Keine Flügel für Reggi - Siegfried Maaß - E-Book

Keine Flügel für Reggi E-Book

Siegfried Maaß

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Beschreibung

Ein junger Lehrer verursacht einen Motorradunfall und ist danach querschnittgelähmt. Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hat ihn aus der Bahn geworfen – buchstäblich wie auch folglich. Mit seinem Überleben weiß er zunächst nichts anzufangen. Für seinen Beruf ist er nicht mehr tauglich. Was nun? Sein Mädchen hat sich getrennt, ihn im Stich gelassen, wie er es bezeichnet, als er sie am Nötigsten gebraucht hätte. Welchen Sinn hat sein Leben noch? „Flügel hab’ ich leider nicht“, ist seine bittere Erkenntnis, hinter der sich sein Mangel an Lebensmut verbirgt. In lange währender Abwehrhaltung beginnt er während der Rehabilitation eine neue Ausbildung, die er mit der Unterstützung hilfreicher und verständnisvoller Menschen seines neuen Umfeldes abschließt. Sich an den Gedanken zu gewöhnen, die Stätte seiner Rehabilitation eines Tages aufgeben und sich in die ‚Öffentlichkeit’ begeben zu müssen, fällt ihm schwer. Am Tag seiner Entlassung aus der Rehabilitation überdenkt er die Zeit seines Aufenthaltes in der 'Burg’, die ein Schlupfwinkel für ihn gewesen ist, in dem er sich verkriechen und von der Außenwelt isolieren konnte. Nun muss er die Geborgenheit seines zweijährigen Aufenthaltes endgültig verlassen. Wie wird er 'draußen’ zurechtkommen? Der Autor gestaltet den Lebensweg des jungen Mannes im Wechsel von Rückblende und gegenwärtigem Geschehen, so dass der Leser die leidvolle Geschichte des Protagonisten aus unterschiedlichen Perspektiven kennen lernen kann.

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Impressum

Siegfried Maaß

Keine Flügel für Reggi

ISBN 978-3-86394-233-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1984 bei Verlag Neues Leben, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

Teil 1

1.

Morgen muss ich die "Burg" verlassen. Morgen, das ist am Ende dieser letzten Nacht hier drinnen. Ich habe Angst davor. Was erwartet mich draußen?

Ich sollte längst im Bett sein, mich ausruhen, Kraft sammeln für das, was morgen beginnt. Aber ich bin ans Fenster gefahren, habe den Vorhang zur Seite gezogen und blicke auf den "Burghof" hinunter, wo im Ententeich der Mond badet, und wo ich die Eingänge zu den Werkstätten erkennen kann. Im dicken, von Efeu überwucherten Mauerwerk der Hauswand wirken sie wie Schlupflöcher, in denen man sich verbergen kann.

Die Burg ist ein Schlupfwinkel für mich gewesen, zwei Jahre konnte ich mich hier verkriechen. Jetzt muss ich hinaus. Begebe ich mich in Gefahr?

Ich habe Angst, besonders vor Brückstedt, wo mir alles seit meiner Kindheit vertraut ist. Als Gesunder habe ich unsere Siedlung damals verlassen; als Krüppel kehre ich zurück. Was erwartet mich dort? Fremdheit? Mitleid?

Ich will kein Mitleid!

Eine gewisse Gabi macht sich in unserem Brückstedt ein schönes Leben; wenn ich die Augen schließe, sehe ich deutlich, was sie tut: Sie reitet. Fährt nicht mehr Motorrad wie einst mit mir, sondern reitet. So habe ich es im Traum erlebt, und so erscheint sie mir seitdem, wenn ich die Augen schließe. Oder sie tanzt. Wirbelt in einem weiten weißen Rock auf grünen Wiesen umher, läuft einem, der in engen Jeans steckt und kein Hemd trägt, direkt in die Arme. Die Köpfe ganz aneinander, flüstern dann beide: Armer Reggi, armer Reggi...

Ich reiße die Augen auf und möchte die Finger in die Ohren stopfen. Hört auf, will ich am liebsten rufen, hört auf mit eurem Mitleid.

Der Traum verfolgt mich überallhin.

Von mir, dem Krüppel, hat sie sich losgesagt, mich gibt es einfach nicht mehr, für sie bin ich so gut wie tot. Manchmal frage ich mich, warum ich damals nicht tatsächlich... Wie viel wäre mir dann erspart geblieben.

Ich will Gabi nicht wieder begegnen, würde sie mit meinem Rollstuhl einfach umfahren. Es sei denn, sie kommt wie in meinen Angstträumen wirklich auf einem Pferd. Oder sie flüchtet auf eine Treppe. Wahrscheinlich würde ich jedoch im letzten Augenblick davor zurückschrecken, weil ich zu feige bin. Wie ich zu feige war, mir etwas anzutun.

Unten im Saal feiern die anderen Abschied. Weil sich der Saal im Seitenflügel befindet und hell erleuchtet ist, kann ich von meinem Platz am Fenster die Schatten sehen; gespenstisch sieht es aus, was sie tanzen nennen. Die einen stelzen auf ihren Prothesen, andere drehen steif den ganzen Körper, weil sie ihre Wirbelsäule nicht verrenken dürfen. Aber sie stehen auf Füßen. Ich werde mein Leben lang im Rollstuhl sitzen. Leben... Ist es wert, so genannt zu werden, was mir geblieben ist?

Ich stoße die Tür zum Balkon auf. Die Schwelle ist längst entfernt worden, so dass ich mit meinem Rollstuhl ohne Schwierigkeit hinauskomme. Draußen werden jedoch Hunderte Schwellen sein, die meinen Weg versperren.

Die Nacht ist warm. Ich kenne solche Nächte; und wenn Gabi jetzt draußen ist oder am Fenster steht, müsste sie an unsere Sommernächte am Kiesschacht denken. Oder hat sie sich mit diesem Brief auch von ihren Erinnerungen losgesagt, sich selbst verstümmelt, indem sie einfach ein Stück aus sich herausriss, weil es ihr unbequem geworden war?

Lieber Reggi, es fällt mir nicht leicht, Dir diesen Brief zu schreiben, glaub mir bitte. In Gedanken hab ich ihn schon oft formuliert, aber erst heute kann ich mich aufraffen, Dir endlich zu sagen, was mich schon längere Zeit beschäftigt: Du und ich, Reggi, das geht nicht zusammen. Versteh mich. Ich habe mir selbst vorgetäuscht, Dich zu lieben, jetzt weiß ich es besser. Das hat mit Deinem Unfall nichts zu tun. Du bist stark, Reggi, und wirst es überstehen. Alles Gute für Dich. Gabi

Ich habe diesen Brief zerrissen. Dann wollte ich ihn wieder zusammensetzen und auf ein Stück Papier kleben, weil ich plötzlich glaubte, irgend etwas, ein Postskriptum vielleicht, übersehen zu haben. Aber die Schnipsel waren in alle Ecken, auf den Schrank und sonst wohin gesegelt, so dass ich sie nicht aufheben konnte. Als Frau Emmerich gekommen war, um aufzufegen, sah ich die Papierfetzen zu einem kleinen Haufen auf ihrem Kehrblech anwachsen. Sie blickte mich fragend an, aber weil ich schwieg, schüttete sie den Kehricht in einen Eimer. Ich wollte, sie hätte meine Erinnerungen ebenso zusammengescharrt und in den Müll geworfen.

Morgen muss ich die Burg verlassen, ich kehre heim zu meinem Vater. An ihn werde ich mich klammern wie einst, als ich ein kleiner Junge war, der Angst vorm schwarzen Mann und vor jedem Hund hatte.

Mein Vater hat in unserem Haus alles für mich geebnet. Er hatte damals, nachdem das Urteil der Ärzte verkündet war, an die Stadtverwaltung geschrieben:

Lieber Herr Bürgermeister, mein Sohn ist querschnittsgelähmt und muss im Rollstuhl fahren, er kommt über keine Schwelle. Ich beantrage darum, dass Sie einen Handwerker schicken, der die Schwellen herausreißt. Oder ich mache es selbst...

Bald darauf schickte der Bürgermeister einen Handwerker. Der Mann sah sich die Schwellen an, beklopfte die Türrahmen und wiegte seinen Kopf. Die Falte auf seiner Stirn zeigte seine Bedenken an. Das müsse er erst dem Meister zeigen, erklärte er meinem Vater, der mir später alles wiederholte und beschrieb. Am nächsten Tag kam der Mann wieder und ließ seinem Meister den Vortritt. Die könnten sie nicht herausreißen, meinte der Meister und wippte auf der Schwelle zwischen Küche und Wohnzimmer. Dann wäre kein Halt mehr für die Türrahmen da.

Das Bier, das mein Vater bereitgehalten hatte, trank er nun selbst. Dann holte er sein Stemmeisen aus dem Keller und brach eine Schwelle nach der anderen heraus, ohne dass das Haus zusammenfiel.

An einem Wochenende, als ich zum ersten Mal Urlaub von der Klinik hatte, konnte ich ungehindert in den unteren Zimmern umherfahren. Aber dorthin gehörte ich gar nicht, weil sich mein Zimmer in der oberen Etage befand und gleich daneben die Dachkammer, die ich ebenfalls für mich beanspruchte, um dort aufzubewahren, was eigentlich seinen Wert inzwischen verloren hatte, zum Beispiel die Boxhandschuhe.

Dort oben lag mein Reich. Ich war aus ihm verbannt,·und zwar für immer.

Noch einmal schrieb mein Vater an den Bürgermeister:

Die Schwellen sind nun raus, aber wir brauchen noch eine schiefe Ebene, damit mein Sohn selbständig zum Haus hereinkommt...

Nichts ist seitdem geschehen.

Ich weiß nicht, warum sich mein Vater damit zufriedengibt und lieber auf die Stadtverwaltung schimpft, als endlich etwas zu unternehmen. Glaubt er wirklich, mit Briefen könnte er unser Problem lösen? Er ist jetzt bei der Bahn beschäftigt, wo es einen Bautrupp gibt. Sollten ihm seine Kollegen wirklich nicht helfen wollen? Aber ich kenne meinen Vater genau; jemand um etwas zu bitten ist unter seiner Würde. Selbst die beiden Briefe an den Bürgermeister haben sein Ehrgefühl verletzt.

Früher, als meine Mutter noch lebte, mein Vater endlich seine Arbeit als Monteur aufgegeben hatte und immer pünktlich nach Hause kam, ging er selten noch einmal weg. Jetzt hockt er fast jeden Tag vom Nachmittag an in der Kneipe. Wenn ich von der Klinik für ein Wochenende beurlaubt war, spürte ich seinen Unmut, meinetwegen nicht zu seinem Stammtisch gehen zu können. Ich konnte mir nicht erlauben, ihn fortzuschicken, weil ich auf ihn angewiesen war. Darum war es am besten, wenn wir unseren Kummer gemeinsam hinunterschwemmten. Nach einer guten Stunde war uns dann jedes Mal wohler, und wir konnten wie früher ungezwungen miteinander reden.

Auch davor habe ich jetzt Angst. Ich kann auf seine Hilfe nicht völlig verzichten. Denn noch immer muss mich mein Vater zum Beispiel die fünf Stufen hinauftragen, wenn ich nach Hause komme. Oder der Nachbar ist erreichbar, dann heben sie mich gleich mit dem Rollstuhl hinauf. Morgen wird es nicht anders sein, übermorgen nicht und so weiter. Die Städte sind von Gesunden für Gesunde gemacht. Krüppel wie ich stehen nicht in ihren Plänen. Für mich gibt es die Burg, hier haben sich die Gesunden nach mir und den anderen Behinderten zu richten. Doch ab morgen... Wie werde ich draußen zurechtkommen?

Ich wollte gar nicht in die Burg, erkannte keinen Sinn darin, neu zu beginnen. Wozu noch einmal neu beginnen, wenn alles schon vorüber ist? dachte ich und muss es so ähnlich auch zu der Fürsorgerin gesagt haben, die mich zu Hause aufsuchte, nachdem ich die Klinik verlassen durfte.

Sie war noch jung und redete auf mich ein, als wäre ich den ersten Tag im Kindergarten. Ich hatte meinen Rollstuhl so weit wie möglich vom Tisch weggefahren, an dem die Frau und mein Vater saßen, und ich konnte genau beobachten, wann mein Vater ihren Worten mit einem Nicken zustimmte und wann nicht. Daran hielt ich mich. An seine Meinung habe ich mich immer gehalten, nicht erst, seit Mutter tot ist.

"Es gibt in Herbigsdorf", sagte die Frau, "das werden Sie vielleicht kennen, ist ja nicht weit von Brückstedt entfernt, ein Rehabilitationszentrum, Sie können dort Uhrmacher werden."

Mein Vater schwieg und hielt seinen Kopf still.

"Ich will nicht Uhrmacher werden", erwiderte ich.

Die junge Frau spielte mit ihrem Kugelschreiber, den sie· mal auf die Spitze, mal auf den Drücker stellte.

"Ich weiß", meinte sie. "Aber denken Sie doch mal ganz real, Herr Tischmeier. Sie wissen, wie Sie jetzt beschaffen sind. Und Sie brauchen wieder eine Aufgabe..."

Uhrmacher, dachte ich, hat doch keinen Sinn.

In mir war keine Feder gespannt, kein Rädchen drehte sich. Allein meine Unruhe trieb mich, übersetzte sich in meine Finger, mit denen ich meinen Rollstuhl fortbewegte, und das mein Leben lang.

"Herbigsdorf ist für Sie wirklich geeignet", hörte ich die Frau sagen. "Ausgezeichnetes und erfahrenes Fachpersonal, und alles ist dort für Ihresgleichen eingerichtet. Keine Schwellen, sondern schiefe Ebenen, ein Fahrstuhl..."

Ihresgleichen. Meinesgleichen. Ich musterte die Frau dort am Tisch. Wer bin ich denn jetzt? fragte ich sie in Gedanken. Ein Mensch? Und wenn ja, welcher Ordnung? Vierter? Fünfter? Ihresgleichen... Sag doch, dass ich ein elender Krüppel bin, sag's doch, dachte ich. Uhrmacher! Ich bin Lehrer, und mein Beruf macht mir Spaß! Warum ich es nicht hinausschrie, weiß ich nicht. Möglich, dass mir die Stimmbänder versagten.

Ich wollte immer Menschen um mich haben. Nichts Schlimmeres konnte sich meine Mutter früher ausdenken, als mich wegen irgendeiner Dummheit mit Hausarrest zu bestrafen. Aber ich bin viel schlimmer dran als früher; damals wusste ich, auch diese Strafe hat einmal ein Ende, und dann steht mir die Welt, die kleine, die ich mir erobert hatte, wieder offen. Hingegen jetzt...

Ich bin zweiundzwanzig gewesen und war schon am Ende angekommen.

Der Himmel ist hoch. Eine Sternschnuppe zieht überm Park entlang. Früher hätte ich mir in solchen Augenblicken etwas gewünscht. Was? Eine weite Reise vielleicht. Bis Sibirien bestimmt. Hinterm Ural musst du gewesen sein, dachte ich und bedauerte sogar, die Reise nicht wie Anton Tschechow mit der Pferdekutsche machen zu können. Aber bestimmt wäre ich, statt bequem im Flugzeug zu sitzen, mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren. Land und Leute hatte ich kennenlernen wollen. Wäre womöglich auf einer kleinen Taigastation ausgestiegen und hätte mich zur nächsten Siedlung durchgeschlagen.

Der Gedanke, mir Gesundheit zu wünschen, ist mir nicht gekommen. Ich war jung, ich war gesund. Heute bin ich nichts von beiden, bin ein Alter und Krüppel dazu.

Dieses Wort lehnte die Fürsorgerin, die mich später noch öfter besuchte und meinen Entschluss zu hören wünschte, entschieden ab. Nicht einmal von einer "Behinderung" wollte sie etwas wissen, sondern redete von "Schädigung" - die Maßnahmen unserer sozialen Rehabilitation sollen dazu führen, dass keine Lebensbehinderung auftritt.

Ihre Worte riefen bei mir nur ein verächtliches Lächeln hervor. Sie muss so reden, dachte ich, wird ja dafür bezahlt. Aber steckte sie vielleicht in meiner Haut, in meinem verkrüppelten Körper? Wollte sie Sibirien gesehen haben oder ich? Hatte sie als Lehrer vor der Klasse stehen wollen oder ich?

Die schützenden Mauern der Burg werden sich morgen für mich öffnen. Früher galt Hausarrest für mich als schärfste Bestrafung. Jetzt wäre ich froh, nicht hinauszumüssen. Aber hier gibt es keine Schwelle, die mich zurückhält.

Drüben im Seitenflügel der Burg tobt das Abschiedsfest weiter. Zwei, die genug vom Tanzen im stickigen Saal haben, sind herausgekommen. Umschlungen schlagen sie den Weg zum Ententeich ein, wo es längst keine Enten mehr gibt. Sie setzen sich auf eine Bank, kuscheln sich aneinander, küssen sich.

Anke und Gerald, unser Staatspaar. Jeder in der Burg, selbst Direktor Habermann, respektiert ihre Zusammengehörigkeit, weil auch unsere Psychologin, auf deren Meinung er Wert legt, nichts Nachteiliges zur Freundschaft der beiden zu sagen hat.

Soll ich sie beneiden, weil sie keine Rollstuhlfahrer sind?

Gerald hat bestenfalls noch fünf bis sechs Jahre zu leben. Diagnose: Knochenkrebs. Sein linkes Bein ist bis zum Oberschenkel amputiert, und von acht Wochen bringt er regelmäßig die Hälfte im Krankenhaus zu, wo er jedes Mal eine Spritzenkur über sich ergehen lassen muss. Kehrt er danach in die Burg zurück, sind seine Haare ausgefallen, und seine Haut ist dünn und durchsichtig wie Pergament, dabei bleich wie ein Bettlaken. Haben seine Haare wieder Streichholzlänge erreicht, beginnt das gleiche von vorn.

Aber Gerald lebt und liebt.

Ich weiß nicht, wie ihm das gelingt.

Seine Freundin war Friseuse. Ihre Verehrer wechselten wöchentlich; einen Wartburg machte sie zur Bedingung, sonst stieg sie, wenn sie zu Feierabend abgeholt wurde, gar nicht erst ein.

Und dann war es eines Tages im Feierabendverkehr der Großstadt geschehen - Bremsen quietschten, ein großer schwarzer Schatten raste auf den Skoda zu, in dem sie saß. Anke fühlte einen derben Schlag... Als sie wieder zu sich kam, fehlte ihr rechtes Bein. Sie musste danach vieles neu lernen, auch lernen, sich zu bescheiden, denn von ihren vielen Verehrern hat sich niemand mehr um sie bemüht.

Jetzt hat sie Gerald. Beide lernen Funkmechaniker und haben ihre Arbeitsplätze nebeneinander. Sie schmieden Pläne für die Zukunft - eine Zukunft, deren Dauer so leicht zu berechnen ist.

Ich in meinem Rollstuhl kann alt wie Methusalem werden. Dennoch habe ich keine Vorstellung von der Zukunft - nur Angst.

Wie die beiden dort unten habe ich oft mit Gabi gesessen. Meistens sind wir aus Brückstedt hinausgefahren; wir mochten besonders den Kiesschacht, nicht weit von der Landstraße gelegen, doch weit genug, um ungestört zu bleiben. Solche Sommernächte wie heute schienen nur für uns geschaffen. Wir flogen auf meiner Maschine zur Stadt hinaus; ich spürte Gabis Atem in meinem Nacken. Auf dem Feldweg, der zum Kiesschacht führt, fuhr ich langsam, weil uns sonst die Kiesel um die Ohren gespritzt wären wie Tropfen aus einer Fontäne. Immer an derselben Stelle bockte ich die Maschine auf. Wir fassten uns an den Händen und rannten das letzte Stück bis zum Wasser, und als ginge es um die Weltmeisterschaft im Kleiderausziehen, rissen wir uns schnell alles herunter und liefen dann ins Wasser, das eisig war, lange hielten wir es nie aus. Ein Handtuch hatten wir nicht. Waren wir aus dem Wasser gestiegen, liefen wir um den Kiesschacht herum, und zu unseren Kleiderhaufen zurückgekehrt, waren wir wieder trocken. Der sommerwarme Wind, der über die Felder strich, blies selbst die letzte Pore frei.

War das in einem anderen Leben?

Oder sind es Bilder aus einem Film, der uns in der Burg vorgeflimmert wurde?

Jeden Mittwoch kommt der Kinowagen; kulturelle Betreuung wird in der Burg groß geschrieben, sie gehört zu unserer sozialen Rehabilitation. Weiß ich alles, aber ich nehme daran trotzdem nicht teil. Ich kann nicht ertragen, die anderen Krüppel, die ich den ganzen Tag um mich habe, auch zur kulturellen Betreuung noch sehen zu müssen.

Für Kino, Sportfeste und Theaterfahrten, Ausflüge in die nähere Umgebung und so weiter ist Frau Hesse verantwortlich, die ich für mich nur "Schwarze" nenne, weil ihr Haar wie das Gefieder eines Kolkraben aussieht. Sie hat es nicht gern, wenn ich mich ausschließe, und rümpft verächtlich die Nase, wenn sie erfährt, dass ich in der Kneipe war, wo ich auf den Hof fahren muss, um an mein Bier zu kommen, mich wie ein Ausgesperrter vor die Luke stelle, durch die sie die Küchenabfälle hinauswerfen. Eine alte Tonne steht gleich darunter. Daneben ich, mein Bier auf dem Bord der Abfallluke, und am liebsten möchte ich mir dann eine Klammer auf die Nase stecken. Aber ich bleibe so lange wie möglich, bis Viertel vor zehn, zehn Uhr ist in der Burg Zapfenstreich, und wer später kommt, kann sich am nächsten Morgen "eine Pfeife anstecken" bei Direktor Habermann - gängige Redensart in der Burg.

Jedenfalls hat er nichts gegen Bier einzuwenden, nur gegen die unwirtliche Art, auf die ich's zu mir nehmen muss. Seit er aber mit dem Wirt gesprochen und verlangt hat, dass dieser eine Auffahrt schaffen solle, damit wir Rollstuhlfahrer in die Gaststätte kämen, muss ich froh sein, wenn der Mann mich überhaupt noch bedient. Eine Auffahrt beziehungsweise schiefe Ebene? Vielleicht auf seine Kosten?

Sollen die Rollstühle die Gaststube versperren, den Gesunden die Wege verbauen? Und wer ersetzt die Möbel, die von den Rollstühlen zerschrammt und zerschunden werden? Und die Schmutzspuren von den Rädern... Wer soll die beseitigen? Direktor Habermann zog den Kürzeren. Kein Gesetz gebietet oder schreibt vor, wonach er verlangte. Will ich mein Bier, muss ich mich wie bisher an die Abfallluke stellen. Seit Habermanns Verlangen hat der Wirt kein Wort mehr an mich gerichtet.

Der Direktor hat also nichts gegen zwei, drei Glas Bier einzuwenden; um so mehr die "Schwarze", die uns immerfort "kulturell betreuen", sprich "sozial rehabilitieren", eingliedern will.

Ich pfeife darauf!

Die beiden dort unten kommen zurück. Die meisten Zimmer sind jetzt leer, irgendwo werden Anke und Gerald auf ihre Weise Abschied von der Burg feiern, morgen früh trennen sich ihre Wege. Aber die paar Kilometer zwischen ihren Orten sind am Wochenende schnell geschafft, sie sind ja keine Rollstuhlfahrer; mit einer Beinprothese lässt es sich gut leben. "Nein", habe ich gesagt, als mich Frau Hesse aufforderte, zum Abschiedsfest hinunterzukommen.

"Herr Tischmeier", sagte sie, "Sie machen immer wieder den gleichen Fehler, selbst bis zum letzten Tag. Warum kapseln Sie sich ab? Sie gehören doch dazu!"

Das will sie mir schon einreden, seit ich in der Burg bin: Sie gehören dazu!

Zu den Krüppeln, stimmt! Aber deswegen muss ich nicht mit den anderen Krüppeln Abschied feiern. Ich bin froh, wenn ich meine Tür hinter mir schließen kann. Die anderen gehen mich nichts an.

Mir wird kühl, ich fahre ins Zimmer zurück und schlage die Balkontür hinter mir zu. Einen Schluck habe ich noch in der Flasche. Dort unten herrscht nur Colafröhlichkeit.

Ein Liter Wodka und eine Schachtel Tabletten, auch das wäre eine Möglichkeit gewesen. Die habe ich verpasst. Jetzt bringe Ich es nicht mehr fertig, das mit den Pillen. Nach einer Flasche Schnaps komme ich morgens wieder zu mir.

Aber aufwachen und fühlen, dass man lebt. Das wünsche ich mir! Daran hätte ich denken sollen, als vorhin die Sternschnuppe über den Park zischte.

Ich bin nie gern aufgestanden, früher. Meinetwegen hätte der Unterricht immer erst um elf beginnen können, das wäre genau richtig für mich gewesen. Aber schon um sieben Uhr fünfzehn begann bei uns der Unterricht, und ich musste die Klasse dann entweder in die Turnhalle gleich neben der Schule oder auf den Sportplatz führen, der gut einen Kilometer entfernt liegt - das kam ganz auf das Wetter an. Im Winter benutzte ich nur die Turnhalle. Nach der Stunde brachte ich die Klasse zum Schulhof zurück und zog sofort mit der nächsten wieder los. An diesen Rhythmus war ich gewöhnt.

Jetzt einmal aufstehen können wie früher! Die Welt in die Arme zu nehmen, hieße das für mich. Genussvoll und mit Verstand den ersten Schritt am Morgen setzen, das Fenster aufreißen, sich aufs Kreuz legen und mit den Beinen in der Luft strampeln, bis der Schweiß auf der Stirn perlt. Zur Schule rennen, rennen, obwohl ich noch viel Zeit habe, ich wäre der erste in der Schule, der Hausmeister müsste mir einen Schlüssel anfertigen, weil der Haupteingang noch versperrt sein würde, wenn ich käme. Und ein schönes sauberes Tafelbild wäre zu sehen, wenn die wilde Meute erschiene.

Von heute auf morgen die Klassenarbeiten nachsehen - selbst das könnte eine Freude sein...

Hirngespinste, Fantasieauswüchse... Ich werde nie wieder Lehrer sein, bin Uhrmacher, und in Brückstedt hat man nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen einen Arbeitsplatz für mich eingerichtet, es heißt, ich würde mich dort wohl fühlen...

"Was ist denn los?", frage ich und stelle die Flasche weg, fahre zur Tür und drehe den Schlüssel. Zwischen den Türpfosten Wilfried, der aus seinem Rollstuhl lächelt und mich in den Saal holen will. "Du bist der einzige, der fehlt", sagt er. "Warum kommst du nicht?"

"Weil ich nicht will!"

"Du bist stur, Reginald!"

"Ich bin lahm", sage ich, "lahm, merkt euch das endlich und lasst mich diesen letzten Abend in Ruhe!"

"Und was bin ich?",·Wilfried streckt seine Hand nach mir aus. "Eben weil es der letzte Abend ist", sagt er. "Du hattest genug Zeit zum Grübeln. Jetzt mach Schluss damit. Es ändert nichts."

"Du änderst nichts", sage ich und fasse nach der Tür. Mit einem Schlag wäre sie zu. "Du änderst mich nicht!"

"Weiß ich. Aber du stößt alle vor den Kopf, wenn du stur bleibst."

"Hat dich die Schwarze geschickt?", frage ich. "War wohl zu feige, selbst zu kommen?"

"Sie weiß nicht, dass ich hier bin."

"Dann ist es gut. Sieh zu, dass du wieder unauffällig in den Saal kommst." Mein Spiegelbild zerbricht, die Tür ist zu. Er tut, als würde er richtig leben. Ich habe ihn nie verstanden. Muss eiskalt gegen sich selbst sein, sonst könnte er sich nicht so sehr in der Gewalt haben.

Er war achtzehn. Draußen am Hoheforter See, dem ehemaligen Tagebau, balgten sie umher, vier oder fünf Jungen, und ganz in der Nähe einige Mädchen. Sie lagen auf einer Decke, die Köpfe in die Hände gestützt, und sahen der Balgerei ihrer Freunde ohne Anteilnahme zu. Sie waren es gewohnt, dass die Jungen sich wie Kinder benahmen und ihnen, den Mädchen, ihre Kraft und Geschicklichkeit vorführten wie Artisten im Zirkus. Längst hatten sie es aufgegeben, sich dazu zu äußern oder die Jungen zur Ordnung zu rufen. Sie protestierten nur, wenn ihnen der Sand in die Gesichter stiebte.

Wilfried, auch das wussten sie, war der wendigste, keiner der anderen bekam ihn zu fassen, und je mehr sich diese mühten, Haken schlugen oder ihn mit langen, überraschenden Sprüngen erreichen wollten, um so geschickter entzog sich ihnen der Gejagte.

Aber dann hatten sie Wilfried zum Steilufer abgedrängt, und die Mädchen richteten sich auf. "Hört jetzt auf!", rief eins von ihnen. "Soll er vielleicht abstürzen?"

Wilfried lachte. Abstürzen, er? Keine Panik, Mädchen! Er wandte sich um, wippte zwei-, dreimal auf den Sohlen, stieß dann einen lauten, übermütigen Schrei aus und sprang, die Arme ausgebreitet, als wollte er fliegen, den Steilhang hinab. Sekunden später tauchte er in das graublaue Wasser, eine Fontäne spritzte auf...

Die Mädchen, eben noch vom Schreck gelähmt, sprangen auf und liefen zu den Jungen, die am Rand des Steilhangs fassungslos standen - das hatte noch keiner von ihnen gewagt, das brachte nur Wilfried fertig. Auch dieses Mal würde er wieder Sieger bleiben...

Wo würde er auftauchen? Wilfried war als guter Taucher und Schwimmer bekannt, keiner konnte es darin mit ihm aufnehmen. Die Mädchen stießen sich gegenseitig an. Wo blieb er? Wollte er heute seine eigenen wagemutigen Rekorde brechen?

Plötzlich stieß einer der Jungen seine Hand wie einen Pfeil vor: Dort! Wie ein Stück Treibholz schaukelte Wilfried auf den Wellen, reglos sein Körper, und die Mädchen und Jungen begriffen sofort, dass der Freund dieses Mal nicht toter Mann spielte. Irgend etwas war anders als sonst, und mit angstvollen Blicken verständigten sie sich und hasteten dann die in den Steilhang gehauenen Stufen hinab, liefen ins Wasser, wo sie Wilfried schließlich auffischten. Er war bewusstlos...

Wilfried hat mir das selbst berichtet; dabei zitterte seine Stimme nicht einmal, und mir kam es vor, als schildere er Bilder aus einem Film.

Aber seitdem ist er querschnittsgelähmt und musste zwei Jahre in Kliniken und Sanatorien verbringen.

Einmal sagte er zu mir: "Ich habe großes Glück gehabt, meinen die Ärzte, weil ich mich überhaupt noch bewegen kann."

Ich blickte ihn verständnislos und zweifelnd an. Wie konnte bei einer Querschnittslähmung von Glück die Rede sein? Weil der Unfall nicht tödlich geendet hatte?

Offenbar erriet Wilfried meine Gedanken. Er senkte plötzlich die Kinnspitze auf die Brust, schlug dann heftig mit seinen Armen um sich und trommelte schließlich mit beiden Fäusten auf seine Schenkel. "Andere, die einen Badeunfall hatten, so wie ich, können das alles gar nicht mehr, weil der Bruch bei ihnen viel weiter oben sitzt, am Halswirbel zum Beispiel..." Wilfried deutete die entsprechende Stelle bei sich an. "Leblos wie 'ne Marionette sind sie dann. Verstehst du nun, dass ich Glück hatte? Was ich noch alles kann!" –

In der Burg traf er am selben Tag wie ich ein. Seine Eltern wichen nicht von seiner Seite, als wären sie an seinen Rollstuhl gebunden.

Mich hatte mein Vater hierher gebracht; nach der anstrengenden Busfahrt war er völlig erschöpft, seine Nerven waren solchen Strapazen nicht gewachsen, und nach unserer Ankunft in der Burg ließ er sich gleich stöhnend auf einen Stuhl fallen, so dass ich mir verloren und vergessen vorkam. Um mich diesem Gefühl nicht für längere Zeit auszuliefern, fuhr ich ins Vestibül zurück, wo ich zuvor einige alte Bauernmöbel entdeckt hatte. Vielleicht konnte ich bei ihrem Anblick vorübergehend auf andere Gedanken kommen?

Wilfried hatte möglicherweise ähnlich empfunden, aber vielleicht hatte ihn auch seine Entdeckerlust getrieben. Jedenfalls trafen wir im Vestibül aufeinander, und er streckte aus seinem Rollstuhl die Hand aus und nannte seinen Namen. Er hatte einen Oberlippenbart, der sich bei seinem Begrüßungslächeln leicht verzog. Ich weiß nicht, wann mir nach meinem Unfall zum ersten Mal ein Lächeln gelang.

In der folgenden Zeit suchte Wilfried meine Freundschaft, aber ich ging nicht darauf ein. Ich konnte niemandes Freund sein, hatte genug mit mir und dem neuen Beruf zu tun, und manchmal konnte ich mich nicht anders gegen seine aufdringliche Freundlichkeit wehren, als die Burg zu verlassen. Seine Art, mit seinem Schicksal fertig zu werden, blieb mir bis zuletzt ein Rätsel.

Unsere Psychologin konnte das Rätsel selbstverständlich lösen und teilte mir das Ergebnis mehrmals mit. Um mich zu motivieren, wie sie es nannte: "Während Sie immer noch in Ihrer Vergangenheit leben, hat Herr Battke (das ist Wilfried) sich längst auf die neue Situation eingestellt und motiviert sich für sein künftiges Leben. Das sollten Sie ebenfalls tun, Herr Tischmeier! Sie müssen einen dicken Strich unter das Bisherige ziehen, anders geht es nicht! Ich will Ihnen gern dabei helfen. Sagen Sie, was Sie beschäftigt! Warum verschließen Sie sich?" Dann merkte ich, dass Wilfried offenbar den Auftrag von der Psychologin erteilt bekommen hatte, mich gewissermaßen an sich zu ketten. Er ging dabei so weit, mich eines Tages sogar in den Hof der Kneipe zu begleiten und sich mit mir an die Abfallluke zu stellen, wo uns der Wirt, ohne auch nur ein Wort an uns zu verschwenden, zwei Bier hinstellte.

"Wie gefällt dir das?", fragte ich, wütend darüber, dass ich ihn nicht los wurde. "Bei dem Gestank aus der Tonne schmeckt das Bier besonders gut."

Wilfried griff sein Glas und rief den Wirt. Als der sich am Fenster neben der Tonne blicken ließ, goss er das Bier langsam auf die Abfälle der Tonne. Dann warf er dem Mann ein Geldstück zu und verließ den Hof, nachdem er zweimal kräftig ausgespuckt hatte. Er wandte sich noch einmal kurz zu mir um; aber weil ich auf meinem Fleck verharrte, setzte er schließlich wortlos seinen Weg fort.

Viel später, als ich kaum noch daran dachte, kam er noch einmal darauf zurück: "Warum gibst du dich mit dieser Sauerei zufrieden? Ist das vielleicht menschenwürdig? Hier bei uns spielst du dich auf, lässt keinen an dich heran, als wären wir anderen weit unter deinem Niveau. Kann ja auch sein. Was bin ich denn zum Beispiel? Ein Nichts. Nicht mal das Abi habe ich, weil es kurz zuvor ein kleines Unglück gab, leider war es damals schon im Mai so heiß, dass ich zwischen zwei Prüfungstagen unbedingt ins kühle Wasser springen musste. Aus und vorbei. Kein Abi. Ein Nichts. Hast recht. Wer bin ich denn? Aber wenn du dich dort an der Abfalltonne abfertigen lässt, Reginald Tischmeier, ohne ein Wort darüber zu verlieren, bist du viel schlimmer dran als ich, dann bist du noch weniger als ein Nichts, will ich dir mal sagen, weil du nämlich nicht die Spur von menschlicher Würde zeigst..."

Ich ließ ihn stehen. Was wusste er von mir? Warum mischte er sich in meine Belange? Er hatte doch mit sich selbst genug zu tun. Seit dieser Zeit versuchte er nicht mehr, mich auf seine Seite zu ziehen. Wenigstens das hatte ich erreicht. Aber ich will mir nichts vormachen: Um so mehr achtete ich nämlich auf ihn, und manchmal ertappte ich mich bei der Frage: Wie würde sich Wilfried jetzt verhalten?

Auch die Schwarze sorgte dafür, indem sie Wilfried als Vorbild darstellte.

"Sie kapseln sich ab, Herr Tischmeier, lassen sich gehen. Halten Sie das für richtig? Herr Battke will später sogar studieren. Wenn er hier mit der Ausbildung fertig ist, holt er das Abitur nach. Und Sie? Mit Mühe schaffen Sie hier Ihr Pensum."

"Ich wollte leben", sagte ich. "Aber das ist vorbei. Was erwarten Sie denn von mir?"

Ich ging schließlich solchen unerfreulichen Gesprächen aus dem Weg, wo und wann immer es mir möglich war. Wilfrieds Tun verfolgte ich weiter aus sicherem Abstand; ich weiß nicht, warum. War ich neidisch, weil er sich so anders verhielt? Ich will nicht mehr darüber nachdenken, und zum Glück trennen sich nun unsere Wege, obwohl natürlich eine spätere Begegnung nicht auszuschließen ist, denn Hohefort befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft Brückstedts, wenn es auch zu einem anderen Kreis gehört.

Wie ich Wilfried kenne, ist er sogar ein Programmpunkt bei der Abschiedsfete. Entlockt seiner Mundharmonika die unwahrscheinlichsten Töne, leise, die man kaum hört, wenn man atmet, und dann wieder solche; die einem einen Schauer über den Rücken jagen. Ein ganzes Orchester kann er ersetzen. Das hat er in den zwei Jahren hier gelernt. Wenn ich abends neben der Abfallluke mein Bier trank, übte er draußen im Park.

Gabi spielte nicht Mundharmonika, sondern Klavier.

Ich konnte nur auf dem Kamm blasen, aber das konzertreif. Selbst das habe ich seitdem nicht wieder probiert.

Unsere Seminargruppe veranstaltete einmal eine Fete; es gab genug davon, so dass ich den Anlass nicht mehr weiß. In unserem Studentenklub stand ein Klavier, und zu vorgerückter Stunde ließ sich Gabi daran nieder - zu sagen, sie hätte sich gesetzt, wäre unzutreffend. Sie ließ sich nieder.

Sie begann getragen und feierlich, ziemlich ernst jedenfalls, was keinem von uns gefiel. Für Beethoven oder Chopin hatten wir nach einem langen Studentenalltag keinen Sinn. "Dann also nicht!", meinte Gabi und wollte den Deckel herunterklappen, als jemand rief, sie solle nur nicht eingeschnappt tun, sie solle ja spielen, aber etwas Munteres müsse es schon sein, wonach man tanzen könne...

Gabi war zufrieden, brachte irgendwas Flottes, und die Mädchen wippten auf ihren Plätzen... Nun holte ich meinen Kamm heraus, legte Papier darum und blies die zweite Stimme... Am nächsten Morgen streuten die Mädchen das Gerücht aus, ein unwahrscheinliches Konzert gehört zu haben, ein wirkliches Erlebnis sei es gewesen - Konzert für Klavier und Kamm in C-Dur.

Nun wollten uns viele hören, und wir beide gaben uns die Ehre... Die Leute hielten sich vor Lachen die Bäuche.

Das brachte ich also einmal fertig...

Man wies uns an die gleiche Schule, wir brauchten nicht einmal etwas dafür zu tun. Gabi erhielt eine Dritte als Klassenleiterin, während ich in der gesamten Unterstufe Sport unterrichten musste. Das hatte sich unsere Direktorin ausgedacht, ohne mit mir vorher darüber zu sprechen. Ich hätte gern einige Stunden Deutsch gegeben, um nicht völlig aus der Übung zu kommen.

Ich kaufte bald danach die Maschine, aus zweiter Hand zwar, aber sie war sehr gut erhalten, und ihre hundertzwanzig Kilometer je Stunde brachte sie spielend.

Mit der Maschine fuhren wir zum Kiesschacht. Es war ein billiges, aber totales Vergnügen. Nach dem Schwimmen und wenn wir wieder trocken waren, griffen wir unsere Sachen und legten uns unter Haselnussgestrüpp. Wir hätten auch zu Gabi gehen können, weil ihre Mutter als Köchin in einer Gaststätte arbeitete und nie vor zehn Uhr abends nach Hause kam. Aber der Platz unter dem Haselnussstrauch hatte es uns angetan, eine Erklärung hätten wir dafür wahrscheinlich nicht gewusst. Doch wozu erklären, was einem Spaß macht? Obwohl ihr Körper selbst noch kühl vom Bad war, zuckte er, wenn ich mit meiner kalten Hand darüberglitt...

Ich habe noch eine Flasche, muss meine ausschweifende Fantasie betäuben, die Angst verjagen, die mich ausfüllt. Die Flasche ist im Koffer, der auf dem Tisch liegt, griffbereit für die Stunde des unaufschiebbaren Aufbruchs morgen früh. Eigentlich ein Mitbringsel für meinen Vater, ich kenne seine Marke. Wenn schon... Er kann nicht erwarten, dass ich ihm etwas schenke, wenn ich aus der Burg zurückkehre.

Diesen Rausch kann ich mir bewahren, jeden Tag neu herbeiführen, den anderen vom Haselstrauch erlebe ich nie wieder. Oder wie, Schwarze? Verzeihung, Frau Hesse natürlich. Sie wollen mir weismachen, dass ich ihn noch hochkriege, sie sind ja so schlau. Aber da ist nichts, Frau Hesse, gar nichts, nzp, wenn Sie wissen, was das heißt. Nur zum Pullen. Medizinisch nachgewiesen, und Wunder geschehen selten. Müssen Sie als gebildete Frau doch wissen.

Vater, deine Flasche... Scheißegal.

Die Colasäufer sind jetzt draußen. Oder woher kommt der Lärm?

Auf den Balkon, Herr Tischmeier, genannt Reggi, was von Reginald kommt.

Wilfried karrt mit, steckt mittendrin, spielt Holiday und ist so beschissen dran wie ich. Eiskalt, der Junge. Ich wollte, ich könnte sein wie er.

Weg vom Fenster, Reggi! Sonst zieht die Krüppelpolonaise noch hoch zu dir, wenn sie dich sehen. Danke bestens - ich habe noch etwas in der Flasche.

Jetzt mit dem Fahrstuhl hinunter in die Küche. Aber sie haben nachts den Haupthahn abgedreht, ist längst erwiesen, dass sie das tun, der Irrtum hat schon einmal einen den gewünschten Tod gekostet.

Diese Hitze hier!

Mit Gabi an jenem Winterabend. Sehr gesittet saßen wir zuerst, "denn die Mutter war immer dabei." Olle Kamelle aus meiner Kindheit, kannte ich jedenfalls noch von meiner Mutter, die das Lied manchmal auf den Lippen hatte. Pumpernickel Howland war gerade abgetreten vom Bildschirm.

Der arme Reggi wagte nicht einmal den Hemdknopf zu öffnen, weil die Dame des Hauses die Bluse hochgeschlossen trug, und auch Gabi durfte bei diesem offiziellen Teil des Abends nicht zeigen, was sie hatte. Ganz still und stumm. Aber kein Männlein im Walde, wie Bill Ramsey dem armen Reggi weismachen will. Eine erschöpfte Köchin sitzt ihm gegenüber, die keine Unterhaltung außer der auf der Mattscheibe duldet, das ist ihr gutes Recht nach getaner Arbeit. Danach hat man sich zu richten.

Sie haben die Köchin überlistet; zwar klappte noch am Abend die Flurtür, aber nicht hinter Reggi, sondern vor ihm, und während Gabi dann ins Bad ging, lag Reggi längst in ihrem Bett. Die Brust bebte vor Erregung und Spannung. Die Schlurfschritte im Korridor kamen nämlich nicht von Gabi. Gabi hätte Schauspielerin werden sollen. Redete mit der Mutter, verabschiedete sich, nein, sie würde die Zeit bestimmt nicht verschlafen, öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, als wäre alles wie sonst.

Am nächsten Morgen war die Köchin hinter ihren dienstlichen Herd geeilt, bevor in der Mädchenkammer das große Erwachen begann. Reggi frühstückte, was ihm Gabi vorsetzte: Spiegelei mit Schinken - er musste wieder zu Kräften kommen.

Die Maschine stand vollgetankt im Schuppen auf dem Hinterhof.

Wohin wollten wir? muss ich mich jetzt fragen. Es war Winter, Schnee war gefallen, und in meinem Kinnbart wuchs schon nach kurzer Fahrt Reif, der bald zu Eis wurde. Wohin eigentlich? frage ich mich jetzt.

Es muss auf dieser Fahrt gewesen sein.

Verdammter Schnaps. Nun ist auch mein Grips gelähmt. Auf dieser Fahrt nach nirgends... dieser Winterfahrt im Schnee... Wieso saß Gabi nicht hinter mir, als es geschah? Eine Frage, die nur sie beantworten könnte, aber nicht beantworten wird, denn wenn ich sie sehe, karre ich sie über den Haufen, bevor sie den Mund aufmacht.

Verräterin. Darauf einen Schnaps.

Streit... was anderes ist nicht möglich... wenn sie wirklich vorher abgestiegen ist. Ich weiß nicht.

Sie konnte noch nie Krüppel ertragen.

Einmal, wir waren auch mit der Maschine unterwegs, mussten wir vor einer geschlossenen Bahnschranke halten. Gabi stieg ab, weil der Zug nicht kam, wollte sich die Beine vertreten. Lief zurück, wo ein Bus stand. Kinder waren ausgestiegen, hockten oder standen im Straßengraben, willkommener Aufenthalt.

Gabi wandte sich plötzlich entsetzt ab. Nicht weil sie der Anblick pinkelnder Kinder genierte, sondern weil die Kinder schwachsinnig waren. Auch sie haben das Recht auf einen Ausflug. Aber Gabi erholte sich den ganzen Tag nicht von dem Anblick.

"Du bist ungerecht", sagte ich zu ihr, als wir wenig später in einem Rasthof heiße Brühe schlürften.

"Mag sein", gab sie zu, "aber ich kann so etwas nicht sehen."

"Du bist doch Lehrerin", sagte ich.

"Was hat das damit zu tun?"

"Eines Tages könnte es heißen, man braucht für solche Kinder erfahrene Pädagogen."

"Bin ich nicht, bin Anfängerin."

"Eines Tages, sage ich doch. Das kann noch dauern. Dann fällt die Wahl plötzlich auf dich, weil man deine Fähigkeiten als Lehrerin schätzt. Was dann?"

Sie schwieg. Das war Antwort genug.

"Oder denk an unser Brückstedt", sagte ich. "Wie du weißt, gibt es dort ein Heim für körperbehinderte Kinder. Würdest du dort auch nicht..."

Sie ließ mich nicht aussprechen. "Noch schlimmer", warf sie ein. "Dieses Elend würde ich nicht ertragen können."

Jetzt also erträgt sie mich Häuflein Elend nicht.

Warum und wohin damals diese Fahrt im Schnee? Reggi, erinnere dich! Warum stieg Gabi vorher ab? Was führte zu deinem Unfall? Du kannst doch denken, Reggi!

Ich kann dir die Flasche mitbringen, Vater. Bin sicher, dass es deine Marke war. Aber sie ist leer. Hast einen feinen Sohn.

Bei Gabi hätte mir alles andere passieren dürfen, nur das nicht.

Sie hat ein warmes Nest, ein sehr warmes, bei einem, der ein dickes Konto hat.

Ich habe einen Trabi, eingerichtet für einen wie mich, der seine Beine nur hat, um die Hosen nicht abschneiden zu müssen.

Aber damals fuhren wir beide nicht im Trabi, sondern auf meiner Maschine. Es gab Streit, und sie wollte plötzlich absteigen. Oder ich hab sie einfach abgesetzt. Auch das ist möglich.

Zuerst diese endlose Landstraße, Baumgerippe zu beiden Seiten, die sich weiß verkleidet hatten, den Anblick habe ich nicht vergessen. Auf den weißen Flächen hinter den Baumreihen schwarze Krähen mit dicken Bäuchen, und ich fragte mich, woher sie jetzt so dick sind, wenn das Futter knapp ist.

Eine tote Katze an der Einfahrt des nächsten Dorfes.

Mir fehlt mehr als ein Stück vom Film, fast alles.

Zwischen zwei Dörfern liegt einer im Schnee fest, weit und breit ist niemand weiter zu sehen, und ich halte an. Gabi meutert zwar, aber ich kann den Mann nicht allein lassen mit einem zerfetzten Keilriemen. Der halbe Trabant muss auseinandergenommen werden.

Eine lichte Stelle in meinem Gedächtnis: Mit dem defekten Trabi begann unser Streit.

"Wenn du so weitermachst, kommen wir nie an." Gabi friert, schlägt den Jackenkragen hoch und reibt die Hände, die in dicken Fellhandschuhen stecken, aneinander. Ihre Füße stampfen Schnee fest.

"Total im Eimer", sagt der Mann, ein Mittvierziger, schon mit Bauch, unter seiner Mütze lugt kein Härchen hervor. "Und zu Hause", sagt der Mann. "Meine Tochter wird heute achtzehn. Die warten." Er zieht den Kopf unter der Motorhaube hervor und blickt zu Gabi, die immer noch stampft. "Fräulein, haben Sie zufällig eine Strumpfhose bei sich?"

Sie hält mit Stampfen inne und starrt ihn an.

"Ich meine, zusätzlich vielleicht..."

Der Mann ist sensibel, die Frage, die zu Irrtümern führen könnte, bereut er schon.

"Verstehst du nicht?", sage ich. "Wir brauchen deine Strumpfhose. Er hat keinen Ersatz für den gerissenen Keilriemen."

"Soll ich mich hier ausziehen, oder wie ist das gemeint?"

"Na und? Du hast doch lange Hosen an, wirst nicht gleich erfrieren."

Gabi ist völlig erstarrt.

"Na los!", sage ich. "Geh da rüber, hinter das Gestrüpp. Soll er hier vielleicht übernachten?"

Gabi geht zwei, drei Schritte, wendet sich dann um und tippt an ihren Kopf. "Einer von uns spinnt", meint sie und rührt sich nicht mehr vom Fleck.

Der Mann ist bleich wie der Schnee um uns. Vielleicht stellt er sich jetzt die Enttäuschung seiner Tochter vor - sie wird achtzehn, und der Vater hat es nicht nötig, zur Feier zu erscheinen.

Ich fasse Gabis Hand. "Komm", sage ich. "Schwing dich zu diesem Opfer auf. Wer weiß, wann wir mal Hilfe brauchen."

Sie reißt sich los. "Nehmen Sie mich dann mit?", fragt sie.

Der Mann sieht zu mir, weiß nicht, was er antworten soll.

"Worauf warten Sie?", frage ich. "Sagen Sie ja, und sie verschwindet hinterm Gebüsch und zieht sich für Sie aus."

Gabis Hand brennt in meinem Gesicht. Hatte sie den Handschuh schon früher ausgezogen und den Angriff geplant?

"Tut mir leid", meint der Mann kleinlaut, "das habe ich nicht gewollt. Aber was soll ich machen?" Seine Arme hängen schlaff, ein langer Atemnebel weht von seinem Mund.

Gabi rennt davon, nicht ins Gestrüpp am Straßenrand, sondern die Straße entlang, wird bald ein dunkler Punkt im Schnee.

Endlich! Genauso war es!

"Holen Sie sie zurück!", sagt der Mann. "Irgendwie werde ich schon weiterkommen."

"Steigen Sie auf!", erwidere ich. "Los, machen Sie! Im nächsten Dorf kaufen Sie zwei oder drei Strumpfhosen, ein teurer Spaß, aber für Ihre Tochter müssen Sie das tun."

Er macht seinen Trabi dicht und sitzt dann hinter mir auf. Wir müssen an Gabi vorüber, die zur Seite springt und im kniehohen Schnee, der sich am Straßenrand aufgeschichtet hat, versinkt.

Auf der Rückfahrt vom Dorf halte ich vor ihr, der Mann weiß sofort, wie das gemeint ist, steigt ab, gibt mir die Hand und nimmt die letzten zwei Kilometer bis zu seinem Fahrzeug unter die Füße.

Gabi ist stehengeblieben, aber ich muss unsichtbar geworden sein, sie nimmt mich nicht wahr.

"Wir sind quitt", sage ich. "Einen Backenstreich für eine Beleidigung." Meine Hand, die ich ausstrecke, übersieht sie.

"Steig auf!", sage ich, meine Hand noch nicht zurückziehend - eine freundliche Geste, eine Einladung.

"Du bist für mich erledigt, ehrlich, ganz und gar erledigt. Wer so gemein ist, mit dem will ich nichts mehr zu tun haben."

"Überleg es dir gut", antworte ich, schon nicht mehr so freundlich. Meine Hand liegt wieder auf dem Lenker. "Ich wiederhole es nicht", sage ich.

Sie ist nun stumm wie ein Fisch und sieht durch mich hindurch.

Ich starte, sehe sie nochmals auffordernd an. Sie macht keinen Versuch, einzurenken, was ausgehakt ist.

Das ist mein letztes Bild von ihr: ein bewegungsloser Punkt.

Punkt.

Das hätte ich geschafft. Möglich, dass ich mich in Einzelheiten irre. Aber so ungefähr muss es sich abgespielt haben.

Vor Anstrengung glüht mein Gesicht. Konzentration unter Alkohol. Aber das Bild ist gelungen. Diesmal habe ich gewagt, es zu Ende zu führen, den Mut aufgebracht, es nicht wieder vorzeitig zu löschen, als wäre es mit Kreide auf eine Wandtafel gezeichnet.

Wie oft hatte ich es bereits versucht?

Warum war mir das Bild, das der Wahrheit am nächsten kam, bisher nie gelungen?

Weil ich wollte, dass es nicht gelang?

Weil ich Angst vor der Wahrheit hatte? Der Wahrheit, selbst schuld am Unfall und an seinen lebenslangen Folgen zu haben!? Ich hatte immer alles anders machen wollen, als andere es machten.

War das falsch?

Ich kenne nun die letzten Minuten meines früheren Lebens. Und nun, Reggi, wie weiter?

Ich möchte schlafen.

Sie grölen ein Lied. Die Krüppelpolonaise zieht durchs Haus. "Wir machen durch bis morgen früh..."

Sangen wir damals auch und machten wirklich durch. Wir hatten das erste Studienjahr hinter uns, und die Seminargruppe fuhr gemeinsam ins Riesengebirge. Bei Pec, unterhalb der Schneekoppe, schlugen wir unsere Zelte auf.

Fünf oder sechs Taschenlampen legten wir auf- und nebeneinander, jede strahlte jede an, so dass wir uns ein loderndes Feuer gut vorstellen konnten. Romantik geht manchmal seltsame Wege, und Verbote machen erfinderisch. Dass Studenten gleichen Geschlechts nebeneinander saßen, ließ sich nicht verhindern, weil wir nur fünf Jungen, aber zwölf Mädchen waren.

Ich hatte mir meinen Nebenmann ausgesucht - Klaus, der lieber "fremd"ging, als sich mit einem Mädchen von uns einzulassen.

Unsere Mädchen waren mit dieser Sitzordnung nicht einverstanden, und Carola, die sich immer mit irgendwelchen Ideen hervortun musste, setzte die von ihr gewollte Ordnung durch: So gelangte sie endlich neben Klaus, während ich auf diese Art zu Gabi geriet.

Ich war kein Spielverderber. Sie sang laut und schrill; ich hätte aufstehen und weggehen können, stattdessen hielt ich ihr einfach den Mund zu - ich konnte ja nicht wissen, dass sie gleich beißen würde.

Klaus lachte auf und schoss Kobolz wie ein Kind.

Der vergnügte Abend glitt allmählich in eine turbulente Nacht hinüber. Irgendwann begann jemand zu gähnen, herzhaft und unverschämt, das steckte an wie eine Grippe und war das Zeichen zum Aufbruch in die Zelte.

Carola und die übrigen vier Jungen hatten längst eine Aufteilung der Schlafplätze vorgenommen. Dabei war ich Gabi zugeteilt worden. Ich hätte höchstens im Wald kampieren können, wenn ich mich dagegen gesträubt hätte.

Aber warum? Gabi sieht gut aus, und eine gemeinsame Nacht, dachte ich, bindet nicht gleich fürs ganze Leben.

Ich hatte das Zelt von innen verschlossen und leuchtete mit meiner Taschenlampe, während Gabi ganz langsam ihre Kür des Kleiderwechsels vortrug. Sie hatte unter Pullover und Jeans nur noch einen Slip an, doch gerade dieses entscheidende Etwas ließ sie nicht fallen, weil sie es ausgerechnet in diesen Tagen brauchte.

Trotzdem denke ich gern an diese Pecer Nacht. Ich fühlte mich sehr wohl bei Gabi, frei und ungezwungen. Ich lag neben ihr, hörte zu und staunte. War das dieselbe Gabi, die ich bisher gekannt hatte? Was ihr scheinbar leicht über die Lippen kam, hatte ich noch nie ausgesprochen, obwohl ich es ähnlich schon oft gedacht oder empfunden hatte. Von ihr selbst erfuhr ich später, dass sie bis zu dieser Pecer Nacht ihre Gedanken ebenfalls immer für sich behalten und für ihre Empfindungen zuvor niemals Worte gefunden hatte - in dieser Nacht sei aber alles nur so aus ihr herausgeströmt.