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Nicht nur mit dem schrecklichen Fund einer Frauenleiche im Stadtwald Hannovers muss sich Hauptkommissar Tackert herumschlagen. Auch die Sache mit der Kürbissuppe, dem Apfelbaum und - nicht zuletzt das Vokabeln pauken - fordern seine ganze Aufmerksamkeit. Die zähen Ermittlungen drohen ihm den letzten Nerv zu rauben … aber das ist ja nichts Neues für Tackert.
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Antipode
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2017 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2017 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-7418-8583-9
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
Wirklich weise ist,
wer mehr Träume in seiner Seele hat,
als die Realität zerstören kann.
- Indianerweisheit -
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ählichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Wenn er etwas hasst, dann war es Unpünktlichkeit.
Nicht nur an Anderen, oft genug setzte er sich selbst unter Druck, um bestimmte Situationen nach der Uhr auszurichten. Und das machte natürlich Planungen nötig, Planungen, die er im Laufe von Jahren geradezu perfekt erstellen konnte.
Um unentdeckt zu bleiben, mussten zahlreiche Eventualitäten berücksichtigt werden, war ein minutiöser Zeitablauf von Nöten. Natürlich war das diesmal ein nur schwer zu kalkulierender Faktor, aber auch nicht ganz unmöglich einzuschätzen.
Er hatte jede Minute kalkuliert, jeden Meter berechnet, jeden Handgriff studiert. Mehrfach. Über Wochen und Monate. Genauestens beobachtet und bewertet. Sogar das Wetter war ein Punkt auf seiner Liste. Jedes denkbare Szenario hatte er durchlaufen lassen und am Ende einer wochenlangen Vorbereitung war er zufrieden. Nichts wäre dem Zufall überlassen, alle Räder würden ineinandergreifen.
Seit einer halben Stunde beobachtete er alle Bewegungen in seinem Umfeld. Nur wenn kein kritischer Moment entsteht, würde sein Plan aufgehen, der in exakten zweiundzwanzig Minuten seinen Anfang hätte und nach fast zehn Stunden ein hoffentlich erfolgreiches Ende. Aber daran zweifelte er nicht.
Er war ein guter Stratege, das wusste er.
Noch achtzehn Minuten.
Wie erwartet, verloschen einige Lichter in dem Gebäude. Der Verkehr auf der Straße war gleichbleibend und jede Bewegung um ihn herum ein natürlicher Vorgang, der jeden Tag stattfand. Am Himmel konnte er gemächlich ziehende Wolken erkennen, die für verschwommene Lichtverhältnisse sorgten, was ihm sehr entgegenkam. Er verspürte eine leichte Anspannung, die er zu unterdrücken versuchte. Nichts Dramatisches, das hatte er erwartet, trotzdem musste er dafür sorgen, dass sie nicht zur Belastung wurde. Keinesfalls durften sich daraus unkonzentrierte Handlungen entwickeln.
Noch zwölf Minuten.
Er achtete auf die Geräusche. Das war wichtig. Die nahe Umgebung durfte keine ungewöhnliche Kulisse widergeben. Keine menschliche Stimme durfte in die Stille dringen.
Der Plan hatte nur eine Schwachstelle, nur eine einzige, das war ihm bekannt. Gleich zu Beginn des Ablaufs. Aber das Risiko erschien zu gering, um eine Bedrohung darzustellen. - Nein. Der heutige Tag, der siebte Oktober, würde einiges in seinem Leben geraderücken. Heute würde er den Grundstein legen für neue Perspektiven, denn sein Plan war perfekt. Keine Spur würde er hinterlassen - nicht eine - und der Grad an Verwirrung, die er stiften würde, war nahezu unübertroffen. Das Ergebnis einer soliden Vorgehensweise, eben.
Noch sieben Minuten.
Es könnte nicht besser laufen. Alle Lichter waren verloschen und eine glückliche Fügung bescherte ihm einen leichten Nieselregen, der ihm zusätzlich in die Karten spielte. Jetzt war es wichtig, sich zur vollen Konzentration zu ermahnen.
Die aufsteigende Unruhe zu kontrollieren.
Ab dem jetzigen Zeitpunkt bestand jede Sekunde die Möglichkeit, dass sein Vorhaben anlaufen würde. Dass die erwartete Person den Asphalt betrat, um ihre Arbeit aufzunehmen. Und nach den ersten fünf Minuten würde es kein Zurück mehr geben. Den entscheidenden ersten fünf Minuten. Danach wäre alles ein Kinderspiel, nur ein Katz- und Mausspiel mit der Zeit.
Nicht gegen die Zeit, mit der Zeit!
Noch einmal prüfte er das Vorhandensein wichtiger Utensilien, was instinktiv geschah, wie ihm auffielt. Nötig war es nicht und er vermutete, dass es eine Folge der Anspannungen war, die er nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Kein Wunder, dachte er, denn auf eine Verbrecherlaufbahn konnte er nicht zurückblicken, konnte auf keine Erfahrungen zurückgreifen und betrat somit Neuland. Aber es gibt für Alles ein erstes Mal, rechtfertigte er sich.
Eine Tür öffnete sich.
Lautlos verließ er seine Deckung und schlich geräuschlos in die Dunkelheit. Er glaubte, jeden Muskel zu spüren.
Sechszehn Minuten später schaltete er einen Gang höher und spürte, wie sich der Puls normalisierte. Der Scheibenwischer tat in Intervallen seinen Dienst, und er wagte einen Blick auf den Beifahrersitz. Beruhigt richtete er seine Augen wieder auf die Straße und steuerte den ersten Zielpunkt an.
Er hatte nichts anderes erwartet.
Eine konsequente Planung von seiner Seite musste ein Gelingen zur Folge haben, das hatte sich schon oft genug bewahrheitet. Die Frage war nur, ob ihm das auch im Zusammenhang mit einem Verbrechen gelang. Ein Verbrechen, wo niemand ernsthaft zu Schaden kommen würde.
***
Mit jedem Spatenstich erhöhte sich die Anstrengung, ins Erdreich einzudringen. Er registrierte die zunehmende Sorge, die Situation falsch eingeschätzt zu haben. Von der geplanten Tiefe von mindestens eineinhalb Metern war er noch ein gutes Stück entfernt, besser wäre ohnehin eine größere Tiefe. Aber den Gedanken ließ er mittlerweile fallen.
Abbrechen kam nicht in Frage. Er musste, hier und jetzt, sein Vorhaben zum Abschluss bringen. Das Risiko, die Leiche nochmals quer durch die Stadt zu bewegen, war viel zu hoch.
Bevor er sich entschieden hatte, beschäftigte ihn die Frage, wie der ganze Aufwand einzuschätzen ist? Ihm war bewusst, was es bedeutet, sich in der begrenzten Zeit einem solchen Kraftaufwand zu stellen. Aber es erschien ihm als die sinnvollste Lösung. - Das Vergraben.
Er schwitzte, trotz der niedrigen Temperaturen. Hin und wieder unterbrach er seine Arbeit. - Bewegte sich da was? War da ein Geräusch?
Sollte ihn jemand hier entdecken, blieb nur die Flucht. Eine glaubwürdige Erklärung, warum er nachts um halb drei mitten im Wald eine Grube aushob, hatte er nicht. Und die gab es wahrscheinlich auch nicht.
Wie lange wird es dauern, bis man sie findet?
Tage, Monate? Vielleicht Jahre?
Wäre sie dann noch zu identifizieren? Würde überhaupt etwas von ihr übrigbleiben?
Vielleicht wird sie aber auch nie gefunden? Entscheidend wird sein, wie tief er sie ablegen konnte. Die augenblickliche Tiefe war wenig ausreichend, also weiterbuddeln und versuchen, den aufkommenden Schmerz in den Händen und im Rücken zu ignorieren.
Gute zwei Stunden blieben ihm noch, schätzte er. Dann musste er zusehen, dass er hier verschwindet. Dann würde Bewegung in den Wald kommen.
Auch wenn er sich abseits der Wege aufhielt, war er sich darüber im Klaren, dass die Möglichkeit enorm hoch einzustufen war, mit Beginn der frühen Morgenstunden von Forstarbeitern, Joggern oder Naturfreunden entdeckt zu werden. Also nahm er sich vor, bis fünf Uhr fertig zu sein.
Spätestens bis fünf.
Ihm fiel auf, wie wenig ihn scheinbar die Tat selbst belastete. Wie gering Zweifel, Reue oder Ängste vorhanden waren. Lag das an der körperlichen Anstrengung, die ihn ablenkte? Oder war es das Adrenalin? Würde das erst noch kommen?
Am besten wird es sein, sich gar nicht damit zu beschäftigen. Einfach immer weitergraben.
Außerdem musste er eingreifen, eine andere Möglichkeit sah er nicht. Wenn sie geredet hätte, und das hätte sie früher oder später, wäre das sein Ende gewesen.
Warum musste sie sich da auch reinstecken? Wäre sie doch nur nicht auf diese dämliche Idee gekommen, dann wäre das alles nicht passiert.
Also war sie selbst schuld.
Schuld daran, dass sie hier mitten im Wald allerlei Insekten als Nahrungsquelle dienen würde.
***
»Was?« Rüdiger Czaikowski schrie das Wort förmlich heraus. Er saß gemeinsam mit drei Mitarbeitern in seinem Büro und war fassungslos.
Zusätzlichen Stress konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Das Speditionsgeschäft war ohnehin die letzten Jahre zu einem nervenaufreibenden Kampf geworden. Den Bestand der achtzehn vorhandenen Fahrzeuge aufrecht zu erhalten war zu einer echten Herausforderung geworden.
Der Betrieb befand sich in dritter Generation im Familienbesitz und dieser Vorteil hatte sich die letzten Jahre ausgezahlt. Ohne die weltweiten Kontakte hätte er schon längst aufgeben müssen.
Den Druck, der zweifellos vorhanden war, versuchte er, nur gemäßigt an seine Angestellten weiterzugeben, wofür unter anderem seine Frau verantwortlich war. Die sorgte für ein gesundes Betriebsklima mit meist motivierten Mitarbeitern, auch unter den Fahrern. Und anders war ein Überleben nicht möglich.
Er war siebenunddreißig Jahre alt und hatte das Geschäft von der Pike auf gelernt, kannte alle Bereiche. Jedes Arbeitsgebiet. Bevor er vor sechs Jahren endgültig die Verantwortung übernahm, saß er sogar selbst für acht Monate hinterm Steuer. Darauf hatte sein Vater bestanden.
Er starrte auf den Ausdruck, den ihm Frau Lange als Beweis über den Tisch geschoben hatte.
»Und da ist kein Irrtum möglich? Das Fahrzeug steht in Kaltenweide?«, fragte er ungläubig in die Runde.
»Bei Kaltenweide, genau genommen«, klärte ihn ein Mitarbeiter namens Mirko Müller auf, der als Logistiker unter anderem für diese Tour zuständig war. »In der Langenhagener Straße.«
»Das ist doch scheißegal ob in oder bei Kaltenweide«, reagierte Czaikowski gereizt. »Das bedeutet ja, dass das Fahrzeug bereits nach wenigen Kilometern abgestellt wurde. - Was ist da los? Warum hat sich der Rutemöller nicht gemeldet? Was kann da passiert sein?«
Rüdiger Czaikowski versuchte, sich zu beruhigen, und griff zu seinem Handy. »Ich werde die Polizei einschalten und Sie, Müller, fahren da hin. - Und nehmen Sie Blasche mit … und einen Bolzenschneider. Ich komme dann gleich nach …, und nichts unternehmen, ehe die Polizei eintrifft. - Was hat er eigentlich geladen?«
»Solarmodule.« Die Antwort kam von Frank Bertram, ebenfalls Logistiker und die vierte Person am Tisch, der hektisch in seinen Unterlagen blätterte. »Und diverse Elektronikteile für Photovoltaik Anlagen. Der hat weit über eine Viertelmillion auf dem Auflieger.«
»Scheiße«, brachte Czaikowski noch hervor, während er die Rufnummer der Polizei eingab.
Er brauchte zwanzig Minuten, in denen er mehrfach die erlaubte Höchstgeschwindigkeit überschritt und traf daher fast zeitgleich mit seinen Mitarbeitern Jürgen Müller und Bastian Blasche ein. Von der Polizei war noch nichts zu sehen.
Der Sattelzug stand sauber eingeparkt auf dem Behelfsparkplatz an der Langenhagener Straße und machte auf den ersten Blick einen unbeschädigten und unauffälligen Eindruck.
Sie waren kaum aus ihren Fahrzeugen ausgestiegen, als Blasche mit ausgestrecktem Arm auf den Sattelzug deutete und aufgeregt rief: »Da! Das Schloss fehlt!« Er steuerte hektisch auf die Rückwand des Aufliegers und deutete auf eines der Direktspannschlösser, an denen normalerweise ein Vorhängeschloss das Öffnen der Plane verhindern sollte.
Mit wenigen Handgriffen löste er nervös ein paar Spannvorrichtungen und schob die Plane ein Stück nach vorne. »Was … verdammt …«, stotterte er und drehte den Kopf zur Seite.
»Leer! - Der Auflieger ist leer.«
***
Die zweite Oktoberhälfte schenkte der Stadt nochmal ein zusätzliches Hoch, dass Richard Tackert auszunutzen gedachte. Angenehme Temperaturen sorgten am Tage für eine milde Wärme.
In den letzten Wochen hatte der Hauptkommissar eine seltsame Liebe zur Gartenarbeit bei sich entdeckt, die ihm bisher vollkommen fremd war. Und heute war der genau richtige Tag, um weiter voranzukommen.
Als er vor zwei Monaten bei Elisa einzog, die sich überraschend ein kleines Häuschen in Alt-Ricklingen gekauft hatte, gab es natürlich noch etliche Baustellen, sowohl im Haus, wie auch im Garten, denen sie sich nun gemeinsam widmeten.
Aber auch seine Gefühlswelt war zu einer Baustelle geworden.
Es waren über fünfundzwanzig Jahre vergangen, als er das letzte Mal mit jemandem in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebte. Und es waren deutliche Zweifel vorhanden, wie er die Veränderung verarbeiten würde. Aber Elisa schien dessen vollkommen unbeeindruckt und erklärte, dass sie der Wilden Ehe, wie sie zu sagen pflegte, gelassen entgegensah.
»Kaffee ist fertig«, rief Elisa von der Verandatür. »Draußen oder drinnen?«
»Draußen natürlich«, antwortete Tackert und verrückte Tisch und Stühle. Der Platz an dem kleinen Teich im hinteren Drittel des Gartens hatte sich bei beiden schnell zum Lieblingsplatz entwickelt. Bei Tackert sorgte er sogar meist für einen kleinen Anstieg seiner Wohlfühlskala, die er stets genau beobachte. Die er aber auch fürchtete. Gerade dieser Tage, ging es doch unaufhaltsam dem November entgegen, der ihm die letzten Jahre arg zu schaffen, machte.
»Ich habe meine Mutter für nächsten Sonntag zum Essen eingeladen. Magst du da nicht kochen?« Elisa fügte der Frage ihr unvergleichbares Lächeln hinzu, was es Tackert fast schon wieder unmöglich macht, nein zu sagen.
Verdammt, so schnell geht das, dachte er. - Ein Lächeln und schon steht man am Herd und klappert in den Töpfen. »Na klar, kann ich machen. Besondere Wünsche?«
»Ich glaube, meine Mutter würde sich riesig über eine pikante Kürbissuppe freuen«, erklärte Elisa. »Mit Curry, Ingwer und Kokosmilch.«
Kürbissuppe? - Ingwer? - Was zum Teufel …?
»Hm. Kürbissuppe? - Na gut.«
»Ich weiß, Richard, du magst keinen Kürbis. Aber könnten wir nicht meiner Mutter zuliebe ...? - Wie geht es eigentlich Jan?«
»Geht so. - Hat eine Prellung und eine schlimme Wunde am Schienbein. Der Arzt sagt, dass er wohl für mindestens eine Woche aus dem Verkehr gezogen ist.«
»Armer Kerl. - Das muss ja ein schlimmes Foul gewesen sein«, stellte Elisa mitfühlend fest. »Wie ist das denn genau passiert?«
»Also: wichtiges Rückspiel gegen die Betriebsmannschaft der Post. Zweite Halbzeit, achtundsiebzigste Minute … beim Stand von 2:2. Manni erobert am eigenen Sechzehner den Ball, spielt einen Gegner aus … dann noch einen und flankt punktgenau zu mir. Ich breche an der rechten Außenlinie durch die massiv gestaffelte Deckung und schlage den Ball auf den Elfmeterpunkt. Halbhoch, lauwarm … wie damals Stan Libuda. - Jan holt aus und will eine seiner gefürchteten Direktabnahmen im Netz versenken, da kommt dieser bescheuerte Innenverteidiger und setzt zur Blutgrätsche an … und erwischt ihn voll am Schienbein …, dieser Metzger! - Wahrscheinlich ein gefrusteter Schalterbeamter.«
»So genau wollt´ ich das gar nicht wissen«, lachte Elisa. »Übrigens habe ich gehört, dass die DHL wieder neue Fahrer einstellt. - Bevorzugt Bewerber, die als Kind gerne >Klingelstreich< gespielt haben und somit ihr neues Aufgabengebiet bereits kennen: Nämlich Sturmklingeln … und schnell weglaufen.«
Tackert lachte noch herzhaft, als sein Handy klingelte. Mit einer bösen Vorahnung nahm er, nach einem schnellen Blick auf das Display, den Anruf entgegen.
Das Telefonat war nur von kurzer Dauer und an dessen Ende war Tackert das Lachen vergangen.
***
Die Eilenriede ist der rund 640 ha große Stadtwald in Hannover. Im nördlichen Teil führt eine Straße vom Zoo zum Stadtteil Groß Buchholz, wo in einer Kurve am Waldrand die Gaststätte Steuerndieb liegt. Bereits im 14. Jahrhundert stand hier unter gleichem Namen (Störe den Dieb) ein >Wartshaus<, dass die Kontrolle der Torf-Transportwege und die Nutzung des Waldes außerhalb der Stadtgrenze ausüben sollte. Später wurde dort der Förster untergebracht, der auch eine Schankerlaubnis besaß, und so wurde der Ort zu einem beliebten Ausflugsziel.
Bis heute.
Sven steuerte den Wagen auf den Parkplatz hinter der Gaststätte.
Von hier aus hatten sie noch gute drei Minuten Fußmarsch vor sich, wie Tackert genau wusste. Er kannte diesen Teil der Eilenriede wie seine Westentasche.
Mit den ersten Schritten, in den Wald hinein, sah er sich wieder als Zehnjährigen, der seinerzeit genau an diesem Punkt seine Identität eintauschte und zu einem furchtlosen Apachen wurde, der Stammesgebiet betrat. Im Mittelpunkt ihrer Jagdgründe hatten sie damals aufwendig, abseits der Wege und gut versteckt zwischen dichtem Gebüsch, einen windschiefen Wigwam errichtet, in dem er oft stundenlang ausharrte. Pfeil und Bogen stets griffbereit, sollte ein Büffel so unvorsichtig sein und seine Wege kreuzen. Dass die Büffel vor vielen Jahren sehr viel Ähnlichkeit mit Wildkaninchen hatten, spielte dabei keine Rolle. Aber soweit er sich erinnern konnte, hatte er sowieso nie einen Pfeil abgeschossen. Zumindest nicht auf einen Büffel. - Auf Dorothea schon.
Dorothea war die süßeste Squaw im Stamm und hörte auf den indianischen Namen >Tanzende Feder<.
Dorothea, mit den lustigen Zöpfen, den frechen Sommersprossen und dem fehlenden Schneidezahn. Leider war sie von bösen Geistern besessen und wollte nichts von ihm wissen und selbst der Schamane fand keine geeigneten Kräuter und Wurzeln, um die Dämonen zu vertreiben. Wäre ihm bekannt gewesen, dass nur unweit in der katholischen Kirche ein Bleichgesicht seine Dienste als Exorzist anbietet, er hätte ihn gerufen. Auch ein leidenschaftlicher Fruchtbarkeitstanz konnte sie nicht umstimmen und er beschloss, sie fortan nur noch >Stinkende Bisamratte< zu nennen, wofür man ihn beinahe an den Marterpfahl geknotet hätte.
Hier hatte er dann seine erste Zigarette geraucht. Danach wurde auch er von bösen Geistern heimgesucht, so schlecht war ihm. Und als er abends mit einer halben Stunde Verspätung zu Hause ankam, erwarteten ihn noch weitere böse Geister. Einer davon verpasste ihm eine schmerzhafte Backpfeife. - Aber ein Indianer kennt ja keinen Schmerz.
Schlimmer war ohnehin die eine Woche Stubenarrest, die er sich einhandelte. Und natürlich der Verlust der wertvollen zehn Pfennig für den Kaugummiautomaten. Das war wirklich rausgeschmissenes Geld, erinnerte er sich, weil der blöde Kaugummi den Geruch des Zigarettenrauchs nicht verdecken konnte.
»Da hinten ist es«, hörte er Sven sagen, der ihn damit in die Gegenwart zurückholte.
Die weiße, zu einem Karree gesteckte Wand, bot einen deutlichen Kontrast zu der Umgebung und war auch aus einiger Entfernung gut auszumachen. In einem breiten Radius war um das Karree herum Flatterband an den Baumstämmen befestigt. Dahinter bewegten sich eine größere Anzahl Beamter, viele suchten mit gesenktem Kopf den Boden ab.
Sie verließen den Weg und trampelten durch das Unterholz. Es roch nach feuchtem Laub und kalter Erde.
Obwohl die Bäume bereits einen Großteil ihrer Blätter verloren hatten, drang immer weniger Licht zum Boden durch, so dicht stand hier der Wald. Sie überquerten einen kleinen Bach, der kaum fünfzig Zentimeter breit war, und erreichten die Absperrung.
Tackert und Sven entdeckten ihn gleichzeitig, waren sich aber unsicher, ob es sich dabei tatsächlich um den Mann handelt, den beide zu erkennen glaubten.
»Ist das nicht …?«, fragte Tackert mit unsicherer Stimme.
»Ich glaube, ja«, bestätigte Sven. »Und was das bedeutet, wenn der forensische Entomologe angefordert wird, ist ja wohl klar. - Es wird unangenehm, Richard. Richtig unangenehm!«
Tackert verspürte plötzlich ein unbändiges Verlangen nach etwas Hochprozentigem.
Eine Leiche, von Ungeziefer angefressen, vielleicht schon fortgeschritten zersetzt, war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.
»Vielleicht wurde der Entomologe nur hinzugezogen, weil er neu beim LKA ist … und Erfahrungen gesammelt werden sollen«, hoffte Sven. »Der Bereich steckt ja landesweit noch in den Kinderschuhen. Zumindest in Deutschland. - Warten wir´s ab …«
Nicola hatte sich etwas verspätet, als sie kurz nach neun Tackerts Büro betrat.
»Sorry, ich habe noch schnell etwas ausdrucken müssen«, entschuldigte sie sich. Nicola war die Jüngste im Team. Und die Auffälligste. Tätowiert, gefärbtes Haar und meist abenteuerlich gekleidet, wie Tackert es oft formulierte. Aber charakterstark, auf eine angenehme Art kommunikativ und daher beliebt bei den Kollegen. Und auf dem besten Weg, eine erfolgreiche Ermittlerin zu werden.
»Viel haben wir noch nicht, aber erste, wenn auch unvollständige Ergebnisse lassen sich festhalten. Bei der Leiche handelt es sich um eine bisher unbekannte Frau, Mitte dreißig. Der Fundort ist nicht der Tatort, aber davon ist sowieso niemand, so wie sie eingepackt war, ausgegangen, denke ich. - Getötet wurde sie durch drei Messerstiche in den Bauchraum und die Brust. Dr. Schröder sagt, dass die Tatwaffe ein Stilett oder etwas Ähnliches gewesen sein muss. Er hat zirka fünfzehn Zentimeter tiefe Einstiche festgestellt. Ein Sexualdelikt schließt der Rechtsmediziner zum jetzigen Zeitpunkt übrigens aus. Die Frau war vollständig bekleidet und in eine feste, handelsübliche Plastikplane eingewickelt. Der Todeszeitpunkt ist noch etwas vage, Schröder meint aber, wir können davon ausgehen, dass der Körper nicht länger als zehn Tage vergraben war. Das deckt sich auch mit den ersten Einschätzungen des Biologen, der ein genaueres Ergebnis frühestens morgen vorlegen wird.« Nicola unterbrach den Dialog an dieser Stelle und legte eine Anzahl von Tatortfotos auf den Tisch, bevor sie fortfuhr. »Ich denke, dass es nach jetzigem Kenntnisstand realistisch ist, zu vermuten, dass wir nach einem einzelnen Täter fahnden müssen. - Die Grube hatte nur eine Tiefe von neunzig Zentimetern. Also wurde in etwa so viel Erde ausgehoben, wie ein einzelner Mann in einer Nacht schafft. Das ist vermutlich auch der Grund, warum die Leiche verhältnismäßig schnell von dem Hund entdeckt wurde. - Und wenn es die letzten acht Tage nicht fast dauerhaft geregnet hätte, wäre sie vermutlich noch eher entdeckt worden. Die Erdschicht, die auf dem Körper lag, hatte kaum zwanzig Zentimeter erreicht und ich persönlich vermute, dass das so nicht geplant war. - Außerdem liegt es nahe, zu vermuten, dass die Zeit knapp wurde. Schließlich musste der Körper über drei-, vierhundert Meter bewegt werden, was natürlich Zeit kostet. Wahrscheinlich vom Gaststättenparkplatz aus.«
»Eine gute erste Einschätzung, Nicola«, lobte Tackert die Kollegin. »Gibt es irgendetwas, dass die Identifizierung erleichtert?«
»Nein, noch nichts.«
»Hat die KTU Spuren sichern können?«, schaltete sich Sonja ein, die gemeinsam mit Tackert und Sven schon seit ein paar Jahren zum festen Kern der Mordkommission gehörte. »Der wird ja wohl kaum die Leiche mehrere hundert Meter durch den Wald geschleppt haben?«
»Bislang gibt es keine Erkenntnisse«, meinte Nicola. »Aber das wäre auch sehr früh, oder?«
»Stimmt«, bestätigte Sonja. »Wäre nur hilfreich …«
Während die Tatortfotos die Runde machten, meldete sich Sven zum ersten Mal an diesem Morgen zu Wort. Was durchaus ungewöhnlich war, da er mit Abstand der Kommunikativste unter den Vieren war. »Es deutet doch alles darauf hin, dass das Grab geplant war, oder? - Aber warum ausgerechnet in der Eilenriede? Es gibt im erweiterten Stadtgebiet genügend Stellen, wo man ungestörter graben kann. Warum dann in der Eilenriede?«
»Vielleicht wegen des Risikos, mit einer Leiche im Gepäck eine längere Strecke durch die Stadt unterwegs zu sein«, mutmaßte Sonja.
»Wir sollten uns jetzt nicht in Spekulationen verlieren«, ermahnte Tackert. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Kümmern wir uns lieber um die Vermisstenmeldungen. Vielleicht ergibt sich da eine Spur. - Und ich werde zu Schröder fahren und sehen, ob schon einige Ergebnisse vorliegen.«
***
Ähnlich wie in der Waterloostraße saßen zu einer späteren Uhrzeit einige Personen im Bürogebäude der Spedition Czaikowski um einen Tisch, und waren am Rätseln.
»Das ist doch unglaublich«, schimpfte der Firmeninhaber. »Das ist geradezu … ist doch … geradezu … saudämlich von Rutemöller.«
»Nur, wenn er tatsächlich selbst gefahren ist«, versuchte Blasche, zu beruhigen. »Da der Tachograph nicht ausgeschaltet war, und nur die Schnittstelle zum Bordcomputer getrennt wurde, kann ich mir nicht vorstellen, dass er in irgendeiner Weise etwas damit zu tun hat. Rutemöller weiß ganz genau, dass jede Bewegung registriert wird. - Außerdem halte ich ihn nicht für einen Verbrecher.«
Die Auswertung aller zur Verfügung stehenden Daten hatte ergeben, dass der Sattelzug planmäßig um zwanzig Uhr drei das Betriebsgelände verlassen hatte. Unplanmäßig dagegen war der fast zwei Stunden andauernde Stopp … nach nur vierundzwanzig Minuten Fahrzeit, dem dann nochmal eine Fahrzeit von vierzehn Minuten folgte.
Die allerletzte Registrierung beginnt um fünf Uhr zwölf und dauerte achtzehn Minuten. Ab fünf Uhr dreißig wurde der LKW nicht mehr bewegt und der Bordcomputer wieder angeschlossen, wie auszulesen war.