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Der Kern der Gruppe bestand aus den beiden uniformierten Kollegen und einem Dutzend weiterer Leute, die einen Kreis bildeten, der sich nur wenige Meter vom nordöstlichen Ufer des Döhrener Teichs entfernt, aufhielt. Am Weg standen Spaziergänger in kleinen Grüppchen. Tackert und Sonja steuerten auf die Kollegen zu. Sie wussten genau, was sie erwartete, aber der Anblick machte sie dann doch für einen Augenblick fassungslos. - Was für eine Sauerei. Unbegreiflich!
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Anthropogen
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2016 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2016 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
Wer eine Maske trägt, kann nicht erwarten,
dass man seine Tränen sieht.
- Unbekannt -
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Er hatte nur einen Versuch.
Sollte er sein Ziel verfehlen, wäre eine Wiederholung mit einem unkalkulierbaren Risiko verbunden, das er keinesfalls eingehen wollte.
Der Schuss würde nicht nur Passanten aufhorchen lassen, auch sein Zielobjekt würde Deckung suchen. Ein erneuter Versuch wäre zu zeitaufwendig und erschien daher unsinnig. Also musste er treffen, oder das Vorhaben für heute abbrechen, und sich schnell aus dem Staub machen.
Geduldig – aber trotzdem voller Nervosität - wartete er im Schutz einiger wild wuchernder Sträucher, die sich in Ufernähe an einem der südlich gelegenen Gewässer der Ricklinger Kiesteiche breit gemacht hatten. Er hatte freie Sicht auf die Fläche, wo er sein Ziel anvisieren wollte.
Von dem war allerdings im Augenblick noch nichts zu sehen.Aber das beunruhigte ihn nicht. Darauf war er vorbereitet.
Als sein Kontaktmann ihm vor einigen Wochen das Angebot unterbreitete, hatte er nicht nur ein Für und Wider abgewogen, sondern auch Informationen über das Zielobjekt eingeholt. Dessen Tötung würde für reichlich Wirbel sorgen, und Nachforschungen von verschiedenen Seiten nach sich ziehen.
Aber er war ein vollkommen unbeschriebenes Blatt. Er war nirgends aktenkundig und alles andere als ein berufsmäßiger Killer. Selbst kleine Fehler würden nicht auf seine Spur führen.
Wer letzten Endes der maßgebliche Auftraggeber war, wurde ihm nicht mitgeteilt. Und er wollte es auch gar nicht wissen, obwohl er einen starken Verdacht hegte.
Die angebotene Summe war überzeugend und am Ende waren nur noch leichte Zweifel vorhanden. So begann er mit einer intensiven Planung.
Seine Wahl fiel auf den heutigen Tag.
Die Entfernung von zirka sechzig Metern sollte kein Problem darstellen. Auch die leichten Niederschläge nicht, die gerade – wie angekündigt – einsetzten, und dazu beitragen würden, dass noch weniger Menschen zu dieser frühen Morgenstunde unterwegs waren als gewöhnlich.
Ein großer Vorteil war die Lage des einzig möglichen Tatortes.
Dieser Abschnitt der Ricklinger Kiesteiche wurde nur von einem kleinen Teil Erholungssuchender frequentiert. Und eine Tarnung als unscheinbarer Angler, die sich hier tagtäglich bewegten, würde ihn quasi unsichtbar machen. Auch auf seiner Flucht.
Inzwischen war es fast fünf Uhr geworden.
Um ihn herum erwachte die Natur und in der Ferne war ein Radler auszumachen, der vermutlich auf dem Weg zur Arbeit, die Abkürzung zwischen den westlich gelegenen Weiden nahm. Jetzt sollte es nicht mehr lange dauern, bis sich eine Schussmöglichkeit ergeben würde. Und das war auch gut so: Mit zunehmender Wartezeit erhöhte sich die nun deutlich spürbare Unruhe.
Plötzlich war eine Bewegung auszumachen und ein Körper wurde sichtbar. Endlich!
Ohne Zögern legte er an, konzentrierte sich auf die Atmung - und drückte ab.
***
In dichten Reihen standen die Menschen am Straßenrand oder saßen auf den eigens aufgestellten Tribünen.
Das gute Wetter hatte wieder annähernd zweihunderttausend Schaulustige mobilisiert, die sich von der Sonne blenden ließen. Oder vielleicht auch von den Uniformen, deren traditionelle Zusammenstellung aber keinen Farbenrausch verursachte.
Der über zehn Kilometer lange Zug wurde am Morgen gegen zehn Uhr mit der Aufforderung: »Im Doublierschritt, Marsch« vom Oberbürgermeister am neuen Rathaus auf seine etwa drei Kilometer lange Reise geschickt. Das Ziel war der Schützenplatz, wo gerade noch die Schnapsleichen der vergangenen Nacht zur Seite geräumt wurden und zwischen Geisterbahn und Höllenblitz ein mauscheliges Plätzchen finden würden.
Hannovers Schützenausmarsch war der Größte weltweit.
Über zehntausend Teilnehmer in mehr oder weniger angetrunkenem Zustand schoben sich durch die Innenstadt und lachten und winkten, was die Muskulatur hergab. Die diversen Spielmannszüge sorgten für die richtige Stimmung unter den zirka siebzig Schützenvereinen, denen sich zahlreiche Trachten-und Handwerkergruppen angeschlossen hatten. Auch einige Mitglieder der Bundes- oder Kommunalpolitik, sowie weitere Prominente des Landes Niedersachsen, ließen sich das Spektakel nicht entgehen und marschierten mit. Ergänzt von diversen, aufwendig geschmückten Festwagen.
Der NDR sendet live und erklärte der Bevölkerung die richtige Handhaltung beim Trinken der traditionellen Lüttje Lagen, ohne die hier gar nichts ging.
Wenn dann ein Spielmannszug Die lustigen Hannoveraner oder die Schützenliesel anspielte, brannte die Luft. Und spätestens beim Erklingen des Niedersachsenliedes drohte auch der Ballerkalle vom Fahnenmast zu stürzen.
Im letzten Viertel des Festumzugs bewegten sich die Mitglieder des Schützenvereins Döhren von 1903 e.V. in Richtung der Bruchmeisterallee, und wurden von den Kameras eingefangen. Die Zuschauer an den Fernsehgeräten sahen in fröhliche Gesichter, ahnten aber nicht, dass ein Vereinsangehöriger heute früh völlig unerwartet der Veranstaltung ferngeblieben war, und leblos mit einer erheblichen Kopfverletzung am Ufer der Leine im Treibgut festhing.
***
Richard Tackert fluchte leise vor sich hin.
Eigentlich war der Sonntag anderweitig verplant. Neben ihm saß sein Kollege Sven am Steuer und hatte offensichtlich keine Probleme mit dem verpatzten Wochenende.
»Ruft die Tochter ihre Mutter: Kannst du mir bitte mal den Waschlappen holen? – Antwortet die Mutter: Geht nicht! Der ist Zigaretten holen.«
Tackert verdrehte die Augen, wie fast immer, wenn Sven einen seiner merkwürdigen Witze zum Besten gab, die in den vergangenen Jahren meist nur wenig Erfolg zeigten.
»Da hinten an der Brücke müsste es sein«, antwortete er nur.
Sie befanden sich auf der Wilkenburger Straße und passierten gerade die Gebäude des Angelvereins. Östlich des Vereinsgeländes schlängelte sich die Leine durch die Masch, wo heute Morgen zwei Paddler den Leichnam eines Mannes entdeckt hatten. In einer leichten Biegung zwischen dichten Zweigen, die bis ins Wasser herabhingen, hatte sich Treibgut gesammelt, in dem sich der Körper verfangen hatte.
Der Bereich war schwer zugänglich, und als die beiden Kriminalbeamten die Fundstelle erreichten, war die Feuerwehr noch mit der Bergung beschäftigt.
Wenig später traf auch der Rechtsmediziner Dr. Schröder ein, den Tackert nicht ausstehen konnte.
»Hätte das nicht jemand anders übernehmen können?«, maulte Dr. Schröder lautstark. »Einmal im Jahr ist Schützenausmarsch. Und ausgerechnet dann wird man abgerufen.«
Weder Tackert noch Sven gingen auf die Bemerkung ein, und taten, als wären sie gerade in ein wichtiges Gespräch vertieft. Dreißig Minuten später erklärte der Mediziner, dass die Person aller Wahrscheinlichkeit nach erschlagen wurde und das dieses vermutlich zwei bis drei Tage zurückliegt. Genauere Ergebnisse sind aber nicht vor morgen zu erwarten.
Wenigstens konnte noch vor Ort die Identität geklärt werden, bevor der Leichnam abtransportiert wurde.
»Arne Bloch«, erklärte Nicola Kleinschmitt, die jüngste der fünf Personen umfassenden Ermittlergruppe. Gemeinsam mit Sven und Richard Tackert saß sie in dessen Büro und fasste erste Erkenntnisse zusammen.
»Neununddreißig Jahre alt. Gemeldet in der Limmerstraße. Beamter bei der Stadt Hannover, arbeitete in der Ausländerbehörde. Geschieden. Keine Kinder. Keine Vorstrafen. Ist übrigens Mitglied im Döhrener Schützenverein. Und beim TUS Kleefeld. Fußball in der Alt-Herren Mannschaft. – Sonja und Jan sind mit ein paar Kollegen schon unterwegs zu seiner Wohnung.«
»Hat sich Schröder schon geäußert?«, wollte Tackert wissen.
»Ja. Aber nur die Kurzfassung. Wie es aussieht, wurde ihm der Schädel eingeschlagen. Vermutlich Freitag in den frühen Morgenstunden. – Die Kollegen haben übrigens an der Leine – nur gut hundert Meter vom Fundort der Leiche entfernt – ein Kleinkalibergewehr im Schilf gefunden. Und Angelzeug. Ist schon auf dem Weg in die KTU.«
»Ein Kleinkalibergewehr?«, wiederholte Tackert interessiert. »Hm. – Und eine Angelausrüstung? Ist bekannt, ob er eine Angelerlaubnis besaß?«
»Nein.«
»Dann versuch das zu klären, Nicola. – Hast du seine geschiedene Frau erreichen können?«
»Noch nicht. Dafür aber den Vorsitzenden des Döhrener Schützenvereins. Im Festzelt … und scheinbar schon etwas angetrunken.« Nicola reichte Tackert die Handynummer. »Sehr fraglich, ob das heute Sinn macht?«
Leise knurrend nahm Tackert die Notiz entgegen und machte sich missmutig auf den Weg zum Schützenplatz.
Er hasste Schützenfeste.
Jan und Sonja durchsuchten gemeinsam mit zwei uniformierten Kollegen die Wohnräume von Arne Bloch.
Die Drei-Zimmer-Wohnung befand sich am Ende der Limmerstraße in der ersten Etage eines Mehrfamilienhauses und machte einen persönlichen und sauberen Eindruck. Einige Accessoires und ausgesuchte Schwarzweiß-Fotografien erzählten von den Vorlieben des Wohnungsinhabers.
Als sich nach drei Stunden Durchsicht keine Auffälligkeiten erkennen ließen, beendeten sie die Begehung und nahmen, neben diversen persönlichen Unterlagen, ein Handy und einen Laptop mit, der im Kommissariat noch für einige Aufregung sorgen sollte.
Aber das ahnte natürlich noch niemand.
Tackert betrat den Festplatz durch das Gilde-Tor und versuchte zum dritten Mal, den Vereinsvorsitzenden telefonisch zu erreichen. Zum dritten Mal vergeblich. Der Anruf wurde einfach nicht entgegengenommen.
Er spürte, wie sein Blutdruck langsam in gesundheitsgefährdende Bereiche anstieg. Um sich zu beruhigen besorgte er sich eine Tüte Schmalzkuchen. Vor einem der Festzelte traf er auf eine Gruppe von Schützen, die aufgrund der Hitze die Kleiderordnung aufgehoben hatten. Im Vorbeigehen registrierte er vereinzelt gefährlich formulierte Angebote von Frauen und sabbernde, lallende Männer auf wackeligen Beinen.
Nicht ganz so vereinzelt.
Immerhin bekam er zur Antwort, dass sich die Döhrener Schützen eigentlich noch in der Festhalle Marris aufhalten müssten, wo der Oberbürgermeister vor wenigen Stunden mit dem Fassanstich das Schützenfest feierlich eröffnet hatte.
Aber dort erfuhr er, dass der Vereinsvorsitzende eher im Gaypeople-Zelt anzutreffen sei, wo in Kürze ein beliebter Künstler der Schlagerszene den Feierlustigen sein Repertoire um die Ohren hauen würde.
Schon mit dem ersten Blick war klar, dass das Fassungsvermögen des Zeltes mit tausendzweihundert Leuten annähernd erreicht war. Aber Tackert hatte Glück und stieß am Eingang auf einen der Bruchmeister, der ihn mit Henry Friedrich, dem ersten Vorsitzenden des Döhrener Schützenvereins, zusammenbringen konnte.
Das Gespräch verlief dann auch - wie zu erwarten war - äußerst anstrengend und brachte nichts ein.
Inzwischen war es fast zweiundzwanzig Uhr geworden und die fünf Ermittler trafen sich zu einer ersten Zusammenfassung.
»Wie es aussieht, ist Arne Bloch am Freitag in den frühen Morgenstunden erschlagen worden. Wo genau, steht noch nicht fest. Der Fundort ist jedenfalls nicht der Tatort. Über die Tatwaffe gibt es noch keine Erkenntnisse. Da wird die Obduktion hoffentlich Klarheit bringen. - Da sein Auto in der Wilkenburger Straße, Ecke Schwarzer Weg, abgestellt war, hat er vermutlich den südlichen Bereich der Kiesteiche aufgesucht. Warum oder mit welchem Ziel ist noch völlig unklar. Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es so aus, als ob er neben einer dürftigen Angelausrüstung auch ein Kleinkalibergewehr mit sich führte. Da müssen wir aber noch das endgültige Ergebnis der KTU abwarten. Allerdings deutet einiges darauf hin. - Wie wir inzwischen wissen, vermisst der Döhrener Schützenverein eine solche Waffe, was gestern auch zur Anzeige gebracht wurde. Obwohl alle bisher befragten Vereinsmitglieder das für ausgeschlossen halten, liegt es doch nahe, dass Bloch die Waffe entwendet hat … oder zumindest diese mit sich führte. Zu welchem Zweck ist unbekannt. In den letzten zwei Tagen gab es weder in der Stadt noch im nahen Umfeld einen passenden Vorfall. Arne Bloch wird, nach ersten Informationen aus seinem privaten Umfeld, sowie auch von Nachbarn, als sehr umgänglicher und angenehmer Mensch beschrieben. Beliebt trifft es wohl am ehesten. Wie die berufliche Situation aussah, werden wir erst morgen wissen.« Tackert machte eine kleine Pause und wandte sich an Jan. »Gibt es schon Nennenswertes über das Handy und den Laptop?«
»Nein. Die Handydaten ergeben bisher nichts Auffälliges. Und in den Laptop sind wir noch nicht reingekommen. Die Festplatte ist verschlüsselt. Das kann noch etwas dauern«, erklärte Jan.
»Oder auch etwas länger«, schaltete sich Nicola ein, die als IT-Spezialistin eine besonders schwere Aufgabe am ehesten erwartete, nachdem einige Stunden erfolglos verstrichen waren.
»Ungewöhnlich abgesichert? - Wie lange wird das dauern? Was meinst du?«, wollte Tackert von Nicola wissen.
»Da er nicht nur die Festplatte verschlüsselt hat, sondern sich offensichtlich richtig Mühe beim Erstellen des Passwortes gegeben hat, wird das nicht so einfach zu knacken sein. - Vielleicht fünf Stunden, vielleicht aber auch fünf Jahre.«
»Was? Fünf Jahre?« Tackert seufzte. »Das meinst du nicht ernst, das mit den fünf Jahren, oder? - Habt ihr seine geschiedene Frau inzwischen erreichen können?«
»Ja. Die befindet sich auf dem Rückweg eines Kurzurlaubs und hängt irgendwo bei Kassel auf der Autobahn fest. Rechnet damit, dass sie nicht vor Mitternacht zu Hause ist. – Und ich meine das sehr ernst mit den fünf Jahren: Wenn das Passwort in der Art gewählt ist, wie ich befürchte, wird es richtig lange dauern und für die Ermittlungen unter Umständen uninteressant werden.«
»Gut - oder besser nicht gut«, leitete Tackert das Gesprächsende ein. »Dann stehen also morgen vorrangig Gespräche mit seiner Ex und seinen Arbeitskollegen an.«
***
Sonja war um zehn mit dem Stellenleiter der Behörde verabredet.
Außer ihm war eine Kollegin anwesend, mit der Arne Bloch seit Jahren eng zusammengearbeitet hat. Die Nachricht vom gewaltsamen Tod des Kollegen hatte natürlich bereits die Runde gemacht, denn die regionalen Zeitungen lieferten meist auf der ersten Seite entsprechende Schlagzeilen.
»Es ist unfassbar«, merkte der Stellenleiter an. »Herr Bloch war seit zwölf Jahren in der Abteilung. Und wir können eigentlich nur Gutes über ihn sagen. Pünktlich, verlässlich, beliebt. Auch beim Publikum.«
»Gab es nie Probleme mit Antragstellern?«
»Natürlich gab es hin und wieder Probleme, aber die waren in der Regel nicht schwerwiegend. Kleine Meinungsverschiedenheiten gehören hier sozusagen zur Tagesordnung. Das liegt in der Natur der Sache. Genau betrachtet gab es eigentlich in den letzten zwölf Monaten nur zwei nennenswerte Vorfälle, die aus dem Rahmen des Normalen fielen.«
»Und welche?«
»Da ist zum einen ein türkischer Antragsteller, dem zum wiederholten Male nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate ausgestellt werden konnte. Herr Yildiz ist Türsteher im Rotlichtviertel und es läuft seit Längerem ein Strafverfahren wegen Körperverletzung gegen ihn. Vor Ablauf des Verfahrens ist natürlich keine langfristige Regelung möglich. - Und dann haben wir noch eine Familie aus dem Kosovo, die im Zusammenhang mit einem Antrag auf Familienzusammenführung offensichtlich Urkundenfälschung begangen hat. Da wird es wohl zu einer Ablehnung kommen. In beiden Fällen gab es einige Streitereien, die auch etwas heftiger ausfielen.«
»Ich brauche eine Kopie der beiden Vorgänge, wenn das möglich ist? – Gab es in diesem Zusammenhang nur Streitereien, oder kam es auch zu konkreten Drohungen?«
»Drohungen? Na ja: Drohungen gab es schon. Aber inwieweit diese ernst zu nehmen sind, lässt sich nur schwer beurteilen. Ich persönlich sehe keine Veranlassung, die Äußerungen zu dramatisieren. – Man muss die Leute auch verstehen, wenn in einem ersten Anflug von Wut und Enttäuschung die falsche Wortwahl getroffen wird. – Zudem deutsch nicht ihre Muttersprache ist.«
»Können sie etwas über sein Privatleben sagen?«
»Ich persönlich weniger. Aber Frau Klöckner kannte ihn sehr gut. Deswegen habe ich sie auch dazu gebeten. - Ich lasse sie mal für einen Augenblick alleine und kümmere mich um die beiden Vorgänge.«
Sonja schätze Miriam Klöckner auf Mitte dreißig. Sie war dezent aber modisch gekleidet und hatte ihre langen dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Noch ehe Sonja eine Frage stellen konnte, begann Miriam Klöckner zu erzählen. »Bevor sie es von anderer Seite hören: Arne und ich haben seit etwa einem Jahr eine Beziehung … hatten. Das wird hier nicht so gerne gesehen, wenn Pärchen in derselben Abteilung arbeiten. Deswegen haben wir versucht, das vor den Kollegen zu verbergen. Aber einige werden es trotzdem mitgekriegt haben.«
Dann war ihre Vermutung richtig, dachte Sonja. Die Frau machte schon die ganze Zeit einen außergewöhnlich niedergeschlagenen Eindruck.
»Das tut mir leid, Frau Klöckner. – Können sie sich einen Grund vorstellen, wie es zu dieser schrecklichen Tragödie kommen konnte? Gab es konkrete Drohungen?«
»Ich habe keine Erklärung. Soweit ich weiß, hatte Arne weder Feinde noch Streit mit irgendjemandem. Dafür war er ein viel zu friedliebender Charakter.«
»Wissen sie, was er in der Nacht von Donnerstag auf Freitag vorhatte? Warum er sich an den Kiesteichen aufgehalten hat?«
»Nein. Das weiß ich nicht.«
»Wann haben sie ihn zuletzt gesehen?«
»Donnerstag. Wir waren abends essen. – Danach ist Arne in seine Wohnung gefahren, und ich bin auch nach Hause. Wir wohnen getrennt, wollten aber im Herbst zusammenziehen.«
»Waren sie für einen der folgenden Tage verabredet?«
»Ja. Aber erst am Sonntag. Ich habe Freitag und Samstag eine Freundin in Bremen besucht. Arne war wegen des Schützenausmarsches das ganze Wochenende verplant.«
»Was machte Herr Bloch in seiner Freizeit? Gab es besondere Hobbys? Ging er zum Beispiel angeln?«
»Angeln?«, schaute die Frau Sonja erstaunt an. »Nein. - Fußball! Das ja. Er spielte ja selbst fast jedes Wochenende … beim TUS Kleefeld. Und dann natürlich der Schützenverein. Aber angeln? – Nein. Bestimmt nicht.«
»Und außer Fußball und Schützenverein? Gab es besondere Vorlieben?«
»Nichts Besonderes.«
»Wie war das Verhältnis zu seiner geschiedenen Frau?«
»Schwierig. Aber das ist ja auch kein Wunder. Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die mit ihrer radikal christlichen Art zurechtkommen. – Und mit den ganzen Verschwörungstheorien.«
»Ich verstehe nicht?«, gestand Sonja.
»Na ja«, erklärte Miriam Klöckner und tippte sich mehrmals mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Die tickt nicht ganz richtig.«
Das Gefühl hatte Tackert auch, der vor wenigen Augenblicken die Wohnung von Sigrid Rosenberg, die ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte, betrat.
Als er sich vorstellte, wurde er ohne Begrüßung mit einer nervösen Bewegung geradezu in die Wohnung hineingezogen. Das erste, was er zu sehen bekam, waren verkleidete Wände und Decken. Sauber aneinander liegend waren hier Bahnen von Alufolie verbaut worden.
»Ich hab´s gewusst«, redete die Frau mit verschwörerischer Stimme auf ihn ein. »Ich habe ihn immer und immer wieder davor gewarnt. Aber er wollte ja nicht auf mich hören. Du spinnst ja, habe ich immer wieder nur zu hören gekriegt. Und ich sollte mich mal untersuchen lassen. Und jetzt: Jetzt ist es passiert. – Ich hab´s gewusst.- Diese Schweine!«
»Wovon sprechen sie, Frau Rosenberg? Ich verstehe kein Wort«, wagte Tackert eine vorsichtige Frage.
»Von den Angriffen. Was anfangs nur als organisierte Klimaänderung geplant war, haben sich menschenverachtende Organisationen zu Nutze gemacht und besprühen uns jetzt mit Giftstoffen. Polymeren, Mikroben und pharmazeutisch wirksame Substanzen, die unsere Felder unbrauchbar machen. Aber oberstes Ziel ist die Geburtenkontrolle. Da bin ich mir sicher.«
»Ich fürchte, ich kann ihnen nicht folgen«, wagte der Kommissar schüchtern eine erneute Zwischenbemerkung.
»Chemtrails! Kein Begriff? – Nein? Kein Wunder, dass unsere Polizei als unfähig gilt. Haben sie etwa noch nie die Muster am Himmel gesehen? Gitterförmig aufgebaute Muster? Sehen aus wie Kondensstreifen, die sich aber nur langsam auflösen. Ganz langsam, um sich wirkungsvoll und großflächig zu verteilen.«
»Ist deswegen ihre Wohnung komplett mit Alufolie …«
»Ach was. Das ist gegen die Strahlung der angeblichen Satelliten. Die Islamisten haben haufenweise Objekte in die Umlaufbahn geschossen, um das Christentum zu vernichten. Die meisten Menschen glauben, das waren die Amis … oder Russen. Oder auch die Europäer. Das ist aber falsch. Radikale Islamisten sind dafür verantwortlich. - Das osmanische Reich hat versagt. Und was in hunderten von Jahren anhand von Kriegen nicht erreicht wurde, soll jetzt durch Manipulation unserer Gehirne für Veränderung sorgen. Aber wir wissen davon … und verstehen uns zu schützen. – Kann ich ihnen vielleicht einen Shiva-Tee anbieten? Eine Oase für die innere Ruhe.«
»Danke, nein. - Frau Bloch. Eigentlich wollte ich …«
»Rosenberg! - Rosenberg bitte. Den Namen Bloch habe ich begraben. Und eines muss ich ihnen noch sagen: Wenn sie oder jemand aus ihrem Freundeskreis mitten in der Familienplanung stecken sollte, muss sich die Frau unbedingt mittels eine Orgonit-Dildos schützen. Das bewirkt, dass Chemtrails oder auch schädlicher Elektrosmog unschädlich gemacht werden. Und ganz nebenbei wird die persönliche Aura vergrößert, was ja bekanntermaßen dazu führt, dass Pflanzenwachstum und Ernteerträge in einer bestimmten Reichweite verbessert werden. – Wollen sie wirklich keinen Tee? Vielleicht lieber einen Hanf-Tee?«
Hanf-Tee? Tackert überlegte, ob er den Kollegen der Drogenfahndung einen Tipp geben sollte.
»Nein! – Frau Rosenberg, sehr freundlich. Eigentlich interessiert mich viel mehr, was für ein Mensch ihr … äh … Ex-Mann war? Wie würden sie ihn beschreiben?«
»Als verlorenes Schaf. - Als bedauernswertes, verlorenes Schaf. Dabei hatten ihn seine Eltern christlich erzogen, müssen sie wissen. Aber irgen