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An einem Grabstein wir die Leiche eines Mannes gefunden, der es zu gewissen Erfolgen in der Pferdezucht gebracht hat. Schon zu Beginn der Ermittlungen wird deutlich, dass scheinbar niemand aus der Familie Interesse an einer Aufklärung zeigt. Im Verlauf der Untersuchungen entsteht ein Bild, das immer tiefer in eine offensichtlich zerklüftete Familie eindringt. Aber noch zweifelt der Hauptkommissar Richard Tackert. Noch geraten zu viele Personen in den Fokus und noch bleibt ungeklärt, ob nicht ein Teil der Hannoverschen Stadtgeschichte zu dieser Tat führte.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Affinität
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2020 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2020 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-752957-71-6
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Alle Grausamkeit entspringt der Schwäche
Seneca
1
In seinem Kopf herrschte das totale Chaos. Trotzdem trat eine Frage immer wieder in den Vordergrund:
Wird sich gleich ein Schuss lösen ... und ihn aus dieser Welt reißen?
Und was dann?
Kommt dann dieser schwarze Tunnel, an dessen Wänden sein Leben in Sekundenbruchteilen vorbeiziehen wird? In der Ferne ein helles Licht, das die Tür zu einem neuen Dasein ankündigt?
Was erwartet ihn dahinter?
Wird ihn ein Gott richten? – Aber er hatte nie an einen geglaubt.
Wird es einen Platz in der Gebärmutter einer neuen braven Frau geben ... oder wird es die Eizelle einer Libelle sein?
Oder ist alles vorbei?
Für immer.
Gibt es ein Jenseits?
Wird sich seine Seele zu erkennen geben und wie wird sie aussehen? – Bekommt er dann eine Neue? Eine bessere?
Er war merkwürdig ruhig, obwohl er spürte, wie sein Herz die Frequenz hochfuhr. Er hatte Angst, höllische Angst ... und gleichzeitig auch keine.
Ein Gedanke flog vorbei: Wie groß ist die Chance, dass ich den morgigen Tag erleben werde?
Fünfzig Prozent?
Weniger?
Er nahm plötzlich wahr, wie er die Waffe fixierte. Als könne er dadurch Einfluss nehmen und den Bolzen blockieren.
In weiter Ferne vernahm er eine Stimme. Sprach sie zu ihm?
Er hatte keine Kraft zu antworten, auch nur ein einzelnes Wort zu sprechen. Nicht jetzt.
Außerdem hatte er nicht zugehört.
Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Die Kraft in seinen Beinen ließ nach. Aber nur für kurze Zeit, dann übernahm wieder der Kopf die Führung.
Angreifen?
Keine gute Option.
Trotzdem wagte er einen Schritt, nur einen kleinen.
Die Tagesschau lief seit genau vier Minuten, als sein Körper zu Boden fiel und das Chaos in seinem Kopf beendete.
Endgültig beendete.
Für alle Zeit.
2
Als Tackert den Fundort erreichte, bot sich ihm eine Szene, die Alfred Hitchcock kaum eindrucksvoller hätte ins Bild setzen können.
Das historische, unter Denkmalschutz stehende Gebäude der St. Nicolai Kirche, einschließlich der teils jahrhundertealten Grabstätten an der Flanke des Kirchenschiffs, lag in einen seichten Nebelteppich gehüllt. Das aufkommende Tageslicht sorgte für ein bizarres, sich brechendes Schattenspiel. Surreal und bedrohlich, fand Tackert. Fast wie eine Vorankündigung.
Der kräftige männliche Körper lehnte an einem Grabstein und erweckte den Eindruck, als hätte sich der Mann zu einer Pause hier niedergelassen um ein wenig zu verschnaufen. Von der nahegelegenen Sutelstraße, wo der öffentliche Nah- und einsetzende Berufsverkehr vorbeirollte, wurde der Leichnam durch den zwei Meter hohen Grabstein verdeckt und war nicht zu sehen.
So wurde er von einer Anwohnerin, die vor der Arbeit noch eine Runde mit dem Hund drehen wollte, um kurz nach fünf entdeckt.
»Sieht fast so aus, als würde er schlafen, nicht?«, stellte sein Kollege Sven fest, der einige Minuten vor ihm den Fundort erreicht hatte und plötzlich neben ihm stand. »Dabei hat er ein hässliches Loch in der Brust, wie Dr. Schröder gerade festgestellt hat. Wurde also erschossen und das etwa vor zehn bis zwölf Stunden, auch wenn man das nicht glauben mag … so, wie er da sitzt.«
»Hm«, äußerte sich Tackert kurz angebunden, und man hätte den Eindruck gewinnen können, dass dies eine Form von Unhöflichkeit widerspiegelte. Aber Sven kannte den Hauptkommissar seit fast fünfzehn Jahren und wusste das richtig einzuschätzen. »Rüdiger Wittkoff, einundsechzig, vermutlich Pferdezüchter aus Isernhagen Süd…«
»Warum vermutlich?«, unterbrach ihn Tackert.
»Die Visitenkarten aus seiner Brieftasche deuten darauf hin. Ob dem so ist, wissen wir aber noch nicht genau.«
»Hm«, wiederholte sich Tackert. »Handy? Papiere? Irgendwelche Wertsachen?«
»Papiere ja. Perso, Führerschein, Kreditkarten, auch ein Schlüsselbund – alles da. Ansonsten waren seine Taschen leer. Obwohl: Das stimmt so nicht. In seiner Jackentasche hatte er ein kleines Glöckchen …«
»Ein Glöckchen?«, wunderte sich Tackert und drehte seinen Kopf zur Seite. »Was für ein Glöckchen?«
»Ein kleines Glöckchen … aus Blech. Wie man es an Kuscheltieren manchmal findet. Um den Hals. Du weißt schon. So ein kleines Blechglöckchen eben.«
Tackert antwortete nicht, sondern starrte scheinbar geistesabwesend auf den leblosen Körper, als Svens Smartphone klingelte und Sonja, die im Präsidium erste Informationen sammelte, die wenigen Erkenntnisse weitergab.
»Richard?«, versuchte Sven, nachdem er das Telefonat beendet hatte, dessen Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. »Er war tatsächlich Pferdezüchter. Und scheinbar ein erfolgreicher. Besitzt drüben in Isernhagen ein Gestüt, das wohl landesweit einen guten Ruf geniest und offensichtlich jeder kennt, außer mir. - Wir müssen seine Familie benachrichtigen.«
Sven beobachtete den Hauptkommissar, dessen ganze Aufmerksamkeit scheinbar immer noch dem Leichnam galt, und wartete auf eine Reaktion, die aber nicht kam. Er ahnte nicht, dass es nicht der Tote war, den Tackert betrachtete, um den dessen Gedanken kreisten.
Was Tackert wirklich beschäftigte, war der Grabstein.
3
Am Nachmittag traf sich die fünfköpfige Ermittlergruppe um Richard Tackert, der neben Sven und Sonja auch Nicola und Jan angehörten, zu einem ersten Austausch.
Die fünf bildeten ein homogenes Team. Effizient und zielgesteuert.
»Was wir bisher wissen, ist folgendes«, übernahm Tackert die Eröffnung. »Rüdiger Wittkoff hat gestern gegen 14.30 Uhr in seinem Range Rover samt Hänger und einem Pferd den Hof verlassen, um nach Celle zu fahren. Dort war er mit einer Frau namens Regine Sauerbier verabredet, der Käuferin einer Hannoveraner Stute. Laut Aussage von Frau Sauerbier traf Wittkoff gegen 15.15 ein und hielt sich, alles in allem, gute zwei Stunden dort auf, bevor er sich mit zwanzigtausend Euro in der Tasche auf den Rückweg machte. Laut zweier Angestellter, oder besser gesagt, Auszubildender, war er zumindest kurzzeitig gegen 18.30 Uhr auf dem Hof in Isernhagen, wo er den Anhänger abstellte und um zirka 19.30 Uhr mit seinem Auto wieder verschwand. Weder seine Frau noch seine beiden Kinder, einschließlich deren Partner, haben ihn danach, nochmal zu Gesicht bekommen. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was er vorhatte. Seine Tochter glaubt, dass es eine Verabredung mit einem Turnierveranstalter gab. Seine Frau behauptet, sich erinnern zu können, dass er an diesem Abend noch seinen Vater in Göttingen besuchen wollte, der dort in einem Seniorenheim lebt. Deswegen hat sie sich auch nicht gewundert, dass er über Nacht wegblieb. In den letzten zwei, drei Jahren ist er nachts - zumindest längere Strecken - nur noch ungern gefahren, sagt sie. - Ein wenig hatte ich den Eindruck, dass die Kommunikation unter den Familienmitgliedern nicht die beste ist, woran auch immer das liegen mag. Der eine scheint vom anderen nicht zu wissen, was er macht. - Da seine Frau das Geld weder im Tresor noch anderweitig an den zu erwartenden Orten im Haus gefunden hat, sollten wir davon ausgehen, dass Wittkoff die zwanzigtausend bei sich hatte, als er vom Hof fuhr. Und das würde bedeuten, dass wir es eventuell mit einem Raubmord zu tun haben könnten. Die Betonung liegt auf eventuell, weil mir vollkommen schleierhaft ist, warum dann seine Leiche aufwendig und nicht ganz ohne Risiko an der Kirche abgelegt wurde? Denn so viel steht fest: Der Fundort ist definitiv nicht der Tatort.«
»Dann stellt sich doch als Erstes die Frage, ob der Ablageort einen symbolhaften Charakter hat?«, warf Nicola ein. »Wenn ich die Fotos betrachte, macht das Ganze den Eindruck, als hätte jemand bewusst so … und genau so … gehandelt.«
»Das Gleiche habe ich heute früh auch gedacht«, gab Sven ihr recht. »Die Frage ist nur: Was steckt dahinter? Mir fällt zumindest nichts ein, was man hineininterpretieren könnte.«
»Lasst uns zunächst weiter über die Fakten reden«, forderte Tackert. »Von der KTU wissen wir, dass das Opfer die wenigen Meter vom Seitenstreifen der benachbarten kleinen Straße bis zum Grabstein gezogen wurde. Also war es vermutlich eine einzelne Person, die den Toten bewegt hat. Und zwar eine sehr kräftige Person, denn Wittkoff hatte sicherlich um die neunzig, hundert Kilo. Auch das … ich nenne es mal drapieren … der Leiche kann bei einem solchen Gewicht nicht so einfach gewesen sein. - Ansonsten gibt es von Seiten der Techniker bis zu diesem Zeitpunkt nichts, was wichtig erscheint. Und auch die ersten Ergebnisse von Dr. Schröder werden frühestens morgen Nachmittag vorliegen. – Hat die Befragung der Anlieger rund um die Kirche was ergeben, Sonja?«
»Nichts. Absolut nichts«, schüttelte sie den Kopf.
»Jan?«
Der angesprochene nahm eine aufrechte Haltung an und schob sein Notebook zurecht.
»Tja, also. Man findet natürlich im Netz jede Menge über ihn. Es gibt etliche Einträge zu dem Gestüt. Ansonsten ist er wohl Mitglied verschiedener Einrichtungen und Organisationen rund um den Pferdesport, was ja auch irgendwie ein Selbstläufer ist. Ich konnte nichts finden, was in irgendeiner Form den Eindruck erweckt, als müsse man sich damit näher beschäftigen. Womit ich mich aber näher beschäftigen werde, ist seine Tochter Eileen. Da gab es vor knapp zwei Jahren eine Anzeige wegen Urkundenfälschung und Betrug. Das Verfahren endete zwar mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen, aber ich werde mir das trotzdem genau angucken.«
»Hatte die Anzeige etwas mit der Pferdezucht zu tun?«, wollte Tackert wissen.
»Ja. Da gab es wohl Unstimmigkeiten bei einem Verkauf und es war von Betrug die Rede, weil der Käufer glaubte, man hätte ihm ein falsches oder krankes Pferd beziehungsweise falsche Papiere, untergejubelt.«
»Ein später Racheakt?«, überlegte Sonja.
»Mit dem Aufwand?«, zweifelte Nicola. »Kann ich mir, ehrlich gesagt, kaum vorstellen. Da muss was anderes dahinterstecken …«
»Wir werden das nicht von vornherein ausschließen können und die betreffende Person auf jeden Fall befragen. Vielleicht war das ja auch kein Einzelfall.« Die Skepsis war dem Hauptkommissar allerdings anzusehen.
Trotzdem war jedem klar, dass eine genaue Untersuchung nötig war.
»Fassen wir zusammen. Am Wichtigsten ist es, zu klären, was Wittkoff vorhatte, nachdem er den Hänger abgestellt hat? Da könnten uns die Daten seines Handys weiterhelfen. Jan, kümmerst du dich bitte um den Provider? Seinen Wagen in Kürze zu finden sollte nicht das Thema werden, sofern er in einem öffentlichen Bereich steht. Die komplette Familie Wittkoff muss ausführlich befragt werden. Das machen wir morgen. Habe ich was vergessen?«
»Ich würde gerne nochmal auf die recht merkwürdige Auffindesituation zurückkommen«, forderte Nicola. »Da ist jemand ein unnützes Risiko eingegangen und hat nachts eine Leiche transportiert, um sie an einer Stelle abzulegen, von der ich glaube, dass sie bewusst gewählt wurde. Also die Kirche oder der Friedhof. Wahrscheinlich eher der Friedhof, denke ich. Jetzt frage ich mich, was wohl ein Psychologe oder Fallanalytiker dazu sagen würde?«
Tackert war für einen Augenblick unentschlossen, ob er wirklich die gewagte Theorie bereits zu diesem frühen Zeitpunkt präsentieren sollte, entschloss sich dann aber, es zu tun.
»Man würde dem Täter eine gewisse Affinität bescheinigen, denke ich. Vielleicht eine krankhafte Verbundenheit? Und zwar zu einem Mann, der neben Fritz Haarmann als weiterer Massenmörder seinen Platz in Hannovers Stadtgeschichte gefunden hat. Obwohl er vermutlich keiner war… «
Alle starrten Tackert fragend an. »Stimmt! Da gab´s ja noch den … den … äh …« Sonja wollte der Name nicht einfallen.
»Hanebuth«, half Tackert. »Jasper Hanebuth. Ich musste auch erst nochmal recherchieren, weil ich unsicher war, ob meine Erinnerung ausreicht.«
»Wer war das?«, fragte Nicola, die als Jüngste und Zugezogene nichts mit dem Namen anfangen konnte.
»Mir sagt zwar der Name was, weiß aber jetzt auch nicht alle Einzelheiten«, gestand Sven.
»Mir geht´s genauso«, schloss sich Jan an.
»Okay, also: Jasper Hanebuth wurde sechzehnhundert irgendwas im heutigen Stadtteil Groß-Buchholz geboren. Als junger Mann zog er als Söldner in den Dreißigjährigen Krieg und war nach seiner Heimkehr zunächst Pferdehändler, später Pferdedieb. 1652 wurde er auf Grund der Anzeige eines Wirts, der ihn des Pferdediebstahls beschuldigte, verhaftet. Während seiner Inhaftierung kam es zu Folterungen, unter denen er diverse Diebstähle und neunzehn Morde gestand. Neunzehn! Daraufhin verurteilte ihn die Gerichtsbarkeit zum Tode durch Rädern. Die Geschichtsschreiber sind sich bis heute uneinig, ob er diese Morde überhaupt jemals begangen hat … oder ob er unter der Folter nicht einfach zusammenbrach. Soweit zu den Fakten.
Aber die Geschichte geht noch weiter, gerade was Wittkoff betrifft.
Den Mythen nach soll er seine Opfer in der Eilenriede in Zoonähe überfallen haben, wobei er aus seiner Räuberhöhle heraus einen Draht mit einem Glöckchen über den Weg spannte. Dieser Weg war seinerzeit die Hauptverbindung nach Norden und wurde von zahlreichen Kaufleuten genutzt, von denen ihm einige zum Opfer gefallen sein sollen. – Und jetzt kommt der für mich spannendste Aspekt: Der Grabstein, an dem Wittkoff gefunden wurde, ist das Grab seines Bruders, der acht Jahre nach ihm starb und dessen Grabstein eine gewisse Bedeutung hat, da der Bildhauer ein bedeutender hannoverscher Künstler war. Den Namen habe ich aber vergessen. Wir haben also als Parallelen den Pferdehändler, das Glöckchen und den Grabstein, was zumindest einen merkwürdigen Eindruck erweckt, wenn nicht sogar einen abstrusen. Trotz der Zusammenhänge tendiere ich aber im Augenblick noch dazu, zu sagen, dass mir das Ganze eigentlich zu weit hergeholt erscheint und ich nicht so recht daran glauben mag.«
Für einen Moment lag kollektives Schweigen im Kreis der Ermittler.
»Nach fast vierhundert Jahren einen Zusammenhang hineininterpretieren? Ist das nicht wirklich ein bisschen zuviel des Guten?«, zweifelte Jan. »Obwohl es eine schöne Erklärung für die Risikobereitschaft wäre.«
»Das Glöckchen, finde ich, wäre ein äußerst ungewöhnlicher Zufall«, meinte Sonja. »Wer sollte auf die Idee kommen, seinem Opfer sowas in die Tasche zu schieben?«
»Ja. Und wenn man dann noch aus dem Pferdedieb einen Verkäufer macht, der die Leute bescheißt, bekommt sogar dieser Punkt mehr Gewicht ... und die ganze Sache könnte am Ende tatsächlich einen Hintergrund bilden«, argumentierte Nicola.
»Ja«, stimmte ihr Tackert nach kurzer Überlegung zu. »Das wäre auch für mich ein Punkt, der trotz aller Skepsis noch einen Rest Zweifel bei mir übriglassen würde, um dieses Gespinst nicht ganz aufzugeben. Wir müssen klären, wie sich die Geschäfte des Gestüts darstellen und ob da alles mit rechten Dingen zugeht.«
4
Als Tackert und Sven am nächsten Morgen das Gestüt erreichten, musste auch Sven zugeben, dass er beeindruckt war, so wie Tackert bereits gestern, als er zum ersten Mal hier eintraf.
Ein Torbogen aus dem achtzehnten Jahrhundert begrüßte eventuelle Besucher und deutet an, dass man dahinter auf ein herrschaftliches Anwesen treffen wird. Ohne die angrenzenden Weideflächen mit einzubeziehen, hatte der Hof weit mehr als die Größe eines Fußballfeldes und erweckte den Eindruck eines durchstrukturierten und durchdachten Geländes. Das große Hauptgebäude schien geräumig genug, um drei Familien oder mehr ausreichend Platz zu bieten. Zwei an den Seitenbereichen verlaufende Stallungen, einschließlich einiger unterschiedlich großer Nebengebäude aus rotbraunem Ziegel und Fachwerk, erweckten den Eindruck, als wäre die Zeit hier stehengeblieben.
Auf einem Paddock, der gleichzeitig das Gelände am hinteren Ende begrenzte, arbeitete eine junge Frau mit einem edel aussehenden Pferd, das scheinbar gehorsam den Anweisungen folgte und sich entspannt bewegte, glaubte Tackert, beurteilen zu können.
Marlene Wittkoff schien bereits auf die beiden Beamten zu warten und führte Tackert und Sven ins Haus. Tackerts erster Eindruck war, dass sich Frau Wittkoff im Vergleich zum gestrigen Tag deutlich gefasster zeigte. Ihre müden Gesichtszüge jedoch versuchte sie nicht, durch entsprechendes Make-up zu verbergen.
Ihm fiel auf, dass sich sein flüchtiger Eindruck von gestern bestätigte. Ihr Oberkörper hatte eine leichte Schiefhaltung. Außerdem machte ihr offensichtlich ein Bein beim Laufen Probleme.
»Wissen Sie schon irgendwas?«, wollte sie wissen und lenkte die beiden Ermittler in einen Raum, von dem Tackert nicht hätte sagen können, ob es sich hier um ein Büro, eine Bibliothek oder ein Fernsehzimmer handelt. Oder alles in einem.
»Leider wenig«, bedauerte der Hauptkommissar. »Das ist auch der Grund, warum ich Sie bitten möchte, uns ein wenig über das Gestüt zu erzählen. Wie viele Leute arbeiten hier? Beziehen Sie alle ihre Einkünfte ausschließlich aus der Pferdezucht oder betreiben Sie nebenbei auch noch andere Landwirtschaft?«
Frau Wittkoff war auf diese Art Fragen scheinbar nicht vorbereitet und machte einen etwas erschrockenen Eindruck. Es verging ein Moment, ehe sie tief einatmete und offensichtlich widerwillig antwortete.
»Wir haben uns weitestgehend auf die Zucht konzentriert«, erklärte sie ein wenig mürrisch, »haben zusätzlich noch einige Einkünfte, die nicht direkt damit in Zusammenhang stehen, aber im Großen und Ganzen mit Pferdehaltung, Ausbildung oder Versorgung der Tiere zu tun haben. Was Ihre zweite Frage betrifft: Wir sind ein reiner Familienbetrieb. Neben unserem Sohn Till und dessen Frau Nele, unserer Tochter Eileen und ihrem Lebensgefährten Henning, haben wir hier noch Dominique und Laura, die beide eine Ausbildung zur Pferdewirtin bei uns machen. Und noch eine Schülerin, hier aus dem Ort. Anna, die zweimal in der Woche für jeweils zwei, drei Stunden hilft.«
»Mal abgesehen von der Schülerin, wohnen alle hier auf dem Hof?«
»Ja. Unsere Kinder haben Wohnungen hier im Haus und die beiden Mädels wohnen drüben neben dem ehemaligen Wirtschaftsgebäude, gegenüber der Reithalle.«
»Gibt es eine feste Aufgabenverteilung? Wer kümmert sich zum Beispiel um die potenziellen Kaufinteressenten?«
»Mehr oder weniger alle aus der Familie. Wobei die letzte Entscheidung bisher immer mein Mann traf. Zumindest, wenn es um das Finanzielle ging. Hin und wieder auch mal Eileen, aber eher selten. Mein Mann war ein harter, aber fairer Geschäftspartner. Hatte ein unglaubliches Gespür, was die Entwicklung eines Tieres angeht und lag mit seinen Prognosen fast immer richtig. Was am Ende natürlich den Erfolg ausmacht.«
»Kam es mal zu ernsthaften Unstimmigkeiten mit einem Käufer? Unstimmigkeiten, die vielleicht sogar zu einer Eskalation führten?«, schaltete sich Sven ein. Tackert zuckte ein bisschen zusammen, wollte er sich doch dieses Thema eigentlich für die Tochter aufheben.
»Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen«, wurde die Frau energisch. »Dann sollte Ihnen aber auch bekannt sein, dass das Gericht dem … dem Krause widersprochen hat und die ganze Sache als haltlos bewertet wurde. Die Anzeige war eine Unverschämtheit. Wenn man unqualifiziert und mit fehlerhaftem Halbwissen an einem erstklassigen Tier herumhantiert, kann es natürlich passieren, dass aus einem sehr guten Turnierpferd ein müder Ackergaul wird, um es mal salopp und allgemeinverständlich zu formulieren. Betrügereien, in welcher Form auch immer, haben wir nicht nötig. Wir arbeiten hier gewissenhaft und voller Leidenschaft und die Zucht bedeutet hier für jeden Einzelnen mehr, als den Broterwerb zu sichern, das dürfen Sie ruhig glauben.«
Die Frau hatte sich geradezu in Rage geredet und Tackert war geneigt, ihr zu glauben.
»Gab es außer dieser Angelegenheit noch weitere – ich nenne es mal – Spannungen, die im Zusammenhang mit Ihrer beruflichen Existenz stehen? Probleme mit Besitzern hier untergestellter Pferde, zum Beispiel? Oder Nachbarn?«
»Nein«, kam umgehend die scharfe Antwort. »Sie werden auf diesem Hof niemanden finden, der auf Stunk aus ist. Hier werden Probleme zivilisiert geregelt, sollten denn mal welche auftreten, was sowieso nur selten der Fall ist.«
»Gut, Frau Wittkoff. Dann habe ich vorerst nur noch eine Frage. Hat sich aus Ihrer oder der Familie Ihres Mannes mal jemand mit Ahnenforschung beschäftigt? Ich weiß, die Frage hört sich irritierend an, es wäre aber wichtig …«
Marlene Wittkoff starrte Tackert an, als zweifle sie an seinem Verstand. Und das Schlimme daran war, dass Tackert das sogar verstehen konnte.
»Ahnenforschung? Ahnenforschung? Was für ein Quatsch.«
Tackert betrachtete damit die Frage als beantwortet und machte sich mit Sven auf den Weg, die beiden Auszubildenden zu befragen.
Sie überquerten gerade den Hof, als sie auf den Sohn, Till Wittkoff, trafen.
»Nur einen Moment, Herr Wittkoff«, stellte Tackert sich vor ihm auf. »Haben Sie eine Vermutung, wo Ihr Vater gestern noch hinwollte? Hat er Ihnen gegenüber Andeutungen gemacht, was er noch vorhatte?«
Till Wittkoff, der Tackert beinahe um einen Kopf überragte, nahm eine lässige Haltung an und fuhr sich mit der Hand durch das schulterlange Haar.
»Nee, keine Ahnung. Was sagt denn meine Mutter?«
»Ihre Mutter vermutete bereits gestern, dass er eventuell seinen Vater im Seniorenheim besuchen wollte«, erklärte Tackert.
»Hm«, murmelte der Mann, »so spät noch? Wäre dann aber auch mal wieder an der Zeit gewesen … «