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>Eine Untersuchung im Umfeld der katholischen Kirche, das kann ja heiter werden<, ahnte Sven bereits zu Beginn der Ermittlungen. Niemand im Team um den Hauptkommissar Richard Tackert, dessen Pensionierung immer näher rückte, widersprach. Dass dann aber schon nach kurzer Zeit alles in eine unerwartete Richtung deutete, war überraschend. Nur gut, dass Tackert mit Elisa eine Partnerin hatte, der es gelang ihm zu zeigen, dass sein Leben außer Leichen auch anderes zu bieten hatte. Zum Beispiel ein Prinzessinnenkleid mit Glitzersternen.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Askese
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2023 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2023 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-757517-78-6
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden.
Psalm 147.3
1
Das Neubaugebiet am Mittellandkanal war, entgegen allen Zielsetzungen, erst zum Teil fertiggestellt. Von den 130 Wohneinheiten waren nur wenige belegt. Hausnummern waren kaum, Straßenschilder noch gar nicht vorhanden. Zufahrtswege waren noch ohne Begrenzung asphaltiert und Grünflächenarbeiten spärlich oder unvollendet ausgeführt.
Alles andere als unvollendet war das Arrangement, das sich dem Kriminalhauptkommissar Richard Tackert und seinem Kollegen Sven im Schlafzimmer der Wohnung präsentierte, die sie vor wenigen Augenblicken betreten hatten.
Sprachlos starrten beide zunächst auf den männlichen Leichnam, der nackt in einer ungewöhnlich großen Blutlache auf dem Bett drapiert lag und unwillkürlich an den gekreuzigten Jesus Christus erinnerte, nur mit dem Unterschied, dass die Verletzungen dieses Mannes anders gelagert waren. Eine Stichwunde im Bereich der Herzgegend, eine im Bauchraum und eine Vielzahl im Genitalbereich, der als solcher kaum noch zu erkennen war.
Bei Tackert, der in den letzten dreißig Jahren eigentlich schon alles gesehen zu haben glaubte, verkrampfte sich der Magen. Und auch Sven musste sichtbar gegen eine aufsteigende Übelkeit ankämpfen.
Beim zweiten Hinsehen erregte aber fast noch mehr Aufmerksamkeit die Anwesenheit der sieben aufblasbaren Gummipuppen, wie sie als Sex-Spielzeug verkauft werden. Alle sieben waren bekleidet mit einer weißen Bluse und einem dunkelblauen kurzen Faltenrock und so platziert worden, dass sie das Bett fast umrundeten. Ihre gefühlskalten Augen waren dem Bett zugewandt und ihre unnatürlich steife Haltung hatte etwas Bedrohliches. Oder etwas Verachtendes, da war sich Tackert noch nicht ganz sicher.
»Was für ein kranker Scheiß«, murmelte er vor sich hin. Sven reagierte nicht und war scheinbar noch damit beschäftigt, die makabere Szene wirken zu lassen.
»Der kranke Scheiß wird noch kränker, wenn du erst erfährst, wer da so übel zugerichtet auf dem Bett liegt.« Dr. Schröder, der Rechtsmediziner stand plötzlich neben ihm, Ruland von der Kriminaltechnik im Schlepptau. »Und ich wünsche dir schon mal viel Spaß bei der Ermittlungsarbeit. Wann gehst du in Pension? In zwei Monaten? Dann wird dein letzter Fall wohl einer werden, den deine Kollegen zu Ende bringen müssen. Obwohl ich eher glaube, die werden sich die Zähne dran ausbeißen.«
Tackert atmete tief ein, drehte den Kopf zur Seite und blickte auf den Mediziner, der aber keine Anstalten machte, eine Erklärung abzugeben. Bevor Tackert eine blöde Bemerkung machen konnte, schaltete sich Ruland ein.
»Bei dem Toten handelt es sich um Torben Jankowski. Dekan Jankowski. Vom Bistum Hildesheim.«
»Oh Gott«, reagierte Sven als Erster. »Eine Ermittlung im Umfeld der katholischen Kirche. Das kann ja heiter werden.«
»Noch heiterer«, warf der Rechtsmediziner ein, »wenn ich einen Blick auf dieses … äh … symbolträchtige Bühnenbild werfe. Ob man will oder nicht: Das Stichwort Missbrauch drängt sich einem förmlich auf.«
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Tackert.
»Die Mieterin«, gab Ruland zur Antwort. »Doris Preussen. Hat einen ordentlichen Schock. Die Sanis haben sie in die Medizinische Hochschule gebracht. Wird wohl frühestens morgen in der Lage sein, Fragen zu beantworten.«
»Wohnte der Tote auch hier? Draußen steht nur ein Name.«
»Wird gerade geklärt«, wusste der Techniker. »Nicola und Sonja sind dran. Ich glaube aber eher nein. – Und jetzt wäre es gut, wenn wir in Ruhe unsere Arbeit machen könnten.«
Tackert und Sven drehten noch eine Runde durch die restliche Wohnung, führten anschließend ein kurzes Telefongespräch mit Sonja, die inzwischen die Adresse des Toten in Erfahrung gebracht hatte und machten sich auf den Weg.
Der Niggemannweg war kaum mehr als fünf Minuten Fahrzeit entfernt. Kirchengebäude und Pfarrbüro der Heilig-Geist-Gemeinde lagen nebeneinander, sodass die beiden Beamten nicht lange suchen mussten. In der Verwaltung trafen sie auf eine Mitarbeiterin namens Marie Drillich und waren nicht schlecht erstaunt, dass der plötzliche Tod des Dekans scheinbar bereits die Runde gemacht hatte. Sichtlich mitgenommen bot die Frau den Ermittlern einen Platz an und begann unaufgefordert zu erzählen.
»Unbegreiflich. Das ist unbegreiflich. Der Dekan war ein so unbeschreiblich netter Mann. Und ein sehr guter Kirchenvertreter. Der kam mit allen zurecht. Egal ob Gemeindemitglied oder Bischof. Egal ob groß oder klein. Alle mochten ihn, egal welche Generation. Dem ist es wie keinem zweiten gelungen, auf die Menschen einzugehen. Ihnen den Glauben nahezulegen, verständlich zu machen. Stellen Sie sich mal vor: Bei den ganz Kleinen hat Gott schon mal die Gestalt eines Einhorns angenommen, der Gottesdienst für die Jugendlichen ähnelte meist eher einem Rockkonzert als der heiligen Messe. Die Protestbewegung Maria 2.0 betrachtete er als eine längst überfällige Organisation. Tja, und nicht umsonst saß er dem Ausschuss bei, der sich mit den leider zahlreichen Fällen sexuellen Missbrauchs unseres Bistums auseinandersetzen sollte. Es ist unbegreiflich.«
Tackert wollte gerade etwas erwidern, als die Frau fortfuhr:
»Wie ist das denn überhaupt passiert? Was ist überhaupt passiert? Wurde er tatsächlich ermordet?«
»Ja«, sagte Tackert, »das muss ich leider bestätigen. Herr Jankowski ist eines gewaltsamen Todes gestorben.«
Die Frau fing augenblicklich wieder zu schluchzen an und wischte sich einige Tränen aus dem Gesicht.
»Warum?«, fragte sie fast flüsternd. »Wer sollte etwas gegen einen so sympathischen Menschen haben, der nur darauf bedacht war, Gutes zu tun?«
Nach kurzer Überlegung vermied es Tackert darauf zu antworten und fragte stattdessen:
»Frau Drillich, Sie sagten gerade, dass der Herr Jankowski unter anderem damit beauftragt war, Fälle von sexuellem Missbrauch innerhalb der Kirche aufzuklären. Gab es da irgendwelche Ergebnisse? Wurden eventuell irgendwelche Verdachtsmomente verfolgt?«
»Das weiß ich nicht.« Sie blickte jetzt etwas erstaunt zuerst Tackert und dann Sven an. »Ihnen wird bekannt sein, wie die Kirche das regelt. Wie heißt es so schön?: Der Schutz der Kirche steht über dem Leid der Opfer. Eine Schande, wenn Sie mich fragen. Da dringt nichts nach außen, oder nur wenig. Sehr wenig. Auch so eine Sache, mit der der Dekan überhaupt nicht einverstanden war. Untersuchungen von neutraler Stelle sind unumgänglich, hat er immer gesagt. Aber damit ist er gegen eine Wand gelaufen. Ich will Ihnen mal sagen, wie ich persönlich darüber denke. Über Jahrhunderte hat die Kirche immer wieder Fehler begangen und zum Teil eine sehr merkwürdige Rolle gespielt. Kreuzzüge, Hexenverbrennung, Inquisition, Dreißigjähriger Krieg, Glockengeläut für Führer und Vaterland … um nur einige zu nennen. Aber anstelle von Veränderungen, anstelle eines Lernprozesses werden uralte Strukturen beibehalten, die zu immer gleichen Fehlern führen und neuerdings dazu, dass Tausende die Kirche verlassen. Mich wundert das nicht, Sie etwa?«
Tackert ließ auch diese Frage unbeantwortet und fragte stattdessen: »Wer gehört denn, außer dem Dekan, noch diesem Ausschuss an?«
»Das weiß ich gar nicht so genau. Da fragen Sie am besten Doris, aber die hat heute noch einen Tag frei. Sie ist sowieso diejenige, die den Dekan am besten kennt. Ich bin ja erst seit drei Jahren hier.«
»Doris … und wie weiter?«, schaltete Sven sich ein.
»Preussen. Doris Preussen. Die arbeitet hier im Pfarrbüro schon seit fünfzehn Jahren … oder noch länger. Und genauso lange kennt sie den Dekan auch. Damals war er ja noch Pfarrer.«
Tackert und Sven verschlug es beiden für einen Augenblick die Sprache. Ausgerechnet die Frau, in deren Wohnung man die Leiche des Geistlichen entdeckt hatte? Oder war die Namensgleichheit ein Zufall?
»Wohnt Frau Preussen zufällig in der Pasteurallee? In dem Neubaugebiet?«
Die Gemeindemitarbeiterin kniff für einen Moment die Augen zusammen und meinte: »Ich glaube, ja. Sie ist ja gerade erst vor drei Wochen umgezogen. Soll ich mal in den Personalunterlagen nachschauen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie an einen Büroschrank und bestätigte wenig später die Adresse in der Pasteurallee.
»Gut, Frau Drillich. Das sollte fürs Erste reichen. Wir werden morgen nochmal auf Sie zurückkommen müssen. Wenn Sie uns jetzt noch sagen wollen, wo sich die Wohnung des Dekans befindet …«
Sie brauchten nur ein Stockwerk höher zu gehen, wo vier kleine Gemeinde-Wohnungen vorhanden waren.
Schon mit den ersten Schritten in die Räumlichkeiten erfasste Tackert die sterile Ordnung. Es roch leicht nach Putzmitteln und einem undefinierbaren Stoff, den er für Weihrauch hielt, was er aber schnell als Einbildung abhakte. Das einfache, zweckmäßige Mobiliar machte einen älteren, aber gepflegten Eindruck. Dominant waren verschiedene sakrale Deko-Artikel und Gegenstände, die dokumentierten, dass hier ein Mensch der Kirche zu Hause war. In einem recht großen Buchregal gab es neben zahlreichen theologischen Büchern auch eine gute Auswahl an Bestseller-Belletristik und Ausgaben internationaler Klassiker. Im untersten Regal reihten sich verschiedenfarbige Aktenordner aneinander, die auf den ersten Blick mit persönlichen Unterlagen gefüllt waren.
Alles in allem waren dann auch die zweieinhalb Zimmer schnell, weil nur oberflächlich, durchgesehen, ohne dass sich etwas Auffälliges ergeben hatte.
Vielleicht hatten sie mit dem vorhandenen Laptop, den Sven sich schnappte, bevor sie das Gebäude verließen, mehr Glück.
Inzwischen war es später Nachmittag geworden und die fünfköpfige Ermittlergruppe, der neben Sonja und Nicola auch Jan angehörte, traf sich zu einem ersten Austausch.
»Also«, eröffnete Nicola das Gespräch, »Jankowski hatte vor zwei Wochen gerade mal seinen dreiundvierzigsten Geburtstag. Sein beruflicher Werdegang ist wenig spektakulär. Nach dem Studium war er dauerhaft an der Heilig-Geist-Gemeinde tätig, bis er dann vor zweieinhalb Jahren vom Bischof zum Dekan für das Regionaldekanat Hannover ernannt wurde. Die letzten neun Monate gehörte er zu einer Gruppe Geistlicher, die sich mit den Vorfällen von sexuellem Missbrauch befassen sollten, wobei bisher noch unklar ist, wer genau dieser Gruppe angehörte und inwieweit eventuell Ergebnisse erzielt wurden. Die, wenn bislang auch noch ziemlich spärlichen Informationen zu seiner Person, beschreiben ihn als einen angenehmen Menschen, der zwar mit dem Glauben fest verankert war, aber offen für alles Weltliche. Viele sagten, die Kirche zu modernisieren, stand in seinen Bestrebungen ganz weit vorn. Um mehr über ihn zu erfahren, versuchen wir bislang vergeblich, in der Verwaltung des Bistums Hildesheim einen Termin beim Bischof oder einem der beiden Weihbischöfe zu bekommen. Aber wir bleiben da dran.«
»Was die Rechtsmedizin angeht, wird es wohl erst morgen einen vorläufigen Bericht geben«, erklärte Sonja. »Bisher wissen wir nur das Offensichtliche. Nämlich dass er auf grausamste Weise … hingerichtet? … wurde. Ersten Schätzungen zufolge gestern zwischen 22.00 und 24.00 Uhr.«
»Über die Mieterin«, fuhr Jan fort, »ist bisher Folgendes bekannt: Sie ist heute Vormittag von einer zweitägigen Fortbildung aus Lüneburg heimgekommen. Das ist bestätigt und sie kann daher, zumindest direkt, nichts mit der Tat zu tun haben. Mehr werden wir hoffentlich morgen Vormittag erfahren. Ich habe mit ihrer Ärztin telefoniert und einem Gespräch steht nichts im Weg, meint sie. Interessant aber, dass sich das Opfer und Frau Preussen schon seit etlichen Jahren kannten. Das lässt natürlich die Vermutung zu, dass der Tatort eventuell von Bedeutung ist – aber von welcher?«
»Das werden wir vielleicht nach einem Gespräch mit der Preussen wissen. Vielleicht! Für mindestens genauso wichtig halte ich Befragungen aller Mitarbeiter des Pfarrbüros der Heilig-Geist-Gemeinde. Einschließlich aller Geistlichen, die da vorhanden sind.« Tackert machte eine Pause, bevor er mit angestrengtem Gesichtsausdruck weitersprach. »Von einem Termin in Hildesheim verspreche ich mir eigentlich nichts. Da wird niemand, sobald das Stichwort Missbrauch fällt, eine Hilfestellung anbieten. Wenn das trotzdem jemand übernehmen will, wäre ich am ehesten für Sven. Eine Frau wird es da schwer haben, befürchte ich.«
»Dann fahre ich morgen einfach ohne Termin hin«, sagte Sven entschlossen. »Zumindest die Namen der im Ausschuss vertretenen Leute müssen sie rausrücken. Andernfalls drohe ich mit Kirchenaustritt. – Oder ich oute mich als homosexuell, was noch schlimmer wäre.«
2
Den Eindruck, den am nächsten Morgen Doris Preussen auf Sonja machte, war um einiges positiver, als sie erwartet hatte. Auf ihren Wunsch hin suchten beide die außerhalb der Station gelegene Sitzecke auf.
Sonja war bemüht, das Gespräch so zu eröffnen, dass die Frau nicht schon zu Beginn die schrecklichen Bilder von gestern vor Augen hatte.
»Frau Preussen, wie wir zwischenzeitlich erfahren haben, sind Sie schon sehr lange im Pfarrbüro der Heilig-Geist-Gemeinde tätig. Was genau umfasst Ihr Aufgabengebiet?«
»Verwaltungsarbeit. Organisatorisches. Aber auch Kinder- und Jugendarbeit, der Seniorenkreis und Vorbereitungen zu besonderen Veranstaltungen. Wir bemühen uns sehr um ein attraktives Gemeindeleben.«
»Dann haben Sie sicherlich durch ihre Tätigkeit einen guten Einblick in dieses Gemeindeleben?«
Die Frau stutzte einen Augenblick. »Ja, das kann man so sagen.«
»Gab es in den letzten Jahren jemals eine Situation, die einen Anlass geliefert hätte, den Dekan oder früheren Pfarrer Jankowski derart zu hassen, dass es zu dieser fürchterlichen Tat kommen konnte?« Sonja war unzufrieden mit sich. So schnell wollte sie das Geschehen eigentlich nicht in den Vordergrund rücken.
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Die Antwort kam schnell und entschieden.
»Erzählen Sie mir etwas über den Dekan. Was für ein Mensch war er?«
Frau Preussen straffte sich und begann ihre Ausführungen mit einem Satz, der Sonja in den nächsten Tagen nicht loslassen sollte.
»Ich sage Ihnen zunächst einmal, was er nicht war, nämlich jemand, der seine Machtposition missbraucht hat. Wenn man der öffentlichen Meinung folgt, könnte man denken, bald jeder zweite Geistliche – und da spielt es keine Rolle ob katholisch oder evangelisch – begeht sexuellen Missbrauch. Und da kann man ganz schnell in Verdacht geraten. Wenn der erst mal durch die Medien verbreitet wird … Ich muss hier aber mit aller Deutlichkeit sagen, dass es keine, überhaupt keine, Verdachtsmomente gab. Nie! Und das wäre auch zu lächerlich. – So, und jetzt zu seiner Person. Der Dekan war ein einfühlsamer, weltoffener und vertrauenswürdiger Mensch. Hilfsbereit und charakterstark. Hat sich unerschrocken und gerne zu Themen geäußert wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe oder Zölibat. Was ihm nicht nur ehrfürchtige Reaktionen beschert hat, das können Sie glauben. Als Dekan des Regionaldekanats war er ja in zahlreichen Gemeinden vertreten und es gab fast nur Anerkennung von allen Seiten, auch wenn natürlich die Meinungen zu bestimmten Themen auseinandergingen. Respektiert wurde er aber überall. Tja, und dann gab es da ja noch neben dem Seelsorger auch den privaten Menschen, der ein ungewöhnliches Hobby hatte, wovon, glaube ich, nur wenige wissen. Er hat wildfremden Menschen überall auf der Welt Gruß-Postkarten geschrieben. Einfach so. Ohne Absender. Einfach ein paar nette Worte in die Welt gesendet. Klingt etwas verrückt, ist es vielleicht auch, aber trotzdem eine mitmenschliche Geste, denke ich. – Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er, wann auch immer, jemandem einen Grund geliefert hat, ihn derart zu verachten, was einen solchen Tod zur Folge haben könnte. Die einzige Erklärung für mich wäre, dass es sich um eine Verwechslung handeln muss. Diese ganze bestialische Hinrichtung galt vermutlich einer ganz anderen Person.«
»Frau Preussen, wann genau sind Sie denn gestern Vormittag heimgekommen?«
»Das muss gegen 10.30 Uhr gewesen sein. Ich habe irgendwie gleich gespürt, dass was nicht stimmt. Es war nur einmal abgeschlossen. Ich schließe immer zweimal ab. Aber das hatte mich zunächst nur kurz beunruhigt. Sie müssen wissen: Ich hatte während meiner Abwesenheit dem Dekan den Schlüssel überlassen. Er hatte sich angeboten, eine erst vor wenigen Tagen gekaufte Kommode, an deren Zusammenbau ich gescheitert bin, zusammenzuschrauben. Viel schlimmer war dann: Es roch so komisch …« Ihr Blick blieb an der gegenüberliegenden Wand hängen, während sie verstummte.
»Besitzt außer Ihnen jemand einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung? Die Techniker haben keine Einbruchspuren oder Ähnliches entdeckt, wir gehen davon aus, dass die Wohnungstür mit einem passenden Schlüssel verschlossen wurde.«
»Es hat niemand einen Schlüssel. Einen trage ich immer bei mir, der andere liegt normalerweise in der Wohnung. Aber den hatte ja der Dekan.«
»Vermutlich ist die Frage überflüssig«, fuhr Sonja fort, »aber haben Sie in ihrem Schlafzimmer irgendetwas verändert, nachdem Sie das Zimmer betreten haben?«
Frau Preussen warf Sonja einen verständnislosen Blick zu. »Das Zimmer betreten? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich da reingegangen bin?«
»Ist Ihnen in den anderen Räumen eine Veränderung aufgefallen? Stand etwas an einem anderen Platz, fehlte was?«
»Nein. Und ganz ehrlich, ich habe auch nicht drauf geachtet.«
»Sie leben allein in der Wohnung? Kein Partner, kein Ehemann?«
»Nein, ich bin seit sechs Monaten geschieden. Von Männern habe ich erst mal die Schnauze voll.«
Sonja nickte wissend.
»Ich möchte noch etwas sagen«, fing Frau Preussen auf einmal an. »Es wird bei Ihren Ermittlungen sowieso auftauchen und um dem ganzen Gequatsche keinen Raum zu geben, sollen Sie es von mir erfahren. Das Verhältnis zwischen dem Dekan und mir war außergewöhnlich gut. Und das schon seit Jahren. Hin und wieder waren wir zusammen Essen oder der Gemeindealltag hatte zur Folge, dass wir gemeinsam unterwegs waren. Das hat dazu geführt, dass sich einige Gemeindemitglieder und Kollegen«, verächtlicher ließ sich das Wort kaum aussprechen, »die Frage stellten, ob da nicht zwischen Herrn Jankowski und mir was läuft? Sie verstehen? Immer wieder mal wurde hinter vorgehaltener Hand behauptet, wir hätten was miteinander. Das ist natürlich ausgemachter Blödsinn. Wir mochten einander sehr … aber das war´s dann auch schon. Mehr nicht. Niemals. Und es gab auch vonseiten des Dekans keine Anspielungen oder Ähnliches. Ich möchte das nur von vornherein ausdrücklich gesagt haben …«
3
Sven hatte, in Hildesheim angekommen, mit allem Möglichen gerechnet, nur nicht damit, dass er in kürzester Zeit an einen der Weihbischöfe rankam. Eher zufällig war der Mann im Haus und bat lediglich darum, wegen Termindruck das Gespräch kurzzuhalten.
Wie nicht anders zu erwarten war, lehnte Weihbischof Schlemmer jede Auskunft zum Stand der internen Untersuchungen ab.
Was er aber bereitwillig zur Verfügung stellte, war die Liste der im Ausschuss vertretenen Personen. Außerdem gab es noch einen Lobgesang auf den Dekan und dessen unermüdlichen Einsatz, auch wenn einige seiner Forderungen nach Veränderung im Bistum nicht von allen geteilt wurden.
Bereits nach dreißig Minuten saß er schon wieder im Wagen und machte sich auf den Weg Richtung Hannover.
Wesentlich mehr Zeit verbrachten Tackert und Nicola in den Gebäuden der Heilig-Geist-Gemeinde.
Tackert setzte die gestern begonnene Befragung von Frau Drillich fort, während Nicola sich mit der zweiten Gemeindebüromitarbeiterin, einer Frau Abel, zusammensetzte, bevor beide den Gemeindepfarrer aufsuchten.
»Wir stehen hier alle immer noch unter Schock«, erklärte Pfarrer Grünband mit melancholischer Stimme. »Eine wirklich schwere Prüfung, die uns der Herr auferlegt. Haben denn Ihre Untersuchungen schon erste Ergebnisse erzielt?«
Tackert überließ Nicola die Wortführung, obwohl die Anfrage eindeutig an ihn gerichtet war.
»Wir stehen noch ganz am Anfang und versuchen uns ein Bild zu machen, was, um ehrlich zu sein, bis zum jetzigen Zeitpunkt noch sehr dürftig ist. Wir hoffen ein wenig auf Ihre Hilfe, was die Person des Dekans angeht und sind in erster Linie an Informationen interessiert, die eventuell eine Erklärung liefern könnten. Gab es in seinem Leben Ungereimtheiten? Wurde er bedroht? Ist er, egal ob beruflich oder privat, mit jemandem aneinandergeraten?«