ich in meiner Freizeit trieb. Ich musste plötzlich wieder an meinen Traum denken. Hätte Ulrike nicht nur in meinem Traum das Riesenrad übernommen, würde ich jetzt zu Pachnitzke sagen: Ich will zu Schmalfelds überwechseln. Ulrike kann eine Hilfe gut gebrauchen. Ich stellte mir sein Gesicht vor, die Enttäuschung, die darauf zu erkennen sein würde. Von einer „guten“ Nacht würde er dann bestimmt nicht mehr reden. Oder hatte er vielleicht schon einen Ersatz für mich in Aussicht?

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Impressum

Siegfried Maaß

Ins Paradies kommt nie ein Karussell

ISBN 978-3-95655-203-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1976 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Draußen hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Wagentür, als wäre Feuer ausgebrochen und es käme nun auf jede Sekunde an, mich zu retten. Oder träumte ich und wusste es nur nicht? War ich nicht eben noch zu Hause im Paradies gewesen, wo ich mich mit meinem Bruder Siggi geprügelt hatte, der in der Nacht heimlich in meine Bude geschlichen war, um von der Dachluke aus mit der Taschenlampe Signale zu geben? Doch die Dachstube gehörte mir, und ich würde mich nicht daraus vertreiben lassen. Aber dann wand sich aus dem Unterbewusstsein der Gedanke in meinen Halbschlaf, dass ich ihm ja längst die Bude und auch die Dachluke freiwillig überlassen hatte. Ich war nicht mehr im Paradies, sondern auf dem Rummel. Statt in der Dachstube hauste ich nun in einem Wohnwagen, genau genommen in einer Hälfte davon, denn im vorderen Teil waren Werkzeugkisten und Geräte zum Aufbau des Karussells untergebracht.

Wieder polterten Fäuste wie Trommelstöcke gegen die Tür, und ganz leise hörte ich dann meinen Namen rufen. Ich riss die Augen auf und starrte auf die Tür. Aber sie öffnete sich nicht, und mir fiel ein, dass ich ja in der Nacht gewohnheitsmäßig den Riegel vorgeschoben hatte. Jetzt wurde mein Name laut und deutlich gerufen.

„Karo, mach doch endlich auf, du Schlafmütze!“

Ich erkannte Ulrikes Stimme.

Mit einem Satz war ich an der Tür und riss den Riegel weg. Keine Gefahr! dachte ich erleichtert und lachte nun innerlich über meine Traumvorstellungen. Ais ich die Tür aufstieß, musste ich die Augen schließen, denn das Sonnenlicht blendete mich mehr, als es wahrscheinlich die Flammen getan hätten, von denen ich mich eben noch bedroht gefühlt hatte. Ulrike kam die Stufen herauf und stieß mich sanft von der Tür weg.

„Du schläfst ja noch im Stehen“, sagte sie vorwurfsvoll, und als ich endlich die Augen wieder aufriss, hielt sie mir einen Strauß Feldblumen vors Gesicht und sagte: „Ich gratuliere dir zum Geburtstag!“

„Danke“, sagte ich, etwas überrascht. Ich hatte gespürt, dass irgend etwas anders sein musste als sonst, aber ich war nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich Geburtstag hatte. Dabei hatten wir am Abend lange darüber gesprochen, weil ich ja nun genau ein Jahr von zu Hause weg war. Und schließlich hatten die Jungs von nebenan darauf bestanden, schon im Voraus auf mich anzustoßen, und dann hatten wir bis zum Morgengrauen an der Uferböschung hinter den Wagen gefeiert.

Langsam kehrte meine Erinnerung daran zurück, und zugleich setzte ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen ein, dass ich mich auf mein Bett sinken ließ.

„Und das bekommst du noch dazu, obwohl du es gar nicht verdient hast“, sagte Ulrike. Sie beugte sich zu mir herab, strich das Haar aus meinem Gesicht und küsste mich auf den Mund. Ich fasste sie um die Taille und wollte sie aufs Bett herabziehen, aber sie stemmte sich mit den Fäusten gegen die Wagenwand und machte sich von mir frei. „Du gewalttätiger Mensch“, sagte sie in gespieltem Ernst, aber mir entging nicht, dass ihr Groll gegen mich noch immer nicht ganz abgeklungen war.

„Bin ich ja. gar nicht“, sagte ich und griff nach ihrer Hand.

„Hast du hier wenigstens so etwas Ähnliches wie eine Vase?“ Sie ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. „Draußen ist heller Tag, und du ... Warum musstest du auch mit den Kerlen von nebenan lange Nacht machen?“

„Nun schimpf nicht gleich mit mir“, sagte ich. „Ich habe schließlich Geburtstag. Da könntest du wirklich etwas freundlicher sein.“

Ulrike hatte hinter dem Vorhang, der mein Wohnabtei! von dem Gerümpelverschlag in der anderen Hälfte des Wagens trennte, eine Konservenbüchse gefunden und stellte die Feldblumen hinein. „Ganz schön primitiv“, meinte sie kopfschüttelnd, ging hinaus und kam mit der wassergefüllten Büchse zurück. „Mach endlich, dass du dich anziehst“, sagte sie. „Ich habe bei uns den Frühstückstisch gedeckt. Sogar frische Brötchen gibt es!“

„Prima!“ Ich sprang die Stufen hinunter. Das kalte Wasser, das aus der Zapfstelle gleich neben meinem Wagen sprudelte, machte mich im Nu munter, und ich fühlte mich plötzlich wie neugeboren. Ulrike stand in der Tür und sah mir beim Waschen zu; in meinem Übermut bespritzte ich sie mit dem eiskalten Wasser, dass sie kreischend ins Wageninnere zurücklief.

„Du bist gemein!“, rief sie. „Eine Viertelstunde habe ich vor dem Spiegel gestanden. Extra für dich. Jetzt sieh dir bloß mal meine Haare an! Und meine Bluse ist auch pitschnass!“

„Zieh sie doch aus“, sagte ich, während ich mich mit dem Handtuch trocken rieb, „mich würde das nicht im Geringsten stören.“

„Kann ich mir denken, du.“

Als ich in den Wagen zurückkam, riss sie mir das Tuch aus der Hand und trocknete sich das Gesicht ab. Dann drückte sie vorsichtig an ihrer Frisur herum, indem sie gebeugt vor dem Fenster stand und sich in der Scheibe spiegelte. „Ekel!“

„Hast du noch mehr dieser hübschen Wörter auf Lager? Du steigerst dich langsam .... Mit Schlafmütze hat’s begonnen ... Was kommt nun dran?“

„Du wirst dich wundern, wenn ich erst mal richtig loslege! Das kann ganz schnell passieren! Ich war wirklich ganz schön wütend auf dich, und eigentlich hatte ich überhaupt nicht kommen und dir gratulieren wollen.“ Ulrike trat an mich heran, wischte mir wieder die Haare aus dem Gesicht und nahm meinen Kopf so vorsichtig in ihre Hände, als wäre er ein Luftballon, der platzen könnte. „Warum musstest du denn wieder mit den Brüdern von da drüben trinken? Lass dich doch nicht dauernd von denen einwickeln! Merkst du denn nicht, dass die dich bloß ausnehmen? Die suchen doch nur einen Dummen, der für sie bezahlt!“

„Nein, nein!“, sagte ich und nahm ihre Hände herunter. „Ich hatte einfach Lust, das ist es. Und jetzt höre damit auf! Du kannst einem die ganze Geburtstagsstimmung verderben.“

„In Stimmung warst du gestern Abend genug, oder besser gesagt, heute früh. Man hat euch über den ganzen Platz prahlen hören.“

Ich spürte, dass mich das nächste Wort dieser Art hochbringen würde. Schon jetzt musste ich an mich halten, um ihr nicht in gleicher Weise über den Mund zu fahren. Was bildete sie sich denn ein! Brauchte ich etwa ihre Genehmigung, wenn ich mit einigen Jungs einen hinter die Binde gießen wollte? Wir lebten hier auf dem Rummel und nicht im Kloster.

„Hör mal", sagte ich und bemühte mich, ruhig zu bleiben. „Ich kann es einfach nicht haben, wenn mich einer dauernd wie ein kleines Kind an die Hand nehmen will, verstehst du? Ich will mich aber auch nicht mit dir streiten, heute schon gar nicht. Sei also jetzt friedlich.“ Ich strich ihr dabei über den Arm und tastete mich, schrittweise einen Finger vor den anderen setzend, zu den Knöpfen ihrer Bluse vor. Ich war darauf gefasst, dass sie sich brüsk abwenden würde, aber zu meiner Überraschung hielt sie still und blickte mich in einer Weise an, die mir Mut machte und meine Finger angriffsfreudiger. Ich schob meine Hand unter ihre Bluse und nahm ihre warme glatte Haut wahr, von der ich wusste, dass sie wie ein frisch polierter Apfel glänzte. Ich drückte Ulrike sanft auf das Bett hinunter und küsste sie. Aber nun spürte ich, dass sie es unwillig geschehen ließ.

„Was ist los?“, fragte ich und folgte mit meinem Blick ihrer Kopfbewegung. Da entdeckte ich, dass die Wagentür noch immer weit offenstand und sich im Wagen nebenan die Gardine bewegte, hinter der ein heller gesichtsrunder Fleck zu erkennen war.

Ich gab Ulrike frei und schloss brummig die Tür. Die Stimmung war dahin, das wusste ich, dazu kannte ich Ulrike zu genau. Aber auch mir war nun alles vergangen, und wütend setzte ich mich neben sie aufs Bett. Sie hatte die Knöpfe ihrer Bluse bereits wieder geschlossen und blickte mich unter ihren langen Wimpern hervor lächelnd an. „Wollen wir nicht zu uns hinübergehen? Ich habe mir so viel Mühe gegeben mit dem Tischdecken. Geburtstag hat man schließlich nur einmal im Jahr.“

Ich nickte. Viel lieber hätte ich jedoch hier in meinem Wagen eine Stulle auf die Faust genommen und Milch aus der Flasche getrunken, wie ich es oft tat, wenn ich das Frühstück, das Frau Pachnitzke sonst für mich mit bereitete, verschlafen hatte.

„Warum bist du gestern Abend gleich weggerannt?“, fragte ich und stellte mir vor, dass der Abend ganz anders verlaufen wäre, wenn es Ulrike nicht so eilig gehabt hätte, in ihren Wagen zu kommen.

„Du weißt doch, dass ich die Langewald-Brüder nicht ausstehen kann.“

„Ach“, sagte ich, „sei nicht so nachtragend. Das ist doch lange her. Seit ich hier bin, haben sie dich in Ruhe gelassen.“ Ich wusste, dass sie die beiden Langewald-Brüder hasste, weil die Kerle sie vor einiger Zeit unter einem scheinheiligen Vorwand in ihren Wohnwagen gelotst hatten und betrunken machen wollten. Sollte ich nun deswegen den beiden aus dem Weg gehen? Es war lange vor meiner Zeit passiert, also ging es mich nichts an. Sie respektierten, dass Ulrike zu mir gehörte, und ich hatte keinen Grund, auf die Jungs sauer zu sein

„Komm jetzt“, sagte Ulrike und zog mich an der Hand vom Bett hoch. Widerstrebend folgte ich ihr. Draußen atmete ich tief die klare Morgenluft ein.

Der Platz lag auf einer Halbinsel zwischen zwei Flussarmen. Hier, noch nahe dem Gebirge, war der Fluss klar und einladend; die Strahlen der Sonne drangen bis auf seinen Grund, und man konnte die Tollereien der fingerlangen Fische sehen und das ständige Wedeln und Fächern der Wasserpflanzen, die mit ihren ausgestreckten Armen wie Verkehrsposten auf Kreuzungen dem Fluss unaufhörlich den Weg zu weisen schienen: Hier entlang, hier entlang ...

„Wollen wir heute Abend baden?“, fragte ich Ulrike, einer plötzlichen Eingebung folgend.

Zu meiner Überraschung nickte sie. „Wenn du willst“, sagte sie, und in diesem Augenblick glaubte ich zu wissen, was sie dachte: Lieber mit ihm im Fluss baden, als ihm erneut die Möglichkeit geben, mit den Langewalds zu feiern. Und im Stillen gab ich ihr sogar recht. Hoffentlich steckten dann die beiden nicht gerade ihre Neugiernasen zur Tür heraus. Ich wollte mit Ulrike allein sein. Außerdem ging mir die Wichtigtuerei der beiden Langewalds mit ihren Autoscootern manchmal wirklich auf den Docht. Kann sein, dass auch ein bisschen Neid mitspielte, weil ich selbst gern an ihrer Stelle gewesen wäre oder doch wenigstens einen Job dort gehabt hätte.

Mit der „Traumfahrt“ hatte ich es natürlich auch gut getroffen. Mir machte es dort Spaß, und die hölzernen Figuren fand ich sehr lustig. Was wollte ich also mehr? Ich fasste aus dieser Stimmung heraus nach Ulrikes Hand und begann zu rennen. Staub wirbelte unter unseren Füßen auf, denn es hatte seit mehreren Tagen nicht geregnet, worüber natürlich alle Rummelleute mächtig froh waren, denn das warme und trockene Wetter lockte alt und jung heraus und füllte die Kassen der Karussells und Buden.

Atemlos kamen wir am anderen Ende des Platzes an, wo das Riesenrad, das Ulrikes Vater gehörte, seinen Standort hatte. Hier begann die Halbinsel sich bereits zuzuspitzen, und schon einen Steinwurf weiter hatte sie die Form einer Zunge, die sie dem sprudelnden Fluss entgegenstreckte.

Hinter dem Riesenrad hatte Ulrikes Vater aus seinen Wohn- und Transportwagen eine Wagenburg zusammengestellt, wie ich sie nur in Wildwestfilmen gesehen hatte, wo sich die ziehenden Siedler des Nachts auf diese Weise gegen Überfälle umherziehender Desperados zu schützen suchten. Doch gegen wen musste sich Ulrikes Vater schützen? Oder hatte er ganz einfach Gefallen an seiner Wagenburg gefunden, die er darum auf jedem Platz in gleicher Form aufbaute? Keiner der anderen Schausteller machte das, weil das Aufstellen einer Wagenburg viel Zeit kostete. Manchmal kam es mir darum vor, als wollte sich Herr Schmalfeld tatsächlich gegen irgendetwas, das ich nicht kannte, abschirmen.

Ich konnte ihn sonst gut leiden; er war ein freundlicher Mann, der voller Leidenschaft von seinen Erlebnissen auf dem Rummel erzählte, und gerade das gefiel mir. Wenn ich manchmal von anderen eine spöttische Bemerkung über ihn wegen seiner Wagenburg vernahm, musste ich ihn einfach in Schutz nehmen. Aber damit hatte ich in letzter Zeit keinen Erfolg mehr gehabt, weil gleich mit spitzer Zunge geantwortet wurde: „Du musst ja so reden, wo du doch seine Tochter an der Angel hast ...“ Ich hörte am besten über solche Bemerkungen hinweg. Was hätte ich auch darauf erwidern sollen?

Herr Schmalfeld hatte sich übrigens bisher mit keiner Silbe über mich und Ulrike geäußert, und für mich bestand vorläufig kein Grund, davon zu beginnen. Ich brauchte schließlich nicht seine Genehmigung, um mit seiner Tochter befreundet zu sein. Ich nahm allerdings an, dass auch er mich recht gut leiden konnte und darum Ulrike und mir nichts in den Weg legte — aber bedeutete das vielleicht, dass er sich keinen anderen als Freund seiner Tochter vorstellen konnte? Bestimmt nicht. Was also seine Ansicht über Ulrike und mich betraf - ich tappte da noch völlig im Dunkeln.

Inmitten der Wagenburg, vor dem aufwirbelnden Staub des freien Platzes geschützt, war ein kleiner zusammenklappbarer Tisch für zwei Personen gedeckt; mitten darauf Feldblumen, die in einer Tonvase steckten.

„Setz dich“, sagte Ulrike und drückte mich auf einen Stuhl. „Gleich wirst du bedient.“

Aus der geöffneten Tür des Wagens, in dem sie verschwand, drang Radiomusik, und als hätte sie Einfluss auf die Programmgestaltung des Rundfunks, erklang in diesem Augenblick das Lied, das Ulrike so gern hörte und in dem der verliebte Mensch vom Nordpol zum Südpol zu Fuß geht, um zu seinem Mädchen zu gelangen.

Ulrike zeigte sich in der Tür. „Hörst du?“, rief sie. Dann stieg sie die Stufen herunter und balancierte wie ein Seiltänzer ein Tablett über den Kies. „Du würdest das nicht machen.“

„Was?“

„Für mich so weit zu laufen.“ Sie stellte eine Kaffeekanne auf den Tisch, dazu Brötchen, Butter und zwei Eier, und erst jetzt bemerkte ich das Päckchen, das den größten Raum des Tabletts einnahm.

„Was ist denn das?“, fragte ich und spürte, dass ich ihr mit meiner Neugier einen Gefallen tat. Ich tippte mit dem Zeigefinger auf das bunte Papier. Es enthielt etwas Weiches, und ich ahnte, dass es ein Hemd war, denn Ulrike hatte vor einigen Tagen meine Wäsche gewaschen und dabei festgestellt, dass ich nur zwei Hemden besaß.

„Was könnte es wohl sein?“, fragte sie.

Ich wollte ihr nicht die Freude verderben und zuckte darum die Schulter. „Keine Ahnung!“ Ich befühlte nochmals das Papier. „Weich ist es, aber da gibt es viele Möglichkeiten.“

„Dann pack es aus!“ Sie goss Kaffee ein, während ich, scheinbar neugierig, das Päckchen auszuwickeln begann. Doch bevor ich noch erkennen konnte, was ich da aus der Papierhülle schälte, rief hinter mir eine Frauenstimme: „Herzlichen Glückwunsch!“

Ulrikes Eltern kamen schon vom Einkauf aus der Stadt zurück. Auch sie trugen Päckchen, die in ähnlichen Papierhüllen steckten wie meins. „Danke!“, rief ich zurück und winkte den beiden zu. Ulrikes Mutter kam heran und legte ihren Arm um meine Schulter. „Ihr habt ja noch nicht einmal gefrühstückt! Wolltet ihr denn nicht einen Stadtbummel machen?“

Ich blickte Ulrike erstaunt an. Davon wusste ich nichts. Sie hatte mich anscheinend damit überraschen wollen, denn sie drohte nun scherzhaft ihrer Mutter mit dem Finger. „Musst du immer alles verraten?“

Inzwischen war auch Herr Schmalfeld herangekommen. „Stadtbummel?“ Er zog die Stirn kraus und wiegte den Kopf.  „Das ist schade. Eigentlich hatte ich was anderes mit ihm vor.“ Nun wandte er sich direkt an mich. „Ich wollte gerade zu deinem Chef gehen, Manfred, und fragen, ob er dich heute Vormittag mal entbehren kann. Ich muss ...“

„Nein!“, rief Ulrike plötzlich. „Das ist gemein! Heute Vormittag wollen wir beide was unternehmen. Er hat doch Geburtstag! Und mit Herrn Pachnitzke habe ich schon gesprochen. Er hat Manfred freigegeben.“

Da konnte ich wirklich nur staunen! War ich denn plötzlich so begehrt, dass man sich um mich stritt? Das hätte ich mal zu Hause im Paradies erleben mögen! Auch dort hatte man sich um mich gestritten, aber das hatte andere Ursachen gehabt, und es hatte sich auch anders angehört, wenn Vater und Mutter sich meinetwegen zankten. Kam ich erst im. Dunkeln nach Hause, warf mein Vater meiner Mutter vor, dass sie mich verziehen würde, ich könnte ja bei ihr tun und lassen, was ich wollte. In seinem Jähzorn, der ihn dann überfiel, nannte er mich einen Rumtreiber und Mutter eine Rabenmutter, die sich nicht um meine Erziehung kümmern würde.

„Das ist nicht wahr!“, rief ich dann. „Mutter kümmert sich schon. Lass sie doch in Ruhe!“ Damit lieferte ich meinem Vater stets nur einen willkommenen Anlass, seine Wut auf mich „Rumtreiber“ noch zu steigern.

„Bestimmst du hier etwa, was gut und richtig ist?!“, rief er und lief erregt um den Tisch herum, und seine Blicks schienen nach einem Gegenstand zu suchen, den er mir an den Kopf werfen könnte. Wenn er nichts Geeignetes in Reichweite fand, wurde er noch wütender. „Das färbt alles nur von deinen Zigeunern ab, vom Rummel, wo du dich ja am liebsten rumdrückst.“

Fast immer endete eine solche Auseinandersetzung, die seiner Unzufriedenheit mit dem eintönigen Leben im Paradies entsprang, mit einem Tiefschlag gegen mich; er wusste, dass er mich mit seinen abfälligen Bemerkungen über den Rummel am empfindlichsten treffen konnte. Dann war es am besten, wenn ich mich in meine Bude verzog, aber manchmal war ich auch in Rollos Laube getürmt, von der mein Vater zum Glück nichts wusste. Dort fühlte ich mich sicher.

Ich hatte damals im Paradies den Eindruck, dass mein Vater gewissermaßen neidisch auf mich war, weil ich den Rummel hatte, wo ich mich, wenn auch leider nur zwei- oder dreimal im Jahr, richtig mit allem volltanken konnte, was der Mensch zum Leben außer Essen und Trinken braucht. Er hatte dagegen nur seine Kneipe, aber was war das schon im Vergleich zu meinem Vergnügen auf dem Rummel ...?

Natürlich würde mir so ein arbeitsfreier Vormittag, den ich mit Ulrike verbringen könnte, Spaß machen, aber ich wollte auch Herrn Schmalfelds Bitte nicht abschlagen, darum sagte ich: „Wir trinken jetzt in aller Gemütsruhe Kaffee, Ulrike, und dann helfe ich deinem Vater, einverstanden? In diesem Nest hier ist doch sowieso nicht viel los. Was willst du hier schon sehen?“

Ulrike hatte sich noch nicht entschieden, wem sie nun ihre wütenden Blicke schicken sollte - ihrem Vater oder mir. Ihre Augen gingen zwischen uns beiden hin und her, bis sie sich schließlich enttäuscht auf einen Stuhl fallen ließ. „Du wirst für den blöden Rummel noch mal zugrunde gehen!“, rief sie und meinte wohl mich, denn sie sprang gleich wieder auf, ging auf ihren Vater zu und sagte: „Er ist genau wie du! Total verrückt, wenn’s um den blöden Rummel geht. Da haben sich die zwei Richtigen gefunden.“ Dann wandte sie sich zu mir und meinte: „Entweder deine Karussells oder ich! Aber entscheide dich bald, Karo. Auf die Dauer mache ich das nämlich nicht mit! Denkst du, ich will wie meine Mutter leben und immer nur Rücksicht auf den Rummel nehmen müssen?“ Sie schüttelte heftig den Kopf.

„Beruhige dich, Mädchen“, sagte Frau Schmalfeld, fasste Ulrike um die Schulter und führte sie in den Wagen, aus dem noch immer Schlagermusik ertönte.

Enttäuscht sah ich Ihr nach. Musste sie aber auch immer alles so aufbauschen? Was gefiel ihr denn am Leben ihrer Mutter nicht? Frau Schmalfeld machte doch einen zufriedenen Eindruck, war immer freundlich und ausgeglichen. Musste sie wirklich so viel Rücksicht auf den Rummel nehmen, wie Ulrike in ihrem Ärger meinte? Aber wenn es um den Rummel ging, war mit Ulrike einfach nicht in Ruhe zu reden.

Da saß ich nun am gedeckten Tisch und sollte hungern. Zu meinem Glück setzte sich Herr Schmalfeld zu mir und meinte, kalt zu werden brauche der Kaffee deswegen nicht, und auch die Eier würden warm am besten schmecken. Auf diese Weise kam ich doch noch zu meinem Geburtstagsfrühstück, aber natürlich hätte es mir viel besser geschmeckt, wenn Ulrike mit mir am Tisch gesessen hätte.

„Du darfst sie nicht so ernst nehmen mit ihrem Tick“, meinte Herr Schmalfeld, als wir etwas später bei der Arbeit waren. Er musste einen Zahnkranz auswechseln und brauchte meine Hilfe dazu. Er war sehr geschickt, und ich sah ihm interessiert auf die Finger. „Sie kann sich einfach noch nicht an das Leben hier gewöhnen, verstehst du? Aber das ist meine Schuld.“

„Ihre Schuld? Wieso?“

Er setzte den neuen Zahnkranz auf die Achse und sagte: „Zieh straff!“ Danach wischte er sich mit dem Taschentuch über seinen kahlen Schädel, der ringsum von einem schmalen Streifen Haar wie ein Gartenbeet von einer Blumenrabatte eingefasst war. „Wenn sie schon als Kind, ich meine, bevor sie zur Schule kam, bei uns gewesen wäre und unser Zigeunerleben mitgemacht hätte, wäre es ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen, verstehst du?“ Er ließ sich erschöpft auf einem umgestülpten Eimer nieder. „Aber ich habe mich damals von meiner Frau breitschlagen lassen, und darum hat Ulrike bei ihrer Großmutter in Brückstedt gelebt. Nur in den Ferien ist sie bei uns gewesen, wie jetzt auch. Darum, verstehst du, habe ich nun den ganzen Ärger mit ihr.“

Seinen „Ärger“ kannte ich. Er sollte sich auf ärztlichen Rat hin endlich mehr Ruhe gönnen und nach Möglichkeit das Zigeunerleben ganz aufgeben. Darum wollte er nun das Riesenrad Ulrike überschreiben lassen; sie sollte weiterführen, was er unter Opfern aufgebaut, wofür er und seine Frau Jahrzehnte geschuftet hatten. Aber Ulrike stemmte sich mit Händen und Füßen dagegen. Sie wollte lieber „richtig in der Stadt wohnen“ und in einem Betrieb arbeiten wie bisher. „Dieser ganze blöde Rummel!“, sagte sie nur und wich nach Möglichkeit jedem Gespräch darüber aus, Wenn ich ihr riet, ernsthaft über die Worte ihres Vaters nachzudenken, konnte leicht der Eindruck entstehen, ich wollte auf diese Weise für mich selbst Vorteile herausschlagen, denn allein würde sie natürlich nie mit dem Riesenrad fertig werden; dazu brauchte sie unbedingt einen Mann, der zupacken konnte und etwas von der Sache verstand. Aber warum sollte ich nicht derjenige sein? Jedenfalls kam es mir nicht in den Sinn, zuzusehen und zu warten, bis ein anderer käme, der weniger zimperlich war als ich. Ich musste nur den geeigneten Augenblick abwarten, dann würde ich Ulrike in den schönsten Farben und Tönen ausmalen, wie gut es sei, wenn sie das Riesenrad übernähme und mit mir zusammenbliebe. Warum sie sich so ablehnend verhielt, begriff ich sowieso nicht. Mein Gott, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre! Ich hätte keine Sekunde gezögert. Aber ich war nun mal nicht der Sohn eines Riesenradbesitzers, sondern der eines Kraftfahrers, der mir kaum mehr als unliebsame Erinnerungen hinterlassen würde.

„Du hast es richtig gemacht“, sagte plötzlich Herr Schmalfeld zu mir. Er bot mir zu rauchen an und nestelte dann umständlich sein Feuerzeug aus der Tasche. „Bist einfach auf und davon … Traut man euch heutzutage gar nicht mehr zu ...“ Er nickte anerkennend. „Dazu gehört ’ne ziemliche Portion Selbstvertrauen.“ Wieder nickte er zu seinen Worten.

Selbstvertrauen? Ich hätte ihm am liebsten widersprochen. Mit Selbstvertrauen hatte mein Weggehen von zu Hause nichts zu tun gehabt. Höchstens in umgekehrter Richtung: Ich wollte es eher finden, auch deshalb war ich gegangen. Aber sollte ich nun darum viele Worte machen? Ich wusste nicht einmal, ob mich Ulrikes Vater verstanden hätte.

Genau vor einem Jahr, nämlich an meinem achtzehnten Geburtstag, hatte ich mich morgens, noch bevor sich jemand im Hause rührte, auf Zehenspitzen zur Tür hinausgeschlichen. Ich hatte lange auf diesen Tag gewartet; ich wollte sicher sein, dass sie mich nicht mit der Polizei zurückholen lassen können. Vier Jahre zuvor hatte ich es nämlich schon einmal versucht; doch mein Ausflug hatte nach knapp zwei Tagen dort geendet, wo er begonnen hatte: im Paradies.

Ich hatte es immer als Hohn empfunden, dass unsere Stadtrandsiedlung ausgerechnet „Paradies“ heißt. Mit auffälligen schmiedeeisernen Buchstaben hatten es seine Gründer vor sechzig oder siebzig Jahren an den Giebel des ersten Hauses schreiben lassen, damit jeder, der die Hauptstraße entlangkam und in die Siedlung abbiegen wollte, sofort begriff, wo er sich befand. Doch die Bewohner der Siedlung selbst und auch die Städter, die hinter dem Saalewall wohnen, nennen unsere Gegend nur „Zickzackhausen“. Das versteht jeder beim Anblick der seltsamen Bauweise.

Zickzackhausen besteht aus zwei parallel verlaufenden Straßen, die nicht einmal als Rennstrecke für Mopeds taugen, weil sie viel zu kurz sind. Kaum hat man nämlich richtig aufgedreht, muss man das Gas wieder wegnehmen, weil man am anderen Ende angekommen ist. Ich will nun nicht angeben und behaupten, ein Moped zu besitzen. Dazu habe ich es noch nicht gebracht. Viele meiner Mitschüler konnten schon von ihrer Jugendweihe an dafür sparen, aber ich bekam man gerade noch mit Mühe und Not einen Anzug zum Beginn dieses neuen Lebensabschnittes. Manchmal borgte mir aber ein Kumpel sein Moped, und ich drehte dann zwei oder drei Runden durch unsere Straßen. Auf die Hauptstraße, die zur Stadt reinführt und hier draußen nichts weiter als eine lange, nahezu baumlose Chaussee ist, wagte ich mich nicht, weil ich keinen Berechtigungsschein besaß, unser ABV aber seine Augen überall zu haben schien. Das Paradies ist immer der langweiligste Ort gewesen, den ich mir auf der Welt überhaupt vorstellen konnte. Dagegen musste das Leben der Eskimo auf Grönland oder das der Beduinen am Rande der Sahara das reinste Abenteuer sein. Zu uns aber wagte sich nicht einmal der kleinste Rummel, kein Karussell, keine Würstchen- oder Eisbude ... Wir waren abgeschnitten von der Weit. Die begann nämlich erst in Wallberg hinter dem Saalewall.

Über Eskimo und Beduinen las ich damals in Büchern, die ich mir in unserem Zickzackhausen ausleihen konnte. Die Zweigstelle der Wallberger Stadtbibliothek war der einzige Ort, zu dem es mich manchmal hinzog. Sonst gab es nur zwei oder drei Läden für den täglichen Kleinkram. Kino? Schön wär’s gewesen! Das gab’s aber nur in der Stadt. Im Paradies hatten wir nicht mal eine Schule. Zur Schule mussten wir über eine halbe Stunde laufen, bei Wind und Wetter, diese elende Chaussee entlang, wo es kaum mal Baum oder Strauch gab, und im Winter fiel einen der eisige Wind hier wie eine ganze Windarmee von allen Seiten an. Acht Jahre habe ich das mitgemacht, aber die haben mir dann auch gereicht. Meine Brüder haben es da heute besser: Sie werden morgens in einem Bus bis vor die Schule gefahren und kutschieren mittags, nach Schulschluss, in aller Gemütlichkeit wieder nach Hause zurück. Da kann der Sturm über die Chaussee heulen, soviel er will.

Eine düstere Miefkneipe gibt es noch im Paradies. Dort hocken immer die Dickbäuchigen, ich meine die schon über Vierzigjährigen wie mein Vater, und dreschen stundenlang ihren Skat. Schon bevor ich Abc-Schütze geworden war, wusste ich, dass zu der Kneipe drei Stufen hinunterführten, denn meine Mutter schickte mich manchmal dorthin, damit ich meinen Vater fragte, wann er endlich nach Hause kommen wolle. Das war meistens sonntags, was aber nicht heißt, dass er an den anderen Tagen einen Bogen um die Kneipe gemacht hätte. Unser Zickzackhausen ist also auch nie ein Paradies für ihn gewesen. Für mich blieb zum Glück immer die Stadt, und dort besonders der Rummel ...

Aus diesen Erinnerungen riss mich plötzlich Herrn Schmalfelds brüchige Stimme, die immer so klang, als wollte sie im nächsten Augenblick überschnappen. „Weißt du, so einen wie dich könnte ich gebrauchen.“ Er blinzelte dabei in die Sonne, und ich war froh, dass er mich nicht ansah. Bestimmt hätte er sonst von meinem Gesicht die Freude ablesen können, die seine Worte in mir auslösten. Sie brachten mein Blut regelrecht in Wallung und trieben es mir ins Gesicht. Hieß das, ich sollte von Pachnitzkes Traumfahrt weggehen und zu ihm überwechseln? Eigentlich lockten mich Langewalds Autoscooter, und ich hatte schon unauffällig meine Fühler ausgestreckt, um zu erkunden, ob ich dort ankommen könnte. Doch das Riesenrad war natürlich auch nicht schlecht! Und wenn ich nun tatsächlich mit Ulrike zusammenbleiben würde ... Nicht auszudenken! Mein Gott, dachte ich, das wäre genau das Richtige. Hatte ich nicht sogar manchmal davon geträumt?

Doch Herr Schmalfeld schien seinen soeben erst geäußerten Gedanken schon wieder vergessen zu haben. „Sie ist wie ihre Mutter“, sagte er und blickte mich an. Wahrscheinlich hatte er während der ganzen Zeit nur an Ulrike und seinen „Ärger“ mit ihr gedacht. „Für den Rummel muss man eben geboren sein. Ulrike aber …“ Er winkte mürrisch ab. „Manchmal frage ich mich wirklich, warum ihre Mutter und ich uns ein Leben lang so geplagt und uns alles vom Mund abgespart haben. Wozu? Natürlich hat sich ihre Mutter damals auch erst an den Rummel gewöhnen müssen, und es hat manche Träne gekostet, ehe ihr das gelang. Aber sie hat den Willen dazu gehabt und auch durchgehalten. Ich weiß nicht, was ohne sie aus mir und meinen Plänen geworden wäre. Soll denn nun alles umsonst gewesen sein?“ Er war anscheinend steif geworden und streckte die Beine von sich.

Außerhalb der Wagenburg regte sich nun der Rummel. Lieferwagen wirbelten Staub auf, Hammerschläge ertönten, Motoren kreischten, und die Ponys von „Trude Schulzes lustiger Ponyfahrt“ wurden aus dem. Stallwagen geführt und auf die schon kurz gefressene Wiese am Flusshang getrieben. Sie wieherten vergnügt. Lautsprecher plärrten probeweise, und an den Buden wurden die Markisen heruntergezogen. Die Frauen schrubbten und wuschen - schon beutelte der Wind Hemden und Hosen, Büstenhalter und Kissenbezüge auf den Leinen. Vor manchen Wagen entstanden regelrechte Freiluftwohnungen: Polsterstühle und Läufer, Kissen und Decken wurden geklopft, ausgebürstet und geschüttelt, und man hätte annehmen können, es wäre der erste Putz seit mindestens einem Jahr; dabei wiederholte sich diese Säuberungsaktion jede Woche einmal. Ausdauernd und geduldig kämpften die Frauen auf dem Rummel gegen Staub und Schmutz an. Ich hätte es längst aufgegeben, mich gegen Staub und Sand, die durch alle Fugen und Ritzen der Wagen drangen, zur Wehr zu setzen.

„Weißt du, wie ich angefangen habe?“, sagte Herr Schmalfeld.

Ich wusste es von Ulrike, doch um ihm einen Gefallen zu tun, schüttelte ich den Kopf. Herr Schmalfeld befand sich jedoch heute Morgen im richtigen Fahrwasser; auch ohne meine indirekte Aufforderung hätte er wahrscheinlich von seinen Erlebnissen auf dem Rummel berichtet. Es war sein Lieblingsthema, und in mir vermutete er wohl einen aufmerksamen und geduldigen Zuhörer. Ich richtete mich auf eine längere Erzählung ein, ließ mich auf eine zusammengelegte Plane nieder und stützte meinen Kopf in die Hand. Manchmal sah ich schemenhaft Ulrike oder ihre Mutter in der geöffneten Tür des Wohnwagens. Mir kam es vor, als wollten sie uns abwechselnd unauffällig beobachten.

„Ich habe es genau wie du gemacht und bin von zu Hause weggelaufen; allerdings hatte ich keine Eltern mehr, Vater Staat hatte mich zu fremden Leuten in Obhut gegeben. Da fiel es mir nicht schwer abzuhauen. Mich zog der Rummel damals wie ein Magnet an. Etwas anderes wäre für mich überhaupt nicht infrage gekommen, und ich nehme an, gerade du weißt am besten, wie das ist. Für ein warmes Essen am Tag und einen Schlafplatz für die Nacht wurde ich Gehilfe eines Mannes, der mit einem sonderbaren Unternehmen reiste: Er veranstaltete auf einer kleinen Bühne, die vor seinem Wohnwagen aufgebaut war, Schauboxen, wie er es nannte. Er war ein mächtiger Fleischkoloss, der einen mit einer einzigen Bewegung aufs Kreuz legen konnte. Er trat in einem straff sitzenden Dress auf die Bühne, ließ eine Zeit lang seine Muskeln spielen und verkündete dann mit rauer Stimme, dass er demjenigen, der den Kampf gegen ihn aufnehmen und nach sechzig Sekunden noch auf eigenen Füßen stehen würde, glatte zwanzig Mark in die Hand zahlen wolle. Dazu zeigte er einen abgegriffenen Geldschein herum und machte einladende Gesten. Währenddessen musste ich mit einem Hut herumgehen und das Geld kassieren. ,Nur einen Groschen kostet das ganze Vergnügen!‘, rief ich mit heiserer Stimme. ,Ein Groschen für den Boxkampf des Tages, meine Herrschaften!‘ Vor allem musste ich die Männer anfeuern, sich für den Kampf zu melden .Meine Herren! Zwanzig Mark stehen auf dem Spiel! Wer wagt, gewinnt!', rief ich und stachelte auf diese Weise den Ehrgeiz der Leute an, bis sich endlich so ein bedauernswerter Mensch gefunden hatte, der sich das Geld verdienen wollte. Das machten wir ungefähr jede Stunde einmal, und immer wieder fand sich ein Dummer, der meinen Chef und damit das Glück auf die Bretter zwingen wollte. Ich bin eine Saison mit dem Mann gereist, aber ich habe nicht ein einziges Mai erlebt, dass einer die sechzig Sekunden überstanden hätte. Ja, so habe ich angefangen. Dann geriet ich an einen, der ...'

„Vater“, sagte plötzlich Ulrike neben uns. „Warum erzählst du ihm denn deine ganze Geschichte? Hast du heute so viel Zeit? Es ist fast Mittag. Außerdem weiß Manfred das alles längst von mir.“

Herr Schmalfeld sah mich erstaunt an. Seine Augen leuchteten. „Stimmt das? Warum sagst du dann nichts?“ Er erhob sich und rieb sein Genick. „Das wird immer schlimmer mit mir. Eines Tages werde ich wohl total steif sein.“ Er ging langsam zu seinem Werkstattwagen hinüber, und im Vorübergehen klopfte er mir auf den Rücken und sagte: „Wie gesagt, du bist richtig. Für den Rummel muss man geboren sein, und ich glaube, du bist es.“ Ehe er im Wagen verschwand, drehte er sich noch einmal um. „Und vielen Dank für deine Hilfe, Manfred!“

Ulrike lächelte spöttisch. „Da haben sich die beiden Richtigen gefunden, was?“ Sie blickte auffällig auf ihre Armbanduhr. „Musst du nicht mal wieder zu deinem Brötchengeber zurück? Vergiss nicht, dass ich es war, die dich für den Vormittag von ihm losgeeist hat. Ich möchte keinen Ärger mit dem alten Pachnitzke kriegen.“

Ich erhob mich. Irgendetwas stimmte heute nicht mit Ulrike. Aber was war los? Warum wollte sie mich heute dauernd bevormunden? Ich griff nach ihrer Hand, aber sie zog sie schnell weg und wandte den Kopf, wobei ihr Haar, das bis auf die Schultern reichte, wie ein kastanienbraunes Tuch in ihr Gesicht wehte.

Ich wurde heute nicht aus ihr schlau. Wurmte sie noch immer, dass ich mit den Langewalds gefeiert hatte? Mein Gott, ich könnte ihr versprechen, dass es nicht wieder vorkommen wird! Ich machte noch einmal den Versuch, ihr in die Augen sehen und mit ihr sprechen zu können, indem ich ihr Gesicht zu mir wenden wollte, doch sie machte sich steif wie ein Karussellpferd.

Wütend ließ ich von ihr ab. „Wie du willst“, sagte ich schroff und stiefelte grußlos über den Kies. Doch bevor ich die Wagenburg verlassen hatte, rief sie: „Heute Abend am Fluss, ja?“

Ich antwortete nicht, sondern schlurfte wütend über den staubigen Platz. Das sollte mein Geburtstag sein? Die Geburtstagsstimmung hatte sie mir gründlich verdorben.

2. Kapitel

Alois Pachnitzke besaß wahrscheinlich das altertümlichste Karussell, das im ganzen Land existierte. Seine „Traumfahrt“ war eine Berg-und-Tal-Bahn und bestand aus dreizehn viersitzigen Abteilen in Form von Pferdeschlitten. Nun wurden die Schlitten aber nicht, wie man vielleicht erwartet, von hölzernen Pferden gezogen, sondern von ebensolchen lebensgroßen Männern geschoben. Sie hielten die Arme vorgestreckt, den Rumpf gebeugt und blickten die einsteigenden Fahrgäste trotz ihrer Mühsal freundlich und einladend an. Aber ihre Gesichter waren pockennarbig; seit Langem platzte die Farbe ab, und der Schaden wäre mit wenigen Pinselstrichen zu beheben gewesen, doch Pachnitzke wollte das nicht. Als ich einmal auf eigene Faust damit begonnen hatte, ranzte er mich an, ich solle ganz schnell die Finger davon lassen.

„Die Leute kommen doch auch so! Warum unnütz Geld für Farbe ausgeben?“ Verschmitzt fügte er hinzu: „Außerdem: Je älter, desto beliebter!“

Das Erstaunliche war: Er hatte recht! Die Leute kamen wirklich in Scharen, als wäre ausgerechnet die „Traumfahrt“ die Attraktion des ganzen Rummels. Vielleicht lockte wirklich gerade das Altertümliche, reizte die Tatsache, dass es auf dem ganzen Rummel etwas Ähnliches nicht gab? Anders konnte ich es mir nicht erklären. An manchen Tagen, wenn wieder einmal Hochbetrieb herrschte, verkürzte Pachnitzke einfach die Fahrzeit. Er blinzelte mir dann unauffällig zu und lachte, bis sein Mund mit den schmalen und blassen Lippen fast an die Ohren reichte. „Ich bin ein gutmütiger Mensch“, sagte er einmal zu mir, „ich kann einfach nicht mit ansehen, wenn die einen da unten so lange warten sollen, weil die anderen in aller Ruhe ihre Runden drehen. So knappse ich eben ein bisschen von der Zeit ab, und die da draußen kommen eher zu ihrem Glück.“