Algorithmus - Wolfgang Glagla - E-Book

Algorithmus E-Book

Wolfgang Glagla

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Beschreibung

Manch ein Außenstehender würde vermutlich behaupten wollen, dass sich ein fast sechzigjähriger Kriminalbeamter in seiner Freizeit besser nicht mit so ungewöhnlichen Aktivitäten wie Demos, dem Christopher-Street-Day oder Auseinandersetzungen mit Nachbarn widmen sollte. Aber nicht so Richard Tackert. Er würde diesen Leuten entgegnen, dass schon viel zu häufig ein Fall gelöst wurde, weil genau dieses ein Bestandteil der Ermittlung war. Nämlich sein Leben zu leben und sich nicht zu verbiegen. Dass hin und wieder der Zufall eine Rolle spielt, wie im aktuellen Fall, würde er aber für sich behalten.

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Seitenzahl: 170

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Algorithmus

Wolfgang Glagla

Copyright: © 2019 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover

www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/

Umschlaggestaltung: Copyright: © 2019 Wolfgang Glagla

Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-748554-04-2

Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.

Wir müssen der Wandel sein, den wir in der Welt zu sehen wünschen.

Mahatma Gandhi

Wolfgang Glagla

Algorithmus

Kriminalroman

1

Das Gebäude Stenhusenstraße 3-7 war vollständig eingerüstet. Weite Teile Putz waren aus der Fassade rausgeschlagen. Einige Fenster fehlten, wurden durch milchige Plastikplanen ersetzt und erweckten den Eindruck, als wollten die Mauern ihr Leid herausschreien.

Man sah weder einen Bauarbeiter noch Bewohner oder Passanten.

Über allem waberte eine seltsame Kombination aus Bedrohung und Friedfertigkeit.

Ein hoher Drahtzaun umrundete das Objekt und diente unter anderem zur Befestigung eines auffälligen Banners, dass Interessierte darüber informierte, dass hier die WOMOVA GmbH Sanierungsarbeiten durchführte.

Auf überdimensionierten, zahlreich angebrachten Warnschildern war zu lesen, dass sich Unbefugte fernhalten sollten.

Die Häuserzeile gehörte zu weiteren zwölf Bauten, - verteilt auf drei Stadtteile - die in den 60er Jahren im Auftrag der Landeshauptstadt Hannover im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus ins Leben gerufen wurde.

Nachdem bereits um die Jahrtausendwende dieser Wohnraum seine Eigenschaft als Sozialwohnung verloren hatte, die Wirtschaftlichkeit immer häufiger in Frage gestellt wurde und der Schuldenberg der Stadtkasse stetig anwuchs, entschloss man sich zum Verkauf.

Sehr zur Freude von Spekulanten.

Um 18.31 Uhr ging in der Zentrale der Polizeidirektion ein Notruf ein.

Eine Frau namens Carolin Freitag meldete, in der Stenhusenstraße 7 den offensichtlich gewaltsam zu Tode gekommenen Mieter Dieter Kunze in dessen Wohnung vorgefunden zu haben.

Tackert und Sven machten sich umgehend auf den Weg. In einem zweiten Fahrzeug folgten die beiden Kolleginnen Sonja Raabe und Nicola Kleinschmitt.

Nach knappen zwei Stunden vor Ort traten alle vier den Rückweg ins Präsidium an, wo eine erste Besprechung stattfinden sollte.

»Warum ist Jan nicht dabei?«, fragte Sonja, als sie gemeinsam in Tackerts Büro saßen. »Oder hat er schon Feierabend gemacht?«

Gemeint war Jan Ackermann, der als fünfter die Ermittlergruppe um den Hauptkommissar Richard Tackert vervollständigte.

»Jan ist mit dem Laptop beschäftigt. Und es ist Eile geboten, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Da eröffnet sich wohl eine einmalige Gelegenheit«, machte Tackert es spannend.

»Auf dem Laptop des Toten gibt es eine App, mit der man sein eigenes Smartphone steuern kann. Also, man hat Zugriff auf das eigene Handy. Und Jan will jetzt, solange das Gerät noch eingeschaltet ist, über diese App die Kamera aktivieren. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir davon ausgehen, dass der Täter das Handy an sich genommen hat und die Chance, ihn über das Gerät möglicherweise zu identifizieren, können wir uns natürlich unmöglich entgehen lassen.«

»Wie?«, fragte Nicola ungläubig. »Ist Jan problemlos in den Rechner gekommen? War der Laptop echt nicht passwortgeschützt?«

»Doch«, schaltete sich Sven ein. »Aber seine Lebensgefährtin wollte ja auch an dem Treffen teilnehmen, war also vor Ort. Und als sie mitbekommen hat, dass wir das Gerät mitnehmen, hat sie uns darauf hingewiesen, dass sie das Passwort kennt.«

»Das ist ja unglaublich«, meinte Nicola.

»Aber dann wissen wir doch auch, wo sich das Smartphone jetzt befindet?«

»Ja«, bestätigte Tackert. »Aber das hilft uns nicht weiter. Es bewegt seit über einer Stunde in der Innenstadt. Ist also sinnlos, da was in die Wege zu leiten. - Okay, fassen wir zusammen, was wir bisher haben: Um 18.00 Uhr war am heutigen Tag in der Wohnung des Opfers ein Treffen anberaumt. Thema war zum wiederholten Male der Widerstand gegen die Immobilienfirma, die seit zehn Monaten versucht, die verbliebenen vier Mieter - von ursprünglich dreißig - aus ihren Wohnungen rauszuekeln. Bei den vier Bewohnern handelt es sich neben unserem Opfer noch um Jules und Carolin Freitag aus Nr. 7, Uwe Grieswald aus Nr. 5 und Martina Zenker, ebenfalls aus Nr. 5. - Als Dieter Kunze heute zur vereinbarten Zeit auf mehrfaches Klingeln nicht reagierte, entschließt sich das Ehepaar Freitag, die einen Schlüssel zur Wohnung besitzen, nachzusehen. Zu diesem Zeitpunkt trifft auch Natalia Sasse, die Lebensgefährtin Kunzes ein. Sie ist Anwältin und hat die Gruppe in rechtlichen Belangen beraten. Nicht ganz unwichtig erscheint vielleicht, dass das Opfer der führende Kopf der Gruppe war. Alle Maßnahmen wie Öffentlichkeitsarbeit, Verhandlungen mit Behörden oder den Stadtwerken wegen einer nicht vorhandenen Wasserversorgung und so weiter, liefen über ihn. Er war es auch, der sich mit allen Mitteln dem Psychoterror der WOMOVA GmbH als Erster entgegenstellte, andere Mieter ermutigte, sich nicht alles gefallen zu lassen, und Ideen parat hatte, wenn neue Schikanen auf sie zukamen. Im Moment deutet einiges darauf hin, dass das Opfer durch einen einzelnen Schlag mit dem an Tatort sichergestellten Baseballschläger zu Tode kam. Schröder schätzt vorerst den Todeszeitpunkt auf ca. 17.00 Uhr. Genaueres werden wir hoffentlich morgen wissen. Zum jetzigen Zeitpunkt entwickelt sich der Verdacht, dass zwischen den Vorkommnissen der letzten Monate hinsichtlich angestrebter Zwangsräumungen durch die WOMOVA und dem gewaltsamen Tod Kunzes ein Zusammenhang bestehen könnte. Die restlichen Bewohner berichten übereinstimmend von Bedrohungen oder Einschüchterungsversuchen durch Schlägertypen, mutmaßlich von den Immobilienfritzen beauftragt. Das heißt: Wir sollten noch heute Abend alles an Informationen zur WOMOVA … aber auch über Dieter Kunze zusammentragen. Außerdem brauchen wir eine Liste der Mieter, die in den letzten zwölf Monaten ausgezogen sind.«

»Und was ist mit der Familie Freitag, mit Grieswald und der anderen? Wie heißt die noch gleich? Die sollten wir auch überprüfen …«

Nach einem kurzen Blick auf seine Notizen sagte Tackert: »Martina Zenker heißt sie. Natürlich werden die auch überprüft …«

Auf dem Gang hörte man Schritte und kurz darauf stand Jan im Raum.

»Kommt mal mit rüber. Das müsst ihr euch angucken. Nach einigen misslungenen Versuchen habe ich was. Äh, was ziemlich Außergewöhnliches. Das müsst ihr selber sehen. Das glaubt mir sonst keiner. Außerdem befürchte ich, dass wir nichts mehr erreichen werden. Das iPhone ist ausgestellt, vielleicht der Akku leer oder was weiß ich … Jedenfalls ist die Verbindung tot.«

2

Alle vier starrten irritiert auf die Bilddatei, die Jan aufgerufen hatte. Nach und nach veränderte sich bei jedem der Gesichtsausdruck.

Sonja und Nicola fingen an zu schmunzeln, Sven musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen, und Tackert überlegte, ob sich Jan hier einen dämlichen Scherz erlaubte.

Das Foto zeigte den Kopf einer Ente, die offensichtlich neugierig den seltsamen Fremdkörper untersuchte und zielgenau in die Kamera blickte.

»Geiles Selfie«, lachte Sven los. »Gestochen scharf. Erstklassiges Fahndungsfoto.«

Tackert hörte gar nicht hin, sondern überlegte, wie das zustande gekommen sein könnte.

»Hast du noch mehr Fotos?«, fragte er Jan. »Also nicht von der Ente, sondern was Brauchbares?«

»Nee. Alles was ich davor aufgenommen habe ist das Dach eines Autos, - gleich zweifach - eine sieben Sekunden Videodatei mit dem hannoverschen Abendhimmel, im Hintergrund Teile des Rathausdachs … eine Gruppe Baumkronen, zwei Versuche ohne jedes Ergebnis und eben die Ente, die aber nun wirklich gut getroffen ist. – Ich tippe auf den Maschpark. Ich habe zwei Streifenwagenbesatzungen hingeschickt. Vielleicht haben wir Glück.«

»Gut«, sagte Tackert lapidar. »Schon irgendwas auf dem Handy entdeckt, was wichtig sein könnte?«

»Noch nicht. Und wie es aussieht, wird das auch eine Weile dauern. Ziemlich viel drauf, auf dem Ding.«

»Okay. Dann mach für heute Schluss.«

Als einziger junger Familienvater innerhalb der Gruppe achtete Tackert darauf, dass die Dienststunden bei Jan nicht ausuferten.

»Nicola kann das hier erstmal bis morgen übernehmen.«

Alle machten sich wieder an ihre Arbeit und zwei Stunden später ordnete der Hauptkommissar den Feierabend an.

Für die bevorstehenden Aufgaben am morgigen Tag schienen sie ausreichend gerüstet und konnten hoffentlich erste Ergebnisse einfahren.

Nur Kunzes Handy hatten sie nicht gefunden.

Trotzdem schmunzelte Tackert auf dem Nachhauseweg einige Male vor sich hin, als er an das Foto denken musste.

***

Die niedersächsische Niederlassung der WOMOVA GmbH hatte ihren Sitz in der Angerstraße im Stadtteil Bemerode. Ein in großen Flächen verglaster, moderner Bau strahlte auf zwei Etagen Macht und Wohlstand aus. Fast arrogant thronte das Gebäude zwischen schlichten Fassaden in schlichten Farben.

Tackert und Sven waren nicht angemeldet und mussten sich an der Rezeption mit einer schlechtgelaunten brünetten Frau mittleren Alters rumärgern. Patzig und mit arrogantem Unterton erklärte sie den beiden Beamten, dass weder Herr Dr. Schreiner, noch Frau Friesen zu sprechen seien. Im Hintergrund hockte ein Muskelprotz, dessen uniformähnliche Kleidung auf den Job eines Securitymitarbeiters hinwies.

»Und ohne eine Erklärung, in welcher Angelegenheit Sie die Geschäftsleitung zu sprechen wünschen, schon gar nicht. Herr Dr. Schreiner und Frau Friesen haben Termine, die eingehalten werden müssen und möchten nur in dringenden Ausnahmesituationen gestört werden. Ausnahmslos. Und da Sie mir nicht verraten wollen, wie sich diese Situation darstellt, sehe ich keine Möglichkeit, so kurzfristig ein Gespräch möglich zu machen. Tut mir leid, meine Herren.«

Tackert spürte, dass er bald die Geduld verlieren würde. Ähnlich sinnlose Ansagen hatte er sich in den letzten dreißig Jahren oft genug anhören müssen.

Für gewöhnlich war er ein ruhiger, entspannter Charakter. Aber es gab Situationen, in denen er auch ein wenig aus der Haut fahren konnte.

Und dieser Augenblick bahnte sich langsam aber sicher an.

»Frau..äh …« Tackert warf einen Blick auf das Namensschild, das auf dem Tresen seitlich platziert war.

»Frau Seidensticker. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie sagen mir jetzt, wo ich hier im Haus einen Vertreter der Geschäftsleitung finde, oder wir machen uns auf den Weg und suchen selbst. Das wird aber nicht ohne eine gewisse Aufregung ablaufen, das kann ich Ihnen versichern. Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie selbstverständlich die Polizei rufen.«

Tackert war mit jedem Satz etwas impulsiver geworden und das spürte auch die Frau.

»Zimmer 307. Zweite Etage«, kam fast geflüstert eine Antwort.

»Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, das die Herrschaften wenig erfreut sein werden«, fügte sie ein bisschen lauter hinzu.

Tackert reagierte nicht darauf, sondern gab Sven ein Zeichen, ihm zum Fahrstuhl zu folgen.

Oben angekommen fanden sie schnell die 307 und Tackert stolperte förmlich, ohne anzuklopfen, in das Zimmer, wo ein junger Mann hinter seinem Schreibtisch hochschreckte und sie verdutzt anstarrte.

»Guten Morgen«, sagte der junge Mann, der sich scheinbar wieder gefangen hatte, freundlich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Morgen«, knurrte Tackert. »Wir möchten Herrn Schreiner sprechen.«

»Dr. Schreiner«, kam lächelnd der Einwand. »Haben Sie einen Termin?«

Tackert fischte seinen Dienstausweis aus der Tasche und fixierte sein Gegenüber. »Kriminalhauptkommissar Richard Tackert von der Mordkommission Hannover. Und nein, ich habe keinen Termin.«

»Mordkommission?«, wunderte sich der Mitarbeiter. »Ist etwas passiert?«

»Nochmal: Wir müssten Herrn Schreiner bitte dringend sprechen. Oder jemand anderen von der Geschäftsführung.«

»Dr. Schreiner! Herr Dr. Schreiner legt sehr viel Wert auf eine korrekte Anre …«

»Ist das sein Büro?«

Tackert deutete auf eine lederverkleidete, massive Tür.

»Ich will gerne versuchen, den Herrn Dr. Schreiner für Sie …«

Jetzt hatte auch Sven die Schnauze voll, machte ein paar zielstrebige Schritte Richtung Bürotür und drückte die Klinke herunter. Tackert folgte ihm.

Mit dem ersten Blick erkannten sie, dass sie einen imposanten Raum betraten.

Hochmoderne, kostspielig eingerichtete hundertfünfzig Quadratmeter öffneten sich.

»Julian«, brüllte eine Stimme im Hintergrund. »Was soll das? Wer sind diese Leute? Was haben die hier zu suchen? Ruf die Security!«

Tackert kam dem jungen Mitarbeiter zuvor.

»Mein Name ist Tackert, Kripo Hannover. Das ist mein Kollege Weiss. Wir müssen Sie bitten, uns für einige dringend erforderliche Antworten zur Verfügung zu stehen. Jetzt! Es geht um eine Straftat, die sich gestern am frühen Abend in der Stenhusenstr. 7 ereignet hat. Die ganze Sache ist doppelt prekär, weil es sich nicht nur um Ihr Gebäude handelt, sondern auch, weil das Opfer einer Ihrer Mieter ist, dem es bisher erfolgreich gelang, sich gegen eine Zwangsräumung zu wehren. Können wir reden?«

Dr. Jochen Schreiner schaute Tackert erst fragend, dann irritiert an.

»Oh Gott? In der Stenhusenstraße? Das ist ja fürchterlich. Als ob wir da nicht schon genug Scherereien hätten. Was ist passiert? Nehmen Sie doch Platz. Stellen Sie bitte ihre Fragen, meine Herren. Kaffee? Tee? Etwas anderes?«

»Danke, nein.« Tackert fiel auf, dass er gar nicht nachfragte, um was für eine Straftat es sich dabei handelte? Was ihm noch auffiel, war die überhebliche Selbstsicherheit und Arroganz, die der Mann bereits mit den wenigen Worten offenbarte.

»Es geht um Dieter Kunze. Herr Kunze ist gestern am späten Nachmittag in seiner Wohnung tot aufgefunden worden. Es deutet alles darauf hin, dass er gewaltsam zu Tode kam. Zwischen dem Verstorbenen und der WOMOVA gab es seit Monaten Auseinandersetzungen. Ich glaube, ich kann mir nähere Erläuterungen sparen, Sie sind da bestimmt bestens unterrichtet. Nach Aussage der Mieter, die sich ebenfalls gegen eine Zwangsräumung wehren, gab es in der Vergangenheit einige ... sagen wir, äußert unschöne Vorkommnisse. Unter anderem Drohungen und massive Einschüchterungsversuche. Was sagen Sie dazu?«

Dr. Schreiner hatte aufmerksam zugehört und ließ einen Moment verstreichen, bevor er zu einer Antwort ansetzte.

»Da muss ich leider vehement widersprechen. Es gab von unserer Seite nie Drohungen gegen diese Leute. Na klar. Die Situation war und ist verfahren, aber alles, was uns als Unternehmen zur Last gelegt wurde und immer noch wird, findet seine Begründung in der Tatsache, dass die unnötigen Bauverzögerungen, für die ausschließlich die Mieter verantwortlich sind, ein Heidengeld kosten. Das kann sich auf Dauer kein Unternehmen leisten. Wir haben uns lange genug schwergetan, Wasser- oder Stromversorgung zu unterbrechen. Wir haben lange genug gezögert, diese Leute tagtäglich einer Lärm- und Staubbelästigung auszusetzen. Monatelang haben wir Rücksicht genommen. Aber irgendwann muss Schluss sein. Außerdem haben wir alles Menschenmögliche versucht, rechtzeitig mit allen Mietern des Gebäudes nach vernünftigen Lösungen zu suchen. Wir haben Abfindungen angeboten, Umzugshilfen. Wir haben alternativen Wohnraum in Aussicht gestellt. Und es gab ja auch einige Bewohner, die auf die entsprechenden Angebote eingegangen sind. Aber Herr Kunze … und auch die anderen wollten nichts davon in Anspruch nehmen. Bei allem Mitgefühl, aber Herr Kunze ist - oder besser war - ein Störenfried allererster Güte. Der hat jeden, aber auch jeden Vorschlag abgelehnt. Und hat uns ständig Böswilligkeiten unterstellt. Jedes unvorhersehbare Ereignis zum Nachteil der noch anwesenden Mieter war eine vorsätzliche Schikane unsererseits, hat er behauptet.«

»Herr Schreiner,« schaltete sich Sven ein, dem mittlerweile anzusehen war, was er von dem Gesprächspartner hielt, »wenn man Ihnen so zuhört, gewinnt man den Eindruck, Ihr Unternehmen sei in erster Linie am Wohlergehen der Mieter interessiert. Dabei hat die WOMOVA einen unglaublich schlechten Ruf. Bundesweit gibt es vergleichbare Vorfälle, in denen von Schikanen, von massiven Einschüchterungen die Rede ist. Die seltsame Goldgräberstimmung unter Immobilienspekulanten hat sich mittlerweile überall herumgesprochen. Also verschonen Sie uns doch bitte mit der Lobhudelei und erklären Sie uns lieber, wer die beiden Typen sind, die versucht haben, die verbliebenen vier Mieter in der Stenhusenstraße einzuschüchtern.«

»Was wollen Sie mir unterstellen?«, erregte sich der Geschäftsführer. »Von diesen … angeblichen Einschüchterungen höre ich zum ersten Mal. Was für zwei Typen überhaupt? Ich möchte Sie mit aller Entschiedenheit auffordern, derartige Anschuldigungen zu unterlassen. Außerdem bitte ich Sie um eine korrekte Anrede: Dr. Schreiner, bitte.«

»Sie fühlen sich respektlos behandelt?«, reagierte Tackert energisch.

»Was glauben Sie, wie respektlos behandelt sich die Mieter fühlen, die Sie aus ihren Wohnungen rausekeln? - Ich denke, wir können das Gespräch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt für heute abbrechen. Ich habe nicht den Eindruck, dass ein weiterer Gesprächsverlauf zu was führen könnte. Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, ob wir uns nicht in naher Zukunft zu einem offiziellen Verhör im Präsidium wiedersehen werden. Ich wünsche Ihnen noch einen gewinnbringenden Tag. Auf Wiedersehen, Herr Schreiner.«

Tackert erhob sich, verließ das Büro und konnte gerade noch Svens spöttisches Lächeln einfangen, das er dem Immobilienhai zum Abschied schenkte.

»Ich hasse diese Typen«, sagte Tackert, als sie die Treppen hinunterstiegen. »Gier und Arroganz. Fehlt nur noch die Gewalt. Dann wären die für mich drei schlimmsten Eigenschaften vereint.«

»Warum hast du so früh abgebrochen?«, wollte Sven wissen.

»In diesem Haus werden wir nie etwas erfahren, was uns auch nur einen noch so kleinen Schritt weiterbringen wird. Außerdem glaube ich, es ist besser, wir lassen ihn im Ungewissen und setzen nur einen gezielten Nadelstich. Vielleicht profitieren wir zu einem späteren Zeitpunkt davon.«

***

Sonja saß bei Carolin Freitag in der Küche und erlebte hautnah, was es bedeutete, einen Haushalt ohne Strom und Wasser zu versorgen.

Ein kleiner Generator auf dem Balkon versorgte die Kaffeemaschine, die mit Mineralwasser aus einer PET-Flasche zur Hälfte gefüllt war.

»Man gewöhnt sich ein bisschen dran«, lächelte die Frau, die Sonja auf Mitte dreißig schätzte. »Aber ich glaube, dass sich das alles jetzt sowieso bald erledigt hat. Ohne Dieter wird sich der Widerstand nicht aufrechterhalten lassen. Keiner von uns besitzt diese Energie, gegen die ständigen Schikanen anzukämpfen. Sie können sich nicht vorstellen, wie nervenaufreibend das ist. Und wir sind noch verhältnismäßig jung. Uwe und Martina … also Herr Grieswald und Frau Zenker … sind ja schon beide weit über fünfzig, glaube ich. Für Herrn Grieswald ist es besonders schlimm. Der wohnt ja schon über fünfundzwanzig Jahre hier und hat keine Familie, kaum Freunde. Das der das durchhält. - Aber Dieter hatte sowas an sich, Leute mitzureißen. Zu überzeugen. Scheiße Mann…« Sie brach ab und kämpfte gegen die Tränen an, die vereinzelt die Wange runter liefen.

»Wissen Sie schon, was genau passiert ist?«

»Nein. Solange die rechtsmedizinische Untersuchung nicht abgeschlossen ist, können wir nur Vermutungen anstellen. - Frau Freitag, Sie haben uns ja bereits gesagt, dass sich gestern niemand im Gebäude aufgehalten hat, dass Sie niemanden gesehen haben. Sie haben aber auch von zwei Unbekannten gesprochen, die Sie und die anderen belästigt haben. Bedroht. Was genau ist denn da vorgefallen?«

Carolin Freitag goss den Kaffee ein und setzte sich Sonja gegenüber an den Tisch. »Also, dass uns hier ständig das Wasser abgedreht wird und sich angeblich nicht wieder anstellen lässt oder die E-Leitungen manipuliert werden, das kennen wir ja zu Genüge. Bauschutt vor der Eingangstür, vor der Wohnungstür, ein defektes oder verstopftes Abwasserrohr oder ein angeblicher Rohrbruch in den Räumen über uns sind uns auch nicht neu. Aber Leute, die wie Handwerker gekleidet uns gezielt drohen, wir sollten hier besser verschwinden, sonst könnte es passieren, dass uns eines Tages was zustößt, hat schon eine andere Qualität. Ist zweimal vorgekommen. Das erste Mal vor zirka sechs Monaten, das zweite Mal in leicht abgeänderter Form vor etwa zehn Wochen.«

»Können Sie die Leute beschreiben? Würden Sie sie wiedererkennen?«

»Ich weiß es nicht. Hier sind in den letzten zwölf Monaten so viele Leute ein- und ausgegangen, so viele unterschiedliche Handwerker. Jedes Mal tauchen hier neue Leute auf und die beiden Betreffenden haben uns ihre Bemerkungen quasi im Vorbeigehen zugeworfen. Ich glaube, ich könnte noch nicht einmal sagen, ob es in beiden Fällen die gleichen Typen waren.«

»Hatten Sie alle vier diese Begegnung?«

»Ja. Jeder von uns wurde auf die gleiche Art und Weise bedroht. Wir haben ganz schön Schiss gekriegt, nur Dieter hat sich darüber lustig gemacht. Er meinte, das sei ein gutes Zeichen, weil es nur bedeuten kann, dass wohl die WOMOVA ihre Zwangsräumungen nicht durchkriegt.«

»Wie gut kannten Sie Herrn Kunze? Können Sie mir etwas über sein Privatleben sagen? Über seine Interessen, Vorlieben?«

»Ich fürchte, nein. Es gab zwar schon vorher einen guten Nachbarschaftskontakt, der jedoch erst intensiver wurde, nachdem das Gebäude von der Stadt verkauft wurde und sich dadurch hier alles veränderte. Und außerdem wohnte Dieter hier erst seit nicht einmal zwei Jahren. Aber Frau Sasse wird Ihnen weiterhelfen können. Die beiden waren schon längere Zeit ein Paar, glaube ich zumindest.«

Sonja stellte noch ein paar Fragen und machte sich anschließend auf den Weg ins Zooviertel, wo sie einen Termin mit Natalie Sasse hatte.

Jan beschäftigte sich schon den ganzen Vormittag mit den Handydaten, die auf der App zu finden waren. Zum jetzigen Zeitpunkt fiel ihm aber nichts auf, was von besonderer Bedeutung schien oder gar Hinweise auf den Täter liefern könnte. Ganz im Gegenteil. Hier machte vieles einen wirren Eindruck und es fiel ihm schwer, Zusammenhänge zu konstruieren. Das lag auch daran, dass ein überwiegender Teil der Kontakte offensichtlich aus Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Bayern stammte.

Er schloss die App-Datei und begann mit der Untersuchung des Rechners, der eine Vielzahl verschiedener Ordner enthielt.

Nachdem er sich eine Übersicht verschafft hatte, befasste er sich zunächst mit dem Mailverkehr, der ihn eine ganze Weile aufhielt und am Ende dazu führte, dass er diverse Inhalte ein zweites und drittes Mal zunächst überflog, später detailliert zerlegte.

Die Inhalte, mit denen er sich auseinandersetze, waren durchweg mit abstrakten Umschreibungen versehen, mit Methapern, und ergaben zum Teil keinen Sinn. Spiegelten aber mit etwas Fantasie einen Bereich wieder, der mit Kunzes offizieller Berufsbezeichnung als Eventmanager wenig zu tun hatte.

Ein Bereich, in dem Anfeindungen durchaus möglich waren.

Auch ein Mordmotiv wäre denkbar.

Mehr als das.

Jan war gespannt, was die anderen Ordner hergaben.

Für Nicola stand heute eine Premiere an.