Antagonist - Wolfgang Glagla - E-Book

Antagonist E-Book

Wolfgang Glagla

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Beschreibung

Die ersten Stunden einer Ermittlung sind wichtig, heißt es immer. Aber manchmal wenig gewinnbringend, wie Hauptkommissar Richard Tackert feststellen muss. Der Fund einer Frauenleiche gibt mehr Rätsel auf, als ihm lieb ist. Der Dienstalltag wird zum Frust. Nur gut, dass Elisa und der Alte Fritz dafür sorgen, dass seine Wohlfühlskala nicht im Nirwana versinkt. Und natürlich - nicht zu vergessen - eine neue Liebe, die ihn wie ein Blitzschlag trifft.

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Seitenzahl: 178

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Antagonist

Wolfgang Glagla

Copyright: © 2018 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover

www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/

Umschlaggestaltung: Copyright: © 2018 Wolfgang Glagla

Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-746756-25-7

Wolfgang Glagla

Antagonist

Kriminalroman

Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.

Über den Autor:

Wolfgang Glagla, Jahrgang 1955, lebt in Hannover. Nach einigen unterschiedlichen Buchprojekten sind aus der Richard-Tackert-Reihe bereits sechs Kriminalromane erschienen.

Das Leben ist nicht so, wie es sein sollte.

Es ist so, wie es ist. Wie man damit fertig wird, macht den Unterschied aus.

Virginia Satir

1

Sie waren früh dran. Noch nie in der Vergangenheit lagen sie so gut in der Zeit wie heute.

Sie hatten gerade die Schleuse in Anderten passiert, die auch das Tagesziel bedeutete. Am nächsten Morgen wollten sie weiter nach Misburg, um eine Ladung Kies aufzunehmen.

Felizitas Lohmeyer steuerte routiniert auf den Anleger zu. Sie war eine der wenigen Kapitäninnen in der Binnenschifffahrt, die gemeinsam mit ihrem Mann Eike – als einziges, weiteres Besatzungsmitglied - die meiste Zeit des Jahres zwischen Holland und Polen pendelten.

Auf Außenstehende wirkte diese Aufgabenverteilung vielleicht wie ein Rollentausch, nicht so für Felizitas und Eike selbst. Beide hatten den Zustand bewusst herbeigeführt, waren zufrieden und genossen das gemeinsame Leben an Bord.

Der Lastkahn gehörte der Kl. III an, hatte eine Länge von siebenundsechzig Metern bei einem Ladevermögen von achthundert Tonnen und lag jetzt fest vertäut an der Anlegestelle.

Von hier aus ließ sich ohne großen Zeitaufwand ein Einkauf erledigen, wie sie aus Erfahrung wussten. Also nahmen sie die Räder von Bord und strampelten den leichten Anstieg hinauf, der in zirka achthundert Metern Entfernung in den Stadtteil Anderten führte, wo sie sich mit frischem Obst, Gemüse und Brot versorgen wollten.

Trotz des guten Wetters kamen ihnen nur auffallend wenige Spaziergänger oder Radler entgegen.

»Ich glaube, die Deutschen haben heute ihr erstes Spiel«, versuchte Eike, sich zu erinnern, der sich nichts Langweiligeres als Fußball vorstellen konnte. Was Felizitas genau so sah.

»Hocken wahrscheinlich alle vor der Glotze. Aber dafür ist es bestimmt schön leer beim Kaufmann.«

Und so war es dann auch.

Es war sogar vollkommen leer, weil heute Sonntag war und daher die meisten Läden geschlossen hatten.

Ohne die geplanten Einkäufe rollten sie also dreißig Minuten später den Abhang hinunter, Richtung Anlegestelle.

Beiden fiel das Fahrzeug auf, das am Ende der asphaltierten Strecke dicht an der Kanalseite stand. Aber beide dachten sich nichts dabei. Nicht in diesem Moment.

Das sollte sich erst am nächsten Morgen ändern.

***

Felizitas und Eike wurden fast gleichzeitig wach. Die Uhr zeigte 5.38 Uhr, als das anhaltende Brummen der Diesel und menschliche Stimmen ihren Schlaf beendete.

Beide konnten aufgrund der geringen Entfernung von ihrer Schlafkabine aus verfolgen, wie Beamte der Wasserschutzpolizei den Leichnam einer Frau aus dem Wasser zogen.

Eike wurde schlecht. Und auch Felizitas spürte, wie ihr die Knie weich wurden.

***

Hauptkommissar Tackert traf um kurz vor 8.00 Uhr am Fundort ein. Sein Kollege Sven war bereits vor Ort und ließ sich vom Rechtsmediziner Dr. Schröder über die ersten Erkenntnisse aufklären. Tackert war froh, dass Sven diesen Teil übernommen hatte. Er mochte Schröder nicht besonders. Fachlich gesehen war er ein ganz Großer … aber menschlich?

»Also: Der Gott in Weiß meint, wir haben Glück. Endlich mal eine Kanalleiche im Ganzen und nicht nur Einzelteile, die es in der Vergangenheit ja zur Genüge gab«, erklärte Sven eine Spur zu süffisant, wie Tackert fand. Aber vielleicht war es auch einfach nur noch zu früh am Tag?

»Der voraussichtliche Todeszeitpunkt liegt bei etwa achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr gestern. Todesursache steht noch nicht eindeutig fest. Es gibt keine offensichtlichen, äußeren Verletzungen. Auffällig sind ein paar Merkmale am Hals, die darauf hindeuten könnten, dass sie erwürgt wurde. - Als Täter kommt wahrscheinlich nur ein frustrierter Fußballfan in Frage, der die schmachvolle Niederlage gegen Mexiko nicht verkraftet hat … sagt Schröder. Weil sich der Zeitraum ja so schön deckt …«

Tackert warf Sven einen missfallenden Blick zu, der aber so tat, als hätte er nichts bemerkt, und fuhr einfach fort. »Schröder eben. Du weißt ja, wie er ist. - Wir haben am Opfer Papiere gefunden. Demnach handelt es sich um eine Annemarie Funke, neununddreißig Jahre alt, zuletzt gemeldet in der Sutelstraße, Hannover. Sie wurde heute früh von einem Bootsführer im Wasser treibend entdeckt, der die Kollegen der Wasserschutzpolizei verständigt hat. Und die haben sie dann aus dem Wasser geholt.« Sven deutet auf den Lastkahn, der in dreihundert Meter Entfernung lag. »Nicola befragt gerade die Besatzung des Kahns da. Zum jetzigen Zeitpunkt sind das die einzig möglichen Zeugen, sollte es denn tatsächlich welche geben.«

»Was sagen die Kollegen der Wasserschutzpolizei? Wo könnte sie ins Wasser abgelegt worden sein, wenn es nicht doch ein Unfall war?« Tackert deutete auf die Wasseroberfläche. »Hier gibt es gar keine nennenswerte Strömung, oder?.«

»Na ja. Die Schleusentore, der Wind, vorbeifahrende Schiffe? – Jan versucht bereits, das zu klären, und holt entsprechende Informationen ein. Aber unabhängig davon. In den paar Stunden kann sie eigentlich nicht so weit abgetrieben sein, denke ich.«

Tackert antwortete nicht, sondern starrte auf die grünlich-braun schimmernde Kanalbrühe, auf deren Oberfläche kaum Bewegung auszumachen war. Sein Blick wanderte in Richtung der Schleusentore, die im Westen in zirka sieben-, achthundert Metern Entfernung den Wasserweg zerschnitten.

Im Osten war in einiger Entfernung eine Brücke auszumachen. Entlang der hier vorhandenen Anleger war der Seitenbereich auf eine Länge von einem guten Kilometer in einer großzügigen Breite asphaltiert worden, bevor er wieder zu einem schmalen, sandigen Betriebsweg wurde, der weite Teile des Mittellandkanals begleitete. Gegenüber bildete ein steil ansteigender, dicht bewachsener Hang eine natürliche Barriere zum Gaimweg, der einzigen nahegelegenen Straße.

Genau in diesem Abschnitt hat sich jemand der Leiche entledigt, dachte Tackert, der an keinen Unfall glauben wollte.

Die Umstände waren ideal.

»Morgen, Richard.«

Tackert bemerkte erst jetzt, dass Nicola in der Zwischenzeit erschienen war.

»Der Kahn besteht nur aus zwei Mann Besatzung. Ein Ehepaar namens Lohmeyer. Die haben gestern gegen 17.30 Uhr hier festgemacht und sind dann für eine halbe Stunde mit dem Rad unterwegs gewesen. Als sie zurückkamen, stand da hinten ein dunkelgrauer Kombi. Der Wagen war gegen 20.00 Uhr wieder verschwunden und das ist dann auch schon alles, was die zwei beobachtet haben. Ansonsten kamen bis zum Anbruch der Nacht nur einige Leute mit ihrem Hund vorbei und ein paar Radler. Und auf dem Wasser nur wenige Sportboote.«

2

Die Aufgabenverteilung verlief routinemäßig.

Das fünf Personen umfassende Team um den Hauptkommissar Richard Tackert arbeitete schon seit ein paar Jahren zusammen und jeder wusste von den Stärken und Schwächen des anderen. Um 14.00 Uhr trafen sie sich zu einer ersten Zusammenfassung.

»Zu ihrer Person ist bisher Folgendes bekannt«, eröffnete Sonja das Gespräch. »Annemarie Funke, neununddreißig Jahre, ledig. Beide Elternteile verstorben, Geschwister gibt´s keine. Von Beruf Tierärztin mit eigener Kleintierpraxis im Klein-Buchholzer-Kirchweg. Die beiden jungen Mitarbeiterinnen dort berichten von einer intelligenten, selbstbewussten und warmherzigen Chefin. Offensichtlich konnte sie nicht nur gut mit Tieren, sondern auch mit Menschen. Ich hoffe, von den beiden noch mehr zu erfahren, aber aus verständlichen Gründen haben wir das Gespräch nach kurzer Zeit abgebrochen und uns für morgen verabredet.«

»Gut, was noch?«, fragte Tackert in die Runde.

»Ich beschäftige mich gerade mit ihrem Handy und dem Laptop«, übernahm Jan das Wort. »Da gibt es noch nicht wirklich viel zu berichten, außer einem scheinbar immer wiederkehrenden Kontakt zu einem gewissen Robert. Ich habe aber noch keine Ahnung, was für eine Rolle er spielt. Ansonsten zeigen die ersten Recherchen nichts Aufregendes. Es wird auch noch eine Weile dauern, bis sich da ein deutlicheres Bild ergibt.«

»Versuch als Erstes, ein Bewegungsprofil über das Handy zu erstellen«, schaltete Tackert sich ein. »Das Wichtigste ist jetzt, die letzten Stunden zu rekonstruieren. Aber das weißt du ja selbst. – Was haben wir noch?«

»Von den beiden Binnenschiffern wissen wir, dass in unmittelbarer Nähe zur angenommenen Tatzeit ein PKW abgestellt war, wobei weder Fahrzeugtyp noch Kennzeichen bekannt sind. Da sollten Anwohner befragt und eventuelle Überwachungsanlagen ausgewertet werden«, erklärte Nicola. »Die Schleuse ist übrigens 24 Stunden im Dienst und wird videoüberwacht. Der in Frage kommende Bereich ist einzusehen, allerdings mit Einschränkungen … und aus einer gewissen Entfernung. Ich habe Kopien der Aufnahmen von Sonntag 12.00 bis Montag 10.00 Uhr angefordert. Die sollten heute noch eintreffen. Von den Kollegen der Wasserschutzpolizei, sowie dem Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt haben wir die Bestätigung, dass der Leichnam kaum mehr als drei-, vielleicht vierhundert Meter weit abgetrieben sein kann. Das bedeutet, dass sie zwischen der Schleuse und dem Liegeplatz des Lastkahns der Familie Lohmeyer … ja, ins Wasser geworfen wurde. Denn davon gehen wir ja wohl derzeit aus, oder?«

»Auf jeden Fall«, schaltete sich Sven ein. »Jede Wette, dass es kein Unfall war.«

Niemand widersprach ihm. »Hat sich Schröder schon gemeldet? Gibt´s da vielleicht schon erste Ergebnisse?«

»Frühestens heute Abend«, informierte Tackert die anderen. »Gleiches gilt für die Kollegen der KTU, die ihre Wohnung gerade unter die Lupe nehmen.«

»Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass sie genauso gut von einem Schiff aus über Bord geworfen worden sein kann«, gab Nicola zu bedenken. »Und ich glaube nicht, dass jeglicher Schiffsverkehr auf dem Mittellandkanal, wo auch immer, registriert wird und somit kaum nachzuvollziehen ist, wer sich wann wo aufgehalten hat. Auch wenn der Schleusenbereich überwacht wird: Ein Schiff ohne Positionslichter wird in den unbeleuchteten Gebieten nachts hier kaum auszumachen sein.«

»Das wird sich hoffentlich klären, wenn weitere Ergebnisse vorliegen«, hoffte Sonja. »Weil, solltest du recht behalten, sehe ich schwarz für unsere Ermittlungen. Wie will man alle Bootsbewegungen überprüfen?«

Dazu hatte im Moment niemand eine Idee und jeder hoffte, nicht nach einer Antwort suchen zu müssen.

Nach der Besprechung fuhr Tackert nochmal nach Anderten.

Der Fundort war weiterhin abgesperrt und einige uniformierte Kollegen, sowie Mitarbeiter der KTU waren immer noch damit beschäftigt, nach relevanten Spuren zu suchen, die es offensichtlich nicht gab. Auch als er den asphaltierten Bereich verließ, um einige hundert Meter nach Osten zu marschieren, entdeckte er keine Auffälligkeiten.

Je länger er sich hier umsah, umso mehr gefiel ihm Nicolas Theorie.

Eine Leiche über Bord werfen, wäre in diesem Bereich sogar mitten am Tag kein Thema. In der letzten viertel Stunde waren ihm nur sehr wenig Menschen begegnet und auch die andere Kanalseite schien fast menschenleer. Außerdem würde der dichte Pflanzenwuchs zu beiden Ufern dafür sorgen, einen Körper für eine gewisse Zeit, zu verbergen.

Wir brauchen mehr Anhaltspunkte, sonst kommt hier nichts in Schwung, fasste er in Gedanken zusammen.

Bei der ersten Gelegenheit kletterte er die Böschung hinauf und ging, den Gaimweg entlang, zurück zum Auto. Hier oben gab es zahlreiche Parkmöglichkeiten für nur wenige Anwohner.

3

Sandra und Shirin hatten den ersten Schock überwunden.

Nachdem Sandra aus der Apotheke ein leichtes Beruhigungsmittel besorgt hatte, saßen nun beide im Aufenthaltsraum der Praxisräume und versuchten, die vergangenen Stunden aufzuarbeiten.

»Glaubst du wirklich, dass sie deswegen getötet wurde?« In Shirins Stimme lag nicht nur Zweifel. Sie hörte sich auch ein wenig spöttisch an. »Du weißt doch noch nicht einmal genau, ob das überhaupt stimmt. Was ist, wenn du dich verhört hast? Wenn an der ganzen Sache gar nichts dran ist? «

»Ich hab´ mich nicht verhört«, versuchte Sandra, sich zu verteidigen. »Annemarie war ja laut genug. Allerdings hast du recht. Es könnte auch möglich sein, dass es um ein ganz anderes Thema ging.«

»Ja. Und dann stell dir mal vor, was du ins Rollen bringen würdest! Dann würden vielleicht vollkommen Unschuldige übel verdächtigt. Am Ende gehen ganze Familien daran kaputt? Und das alles nur, weil du aus ein paar Worten eine Geschichte konstruierst, die vorne und hinten unter Umständen ein Hirngespinst ist. Also: Ich würde mir jahrelang Vorwürfe machen, wenn ich wüsste, dass ich wegen einer abenteuerlichen Story ein Leben zerstört habe. Aber bitte: Wenn du meinst, du musst der Polizei was sagen, dann tu es. Aber ich will damit nichts zu tun haben.«

Shirin wurde ein wenig sauer. Sie hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass Sandra auf die Idee kam, der Polizei einen Verdächtigen zu präsentieren, wo keiner war. Ein bisschen hatte sie den Verdacht, dass sich ihre Kollegin mal wieder profilieren will. Eine von Sandras Schwächen, wie sie fand.

»Aber ich habe es doch deutlich gehört«, wiederholte sich Sandra.

»Das glaube ich dir ja. Die Frage ist nur, in welchem Zusammenhang die Worte gefallen sind? Und genau zu wissen, mit wem sie überhaupt telefoniert hat, wäre auch nicht schlecht.«

»Das war garantiert der Typ. Wer soll das sonst gewesen sein?« Sandra klang etwas beleidigt. »So, wie sich ihre Stimme verändert hat, muss er es gewesen sein.«

»Wie sich ihre Stimme verändert hat …,« äffte Shirin sie nach und schüttelte den Kopf. »Du spinnst. Erzähl das bloß keinem.«

Sandra atmete ein Mal tief durch und sagte: »Dann denkst du also, ich soll besser meine Klappe halten?«

»Ja, das denke ich. - Und jetzt lass uns lieber darüber reden, wie das hier weitergehen soll? Ohne Ärztin können wir den Laden ja schlecht aufmachen.«

***

Die ersten Stunden einer Ermittlung sind wichtig, heißt es immer. Aber manchmal wenig gewinnbringend, wie in diesem Fall.

Tackert starrte auf das Aquarium. Die acht Goldfische hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn und halfen manchmal, den Kopf frei zu kriegen. Es gab einige Kollegen, die das belächelten, aber denen konnte er nur ein mildes Bedauern schenken.

Die Macht, die von acht Göttern in einem Becken ausgeht – er hatte den Fischen nämlich Götter-Namen zugeteilt - beflügelte auch seine Fantasie, ohne die er seine Laufbahn als Beamter der Mordkommission nicht bewältigen könnte.

Es gab Leute in seinem Umfeld, darunter auch Elisa, seine Herzallerliebste, die behaupteten, er habe manchmal zu viel davon.

Was für ein Blödsinn.

Zuviel Fantasie kann man gar nicht besitzen. Ein Mensch ohne Fantasie ist wie ein Vogel ohne Federn, hatte seine Mutter immer gesagt. Und recht hatte sie.

Das Telefon klingelte und als Tackert den Anrufer im Display erkannte, rutschte seine Wohlfühlskala schlagartig um zwei Punkte ab. Der Rechtsmediziner war dran.

»Ich bin´s Richard. Du willst es ja immer in einfachen Worten. Also, die Frau, die hier gerade bei mir auf dem Tisch liegt, ist im tadellosen Zustand … gewesen. Zumindest, als sie noch lebte. Jetzt natürlich nicht mehr, weil ihr vermutlich jemand ein Kissen auf das Gesicht gedrückt hat. Aber erst, nachdem sie eine recht ansehnliche Anzahl an K.O.-Tropfen zu sich genommen haben muss. Vermutlich nicht freiwillig. Ziemlich sicher aber in Verbindung mit Rotwein, den sie zum Fisch hatte. Das beides aber vermutlich schon freiwillig. Wie kann man nur Rotwein zum Fisch trinken? Krasser, kulinarischer Fehltritt. - Es gibt einige Faserspuren, die erst noch analysiert werden müssen. Das wird natürlich, wie du ja wissen solltest, etwas dauern. Genauso wie die Haaranalyse hinsichtlich der Gamma-Hydroxybuttersäure … nur um ganz sicher zu gehen. Der Todeszeitpunkt. Tja. Gar nicht so einfach. Geh mal davon aus, dass der bei Sonntag gegen 17.00 Uhr liegt. Plus minus eine Stunde. Damit schieße ich mir jetzt zwar ein Eigentor, weil ich somit meine eigene Behauptung widerlege, dass ein kranker Fußballfan der Täter ist. Kann aber gar nicht sein. Da hatte das Debakel ja gerade erst begonnen und niemand konnte wissen, dass die Deutschen das Spiel vergeigen werden. Obwohl das proletenhafte Verhalten - Rotwein zum Fisch - wiederum dafür sprechen würde. Ach so: Im Wasser hat sie nicht lange gelegen. Nicht länger als fünf oder sechs Stunden. - So, das war´s erst mal. Viel Spaß dann bei der Sucherei.«

»Hast du getrunken? Und überhaupt: Kannst du das nicht ein bisschen feinfühliger formulieren …?«

»Nee. - Shakespeare war noch nie so mein Ding …«

Der Mediziner legte auf und Tackert brauchte einen Moment, um seinen Ärger herunterzuschlucken. Was für ein Idiot. Aber immerhin. Jetzt gab es wenigstens zwei Zeitangaben, die wichtig waren.

Er machte sich eine Notiz:

Todeszeitpunkt: 17.00 Uhr (+-1)

Ablage ins Wasser: gegen Mitternacht

Dann sollte das Fahrzeug, das die Lohmeyers gesehen haben, keine Rolle spielen. Es sei denn, der Wagen fuhr zu nächtlicher Stunde ein zweites Mal vor, und sie haben davon gar nichts mitbekommen.

Hoffentlich ist auf den Aufzeichnungen der Schleusenanlage was zu erkennen.

Eine Antwort darauf konnte Sonja drei Stunden später liefern.

Früher als erwartet trafen die Aufzeichnungen der Anderter Schleuse ein und gemeinsam mit Nicola hatte sie sich sofort an die Auswertung gemacht.

Einen Großteil der Bilder konnten sie nicht gebrauchen. Natürlich deckten die meisten Kameras den Schleusenvorgang ab und nur zwei Einstellungen waren auf den im Osten liegenden Bereich gerichtet. Eine Kamera war sogar auf die Anleger ausgerichtet. Die Bilder bei Tageslicht waren auch unerwartet hilfreich. Aber mit einsetzender Dunkelheit verloren sie deutlich an Wert, da zwei der drei vorhandenen Straßenlaternen defekt waren und dreiviertel des Bereichs im Dunkeln lag.

Bewegungen waren kaum auszumachen. Mehr zu erahnen, als zu sehen. Aber es reichte aus, um zu erkennen, dass tatsächlich ein Fahrzeug um 23.43 Uhr am Lastkahn der Lohmeyers vorbeifuhr und am Ende der asphaltierten Strecke anhielt. Das Dumme war nur: Es war kein Kombi, sondern ein Kleintransporter. Eher ein Kleinbus. Und es ließ sich nicht eindeutig erkennen, ob jemand ausstieg. Sonja glaubte, eher nicht. Nach vierundzwanzig Minuten wendete der Wagen und verschwand.

»Vierundzwanzig Minuten, die ausreichen, um einen Körper die paar Schritte zum Wasser zu transportieren und reinzuwerfen«, sinnierte Tackert. »Obwohl dann wenigsten ein Schatten zu sehen sein sollte, oder? – Also: um ehrlich zu sein. Ich sehe gar nichts.«

»Ich auch nicht«, bestätigte Sonja.

»War auf dem Wasser was Auffälliges zu erkennen?«

»Nicht wirklich. Bis jetzt haben wir elf Lastkähne und siebzehn Sportboote gezählt und notiert. Aber wir sind auch erst bei 23.00 Uhr angelangt. Der entscheidende Zeitraum kommt also noch. Wie es aber scheint, durchfahren die Schleuse mit anbrechender Nacht immer weniger.«

»Okay. Ich glaube, das reicht für heute. Ich werde jetzt verschwinden und das solltet ihr auch machen.«

»Genau das hatten wir vor. Dann bis morgen …«

***

Tackert kam gerade rechtzeitig zur zweiten Halbzeit des Spiels Tunesien gegen England zu Hause an. Aber es gelang ihm nicht, sich auf das Match einzulassen.

»Wieder so ein blöder erster Ermittlungstag, der nichts einbrachte, Richard?«, fragte Elisa aufmunternd. »Oder habt ihr schon Erfolge zu verzeichnen?«

»Der einzige Erfolg besteht darin, dass keiner von uns während der Fundortbesichtigung in die braune Brühe gefallen ist«, gab Tackert etwas missmutig von sich, was er sofort bereute. Sehr viel freundlicher fügte er schnell hinzu: »Bis auf ihre Identität kennen wir bisher nur die Umstände, wie sie zu Tode gekommen ist. Nämlich durch K.O.-Tropfen und einem Kissen, dass ihr später jemand auf´s Gesicht gedrückt hat.«

»Hm. - Dann hätte man sich das Kissen ja sparen können, wenn man gleich die doppelte Menge an Tropfen genommen hätte«, überlegte Elisa. »Ist es nicht so, dass man eine Überdosis kaum überlebt?«

»Stimmt«, sagte Tackert nachdenklich.

Warum hatte dieses Argument bisher niemand zur Sprache gebracht, verdammt? War das nicht eventuell sogar ein enorm wichtiger Umstand?

»Das ist einer von vielen Punkten, die noch geklärt werden müssen. Aber erzähl mal lieber, wie dein erster Urlaubstag war?«

»Wenig spektakulär, würd ich sagen. Bis auf die Tatsache, dass mich deine Kollegen heute erwischt haben, weil ich zu blöd war, es nicht wie die Anderen zu machen, und nicht einfach die Flucht ergriffen habe. Am Ende hat mich das zehn Euro gekostet.« Elisa grinste ihn an und Tackert spürte sofort wieder dieses Wohlempfinden. Ihr Lächeln war der größte Schatz, den sie verschenken konnte, fand er.

Und das kostenlos.

»Und warum?«, wurde er neugierig?

»Weil ich mit dem Fahrrad auf der falschen Seite gefahren bin. Auf dem Radweg, wohlgemerkt. Ein bisschen lächerlich, wenn du mich fragst. Kapazitäten zu vergeuden, um brave Bürger zu berauben.«

»Tja. Wo es angebracht ist, schlägt das Gesetz mit aller Härte zu. Da gibt es kein Entrinnen und Entkommen … zumindest, wenn man nicht schnell genug in die Pedale tritt.«

»Spinner«, lachte Elisa und Tackert freute sich über die drei geschenkten Pluspunkte auf seiner Wohlfühlskala.

4

Der nächste Tag im Präsidium begann mit einem Anruf des neuen Chefs.

Eigentlich sollte Tackert vor ein paar Monaten die Stelle besetzen, aber er hatte abgelehnt und diese Entscheidung bis heute nicht einen Augenblick bereut.

»So geht das nicht, Richard. Ich habe das Gefühl, dass alle meine Anweisungen missachtet werden und sich scheinbar die Kollegen einen Scheißdreck darum kümmern, ob ich was anordne. Ich weiß, dass ihr ein eingeschworenes Team seid und ich befürworte das wirklich. Aber ob ihr wollt oder nicht. Wir müssen nun mal zusammenarbeiten. Und das setzt voraus, dass ich als Vorgesetzter akzeptiert werde. Ich habe keine Lust, mir dauerhaft aus den oberen Etagen Vorwürfe anzuhören, weil ich nicht informiert bin. Also: Wie ist der Stand der Dinge?«

»Der Stand ist der, dass es kaum etwas zu berichten gibt. Außerdem hieß es, dass du erst heute Nachmittag einen Zwischenbericht erwartest. Den hättest du auch bekommen. Unaufgefordert. Wir können unmöglich mit jeder Kleinigkeit auflaufen und berichten. Dann kommen wir zu gar nichts mehr. Ich denke, es wäre nötig, da noch mal feste Absprachen zu treffen, um solche Missverständnisse in Zukunft zu vermeiden. – Wir haben bisher nur die Todesursache und Identität. Keine Zeugen, kein Motiv, keinen Verdächtigen, keine ausreichenden Informationen zu ihrer Person.«

»Ist heute Nachmittag mehr zu erwarten?«

»Davon gehen wir aus.«

Tackert gelang es, das Gespräch kurz zu halten.

Er war sich immer noch nicht im Klaren, wie er den neuen Chef einschätzen sollte. Der zeigte einerseits nicht wenige Eigenschaften, die er als sehr sympathisch empfand. Aber da war auch dieser ganze Theoriequatsch, den man wahrscheinlich in den Schulungen mit auf den Weg bekommt, und den kein Mensch braucht.