Absinth - Wolfgang Glagla - E-Book

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Wolfgang Glagla

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Beschreibung

Ein spurlos verschwundener Journalist. Ein toter Politiker kurz vor den Landtagswahlen. Eine neue Kollegin mit sehr individuellen Ermittlungsmethoden. Und eine Partnerin, die die Abseitsregel nicht kapiert. Das ist zuviel für Tackert. - Nach mehreren Wochen Ermittlungen findet sich immer noch kein Motiv, und alles wird immer verworrener. Wo, zum Teufel, steckt der Fehler? Oder gibt es gar keinen?

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Absinth

Wolfgang Glagla

Copyright: © 2015 Wolfgang Glagla

Umschlaggestaltung: Wolfgang Glagla

Verlag: epubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-7375-5963-8

Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.

Wir erschrecken über unseren eigenen Sünden, wenn wir sie an anderen entdecken.

Johann Wolfgang von Goethe

Wolfgang Glagla

Absinth

Kriminalroman

Mit nur geringer Verspätung von wenigen Minuten erreichte die Fähre um 5.48 Uhr den Hafen von Rostock.

Bei weit aufgerissenem Maul entließ der Bauch eine lange Kette von unterschiedlichen Fahrzeugen, die über eine Rampe auf den bereits warmen Asphalt zusteuerten. Fast arrogant langsam schlich die Prozession an den Wartenden vorbei, die eine Passage nach Schweden gebucht hatten, und auf ein Ampelzeichen warteten, das ihnen die Einfahrt freigab.

Leise Wellen schlängelten um den Rumpf, um schließlich in einem kleinen Aufbegehren an der Spundwand zu brechen.

Der Einweiser, der im hinteren Drittel für ein schnelles und sicheres Entladen verantwortlich war, informierte den ersten Offizier, dass ein einzelner führerloser PKW auf dem mittleren Deck verblieben war. Das untere, wie auch das obere Deck, waren bereits komplett geräumt.

Die angeordnete Suche nach einem Passagier, der die Ankunft verschlafen hatte, verlief ohne Ergebnis.

Nachdem dann eine weitere Stunde und diverse Anstrengungen der Crew erfolglos verliefen, und feststand, dass alle Passagiere von Bord waren, wurde das Fahrzeug in den Hafenbereich abgeschleppt und die Polizei verständigt.

Der junge Beamte, der nach einer anstrengenden Nachtschicht seinem Feierabend entgegensah, konnte in dem unverschlossenen Fahrzeug keine alarmierenden Auffälligkeiten entdecken. Ein sorgsam eingewickeltes Gemälde im Kofferraum nahm er zwar wahr, veranlasste ihn aber zu keinem Verdacht.

Erst als er die Kabine des als Fahrzeughalter ermittelten Andreas Liebrecht betrat, sorgte er umgehend für eine weitläufige Absperrung des Ortes und verständigte seine Kollegen.

Wenig später trafen Beamte der Technischen Untersuchung ein und nahmen die Ermittlungen auf.

Nach einem mehrstündigen Hin und Her verließ die Fähre mit entsprechender Verspätung und den Beamten der KTU an Bord den Hafen, um die Passage nach Trelleborg anzutreten.

In der hannoverschen Polizeidirektion in der Waterloostraße begrüßten Richard Tackert und drei weiteren Kollegen gerade die neue Mitarbeiterin.

Die bisher aus vier Personen bestehende Gruppe wurde nach langen und leidenschaftlich geführten Diskussionen um eine junge Beamtin aufgestockt, was nicht nur das Durchschnittsalter senkte, sondern auch das Geschlechterverhältnis auf ein gefordertes Niveau anglich.

Die einmal gerade sechsundzwanzigjährige Nicola Kleinschmitt hatte kürzlich ihren Abschluss gemacht und einen besonderen Schwerpunkt im Bereich der Informatik gewählt. Mit ausgezeichneten Abschlussergebnissen war es ein Leichtes, kleine Forderungen hinsichtlich des Arbeitsgebietes zu stellen.

Weder Richard Tackert noch seine Kollegen Sven, Sonja und Jan erwarteten eine derart authentische Erscheinung. Ihnen wurde eine zirka ein Meter siebzig große Frau vorgestellt, deren Arme eine Vielzahl von farbintensiven Tätowierungen zeigte. Dazu ein frecher und rostrot gefärbter Haarschnitt, der in seiner Art, sicherlich als ungewöhnlich zu bezeichnen war. Eingepackt war sie in einem Outfit, das Tackert irgendwo zwischen Opernball und Gothic beschreiben würde, was so viel bedeutet, wie: eigentlich unmöglich!

Aber alle vier spürten deutlich, dass sie es hier mit einem offenen, fröhlichen und doch ernsten und selbstbewussten Charakter zu tun hatten.

Gewöhnungsbedürftig, urteilte Tackert in Gedanken, aber nicht unsympathisch, da sich Nicola in einer erfrischend natürlichen Art präsentierte.

Sonja war froh über ihre neue Kollegin, nicht nur, weil eine zweite Frau in ihren Reihen aktiv wurde, sondern weil sie vermutete, dass jetzt endlich mal frischer Wind in der Abteilung wehen würde.

Das Telefon läutete.

Jan, der dem Apparat am nächsten stand, nahm ab und führte ein längeres Gespräch, während Tackert, Sven und Sonja die Neue durch die Räume führten.

Sie befanden sich gerade in dem Büro, das sich Jan mit Sonja teilte, und in Zukunft auch von Nicola genutzt werden sollte, als Jan hinzukam.

»Kollegen aus Rostock. Die haben dort, in einer ankommenden Fähre aus Schweden, einen führerlosen PKW übernommen. Der Fahrzeuginhaber hat seinen Wohnsitz in Hannover und ist nirgends aufzufinden. Das ganze Schiff wurde aufwändig aber erfolglos abgesucht. In seiner Kabine fanden sich frische Blutspuren. Wir sollen da mal Amtshilfe leisten.«

»Hast du schon Näheres?«, fragte Sven.

»Kommt gleich per Mail!«

»Gut! Dann würde ich sagen, unsere neue Kollegin kann gleich mit dir und Sonja gemeinsam aktiv werden«, ordnete Tackert an.

»Hat heute schon jemand die Millionentruppe gefüttert?«, sorgte sich Sonja.

Nicola fragte verwundert, von welcher Millionentruppe die Rede sei.

»Unsere Goldfische. Richard hat sie nach sechs Fußballern der Weltmeistermannschaft vom letzten Jahr benannt. Komm, ich stell euch einander vor. Wir glauben nämlich manchmal, die tun nur so, als wären sie stumm. Nach Feierabend lästern die wahrscheinlich ordentlich ab. So: Das hier ist Mesut … Per, Mario, Mats, … der da heißt Manuel und Toni hat sich versteckt. Der ist manchmal Fremden gegenüber etwas scheu.«

»Klasse!« Nicola war begeistert. »Ein schönes, großes Becken. Goldfische brauchen ein großes Aquarium und keineswegs ein Goldfischglas«, erklärte sie. »Auch wenn sie gerne und lange nur Kreise drehen.«

»Hm. Andreas Liebrecht, wohnhaft in der Bandelstraße in der Südstadt. Sechsundvierzig Jahre alt. Arbeitet als freier Journalist. Hatte ein Rückfahrticket für die Passage nach Trelleborg und war nur einen Tag in Schweden, bevor er gestern die Nachtfähre zurück nach Rostock nahm. In seiner Kabine hat die KTU eine Tasche mit einigen Kleidungsstücken und einem kleinen Betrag an Bargeld gefunden. Außerdem gibt es Hinweise auf einen Kampf. An seinem Fahrzeug ist bisher das einzig Auffällige ein Gemälde im Kofferraum. Von Liebrecht selbst fehlt jede Spur. Die Dresdner Kollegen schließen ein Gewaltverbrechen nicht ganz aus.«

Als feststand, dass weder eine Ehefrau, noch eine Freundin zu ermitteln war, und sich auch sonst niemand fand, der hätte weiterhelfen können, traf man die Entscheidung, nicht lange zu zögern.

»Dann nehmt euch mal seine Wohnung vor und seht zu, was ihr in Erfahrung bringen könnt«, ordnete der Hauptkommissar an.

Nachdem der Schlüsseldienst die Wohnungstür geöffnet hatte, betrat Jan mit Sonja und Nicola im Schlepptau die Wohnung, die in einem modernen Häuserblock in der ersten Etage lag. Sie kamen in einen großzügig geschnittenen Eingangsbereich, von dem es in ein Schlafzimmer, eine Küche und einen sehr großen Wohnraum, der auch einen abgetrennten Arbeitsbereich enthielt, abging.

»Da bist du ja vermutlich am besten aufgehoben«, meinte Jan zu Nicola, und deutete auf den Laptop, der auf einer großen Arbeitsplatte stand. »Schau mal nach, womit sich Liebrecht beschäftigt hat. Was waren seine letzten Recherchen, welche Artikel hat er zuletzt veröffentlicht, und so weiter …«

Sonja nahm sich zuerst die Küche vor, danach untersuchte sie das Schlafzimmer. Jan blieb im Wohnbereich und beschäftigte sich mit dem Inhalt von Schränken und Regalen.

»Vielleicht dauert das hier doch etwas länger«, vermutete Nicola. »Der Rechner ist passwortgeschützt. Können wir den ins Präsidium mitnehmen? Wird wohl doch etwas Zeit in Anspruch nehmen … Und dann gibt es hier auch noch eine separate Festplatte.«

»Ich denke schon! Wir nehmen das ganze Zeug nachher einfach mit«, entschied Sonja.

Inzwischen war es 14.00 Uhr geworden, als die drei die Wohnung wieder verließen und wurden draußen von einer gnadenlosen, schwülen Hitze erwartet. Ungewöhnlich hohe anhaltende Temperaturen in den letzten Tagen erstickten die Stadt.

Und nachts war es auch nicht viel angenehmer.

Nicola brauchte dann doch nicht lange, um sich Zugang zu Liebrechts Laptop zu verschaffen. Aber im Anschluss verbrachte sie mehrere Stunden vor dem Gerät und dachte am Ende: Und das an meinem ersten Arbeitstag!

Gegen 21.00 Uhr verschloss sie das Büro und fuhr nach Hause.

Zu Hause setzte sie sich an ihren eigenen Rechner, den sie durch ein paar zusätzliche Geräte zu einem wirkungsvollen Equipment aufgestockt hatte. Um 2.45 Uhr ging sie zu Bett und glaubte zu wissen, dass die Kollegen morgen große Augen machen würden!

Die Fähre fasste 600 Passagiere und war für 440 Fahrzeuge ausgelegt. In den Sommermonaten waren die Fahrten in der Regel ausgebucht. Die 36.000 PS-Motoren schoben bei einer Reisegeschwindigkeit von 17 Knoten das zweihundert Meter lange Schiff in sechs Stunden über die Ostsee.

An Bord befand sich ein Mann, von dem jeder ohne Weiteres behauptet hätte, dass sich die Wurzeln der Wikinger in seinem Erscheinungsbild spiegelten. Von großer kräftiger Statur, rotblondes halblanges Haar und eine Größe von annähernd ein Meter neunzig.

Nur war dem nicht so. Der Mann besaß einen deutschen Personalausweis, der seinen Wohnsitz mit Hannover angab. »Ja Mann! Ich bin noch auf der Fähre. Jetzt schon wieder auf dem Weg nach Schweden. Ist alles schiefgelaufen. Ich werde erst morgen zurück sein, wenn die mich hier nicht vorher schon am Arsch kriegen! Die Bullen sind nämlich mit an Bord!« Er lauschte, um den Anrufer zu Wort kommen zu lassen. »Leck mich! … Ich erzähl´ s dir morgen!«

Damit brach er das Gespräch ab, obwohl er wusste, dass das Telefonat eigentlich noch nicht beendet war.

Die Entscheidung, den Auftrag anzunehmen, fiel ihm seinerzeit nicht schwer. Ein Kinderspiel, war er überzeugt. Wie sich jetzt herausstellte, war das ein großer Irrtum. Sein Handeln bestand aus einer einzigen Fehlerkette, die dazu führte, dass er sich in eine fatale Situation manövriert hatte. Die daraus resultierende Unentschlossenheit war ihm fremd und hatte zur Folge, dass er zwar planmäßig zunächst die Fähre mit seinem Fahrzeug verließ, dann aber doch, nach einigen Überlegungen, erneut das Schiff betrat, um seinen Auftrag, wenigstens in Teilen, der Vereinbarung gemäß abzuschließen. Allerdings schien es ihm verkehrt, den Crewmitgliedern zu begegnen, die intensiv nach dem Besitzer des einzigen, noch an Deck verbliebenen PKWs, suchten.

So fuhr er jetzt - als blinder Passagier – notgedrungen nach Trelleborg zurück.

In Hannovers Altstadt verkaufte Harald Herzog seit über zwanzig Jahren allerlei mehr oder weniger interessante Antiquitäten.

Das Angebot versuchte er den sich verschiebenden Kaufinteressen anzugleichen. Die Umsätze hatten in den letzten Jahren bedrohliche Verluste angenommen, weil seine stärkste Käuferschicht wegbrach.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde immer größer, und sein Kundenstamm immer kleiner. Hinzu kam die Tatsache, dass nach der Wiedervereinigung, durch das Öffnen der Grenzen zum Osten hin, der Markt derart überschwemmt wurde, dass die zu erzielenden Preise stark nach unten korrigiert werden mussten.

Als eines Tages ein Kunde den Laden betrat und ein lukratives Geschäft in Aussicht stellte, überlegte er nicht lange, obwohl das seine finanziellen Reserven aufbrauchen würde. Der Artikel entsprach genau der Art, die er in der Regel anbot, und die Aussicht auf ein lohnendes Geschäft war zu verlockend. Zudem er sich sicher war, dass sein Geschäftspartner den wahren Wert nicht einzuschätzen wusste.

Ein paar Tage später musste er sich eingestehen, sich in dem Mann, den er auf etwas vierzig Jahre einschätzte, getäuscht zu haben. Es waren harte Verhandlungen, die sein finanzielles Polster auf den Nullpunkt führten.

Und dennoch war es ein gutes Geschäft, war er sich sicher.

***

Donnerstag, und die Aussicht auf ein freies Wochenende. Der Morgen kündigte einen angenehmen Tag an, und Tackert hatte richtig gute Laune, was nicht alltäglich war.

Auch Sven Weiss konnte die Aufregung der bevorstehenden Hochzeitsfeier, die er am Samstag als Hauptdarsteller, … oder zumindest als die Hälfte davon, ausrichten wollte, nicht mehr verbergen.

»Du sitzt am Steuer deines Polizeiautos, und hältst eine konstante Geschwindigkeit. Auf deiner linken Seite befindet sich ein Abhang. Auf deiner rechten Seite befindet sich ein Feuerwehrwagen und fährt die gleiche Geschwindigkeit wie du. Vor dir rennt ein rosa Schwein, das eindeutig größer ist als dein Auto. Dich verfolgt ein Hubschrauber auf Bodenhöhe. Das Schwein und der Hubschrauber haben exakt deine Geschwindigkeit. Was unternimmst Du, um dieser Situation gefahrlos zu entkommen? - Warten, bis das Karussell anhält und aussteigen!«

Tackert gab sich großzügig, und verzog den Mund zu einem erkennbaren Lächeln. Manchmal empfand er die humoristischen Vorträge seines Kollegen als anstrengend. Aber anderseits auch als Zeichen von wirklicher Konsequenz, da es nicht selten passierte, dass kein Mensch über die eigenartigen Witze lachte. Aber Sven gab nie auf, und es gab Kollegen, die sich fragten, wo er den ganzen Blödsinn aufgabelte, oder ob er nichts Besseres mit seiner ohnehin knappen Freizeit anzufangen wisse.

Wenn es aber mal vorkam, dass Sven für drei bis vier Tage keinen Witz erzählte, fragten sich alle, ob er vielleicht krank wäre oder psychische Probleme ihn belasteten.

Nicola wirkte etwas nervös, als Tackert mit der Frage auf sie zukam, ob denn die Auswertung von Liebrechts Rechner schon etwas ergeben hat?

»Alles geknackt, Chef! Was wollen sie zuerst wissen. Berufliches, Bankkonto, Freundin, Schuhgröße …«

»Äh… Nicht Chef! Es gibt hier keinen Chef außer dem Chef, und der sitzt ein Stockwerk höher«, murmelte Tackert. »Und … wir duzen uns hier alle. Richard! Okay?«

»Unbedingt! … Nicola … oder auch Nicki, wie ihr wollt! Okay?« Sie verschoss ein Lachen durch den Raum, das ihn an Elisa denken ließ, die ihm, seit einem halben Jahr den Kopf verdrehte.

»Erzähl mal einfach …«

»Also: Andreas Liebrecht gehört scheinbar zu den ernsthaften Journalisten. Kein Sensationsreporter! Die letzten beiden Reportagen behandelten zum einen das Thema Magersucht in der Modelbranche unter der Einflussnahme diverser Modezaren, die aus weiblichen Rundungen Vogelscheuchen machen wollen. Und zweitens eine Auseinandersetzung mit zockenden Bankern und die Folgen für den Steuerzahler. Aktuell aber arbeitet er an einer umfassenden Reportage über den Handel mit Kunstfälschungen. Aus diesem Grund wollte er sich auch mit einem Schweden treffen, und hoffte dabei wohl auf weitere Insiderinformationen. Er hat sich als freischaffender bildender Künstler ausgegeben und sich intensiv auf die Rolle vorbereitet. Als Muster seiner Arbeit wollte er eine Kopie von Caspar David Friedrichs Ostermorgen vorlegen. Ich habe dem Skandinavier gestern noch einen kleinen Teufel gesendet, und werde in Kürze mehr Einblick in sein Leben und Handeln bekommen!«

»Du hast was …?« Tackert glaubte, ihn hätte gerade ein Pferd getreten.

»Das solltest du eigentlich wissen, dass wir hier nicht bei der NSA sind. Du brauchst erstens dafür eine Genehmigung, … und zweitens geht das natürlich ohne Absprache gar nicht! Und überhaupt, wenn hier jemand mitkriegt, dass du unsaubere Nachforschungen …«

»Ich habe das natürlich privat - von zu Hause aus - in Gang geschoben.«

»Das ist egal. – Falsch! Das ist noch schlimmer! Darüber werden wir nachher noch mal reden müssen! Jetzt erzähl erst mal weiter.«

»Wie gesagt: Er arbeitete an dieser Sache, und dann noch an einem Artikel über Dr. Weinbier, der ja im September als Spitzenkandidat der Christlich Demokratischen Union bei der Landtagswahl antritt«, fuhr Nicola etwas betroffen fort. »Offensichtlich bestehen da Kontakte zu rechtspopulistischen Aktivisten, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß. Und seine Parteikollegen wohl auch nicht. Sorry, aber bezüglich seiner Person werde ich demnächst auch mehr wissen … Tut mir leid, aber ich dachte, so lässt sich das Verschwinden des Journalisten schneller aufklären!«

»Mensch Nicola, das muss … das muss unbedingt unter uns bleiben, sonst kommst du hier ganz schnell in Teufels Küche! Hörst du! Kein Wort zu irgendjemandem! Deine … äh … Aktivitäten lassen sich nicht noch stoppen, oder?«

Mit einem bedauernden Gesichtsausdruck schüttelte sie den Kopf.

Tackert musste schwer durchatmen. Na gut. Dann soll es halt so sein.

Am frühen Abend gelang es dem blinden Passagier, unbemerkt als Beifahrer eines LKW von Bord zu kommen.

Seine Befürchtungen bestätigten sich, denn sowohl die schwedischen, wie auch die deutschen Polizeibeamten verfolgten aufmerksam das Entladen der Fähre.

Bis in die späte Nacht versuchte er, wenigstens einen Teil seines Auftrags zu erfüllen, was ihm aber nicht gelang.

Am frühen Morgen fuhr mit dem Bus nach Malmö. Von dort würde er die Fähre nach Kiel nehmen.

Er führte ein Telefonat und unterrichtete seinen Gesprächspartner von einem in allen Belangen missglücktem Verlauf.

In Hannover Kirchrode, wo der Anteil an wohlhabenden Bewohnern überdurchschnittlich ist, lief Dr. Weinbier auf vierzig Quadratmetern bestem Teppichboden auf und ab und arbeitete an seiner Rede, die für Sonntag in Braunschweig auf dem Programm stand.

Unterstützt wurde er dabei von seinem Parteifreund Dieter Habermehl, der im Hintergrund wichtige Arbeiten für ihn übernahm.

Weinbier kam aus einer reichen Familie und hatte nie finanzielle Sorgen kennengelernt. Im Laufe seiner politischen Karriere legte er größten Wert auf eine gute Presse. Einen Schwerpunkt setzte er dabei auf die Fürsorge der zirka eintausend Obdachlosen der Stadt. Er ließ keine Gelegenheit aus, sein soziales Engagement für diese Randgruppe der Gesellschaft hervorzuheben.

Die Landtagswahl im September war seine letzte Chance endlich ganz oben mitzuspielen. Er investierte alles Menschenmögliche, um sein Ziel zu erreichen, und wurde dabei von seiner Frau Gundula tatkräftig unterstützt.

Die Prognosen sahen auch gar nicht schlecht aus. Die Wahlkampfthemen waren geschickt gewählt, und Weinbier war ein leidenschaftlicher Redner, der es verstand, seine Zuhörer zu überzeugen.

Als er vor einigen Tagen den Anruf eines Journalisten erhalten hatte, der ihn zu einer Stellungnahme hinsichtlich seiner Kontakte zu einem gewissen Detlef Schwarz interviewen wollte, erfasste ihn das blanke Entsetzen.

Ein Artikel in dieser Richtung könnte das Ende bedeuten. Nicht nur in Bezug auf seine politische Karriere, sondern auch was sein komplettes Leben betraf.

Augenblicklich traf er die Entscheidung, tätig zu werden. Andernfalls war ein Scheitern vorhersehbar.

Am Samstag fuhr der Kommissar gemeinsam mit seiner Herzallerliebsten Elisa in die Wülfeler Brauereigaststätten, wo Sven heute zu seiner Hochzeitsparty eingeladen hatte. Es war das erste Mal, dass er eine Hochzeit von zwei Männern miterlebte, und war gespannt, wie sich die Unterschiede zu einer Hetero-Veranstaltung gestalten werden.

Er musste im Vorfeld einige Diskussionen mit Elisa über sich ergehen lassen, da er sich weigerte, extra zu diesem Anlass einen neuen Anzug zu kaufen. – hatte Sven doch extra darauf hingewiesen, dass es keinen diktatorischen Dress-Code gibt. Wichtiger sei, mit guter Laune und Tanzwut zu erscheinen. Was Tackert daran erinnerte, dass er der prädestinierte Nichttänzer ist. Um nicht zu sagen: Er hasste es, als ein Tanzbär seine Mitmenschen zu bedrohen.

Eine weitere Befürchtung bestand in der Vermutung, dass Sven vielleicht auf die dumme Idee gekommen war, einen Alleinunterhalter zu engagieren, der den ganzen Abend blöde Witze erzählen würde. Und womöglich von einem Tanzmariechen unterstützt wird, die ihre Verrenkungen zelebrieren würde … In so einem lächerlichen Outfit.

Wenn man sich überlegt, dass früher das Tanzmariechen ein Tanzmartin war, und erst von den Nationalsozialisten ersetzt wurde, da man keine Anspielungen auf lauwarme Flickflacks und Spagat-Unterleibsverletzungen riskieren wollte.

Und mal ganz ehrlich.

Die Vorstellung, dass Offiziere seinerzeit mit einer Flickflack-Abfolge gegnerische Armeen zu verunsichern versuchten, erscheint doch etwas albern.

Aber seine Befürchtungen stellten sich als unnötig heraus.

Die Hochzeitsgäste waren bunt gemischt, wie er es von jeder anderen Zwangsveranstaltung kannte. Er hatte während des Essens ein munteres Gespräch mit seinem Tischnachbarn, und es entstand eine leidenschaftliche Diskussion, ob Lothar Matthäus seine Ehefrauen mit Fußballstiefeln verwechselt, weil er diese genauso häufig austauscht?

Und ob vielleicht ausschließlich Abiturienten unter den Fußballern zum Interview zugelassen werden sollten? Oder wenigstens der Fragenkatalog der Reporter zensiert werden müsste? Oder ob der FC Bayern München als einziger Verein nur noch Kicker mit zwei linken Füßen einkaufen darf, obwohl das medizinisch eine Sensation wäre.

Mehrmals wurde er von Elisa ermahnt, das nette Gespräch nicht auf die Spitze zu treiben, und wusste, dass sein rechtes Schienbein morgen nach einer wirkungsvollen Sportsalbe verlangen würde.

Als sie sich aber in das Fachsimpeln einschaltete, und sich ihre Argumentation auf Äußerungen hinsichtlich der Frisuren einiger Spieler beschränkte, hätte Tackert beinahe zurückgetreten.

Etwas mulmig wurde ihm, als der DJ lautstark von den ersten Alkoholausfällen auf der Tanzfläche aufgefordert wurde, den Song endlich aufzulegen.

Alles grölte mit und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf das frisch getraute Paar, denen diese Demonstration geballter Wissensmacht sichtlich unangenehm war. Er konnte dem Versuch widerstehen, die Hauptsicherung zu besuchen und aktiv einzugreifen.

Jeder sprang auf, als ob zeitgleich einige unsichtbare Taranteln ihr Unwesen treiben würden, und enterte den Innenraum. Von Helene Fischers Gesang war kaum noch etwas zu hören.

Und scheinbar kannte hier jeder der Anwesenden jede einzelne Textzeile – mit einer Ausnahme natürlich.

Wie ist es möglich, dass ein Schlager eine derartige Hysterie auslösen kann?

Tackert fragte sich, ob die Tragkraft der Untergeschossdecke für ein solches Aufkommen ausreichen würde, oder ob sich gleich ein Haufen wild zuckender Körper, von einer Staubwolke umgeben, im Keller wiederfinden würde?

Atemlos!

Mitten in der Nacht.

Alles in allem war die Feier aber gelungen und bot sogar unerwartete Showeinlagen. Zum Beispiel, als Frau Professor Doktor Doktor Hintze den Herrn Dobrand in die Hochzeitstorte schubste, – angeblich versehentlich - nachdem sie zum wiederholten Male von ihm auf provokante Weise nur mit Frau Hintze angesprochen wurde, und diese Respektlosigkeit nicht dulden wollte.

Svens Oma war daraufhin sehr erbost, dass nicht das Hochzeitspaar die Torte angeschnitten hat. Sie nannte Frau Professor Doktor Doktor ein halsloses Ungeheuer, was wiederrum fast eine Schlägerei ausgelöst hätte. Tackert war unsicher, ob hier nicht die geballte Polizeipräsenz einschreiten sollte, um ordentlich dazwischen zu hauen.

Und vielleicht prophylaktisch Wasserwerfer geordert werden sollten.

Dem DJ war es letztendlich zu verdanken, dass sich alle wieder beruhigten, nachdem er Spiel mir das Lied vom Tod auflegte.

Gegen 2.00 Uhr gelang es Elisa, Tackert auf die Showbühne zu manövrieren.

Einen ganzen Song lang.

Einen Steh-Blues.

Als Elisa dann den Hauptkommissar im nahenden Sonnenaufgang nach Hause zerrte, versuchte er den ganzen Rückweg, ihr die Abseitsregel zu erklären. Elisa ermahnte ihn mehrmals, doch etwas zügiger zu gehen, doch Tackert lallte nur:

»Geht nicht! Meine Schuhsohlen sind durchgetanzt.«

***

Nachdem Tackert den kompletten Sonntag leidend im Bett verbracht hatte, erschien er heute pünktlich und fit im Präsidium.

Die ersten Gespräche mit den Kollegen hatten natürlich Svens Party zum Inhalt.

»Wer war denn eigentlich diese komische Frau Professor?«, wollte auch Jan wissen.

»Ja! Die ist schon besonders«, antwortete Sven. »Meine Nachbarin seit ewigen Zeiten. Eine Psychologin, eine Psychopathin, man weiß das nicht so genau. Jedenfalls mussten wir sie einladen!«

»War auf jeden Fall sehr energisch, die Frau!«

»Dann hättest du mal das Gekeife hören sollen, als ihr Mann vor drei Jahren die gemeinsame Wohnung mit den Worten verließ, sie sei eine narzisstische Furie, die zu dumm sei, ihr eigenes Leben zu analysieren. Die hat noch über die Straße gebrüllt, als er wahrscheinlich schon in Leipzig war!«

Es wurde noch ein wenig gelästert, bis Tackert das Thema anschnitt, das heute auf der Tagesordnung stand.

»Nicola, bist du mit deinen … äh … Nachforschungen weiter?«

»Ich habe mich gestern noch ein wenig mit dem Schweden beschäftigt. Sören Ingarsson, eigentlich Isländer. Lebt seit seiner Kindheit in Schweden. 39 Jahre alt. Seine offiziellen Einkünfte bestreitet er mit einem internationalen Kunst-Handel in Malmö. Lebt aber zirka zehn Kilometer außerhalb der Stadt auf einem einsamen Hof. Total schön da. Hat ein recht ordentliches Bankkonto, und es macht den Anschein, als ob auch das eine oder andere gefälschte Kunstwerk über seinen Tisch geht. Wäre sicherlich für die schwedischen Kollegen von Interesse. Liebrecht hatte ein persönliches Treffen mit ihm vereinbart, dass aber eigentlich erst in einer Woche stattfinden sollte. Die Rostocker Kollegen glauben, mittlerweile zu wissen, dass Liebrecht alleine reiste. Die Aussagen verschiedener Passagiere decken sich da. Es gibt auch einen Einweiser, der sich sicher ist, dass Liebrecht alleine im Auto saß, als er in Trelleborg die Fähre verließ. Da er nur für die Rückfahrt eine Kabine gebucht hatte, - das ist Pflicht bei Nachtfahrten - und diese auch ganz sicher benutzte, muss er also auf der Rückfahrt von Trelleborg nach Rostock verschwunden sein. Es fehlt allerdings weiterhin jede Spur von ihm. Das Schiff wurde umfangreich und intensiv abgesucht. Nichts! Mittlerweile beschäftigen sich die Rostocker Kollegen eingehend mit dem Fahrzeug und mit dem Gemälde. Ein Ergebnis wird aber nicht vor morgen Nachmittag erwartet. Und es gibt natürlich hunderte von Spuren in der Kabine. Unter anderem auch kleine Blutspritzer. Da wird die Auswertung wohl auch noch etwas dauern. Es stellen sich etliche Fragen: Warum hat Liebrecht seinen Termin in Malmö nicht wahrgenommen? Und wo hat er die vierzehn Stunden in Schweden verbracht? Ist er überhaupt selbst in Trelleborg wieder auf die Fähre gefahren? Oder hat jemand anderes das Fahrzeug bewegt? Befindet er sich noch an Bord der Fähre, vielleicht schwer verletzt? Oder sogar ermordet? Oder ist er nachts gewaltsam über Bord gegangen? Die Rostocker Kollegen arbeiten sich noch durch die Passagierliste durch, was etwas dauert, da immer eine gute Anzahl an osteuropäischen LKW-Fahrern an Bord ist.«

Tackert, Sonja, Sven und Jan hatten keine Zwischenfragen gestellt, weil sie den Redefluss der neuen Kollegin nicht unterbrechen wollten.

»Ich denke, dass der Unbekannte schon auf der Hinfahrt an Bord war«, sagte Sonja. »Dann muss die Passagierliste dieser Fahrt auch ausgewertet werden!«

»Das nehme ich auch an«, reagierte Tackert. »Fordere die mal aus Rostock an!«, bat er Jan.

»Nicht nötig«, meinte Nicola. »Die habe ich mir schon besorgt. Wir müssen nur noch vergleichen, wer eine einfache Passage gebucht hat, und wer ein Rückfahrticket für die fragliche Zeit besaß!«

»Woher hast du die Liste?«, wollte Tackert wissen.

»Von der Reederei!«Tackert verdrehte die Augen und atmete wieder tief durch, bevor er sagte: »Wir sollten uns etwas einfallen lassen, wie wir die schwedischen Kollegen über den … äh … Ingarsson informieren können …«

»Nicht nötig«, wiederholte sich Nicola. »Ein gewisser Herr Ingarsson hat gestern eine Selbstanzeige beim schwedischen Finanzamt gestellt. Da werden bestimmt automatisch Ermittlungen anlaufen. Ich glaube, der ist erst einmal beschäftigt!«

Tackert warf einen bösen, aber nur kleinen bösen Blick auf die Kollegin. Sonja und Sven amüsierten sich deutlich, und Jan hatte sich sogar umgedreht, um seine Reaktion besser zu verbergen.

»Mensch Mädchen«, entfuhr es Tackert. »Ich dachte, wir hätten das geklärt …«

»Ist ja auch das letzte Mal. Aber es war schon alles angelaufen …«

»Wie bist du überhaupt mit der Sprache zurechtgekommen? Sprichst du schwedisch?«

»Ein wenig. Meine Eltern besitzen ein Ferienhaus in Schweden, und als Kind lernst du ja schnell! Und jedes Jahr vier bis sechs Wochen Intensivkurs … da kriegt man schon einige mit. Und Sprachen erlernen, ist mir noch nie schwergefallen.«

In Kiel wurde der Schwedenreisende von einem Mann in einem dunklen Ford-Pickup abgeholt. Er hatte einen fast kahlen Schädel, auf dem die brennende Sonne der letzten Tage ihre Spuren hinterlassen hatte.

»Was, verdammte Scheiße, ist da schiefgelaufen? «

»Alles!«

Ausführlich schilderte er den missglückten Verlauf der Aktion. Der Nebenmann lauschte stumm den Ausführungen, schüttelte einige Male den Kopf, und wartete auf das Ende.

»Du musst unbedingt für einige Zeit untertauchen«, äußerte er sich.

Zwei Stunden später wurde der Schwedenreisende in Rostock abgesetzt, wo er ein in Hafennähe parkendes Auto bestieg und den Weg nach Hause antrat.

***

Vor Hannovers Toren erreicht man nach einer dreißigminütigen Fahrt nach Norden den kleinen Ort Thören, der nur wenige Einwohner, aber eine Vielzahl von Wochenendhäusern beherbergt.

An der Ortseinfahrt führt eine Straße nach Norden, an deren Flanken sich kleine, meist einfache Holzhäuser auf großzügigen Grundstücken ducken. In den Sommermonaten hört man von überall Kindergeschrei und bellende Hunde. Hin und wieder schleichen Reiter auf müden Pferden vorbei, was bei den Jüngsten oft eine gewisse Euphorie auslöst. Noch spannender ist nur der Eiswagen, der sich laut bimmelnd ankündigt.

Über den meist vorhandenen Swimmingpools lauern Mückenschwärme auf opferbereite Körper. Oder Maulwürfe führen einen nicht enden wollenden Kampf gegen die Oberweltbewohner, die oftmals einen aussichtslosen Kleinkrieg gegen die buddelnden Sieger anzetteln.