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Während eines Rock-Konzerts wird Maik de Wytt, Sänger einer semiprofessionellen Band, auf zumindest sehr ungewöhnliche Art ermordet. Der skurrile Tathergang stellt Richard Tackert vor ein Rätsel. Auch das Motiv scheint unklar. Die Ermittlungen laufen zermürbend. Bis eines Tages seinem Kollegen Sven etwas auffällt, was allen bisher verborgen blieb. So baut sich im Team zwar neue Hoffnung auf, aber auch die Erkenntnis, dass alles noch verzwickter erscheint, als bisher gedacht. Nur gut, dass während der Ermittlungen der private Bereich für Abwechslung sorgt. Denn soviel steht fest: Das Wacken Open Air mit der Schwiegermutter im Schlepptau wird der Hammer.
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Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Absoluternullpunkt
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2020 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2020 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-750200-36-4
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Für Moppi
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
1
Blaue, gelbe und violette Lichtkegel trafen aufeinander und verwandelten die Bühne in einen geheimnisvollen Ort, der im Publikum Erwartung und Ungeduld schürte und hochhielt. Im Hintergrund war auf einem übergroßen Banner der skurrile Bandname zu lesen. An den Seiten vibrierten Boxentürme und drückten den gut dreihundert Besuchern neben Altbekanntem, auch Songs der neuesten Produktion in die Köpfe.
Mit jeder Minute der Show wurden die fünf Jungs ihrem Ruf als gute Liveband gerecht. Theo und Sören hämmerten auf ihre Gitarren ein, wirbelten herum, verbogen sich wie unter Hexenschuss leidend, um im nächsten Moment leicht federnd den Rhythmus zu begleiten. Freddy am Bass zuckte an der Bass-Drum und forderte das Schlagzeug zu einem Duell. Waldemar, den alle nur Oskar nannten, setzte mit weit ausholenden Bewegungen auf der Snare-Drum Akzente und Maik, der Sänger und Mädchenschwarm, umklammerte mit beiden Händen das Mikro und brüllte den Chorus in die Menge.
Wie eine Dampflok rauschte der Song ins Publikum.
Donnernd, druckvoll und unaufhaltsam.
Die achtzehnjährige Sarah stand etwa in der vierten Reihe, keine sechs Meter von Maik entfernt. Sie war aus Peine extra früh angereist, um dem Sänger, den sie im Stillen vergötterte, so nah wie möglich zu sein. Schon drei Mal waren sich ihre Blicke begegnet und sie war fest davon überzeugt, dass das kein Zufall war. Aber sie war auch realistisch genug, um zu wissen, dass sie nicht die Einzige war, deren Hormone ein wenig verrückt spielten, wenn die Fantasie ins Spiel kam.
Gott sei Dank gab es bei dem Konzert kein Film- und Fotografierverbot. Die Band setzte in allen Bereichen auf Publikumsnähe und fuhr, seit ihrer Gründung vor acht Jahren, sehr gut damit.
Maik kündigte das nächste Stück an, was unter lautstarker Begeisterung aufgenommen wurde. Jim und Lukas war nicht nur ihr bekanntester Song, sondern auch eine Hommage an die großartige Augsburger Puppenkiste, gleichzeitig aber auch eine Abrechnung mit all den Politikern, die tatenlos dem Ertrinken tausender Menschen im Mittelmeer zuschauten. Und trotzdem war es ein Garant, den noch bewegungsfaulen Leuten im Publikum einen Anlass zu geben, die für Motorik zuständige Gehirnhälfte zu aktivieren, um endlich in Wallung zu kommen.
Auf diesen Moment hatte Sarah gewartet.
Ihre zwei Lieblingsstücke wollte sie unbedingt mitschneiden. Sie zückte ihr Handy und schaltete die Videofunktion ein. Als die ersten Takte einsetzten, wurde es lebhaft um sie herum. So lebhaft, dass ihr Zweifel kamen, ob hier überhaupt eine brauchbare Aufnahme bei rauskommen würde? Aber versuchen musste sie es wenigstens.
Sie streckte den Arm, so hoch es ging, und filmte blind, wobei sie sich ermahnen musste, dem Drang zu tanzen nicht nachzugeben.
Natürlich ahnte Sarah nicht, wie wichtig diese Aufnahme nur drei Stunden später werden sollte und sich zum vielleicht wichtigsten Bestandteil einer Ermittlung entwickeln würde, die für viel Aufsehen und Rätselraten verantwortlich war.
Um 22.42 Uhr erreichte den Hauptkommissar Richard Tackert die Nachricht, dass sich im Drecksloch, einem bekannten Musikclub im Stadtteil Limmer, ein Vorfall ereignet hat, der seine Anwesenheit erforderte.
Als er nach achtzehn Minuten eintraf, waren nicht nur bereits Rettungskräfte der Johanniter und einige uniformierte Kollegen vor Ort, sondern auch, wie man ihm mitteilte, seine Kolleginnen Sonja Raabe und Nicola Kleinschmitt. Und auch Dr. Schröder, der Rechtsmediziner.
Eine riesige Traube meist junger Leute stand um das Gebäude herum und im Vorbeigehen hörte Tackert neben Entsetzen und Trauer auch Worte der Verzweiflung. Des Unbegreiflichen.
Der Raum der Veranstaltung war hell erleuchtet und weitestgehend menschenleer. Die Scheinwerfer der Lichttraversen waren aus, auf der Bühne schwiegen die Instrumente. Hinter den beiden seitlich verlaufenden Tresen der Getränkeausgaben standen einige Mitarbeiter und diskutierten in verhaltener Lautstärke. Vor dem Schlagzeug kniete der Rechtsmediziner vor einem leblosen Körper.
Aus dem rechten hinteren Bühnenbereich tauchte Nicola plötzlich auf. »Hallo Richard. Gerade gekommen? Schöner Scheiß, den wir hier haben. Maik de Wytt, gerade mal sechsundzwanzig. Sänger der Band, die hier heute aufgetreten ist. Brach zum Ende der Show plötzlich zusammen, krampfte noch zehn Minuten und war dann tot. Der Notarzt konnte nichts mehr machen. Schröder meint, auf den ersten Blick sieht es nach Herzversagen aus. Das können sich allerdings die restlichen vier Bandmitglieder nur schwer vorstellen. Sie sagen, dass der Verstorbene fast sowas wie ein Gesundheitsfanatiker war. Keine Drogen, kein Alkohol, überzeugter Vegetarier. Und sportlich aktiv. Schwimmen, Radfahren, Joggen, wann immer es ging. Im Moment also noch vollkommen unklar, ob er denn auf natürliche Weise ums Leben kam oder ob vielleicht nachgeholfen wurde.«
»Hat jemand dafür gesorgt, dass die Leute draußen befragt werden?«, wollte Tackert wissen.
»Ja. Darum kümmern sich die Kollegen bereits, die als Erste vor Ort waren.«
»Die Bandmitglieder?«
»Haben Sonja und ich übernommen. Die stehen allerdings vollkommen unter Schock, wie du dir denken kannst. Die Sanis sind hinten und versorgen die Jungs.«
»Gut.«
Tackert machte ein paar Schritte, bis er auf der Bühne stand. »N´Abend, Doc. Kannst du schon was sagen?«
Ohne den Kopf zu heben, antwortete der Rechtsmediziner. »Ah, Richard. Tja. Nur Vermutungen. Bisher gehe ich davon aus, dass hier ein Herzversagen vorliegt. Aber was das ausgelöst haben könnte, lässt sich natürlich jetzt noch nicht feststellen. Allerdings habe ich eine Vermutung, und zwar aus folgendem Grund: Es gibt im Bauchraum eine Rötung … hier, sieh selbst, und wenn mich nicht alles täuscht, auch eine im Durchmesser minimale Einstichstelle. Das kann, muss aber nicht, bedeuten, dass er sich freiwillig oder auch nicht, etwas ins Gewebe gejagt hat. Aber nochmal: Das ist eine Vermutung, nichts anderes.«
»Und was könnte das sein?«
»Eine Injektionsnadel, zum Beispiel.«
»Hm. Die Jungs von der Band sagen, er war ein Gesundheitsfanatiker. Keine Drogen und auch sonst nichts.«
»Sagen ein paar junge Leute, deren Pupillen Bände sprechen?«
»Na und? Ist doch heute längst nicht mehr so wie in den 70ern, wo die meisten Rockmusiker im LSD-Rausch oder Alkohol-Wahn ihre Songs einem ebenso benebelten Publikum präsentiert haben. Schlagzeuger, die mitten im Stück besoffen ins Drum-Set fallen oder Gitarristen, die einfach von der Bühne kippen weil sie plötzlich meinen, fliegen zu können, findet man heute eher selten.«
»Wenn du meinst… Ich kenne mich in der Szene nicht so gut aus, wie du weißt. Und bei La Traviata fallen meist wenige oder gar keine Tenöre in den Orchestergraben.«
»Schade eigentlich … Ein Sopran?... vielleicht ...«
»Was?«
»Nichts. Ein Einstich also, eventuell. Gut. Wie lange wird’s etwa dauern, bis du erste konkrete Hinweise liefern kannst?«
»Mensch Richard! Alleine die toxikologische Untersuchung … Zwei, drei Tage mindestens. Eher mehr.«
Tackert bedankte sich und ging zu den Tresen, wo immer noch kleine Gruppen entsetzt debattierten. Er sprach gerade mit zwei jungen Frauen, als ein uniformierter Kollege von draußen reinkam und seine Aufmerksamkeit forderte.
»Ich habe draußen einen Zeugen, der in der ersten Reihe stand und gesehen haben will, wie etwa während des siebten, achten Liedes etwas über die Bühne flog und an seinem Bauch steckenblieb. Aber nur für zwei, drei Sekunden, wie der junge Mann sagt. Nach ein paar hüpfenden Bewegungen war es nicht mehr zu sehen, meint er. Was das genau war, weiß er aber nicht. Es klebte nur für einen Augenblick an seinem Bauch.«
»Okay. Gute Arbeit, Kollege. Danke.« Er wollte sich gerade abwenden, als ihm etwas einfiel. »Die Konzertbesucher, die haben vielleicht Fotos gemacht von der Veranstaltung. Oder Videos. Sprecht das mal an und bittet darum, alles an vorhandenem Material zur Verfügung zu stellen. Macht ihnen klar, dass der Tod des jungen Mannes rätselhaft erscheint und jedes Dokument, das man uns zur Verfügung stellt, eventuell zur Auflösung beitragen kann.«
Der Kollege nickte und verließ den Raum wieder.
Tackert machte sich erneut auf den Weg zur Bühne. Er wollte sehen, ob sich etwas Auffälliges finden lässt.
Aufmerksam suchte er den Boden ab, was dem Rechtsmediziner nicht entging.
»Suchst du den gestrigen Tag, Richard?«, fragte er dämlich.
»Nee«, reagierte Tackert kurz angebunden, weil er keine Lust verspürte, es wieder einmal zu dummen Wortgefechten kommen zu lassen, für deren Entstehen Dr. Schröder bekannt war.
Und tatsächlich.
Auf dem wirren Muster des Teppichs, der unter dem Schlagzeug-Set ausgebreitet war, lag etwas, eingekeilt an der Rundung der Bass-Drum, das auf den ersten Blick wirkte, wie ein modifizierter Dartpfeil. Er ging in die Hocke und wollte gerade danach greifen, als ihn von hinten der Rechtsmediziner anbrüllte.
»Halt! Bist du bescheuert? Fass das Ding nicht an. Nicht ohne Handschuhe. Wer weiß, was es damit auf sich hat? Was ist das überhaupt?«
Schröder hockte sich neben ihn und begutachtete den seltsamen Pfeil einen Augenblick. »Sieht aus, wie aus der Tiermedizin. Wie ein Betäubungspfeil. Gut möglich, dass du soeben die Tatwaffe gefunden hast, zumindest einen Teil davon, aber den wichtigeren. Anfassen würde ich das jedenfalls nicht. Wer weiß, was für ein Dreck daran haftet?«
Natürlich hatte der Mediziner recht, aber er hatte gar nicht vorgehabt, den Pfeil anzufassen. Trotzdem war es gut, dass Schröder sich eingeschaltet hat. Vielleicht sollte man dem Teil besser nicht zu nahe kommen.
Als sich Tackert, Sonja und Nicola eine gute Stunde später auf den Weg machten, hatten sie zumindest so viel erfahren, dass der junge Mann einen qualvollen Tod gehabt haben muss.
Verschiedene Zeugen glaubten, es handele sich um einen Teil der Show, bis auch dem letzten klar wurde, dass sie gerade Zeuge eines entsetzlichen Todeskampfes wurden. Es gab insgesamt vier Personen, die glaubten, gesehen zu haben, wie ein unbekannter Gegenstand vom rechten Bühnenrand ausgehend Maik de Wytts Bauch traf, der aber scheinbar davon nichts mitbekam. Mit gewohntem Ablauf setzte er seine Show ohne erkennbare Beeinträchtigung fort.
Für fünfunddreißig Minuten.
Dann kam es zu ersten Anzeichen, dass etwas nicht in Ordnung war. Bandmitglieder berichteten, dass er den Text vergaß, zu zittern begann und scheinbar Kreislaufprobleme hatte, bis er schließlich zusammenbrach.
Tackert ahnte Böses.
Obwohl er es in den letzten dreißig Jahren nur zwei Mal mit einem Giftmord zu tun hatte, deutete einiges darauf hin, dass Maik de Wytt genau diesem Umstand zum Opfer fiel. Und sollte das zutreffen, erwartete ihn unter Umständen eine Ermittlung, an der man sich die Zähne ausbeißen kann, so seine Befürchtung.
Tackerts Wohlfühlskala erreichte einen Zustand, der dem Bandnamen gleichkam:
Absoluternullpunkt!
2
Alle Kollegen erschienen am nächsten Morgen pünktlich um 8.00 Uhr in Tackerts Büro zu einer ersten Besprechung.
»Wir haben schon über vierzig E-Mail Eingänge mit teilweise drei, vier, fünf Anhängen, sowohl Fotos wie auch Videos«, erklärte Jan Ackermann der Runde. »Hab aber noch nicht reingeguckt.«
»Sigrid von der KTU hat sich die Nacht um die Ohren gehauen und ein erstes Ergebnis geschickt. Schröder hat recht. Es handelt sich um einen Injektionspfeil, wie er in der Tiermedizin zum Einsatz kommt. Diese Art Pfeil wird mittels eines Blasrohrs verschossen. Wenn er auf einen Körper trifft, bewirkt eine Aufprall-Mechanik, dass ein Mechanismus ausgelöst wird, der den Inhalt der Kammer freigibt. Das Ganze geschieht innerhalb einer Sekunde. Interessant dabei ist, dass man eigentlich ein Blasrohr von mindestens hundertzwanzig bis hundertfünfzig Zentimetern braucht, um dem Pfeil eine bestimmte Flugstabilität zu verleihen. Um eine Treffsicherheit zu garantieren. Aber jemand mit einem Blasrohr in dieser Länge wäre wohl aufgefallen, sagt sie und das denke ich auch. Also wurde vermutlich ein kürzeres Rohr benutzt. Und das würde bedeuten, dass der Schütze höchsten fünf Meter entfernt gewesen sein kann, wenn man davon ausgeht, dass hier ein Blasrohr von maximal siebzig, achtzig Zentimetern benutzt wurde, was sich vielleicht gerade noch unter der Kleidung verbergen lässt. Setzen wir jetzt voraus, dass die Daten stimmen, suchen wir nach einer Person, die sich im Radius von fünf Metern zu dem Opfer aufgehalten haben muss. Allerdings verstehe ich nicht, warum scheinbar niemand den Schützen gesehen hat? Das ist doch unmöglich, dass jemand im Publikum plötzlich ein Blasrohr in der Hand hält und einen Pfeil abfeuert … und keiner bekommt was mit?« Nicola blickte erwartungsvoll die Kollegen an, aber alle waren für einen Moment in Gedanken versunken.
»Er oder sie stand nicht vor der Bühne«, sagte Tackert schließlich. »Es muss einen Punkt geben, der die Person fürs Publikum und die Musiker unsichtbar macht. Ich kann mir aber im Augenblick auch nicht denken, wo der sein soll. Jan, wenn du die Fotos auswertest, achte da mal drauf.«
Sven, der die fünf Personen umfassende Ermittlergruppe vervollständigte, meldete sich zu Wort.
»Dann lässt sich eine natürliche Todesursache wohl ausschließen«, stellte er fest. »Aber wer kommt auf die blöde Idee, während eines Konzerts einen Musiker mit einem Giftpfeil zu töten? Und warum? Das ist doch viel zu umständlich und riskant. Das ist dämlich …«
»Dämlich erscheint es wirklich, ja«, überlegte Tackert. »Es sei denn, ich will erreichen, dass das Opfer zur Schau gestellt wird, wenn es seinen qualvollen Tod vor Augen hat. - Okay. Jan, kümmere dich bitte als Erstes um Maik de Wytt. Alles, was du rausfinden kannst. Danach die E-Mails. Wir vier teilen die Musiker untereinander auf. Ich habe die Jungs für 11.00 Uhr ins Präsidium bestellt. Wir brauchen vom Opfer eine ordentliche Vita, natürlich auch von der Band. Aber was rede ich hier, ihr wisst, was zu tun ist.«
Die kleine Versammlung löste sich auf.
Zeit, sich den Goldfischen zu widmen.
Heute war Montag und da wurde wieder von Hand gefüttert. Am Wochenende übernahm das ein Futterautomat, der aber gerne mal seinen Dienst verweigerte. Sven meinte, das läge an einer falschen Programmierung. Blödsinn. Das liegt an einem Herstellerfehler, der vermutlich absichtlich eingebaut wird, damit man sich schön jedes Jahr ein neues Gerät kaufen muss. Alles Hallunken und Betrüger.
Offensichtlich wurde er bereits erwartet.
Alle zehn Goldfische klebten an der Scheibe und warfen ihm vorwurfsvolle Blicke zu, wie er glaubte. Und Odin sah aus, als blickte er auf seine Flossenuhr und maulte: »Wieder zwanzig Minuten zu spät.«
Er hatte seinen Fischen Namen gegeben. Götternamen der Antike. Schließlich soll kein Individuum auf dieser Erde ein Leben als namenlose Kreatur fristen. Und zehn Götter, deren Lebensambiente dem Buckingham Palast gleichkam - nur ohne Ratten, über die sich gerade die Queen beschwert - können eine gesunde Basis sein für Meditation, Austausch und Eingebung.
Ja, die stummen Büro-Mitbewohner hatten eine ernste Bedeutung in seinem Leben eingenommen, das gab er gerne zu. Wenn sie wie kleine Raumgleiter auf Patrouille durch die Milchstraße schwebten, lautlos und genau auf Kurs, erreichte ihn oft eine angenehme Wärme.
Theo Kiesewald war fünfzehn Minuten zu früh dran.
Schwerfällig wie ein Achtzigjähriger ließ er sich auf den Stuhl fallen und wirkte völlig fertig.
»Die Nacht durchgemacht, was?«, fragte Tackert und achtete sehr darauf, die Worte nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen.
»Hm«, murmelte Theo. »Wir haben bis fast 9.00 Uhr noch zusammengesessen und gesoffen. Was für ein Scheiß, Mann, was für ein unglaublicher Scheiß. Ein Albtraum. Ich krieg die Bilder nicht aus dem Kopf, wie er da… wie er da… Oh scheiße Mann.«
»Es tut mir leid, Herr Kiesewald, dass ich Sie…«
»Nee. Sagen Sie Theo zu mir.«
»Okay. Theo also. Es tut mir leid, dass ich Sie nerven muss. Aber wir brauchen dringend Informationen. - Eigentlich ist es nicht üblich, zu einem so frühen Zeitpunkt Dinge preiszugeben, die noch nicht einmal bestätigt sind. Aber ich denke, in diesem Fall muss es sein. Es deutet zur Zeit einiges darauf hin, dass Maik durch einen Giftpfeil getötet wurde. Aus geringer Distanz. Das ist natürlich nicht nur eine sehr ungewöhnliche Art, sondern erfordert auch den präzisen Umgang mit einem Blasrohr. Kennen Sie jemanden, der Blasrohrschießen als Sport betreibt?«
Der junge Musiker fixierte Tackert geradezu. »Wie? Vergiftet? Mit einem Blasrohr? Was soll denn der Scheiß? - Ich kenne natürlich niemanden, der Leute vergiftet.«
»Wissen Sie von Streitigkeiten, Drohungen, irgendwelchen Krisen, die eine Erklärung abgeben würden, warum jemand diesen schrecklichen Tod inszenierte?«
»Oh Gott. Haben Sie bis morgen Zeit? Maik hatte früher einen Spitznamen: Haui. Sie werden sich denken können, warum. Ich kannte Maik schon seit der achten Klasse im Gymnasium. Er war kein einfacher Typ, damals, obwohl ich nie Probleme hatte mit ihm. Ganz im Gegenteil. Hat sein letztes Bier mit dir geteilt. Hat sich für dich geprügelt. Hat Mädchen für dich klargemacht. Hat aber auch mal gerne und schnell zugehauen. Aber nur bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Da stellt er sich abends in den Proberaum und sagt: Leute, ich habe beschlossen, dass sich was ändern muss. Keine Angst, ich will die Band nicht verlassen, ich will bei mir was ändern. Keine Joints mehr, kein Alkohol, kein Fleisch, kein Zuschlagen. Nur noch Musik und Sex. Und keine dämlichen Fragen, bitte. Von wegen wieso, was ist los, bist du krank oder bei den Zeugen Jehovas gelandet? Ich kann selbst nicht sagen warum, aber ich will was ändern und mach es auch. Fertig. - Das war vor ziemlich genau sechs Jahren und das bescheuerte ist: Der hat das echt durchgezogen. Gnadenlos. Na ja, aus dieser Zeit kommt jedenfalls eine schöne Liste an Leuten zusammen, die ihn gehasst haben. An erster Stelle unser damaliger Englischlehrer, der richtig was aufs Maul bekommen hat. Aber zurecht. Der hatte den Fehler begangen und während des Unterrichts seine damalige Freundin an die Titten gefasst. Angeblich aus Versehen. Ha, aus Versehen. Das war ´ne geile Sau, war das. Na ja, und Maik hat ihm dann auf seine Weise gezeigt, dass das nicht geht. Das war ein unglaubliches Theater, im Anschluss. Wenn sich nicht mehrere Mädchen gemeldet hätten, die ähnliches zu berichten hatten, wäre Maik wohl geflogen. So wurde der Lehrer versetzt. An ein Mädchengymnasium! Unglaubliche Leistung des Kultusministeriums, wa? So viel zu seiner Vergangenheit. Jetzt was mehr oder weniger Aktuelles. Er hat die letzten zwei, drei Jahre für ein Szeneblatt und eine kulinarische Zeitschrift Restaurantkritiken verfasst. Sie wissen, dass er Vegetarier war? Also hat er Lokale bewertet mit vorwiegend vegetarischer Speisekarte. Mann, Mann. Da gab es einige Kritiken, da muss dem Koch der Topf vom Herd gesprungen sein. Mieser geht’s nicht. Und da werden einige Leute darunter sein, die ihm bestimmt die Pest an den Hals gewünscht haben. Könnt ich mir zumindest vorstellen ... Ungenießbare Pampe ohne jede Geschmacksnote oder: Nach meiner Bestellung war das Frischeste, was vor mir stand, die im Ansatz verblühende Tischdekoration und so weiter. Aber er konnte auch anders. Hat unglaublich gute, manchmal poetische Texte geschrieben. Seine Texte waren es vermutlich auch, die uns in unserer Karriere einen guten Schritt weitergebracht haben. Kein Blabla, Lyrics mit richtigem Inhalt. Sozialkritisch, politisch, nachdenklich, mahnend. Wir haben eine Unterlassungsklage laufen … von NESTINGA, die in Südportugal der Gemeinde Rechte abgekauft haben, um ein gigantisches Wasserreservoir zu nutzen und es nach und nach geschafft haben, dass am Ende diese Leute ihr eigenes Wasser von denen kaufen müssen. Eine wahnsinnige Sauerei, sowas. - Auf jeden Fall der nächste Punkt, wenn Sie nach kritischen Situationen fragen. Die Leute sind natürlich wenig erfreut über diese Art von Propaganda.« Theo brach plötzlich ab und Tackert meinte, dass er für einen Moment in einer anderen Welt verschwand.
»Das hört sich alles sehr negativ an, was Du hier gerade berichtest. War er wirklich ein so schwieriger Charakter?«
»Nein! Aber Sie haben mich gefragt, wer einen Grund hatte, Maik was Schlechtes oder gar den Tod zu wünschen. Und da draußen gibt es eine Menge Leute, die ihn lieber weit weggesehen hätten. Dabei ist das aber nur das Resultat seiner konsequenten Art, die Dinge beim Namen zu nennen ohne freundliches Rumgeeiere in den Formulierungen. Ohne kryptische Umschreibungen. Und damit können viele eben nicht umgehen.«
»Wie würdest du ihn beschreiben? Aus deiner Sicht…«
»Als ehrlich. Ehrlich und zuverlässig. Und hilfsbereit, obwohl mich das Wort ankotzt. Hört sich so nach Bibel an. Tja, und wie viele Künstler ein Träumer. Träumer und melancholischer Poet, manchmal zumindest… Ein Poet mit Wut im Bauch. - Lassen wir die Schulzeit mal außen vor und nehmen die letzten sechs Jahre, war er ausgeglichen und geradeaus. Und ein Freund, wie du keinen Besseren finden kannst.«
»Wie sieht´s bei der Band aus? Gibt´s da nicht Neider?«
»Klar. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das soweit geht, mit solchen Konsequenzen.«
Tackert bot Theo zwischendurch einen Kaffee an, den der junge Musiker aber ablehnte. Also fuhr er fort.