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Damit hatte Hauptkommissar Richard Tackert nicht gerechnet. Nach dem gewaltsamen Tod eines Rentners muss er sich ausgerechnet mit dem alten Fall AVARITIA noch einmal befassen, den er in den letzten zwei Jahren so erfolgreich verdrängt hatte. Es macht den Anschein, als ob der ganze alte Mist wieder von vorne beginnt, bis ihm eines Tages bewusst wird, dass sich alles scheinbar noch viel schlimmer entwickelt.
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Avaritia II
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2017 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2017 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN: 978-7450-4271-9
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Eines der traurigsten Dinge im Leben ist,
dass ein Mensch viele gute Taten tun muss,
um zu beweisen, dass er tüchtig ist,
aber nur einen Fehler zu begehen braucht,
um zu beweisen, dass er nichts taugt.
George Bernard Shaw
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
1
Es war der Geruch, der ihn irritierte. Hier klebte nicht nur der häufig vorhandene und typische Mief alter Leute nach Staub, Urin und Medikamenten an den verschlissenen Tapeten und Gardinen. Da war noch was anderes, etwas Erdiges, Markantes. Etwas Undefinierbares.
Aber vorerst war es ohnehin notwendiger, sich auf das Visuelle zu konzentrieren.
Der alte Mann lag wie schlafend auf dem Bauch. Unter ihm befand sich ein verbrauchter Webteppich, der zwischen Sofa, Sessel und einem Nussbaumtisch irgendwann mal die Dielen des Fußbodens verschönern sollte. Was vor vielen Jahren vielleicht sogar einmal der Fall war. Heute wirkte das Ensemble traurig und verschlissen, wie im Übrigen das komplette Zimmer, dessen weiterer Inhalt aus einem Schrank, einer kleinen Anrichte und einem Esstisch mit vier Stühlen bestand. Alles scheinbar aus den 1960er Jahren und in einem jämmerlichen Zustand. An den Wänden verloren sich wenige, gerahmte Fotos hinter nikotinverklebtem Glas. Das ganze Zimmer strahlte eine bedrückende Atmosphäre aus und spiegelte Armut und Not wieder.
»Kannst du schon was zum ungefähren Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Tackert den Gerichtsmediziner Dr. Schröder, der offensichtlich die erste Untersuchung abgeschlossen hatte.
»Nicht nur zum Todeszeitpunkt«, triumphierte der Mediziner, »sondern auch zur Tatwaffe.« Sein Blick ging zu einer gusseisernen Bratpfanne, die im geringen Abstand zum Leichnam auf dem Boden lag.
»Du meinst also, sprichwörtlich mit der Bratpfanne erschlagen?«, schaltete Sven sich ein, der gemeinsam mit Hauptkommissar Richard Tackert schon seit Jahren die erste Tatortbesichtigung vornahm.
»Ja, richtig«, grinste der Rechtsmediziner blöde. »Zumindest sieht momentan alles danach aus. Also war es entweder seine Frau oder die Schwiegermutter. – Ich tippe auf die Schwiegermutter.«
»Und die müsste dann zirka hundert sein«, vermutete Sven.
In Schröders unpassender Bemerkung fand Tackert ein weiteres Mal die Bestätigung, dass er ihn nicht ausstehen konnte … und zeigte keinerlei Reaktion. Die Arroganz, die überheblichen Äußerungen und nicht zuletzt die dummen Bemerkungen über alles und jedes gingen ihm gehörig auf die Nerven. Allerdings wusste Tackert auch, dass Schröder seine Arbeit mit Präzision und enormen Wissen ausführte.
»Und der ungefähre Todeszeitpunkt?«, fragte er stattdessen nur.
»Gestern zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr«, erklärte Dr. Schröder lustlos. »Eine genauere Zeitangabe erst nach der Obduktion. - Wie immer.«
Tackert und Sven wandten sich ab und verließen das Zimmer. Sie drehten noch eine kurze Runde durch die restlichen Räume und verließen das kleine Haus, um den Kollegen der Spurensicherung nicht im Weg zu stehen. Am Gartenzaun trafen sie auf einige Schaulustige, die neugierig debattierten.
Der einundsiebzigjährige Werner Richter wurde gegen fünfzehn Uhr aufgefunden.
Besorgte Nachbarn hatten die Feuerwehr alarmiert, nachdem gestern am frühen Abend verdächtige Geräusche zu hören waren und der Rentner heute Morgen seine Zeitung nicht aus dem Briefkasten geholt hat, was er seit Jahren regelmäßig und zuverlässig zwischen sieben und sieben Uhr dreißig tat.
Und das war dann auch schon fast alles, was die Bewohner des Nachbarhauses an Informationen liefern konnten, wie Tackert enttäuscht hören musste. – So genau kannten sie Werner Richter nun auch wieder nicht. Er war ja auch sehr verschlossen und wollte offensichtlich seine Ruhe haben. Daher war der Kontakt eher oberflächlicher Natur.
In der Zwischenzeit traf Sonja mit zwei uniformierten Kollegen ein und gemeinsam befragten sie weitere Leute aus der Nachbarschaft, was nicht allzu viel Zeit in Anspruch nahm.
Die Gleidinger Straße war nur kurz und bestand ausschließlich aus einfachen Einfamilienhäusern. Fast jedes Haus hatte einen kleinen Vorgarten, der im Augenblick von den jeweiligen Bewohnern genutzt wurde, um neugierige Blicke über den Zaun zu werfen.
Aber eine erste, vielversprechende Spur ergab sich nicht.
Niemand konnte von einer außergewöhnlichen Person oder Situation berichten. Was Tackert eher ungewöhnlich erschien.
»Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte Sven auf dem Rückweg ins Präsidium. »Der Unterschied? - Das Mobiliar im abgewrackten Zustand, der allgemein heruntergekommene Eindruck, und anderseits trotzdem irgendwie sauber. Kein Staub auf den Schränken, keine Spinnweben in den Ecken. Kaum mal ein Krümel auf dem Fußboden. - Mann, der war einundsiebzig. Da putzt man doch nicht den ganzen Tag.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, gestand Tackert ehrlich. »Ich habe mich auch eher damit beschäftigt, dass der Alte seinem Mörder die Tür geöffnet haben muss, ihn also vermutlich kannte. - Und natürlich, was es bedeutet, sollte tatsächlich die Bratpfanne die Mordwaffe sein.«
»Was es bedeutet, hat dir Dr. Schröder doch schon erklärt«, grinste Sven. »Die Schwiegermutter war´s … und der Fall ist erledigt.«
Am späten Abend wurden die ersten Informationen ausgewertet, die in den letzten Stunden bei Nicola Kleinschmitt, der jüngsten im Team, zusammengelaufen waren.
»Erwartungsgemäß haben wir noch nicht viel vorliegen«, eröffnete sie. »Was bisher bekannt ist: Werner Richter, einundsiebzig Jahre, Rentner. - Verwitwet. Bisher konnten wir keine weiteren Familienmitglieder ausmachen. Hatte aber wohl einen kleinen Freundeskreis in der entsprechenden Altersgruppe. Also alles Senioren. Einige männliche aber auch weibliche Besucher hin und wieder waren keine Seltenheit, berichten die Anwohner übereinstimmend, die ihn als unscheinbar und unauffällig beschreiben. Einige auch als kontaktscheu. - Wohnte seit über dreißig Jahren in der Gleidinger Straße. Hat quasi sein ganzes Berufsleben als Lagerist und Auslieferungsfahrer in einer Druckerei gearbeitet. - Die Spurensicherung konnte keine Einbruchsspuren feststellen. Nichts deutet derzeit auf einen Raubmord hin. Offensichtlich muss man die wirtschaftlichen Verhältnisse des Opfers auch als bedauernswert bezeichnen, obwohl die Miete für das Haus sehr niedrig war. Die Rente war sehr bescheiden. Entsprechend gibt es keine Wertsachen im Haus, auch kein Handy, kein Notebook oder PC. Wir haben auch nichts im Netz über ihn gefunden. - Und jetzt noch das einzig wirklich Interessante aus meiner Sicht: Er war kürzlich ein gutes Jahr lang verreist. Ist erst seit vier Monaten zurück in Hannover. Wo er war, weiß niemand. Einigen Nachbarn gegenüber hatte er erwähnt, dass er in Süddeutschland als Testperson an der Studie eines Pharmakonzerns teilnimmt. Was einige veranlasste, zu spekulieren, ob er nicht im Knast war? - War er aber nicht. Habe ich überprüft. - Und mehr haben wir im Augenblick auch nicht.«
»Ich muss Nicola in einem Punkt widersprechen«, schaltete Jan sich ein.
Jan Ackermann war der Fünfte im Team und als einziger Familienvater fast ausschließlich mit Innendienstaufgaben betraut.
»Ich habe vorhin einen Blick auf seine Kontoauszüge geworfen. Es gibt ein Guthaben von über viertausend Euro, was dadurch zustande kam, dass er seit zirka einem Jahr nichts mehr abgehoben hat. Zuvor sind, über Jahre hin, die auf dem Konto verbleibenden dreihundertzwanzig Euro sofort nach Geldeingang abgehoben worden … und dann auf einmal nicht mehr. Als ob er plötzlich das Geld nicht mehr benötigte ... was seiner allgemeinen, finanziellen Situation vollkommen widerspricht. Es stellt sich also die Frage, wovon er gelebt hat? Ich vermute, er hatte plötzlich eine weitere Einnahmequelle. Und zwar eine Quelle, die Bargeld ausgeschüttet hat. Es tauchen in seinen Bankunterlagen jedenfalls keine weiteren Buchungen auf.«
»Hm, eigenartig. - Gab es im Haus Hinweise zu dieser ominösen Reise?«, fragte Tackert.
»Noch nicht. Wir haben ja auch gerade erst angefangen«, erinnerte Nicola. »Da ist eine ganze Menge Zeug, was durchgesehen werden muss.«
»Okay«, sagte Tackert. »Dann an die Arbeit. Vielleicht findet sich irgendwo ein Hinweis, wo das Geld herkam. Allem, was irgendwie verdächtig erscheint, muss nachgegangen werden. Aber das wisst ihr ja selbst.«
Bis Mitternacht waren alle, außer Jan, damit beschäftigt, den Berg von Papier durchzusehen.
Gefunden haben sie aber nichts.
Als sie Feierabend machten, hatte sich eine Anzahl offener Fragen angesammelt.
Tackert ahnte, dass dies kein Fall wird, wo sich in Kürze eine erste heiße Spur ergibt.
2
Am nächsten Morgen saß Tackert beim Frühstück und studierte kopfschüttelnd den Bericht einer regionalen Zeitung:
Rentner in seiner Wohnung erschlagen und beraubt.
In Hannover Mittelfeld wurde am Dienstag der 71-jährige Rentner Werner R. in seiner Wohnung überfallen und beraubt. Wie zu erfahren war, hat sich der Rentner massiv gewehrt, ist aber kurz nach der Tat seinen schweren Kopfverletzungen, die ihm mit einer gusseisernen Bratpfanne zugefügt wurden, erlegen. Nachbarn berichten von ausländisch aussehenden Jugendlichen, die sich auffällig verhalten haben. Und so stellt sich, gerade nach den Ereignissen der vergangenen Monate, einmal mehr die Frage: Ist die Flüchtlingssituation noch in den Griff zu bekommen?
An dieser Stelle brach Tackert ab, wurde wütend und schleuderte die Zeitung in den Müll, denn genau da gehörte sie hin. Gott sei Dank gelang es ihm umgehend, sich die Bilder vor Augen zu führen, die ihn vor ein paar Tagen so fasziniert hatten.
Da stand in unmittelbarer Nähe der Waterloo-Säule ein junges Pärchen mitten auf der Wiese und tanzte Walzer.
Jedenfalls so was Ähnliches.
Morgens um acht.
Ohne Musik, ohne Kenntnisse der genauen Schrittfolge.
Wiegten und drehten sich wie zwei Opernballbesucher im Kreis, traten sich dabei gegenseitig auf die Füße, aber in ihren Gesichtern konnte man deutlich alle Zärtlichkeit dieser Welt ausmachen. – Und diese beiden Jugendlichen hatten auch ein ausländisches Aussehen.
Nicola schaute um die Ecke und signalisierte, dass sie startklar war. Gemeinsam wollten sie zum Haus des Opfers fahren, um nach brauchbaren Informationen zu suchen.
Die gerade einmal annähernd siebzig Quadratmeter Wohnfläche waren dann auch schnell durchgesehen, genauso wie der kleine Außenbereich, aber das Ergebnis war ernüchternd.
Sie entdeckten nichts Brauchbares, nichts, was eine der Fragen hätte beantworten können. Nichts, was eine Spur eröffnete.
Als einzig wertvolle Neuigkeit nahmen sie einen Hinweis aus der Nachbarschaft mit.
Dass nämlich Werner Richter von zwei weiteren Senioren begleitet wurde, als ein PKW ihn nach seiner langen Abwesenheit vor der Haustür absetzte.
Die zwei Alten waren keine unbekannten Gesichter für die Nachbarn. Offensichtlich gehörten sie zum engsten Freundeskreis des Opfers. Allerdings waren es leider namenlose Gesichter und niemand war in der Lage, eine vernünftige Personenbeschreibung von wenigstens einem der beiden Unbekannten abzugeben, was Tackert unbegreiflich erschien.
Unbegreiflich war für Rudolf Grassl der Zeitungsartikel, den er gerade studierte. Obwohl sich alles in ihm dagegen wehrte, gewann sein Verstand langsam die Oberhand und erklärte, dass es sich bei dem beschriebenen Opfer tatsächlich um Werner handeln musste.
Und das war dann irgendwie makaber.
Wenn er auf die letzten fünfzehn Monate zurückblickte, in denen sie sich allen möglichen Strapazen gestellt hatten, zum Teil die abenteuerlichsten Situationen erlebten, mehr als einmal durch unverschämtes Glück am Leben geblieben waren, dann las sich diese Nachricht wie eine späte Bestrafung:
Mit einer Bratpfanne erschlagen …
Unbegreiflich. Ausgerechnet Werner, der jedem Streit aus dem Weg gegangen ist. Man musste ihn schon richtig reizen, bis er mal aus der Haut fuhr. Was Rudolf in all den Jahren nur einmal erlebt hatte.
Und außerdem war er immer äußerst vorsichtig, manchmal fast ängstlich.
Plötzlich fiel ihm auf, was diese Tat unter Umständen nach sich ziehen könnte, wenn die Polizei nämlich eine Verbindung zu seiner Person aufbauen konnte … oder auch zu Karl. Das war zwar nicht unbedingt zu erwarten, aber besser wäre es, sich darauf vorzubereiten und einige Änderungen vorzunehmen.
Er musste unbedingt mit Karl reden. Das Geheimnis musste bewahrt bleiben.
Unter allen Umständen.
***
»Ist noch viel offen?«, fragte Tackert, als er zurück im Präsidium war.
»Irgendwas gefunden, wo sich das Opfer in der fraglichen Zeit aufgehalten haben könnte? - Oder etwas Anderes, was interessant erscheint?«
»Nichts«, bedauerte Sonja kopfschüttelnd. »Nichts hinsichtlich der eventuellen Teilnahme an einer Studie, nichts zu einer Urlaubsreise, überhaupt nichts. Die Unterlagen machen auf mich fast den Eindruck, als hätte vor zirka zwei Jahren ein Cut stattgefunden. Kaum noch Zahlungsbelege oder Quittungen. Keine Notizen, Adressen. Nichts. - Dann ein halbes Jahr später auch keine Barabhebungen mehr von seinem Konto, wie Jan schon sagte. Wie es aussieht, werden uns die persönlichen Unterlagen nicht weiterbringen. - Es gibt noch nicht einmal Telefonnummern, die sich nur schwer zuordnen lassen.«
»Auch kein Hinweis über Freunde, Bekannte? Keine Fotos, Adressen oder Ähnliches?«
»Auch das nicht.«
»Kann es sein, dass jemand bewusst dafür sorgt, dass mit Beginn einer bestimmten Zeit nur ausgesucht belanglose Papiere im Haus lagern?«, rätselte Tackert. »Aber was sollte das für einen Sinn haben?«
»Genau dieser Eindruck entsteht bei uns auch gerade«, kam es von Jan. »Der Eindruck nämlich, dass vor zirka zwei Jahren größter Wert darauf gelegt wurde, keine Spuren zu hinterlassen. - Und das in seinem eigenen Heim. Irgendwie krank, oder?«
»Das ja«, meinte Nicola, »wäre aber eine Erklärung für das merkwürdig spartanisch und unpersönlich eingerichtete Haus.«
Am Abend saß der Hauptkommissar mit Elisa im Garten.
Die hereinbrechende Juninacht präsentierte milde Temperaturen und Elisa eine Flasche süffigen kalifornischen Rotwein.
»Kommt ihr voran?«, fragte Elisa.
»Überhaupt nicht«, erklärte Tackert und wirkte ein bisschen niedergeschlagen. »Alles sehr merkwürdig. Kannst du dir einen Grund vorstellen, warum ein siebzigjähriger Mann plötzlich anfängt, aus seinem Leben ein Geheimnis zu machen? Dokumente und persönliche Unterlagen verschwinden lässt? - Merkwürdig auch: Zu offensichtlich vorhandenen, persönlichen Kontakten gibt es nicht einen einzigen Nachweis. Kein Foto, keine Telefonnummer oder Adresse, keinen Namen, nichts. - Und dazu kommt noch, dass er für ein volles Jahr von der Bildfläche verschwindet. Angeblich wegen der Teilnahme an einer Studie eines Pharmakonzerns, was ich allerdings sehr bezweifle.«
»Das klingt wirklich alles sehr verwirrend«, überlegte Elisa. »Vielleicht eine Demenzerkrankung oder Ähnliches?«
»Dafür gibt es keine Anzeichen. Der Mann soll seinem Alter entsprechend verhältnismäßig fit gewesen sein.«
»Ist ein Erbschaftsstreit zu befürchten?«
»Davon gehen wir im Moment nicht aus. Wir haben bisher weder ein Testament, noch Familienangehörige ausfindig machen können.«
»Du sagt, er war ein Jahr von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht hat er sich noch eine schöne Reise gegönnt und …«
»Dazu fehlten ihm die finanziellen Mittel«, unterbrach Tackert Elisa. »In dem Zusammenhang muss ich noch erwähnen, dass er in den letzten dreizehn Monaten kein Geld mehr von seinem Konto abgehoben hat, obwohl ihn jahrelang die etwas über dreihundert Euro, die ihm blieben, gerade so über Wasser gehalten haben. Wir gehen davon aus, dass er eine zusätzliche Einnahmequelle hatte.«
»Hm?« Elisa nahm einen Schluck und überlegte. »Wenn er ein Jahr nicht zuhause war, wo sollen dann Unterlagen herkommen?«
»Das begann schon früher«, erklärte Tackert. »Du musst dir das so vorstellen: Bis Oktober 2014 gibt es Papiere, wie sie in jedem anderen Haushalt auch zu finden sind. Versicherungsunterlagen, Rechnungen, Kaufbelege, Adressen, Telefonnummern, Notizen zu Reiseplanungen … und so weiter. Aber: Ausschließlich mit einen Bezug zu seiner eigenen Person oder seiner verstorbenen Frau. Nichts zu Freunden, Verwandte oder Bekannte. Ab November 2014 dann plötzlich nur noch Belege zur Rente, Bankunterlagen und zwei Arztterminen. - Das macht uns schon sehr stutzig.«
»Vielleicht sah er keinen Anlass, etwas aufzuheben? Alte Leute werden mit den Jahren manchmal etwas eigen und ändern Angewohnheiten, die Jahrzehnte lang wichtig waren. - Das weiß ich von meiner Mutter.«
»Das haben wir auch berücksichtigt. Aber wenn ich an der Studie eines Pharmaunternehmens teilnehme oder eine lang andauernde Reise plane, müssten doch irgendwelche Unterlagen das bezeugen? - Und mindestens genauso merkwürdig: Wenn ich einen Freundeskreis besitze, sollte man doch davon ausgehen, dass sich irgendwelche Notizen, gleich welcher Art, zwischen meinen Papieren befinden, oder sehe ich das falsch? - Wir sind uns alle ziemlich sicher, dass er seinen gesamten Hausstand akribisch durchgeforstet hat und alles, was nicht seine eigene Person betrifft, zur Seite geschafft hat. Aber warum? Warum macht sich jemand solche Mühe? Das ist doch Wahnsinn ...«
Elisa schien einen Augenblick zu überlegen.
»Gibt es diese Freunde denn wirklich? Ich meine, wisst ihr das genau? - Alte Menschen vereinsamen häufig, oft durch einen schleichenden Prozess. Und erfinden Freunde, wo keine sind.«
»Von einem bestehenden Bekanntenkreis gehen wir fest aus. Beinahe alle Bewohner der Straße berichten übereinstimmend von mindestens drei Männern im Rentenalter, die schon seit Jahren wenigstens hin und wieder mal dort auftauchten. Und auch von zwei Damen. Der letzte Besuch einer dieser Damen soll übrigens keine zehn Tage zurückliegen.«
»Also auch Damenbekanntenschaften? Und ihr habt keine Personenbeschreibungen? Nicht eine? «
»Doch«, zögerte Tackert ein wenig. »Jeder Einzelne hat irgendwie Ähnlichkeit mit Dany DeVito … aber gleichzeitig auch mit Arnold Schwarzenegger.«
Elisa lachte. »Verstehe! - Und die Damen?«
»Mit Miss Marple und der Bundeskanzlerin.«
»Interessant«, urteilte Elisa amüsiert, »vor allem die zweite Person.«
***
In der Gleidinger Straße wurde viel getuschelt. Zurzeit natürlich noch viel mehr, als für gewöhnlich.
»Die Rita vom Kiosk sagt, dass er gesessen hat. Hat mit kleinen Jungs rumgemacht. Und soll ich dir was sagen: Das glaube ich auch. Der hat den Nils immer so komisch angeguckt. Den Nils von Jessica und Aljoscha. - Alte Männer und kleine Jungs … Das kennt man ja. Die alten Säcke können einfach nicht aufhören, an irgendjemandem rumzufummeln, die Schweine. Am Ende war er wahrscheinlich auch noch katholisch. - Ich sag dir, der war im Knast, die Drecksau.«
Die Frau schaute angewidert zu dem Haus des Verstorbenen. »Aber wenigstens hat es den richtigen getroffen. Keiner entgeht der gerechten Strafe des Herrn, oder wie heißt das genau in der Bibel?«
Die Angesprochene verdrehte die Augen.
»Rita, ha! Hör mir bloß mit Rita auf. Rita erzählt viel und in erster Linie viel Mist. Der Herr Richter war nichts anderes, als ein alter, einsamer Mann. - Obwohl er scheinbar eine Freundin hatte.«
»Meinst du wirklich? - Eine Freundin?«
»So genau weiß ich das nun auch nicht, aber eine ältere Dame hat ihn schon hin und wieder besucht. Das habe ich selbst gesehen.«
»Ist es wahr, dass er mit einer Bratpfanne erschlagen wurde? Ich meine, mit einer Bratpfanne! Ich bitte dich. Das muss doch etwas zu bedeuten haben.«
»Ob das etwas bedeutet, weiß ich nicht. Aber er soll tatsächlich mit einer Pfanne erschlagen worden sein. Du meinst also, eine Bratpfanne als Tatwaffe ... da kommt eher eine Frau in Betracht? Na, ich weiß nicht. Hoffen wir, dass die Polizei den Täter ... oder die Täterin schnell fassen kann. - So Silke, ich muss weiter. Grüß deinen Mann schön … und wir müssen mal wieder zusammen grillen.«
***
»Wo auch immer er sich die Zeit aufgehalten hat: ganz sicher hat er an keiner pharmazeutischen Studie teilgenommen und fast genauso sicher keinen Hotelaufenthalt gebucht. Zumindest nicht unter seinem richtigen Namen. - Wir brauchen einen vernünftigen Hinweis, einen, der in eine deutliche Richtung weist, sonst wird das nichts.«
Jan blätterte frustriert in seinen Notizen in einer Art und Weise, als erwarte er, dort plötzlich neue Einträge vorzufinden.
»Weiterhelfen würde natürlich auch die Identifizierung seiner Bekannten, wenigstens einer Person. Ich denke, wir sollten uns nochmal in der Nachbarschaft umhören. Den Radius erweitern. - Ich kann nicht begreifen, dass niemand unter den Anwohner den Alten etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat. Auch, wenn heutzutage das Desinteresse immer größer wird: Irgendjemand muss irgendwas gesehen haben.«