Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Mordserie erschüttert die Landeshauptstadt. Scheinbar wahllos erschießt ein Unbekannter mehrere Menschen. Skrupellos, in kurzen Zeitabständen und aus größerer Distanz. Nika Brömmer und Thorvald Siebrecht vom LKA Niedersachsen übernehmen die Ermittlungen und müssen schon bald erkennen, wie zäh und frustrierend ihre Bemühungen voranschreiten. Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit, den Täter zu stellen. Aber der Plan, gehen sie notgedrungen erstellen, hat einen Fehler: er ist löchrig wie ein Schweizer Käse.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Spektrum der Kaltblütigkeit
Wolfgang Glagla
Copyright: © 2024 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover
www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/
Umschlaggestaltung: Copyright: © 2024 Wolfgang Glagla
Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-758483-60-8
Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.
Nur die Sache ist verloren, die man aufgibt.
Wolfgang Glagla
Kriminalroman
1
Es war ein Tag ohne Argwohn, beinahe so wie jeder andere.
Menschen unterschiedlichen Alters, von verschiedener Herkunft und unterschiedlichem sozialen Stand, kreuzten sternförmig den Opernplatz. Einige wirkten gehetzt, andere schlenderten scheinbar gemächlich über das Pflaster. Im Hintergrund des nach Südosten verlaufenden Seitenflügels des Opernhauses hingen ein paar jugendliche Skateboardfahrer ab und feilten an ihren teils akrobatischen Tricks. Mittlerweile waren sie hier geduldet, haben Anlieger und umliegende Geschäftsleute endlich kapiert, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Sie pöbelten nicht herum und zeigten auch sonst keinerlei Aggressionen. Meistens räumten sie sogar ihren Müll weg.
Bei den angrenzenden Grünflächen saßen einige Rentner und diskutierten lebhaft über fehlende Pflegekräfte, lächerliche Rentenerhöhungen oder Banken, die von ihren fünfundachtzigjährigen Kunden erwarteten, ihre Bankgeschäfte in Zukunft ausschließlich über die neueste App zu regeln.
Um kurz nach 16.00 Uhr verließ Vanessa Baumgarten das Gebäude des Staatstheaters, um eine verspätete Mittagsmahlzeit einzunehmen. Als Bühnenmeisterin war ihre Anwesenheit erst eine Stunde vor der Aufführung um 19.30 Uhr nötig. Die Hochzeit des Figaro stellte keine besondere Herausforderung dar, zudem die Inszenierung schon seit Wochen auf dem Spielplan stand. Also alles tutti contenti, dachte sie, wie nicht nur das Ende des 4. Aktes eingeleitet wurde, sondern auch das Ende der Aufführung.
Manchmal ist die Distanz zwischen Lebensfreude und Todeskampf sehr gering.
Manchmal beträgt die Distanz nur siebenunddreißig Schritte.
Vanessa Baumgarten schaffte genau diese siebenunddreißig Schritte, ehe sie mitten auf dem Opernplatz plötzlich zusammensackte und reglos liegen blieb. Einige Passanten eilten an ihr vorbei, fanden aber nur die Zeit für einen verschämten Seitenblick. Eine Frau verzog sogar angewidert die Mundwinkel und schüttelte entsetzt den Kopf. Nur ein etwa dreißigjähriger Mann im Hintergrund, dessen Gesichtszüge vermuten ließen, dass seine Wurzeln nicht im mitteleuropäischen Raum zu finden sind, eilte auf die am Boden liegende Frau zu. Auch zwei der Skateboardfahrer kamen im Laufschritt näher.
Als der Mann gerade damit beschäftigt war, die Frau in eine stabile Seitenlage zu bewegen, erreichten auch die beiden jungen Leute die hilflose Person und mussten erkennen, wie unter dem Oberkörper der Frau eine sich ausbreitende Blutlache sichtbar wurde.
Sofort zog einer der Jugendlichen sein Handy aus der Hosentasche, machte kein Foto, sondern wählte mit zittrigen Fingern den Notruf.
Später sollte ein Polizeisprecher den empathischen Einsatz eines Asylbewerbers und zweier Heranwachsender loben, die sich vorbildlich verhalten hatten, und somit eine echte Stütze unserer Gesellschaft darstellten.
2
Nika Brömmer schob zwei Whiteboards in Position und bestückte die noch leeren Wände mit einigen Fotos.
Im Raum herrschte zwischenzeitlich eine gewisse Unruhe, da einige der teilnehmenden Beamten mit leichter Verspätung eintrafen. Aber kurze Zeit später machte es den Anschein, als wären alle da.
»Obwohl mich einige Kolleginnen und Kollegen kennen, möchte ich zuallererst mich und mein Team vorstellen«, begann sie mit fester Stimme, die deutlich machte, dass hier eine Frau mit gesundem Selbstbewusstsein stand. »Ich heiße Nika Brömmer, bin Hauptkommissarin beim LKA Niedersachsen und werde diese Ermittlungen leiten. Ich möchte, gerade mit Blick auf die Kollegen der Kripo, explizit darauf hinweisen, dass ich mich nicht um diese Aufgabe gerissen habe. Vielmehr wurde diese Entscheidung ganz oben getroffen und sollte somit nicht zum Anlass genommen werden, Animositäten oder ähnlich unnützem Zeug, eine Plattform zu geben. Des Weiteren schlage ich vor, dass wir uns hier alle untereinander duzen. Wenn jemand damit Probleme hat, sollte das Hier und Jetzt geklärt werden. - Okay, ich sehe keine Handzeichen, und denke, damit ist dieser Punkt geklärt. Kommen wir zur Hauptkommissarin Jessica Rodenberg. IT-Forensikerin und die Person, bei der alle Informationen zusammenlaufen sollen. Sie wird auch sämtliche Arbeiten koordinieren und alle anfallenden Aufgaben verteilen. Jessica wird also die einzige Person sein, die ständig über den neuesten Stand der Ermittlungen im Bilde ist. Der Mann neben Jessica heißt Thorvald Sieprecht. Ebenfalls Hauptkommissar und, wie ich selbst auch, überwiegend im Außeneinsatz tätig. Nun zum eigentlichen Anlass dieser späten Zusammenkunft: Da einige von euch besser, andere weniger gut informiert sind, möchte ich eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse vorbringen. Unser erstes Opfer: Jörg Lüders, einundfünfzig Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder. Von Beruf Maschinenschlosser. Wohnhaft in Hannover Misburg. Befand sich gerade auf dem Ikea-Parkplatz in Großburgwedel und verstaute einige Einkäufe im Kofferraum seines Pkws, als ihn ein Geschoss in den Brustkorb traf, was innerhalb kurzer Zeit seinen Tod zur Folge hatte. Untersuchungen haben ergeben, dass der Schütze mindestens aus einem Abstand von zweihundert Metern, eher mehr, gefeuert haben muss. Tatzeit: 17.04 Uhr. Das zweite Opfer, nur fünf Tage später: Simone Hanke, vierundvierzig Jahre alt, ledig. Kinderpsychologin. Wohnhaft in Hannover Laatzen. War mit einer Freundin am Silbersee in Langenhagen zum Minigolf verabredet. Hatte noch am Fahrzeug ihr Schuhwerk gewechselt als auch sie nach nur wenigen Metern von einem Geschoss tödlich getroffen wurde. Wie schon beim ersten Opfer ergeben sich ernstzunehmende Hinweise, dass auch hier der Schuss aus einer Entfernung von mindestens zweihundert Metern abgegeben wurde. - Tja, und heute dann, vier Tage später, das dritte Attentat. Vanessa Baumgarten, sechsunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Hannover Linden. Erste Untersuchungen lassen vermuten, dass auch hier aus einer größeren Distanz geschossen wurde. Der Unterschied zu den ersten beiden Opfern: Bei Vanessa Baumgarten besteht die, wenn auch geringe Hoffnung, dass sie überleben könnte. Nach einer Notoperation ist ihr Zustand zwar kritisch, es gibt aber zumindest die Chance, dass sie es übersteht. Wir haben es offensichtlich also mit einem Scharfschützen zu tun. Vermutlich benutzt er ein Präzisionsgewehr vom Kaliber 5,56 mit Schalldämpfer, da in allen drei Fällen niemand einen Schuss gehört hat. Völlig offen ist dabei allerdings, welches Ziel er damit verfolgt. Auch wenn unser Wissensstand zu Vanessa Baumgarten noch sehr gering ist, deutet bis jetzt alles darauf hin, dass unter den drei Opfern keine Verbindung bestand. Unterschiedlicher könnten die sozialen Kontakte, persönlichen Interessen oder das berufliche Umfeld kaum sein. Vielleicht sind sie sich nie im Leben begegnet. Es stellt sich also die Frage, ob der Täter seine Opfer wahllos aussucht? Ob wir es hier mit einem Psychopathen zu tun haben?« Nika Brömmer machte eine Pause und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die annähernd vierzig Kollegen, die vor ihr saßen.
»Dann gehen wir davon aus, dass er weitermachen wird?«, fragte ein junger Kollege aus den hinteren Reihen.
»Ich fürchte, davon müssen wir ausgehen«, bestätigte die Hauptkommissarin.
»Gib es genauere Anhaltspunkte zum jeweiligen Standort des Schützen?«, wollte ein anderer wissen.
»Nein«, gab Nika zur Antwort. »Das ist eine der dringenden Fragen, die geklärt werden müssen.«
Eine Kollegin mit wirren blonden Locken aus der ersten Reihe vorne meldete sich zu Wort.
»Stehen Bilder von Überwachungskameras zur Verfügung?«
»Vom Ikea-Parkplatz und vom Opernplatz existieren Aufnahmen. Beide decken aber nur Teilbereiche ab, werden also vermutlich nicht helfen, einen möglichen Täter zu identifizieren. Trotzdem wurden die entscheidenden Momente von den Kameras festgehalten, was einerseits bedrückend ist, andererseits aber auch hilfreich. Der Waldparkplatz am Silbersee ist nicht kameraüberwacht.«
Da offenbar keine weiteren Fragen aus dem Kollegenkreis kamen, beendete Nika die Zusammenkunft.
Vor ihnen allen lagen noch ein paar arbeitsreiche, intensive Stunden.
»Kennst du den Fall aus den USA, wo vor ein paar Jahren ein Sniper aus einem umgebauten Kofferraum wahllos Leute erschossen hat? Könnten hier nicht ähnliche Voraussetzungen bestehen?«, fragte Thorvald, als sie alleine waren. »Er geht ohnehin schon ein hohes Risiko ein, begibt sich in Situationen, in denen um ihn herum jede Menge Menschen unterwegs sind, da wird er wohl kaum mit einem auffallend großen Koffer in der Hand, in der Gegend rumrennen. Oder siehst du das anders?«
Nika suchte nach einer entspannten Sitzhaltung, fuhr sich mit den Händen durch den Bob, den sie sich erst vor ein paar Wochen hatte schneiden lassen, und von dem Thorvald behauptete, er verleihe ihr eine gewisse Autorität. Was aber eher als Stichelei zu verstehen war, wie Nika genau wusste.
»Nein«, antwortete sie. »Ich denke auch, dass er ein Fahrzeug benutzt. Die Frage ist, was für eins?«
»Am ehesten wohl ein unauffälliges und zumindest zum Teil präpariertes«, mutmaßte Thorvald. »Vielleicht einen VW Bus, einen als Handwerkerfahrzeug getarnten Kleinlaster?«
»Oder ein Wohnmobil«, ergänzte Nika.
Es ist beeindruckend und erschreckend zugleich, wie schnell sich Nachrichten im Netz verbreiten. Noch erschreckender aber ist die Anzahl an Falschmeldungen, die kursieren.
Ein Verfasser zum Beispiel behauptet, Informationen zu besitzen, nach denen bereits fünf Frauen dem Sniper zum Opfer gefallen sind. Alle im Alter zwischen dreißig und vierzig. Tödlich verwundet durch einen gezielten Schuss in die linke Brust. Also ist von einem Frauenhasser auszugehen, der vermutlich als Kleinkind von seiner Mutter nicht gestillt wurde. Oder zu lange. Was ja der Entwicklung eines Kindes auch nicht zuträglich sein soll, wie jüngste Studien ergeben haben. Ohnehin war die Frau wohl der dominante Teil im Familienverbund und hat höchstwahrscheinlich auch ihren Mann geschlagen. Was natürlich gegen die evolutionsbedingte und gottgewollte Ordnung verstieß. So wäre zu erklären, warum der Mann jetzt, stellvertretend für seine Mutter, wahllos Frauen mittleren Alters erschießt.
Solcher und ähnlicher Schwachsinn fand sich mehrfach auf verschiedenen Plattformen und ermunterte die dümmsten der Dummen dazu, Ihr persönliches psychologisches Gutachten zu erstellen und zu hinterlassen. Wenn das alles nicht so traurig wäre, müsste man eigentlich darüber lachen.
Gott sei Dank gab es aber auch die gewohnt seriösen Berichte, die sachlich die Geschehnisse zusammenfassten und die Hoffnung aussprachen, dass die Polizei den Sniper bald zu fassen kriegen werde.
3
Nika hatte schlecht geschlafen. Die Nacht war ohnehin viel zu kurz. Es war schon nach 10 Uhr, als sie im Büro eintrudelte und von ihrer Kollegin Jessica Rodenberg empfangen wurde. Der war sofort anzusehen, dass sie eine gute Nachricht im Gepäck hatte.
»Ich glaube, wir haben wenigstens eine Antwort auf eine der zahlreichen offenen Fragen gefunden«, empfing sie die Kollegin mit neutraler Stimme. »Gestern Abend noch stellte sich heraus, dass in der Georgstraße, nur zirka hundertfünfzig Meter vom Tatort entfernt, ein Gebäude saniert wird. Die Fassade zur Straßenseite ist komplett verkleidet, weil da gerade der Putz abgetragen wird. Das verursacht nicht nur eine ordentliche Sauerei, sondern auch einen ordentlichen Lärm. Mehreren Anwohnern zur Folge waren die Arbeiten zum Tatzeitpunkt im vollen Gange. Und das würde natürlich eine Erklärung liefern, warum niemand einen Schuss gehört hat. Das Bemerkenswerte aber ist, dass wir ähnliche Umstände am Ikea-Parkplatz und am Silbersee vorfinden. Am Silbersee waren zum besagten Zeitpunkt Baumschnittarbeiten im Gange, bei Ikea landete in unmittelbarer Nähe der Rettungshubschrauber. Den Helikopter sieht man sogar noch auf einer der Überwachungskameras im Hintergrund verschwinden. Das bedeutet, dass zu allen drei Tatzeiten im nahen Umfeld eine Geräuschkulisse vorhanden war, die einen durch einen Schalldämpfer sowieso schon leisen Knall, zu einem nicht mehr wahrzunehmenden Geräusch schlucken würde.«
Nika war ein wenig verblüfft. Mit einem wertvollen Ergebnis nach nur so kurzer Zeit hatte sie nicht gerechnet.
»Danke Jessica. Super Arbeit, wie immer.«
»Aber nicht ausschließlich auf meinem Mist gewachsen. Da waren schon noch ein paar andere Kollegen dran beteiligt.«
Das war typisch Jessica, dachte Nika. Sie hatte noch nie erlebt, dass sie sich selbst auf die Schulter klopfte. Ganz im Gegenteil. Sie ließ keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass gute Ergebnisse meist nur durch gute Teamarbeit zu erzielen waren. Und das war nicht die einzige positive Charaktereigenschaft, die man ihr zuschreiben musste.
Scheinbar tief in sich ruhend war sie stets ehrlich, nahm kein Blatt vor den Mund, blieb dabei aber immer freundlich. Selbst in stressigen Situationen. Ihre fachliche Kompetenz führte dazu, dass sie überall im Haus geachtet wurde. Auch in Fragen digitaler Hardware hatte sie meist eine Antwort bereit. Das führte sogar so weit, dass es Kollegen gab, die gesehen haben wollten, wie sie einmal aus einem Mixer und einem Saugroboter einen funktionsfähigen Computer gebastelt hatte. Das war natürlich Quatsch, dokumentierte aber treffend ihre breit angelegte Qualifikation.
»Ja, Jessica. Ich weiß«, reagierte Nika mit einem Lächeln. »Gibt es sonst noch was Neues?«
»Wenn du ein Wunder erwartest, solltest du vorher eine heilige Messe lesen lassen.«
Ach ja. Schlagfertig war Jessica auch, fiel Nika ein.
Im Büro wartete Thorvald schon auf sie und starrte auf den Bildschirm seines Rechners.
»Ich bin dafür, dass wir alle drei Tatorte anfahren, um uns persönlich ein Bild des jeweiligen Umfelds zu machen. Google Earth bietet zwar eine schöne Übersicht, aber wirklich weiter bringt uns das nicht. Vielleicht führt eine vor Ort Besichtigung ja zu neuen Ideen oder wenigstens zu neuen Impulsen. Den zumindest ungefähren Standort des Schützen zu ermitteln, würde uns, glaube ich, ein Stück weiterbringen.«
Thorvald hatte natürlich recht, wusste Nika. Dieser Punkt stand ohnehin auf ihrer heutigen Tagesplanung.
»Dann lass uns gleich aufbrechen«, schlug sie vor. »Am besten, zuerst zum Opernplatz. Am Nachmittag wird da die Parkplatzsuche eine Katastrophe.«
Diese Einschätzung sollte sich schnell als Trugschluss erweisen. Auch zu dieser Uhrzeit war ums Opernhaus herum keine Parkgelegenheit zu finden. Thorvald hatte irgendwann die Schnauze voll und platzierte den Wagen ordnungswidrig im absoluten Halteverbot.
Der Tatort war schnell gefunden.
Obwohl die Straßenreinigung scheinbar versucht hatte, die Blutspuren auf den Gehwegplatten zu beseitigen, war immer noch eine deutliche Verfärbung zu erkennen. Zu erkennen war auch, dass man von hier aus freie Sicht auf das von Jessica genannte Haus hatte. Auch Winkel und Entfernung schienen passend zu sein.
»Lass uns mal mit den Leuten da reden«, entschied Nika. »Vielleicht ist einem der Handwerker ein unbekanntes Fahrzeug aufgefallen, das im abgesperrten Bereich parkte.«
Die etwa zwölf anwesenden Arbeiter waren schnell befragt und genauso schnell zerschlug sich die Hoffnung, hier auf neue Hinweise zu stoßen. Alle waren sicher, dass gestern kein fremdes Fahrzeug einen der extra für die Handwerkerfahrzeuge reservierten Parkplätze belegte.
»Das wäre auch zu einfach gewesen. Und einfach kann ja jeder.« Thorvald erwartete vom unbekannten Heckenschützen nicht, einen solchen Fehler zu begehen. Vielmehr war er überzeugt, dass die Attentate bis ins kleinste Detail durchdacht waren.
»Viele Parkmöglichkeiten gibt es ja hier nicht«, stellte er fest. »Entweder hat er echtes Dummglück gehabt, oder er hat ebenso bescheuert geparkt, wie wir. Dann sollten wir beim Ordnungsamt nachfragen, vielleicht hat er sich ja ein Ticket eingefangen.«
»Ja. Das ist eine gute Idee«, war Nika überzeugt.
Sie schritten noch die in Frage kommenden Bereiche ab, und waren am Ende überzeugt, dass der Täter aus einem Fahrzeug heraus agiert haben musste. Eine andere Möglichkeit mit ausreichend Deckung war einfach nicht vorhanden. Und die gegenüberliegenden Gebäude schlossen sie komplett aus. Da passte einfach überhaupt nichts zusammen.
Als sie wieder an ihrem BMW angelangt waren, stellten sie mit Erstaunen fest, dass kein Ticket unterm Scheibenwischer klebte. Thorvald vermutete, dass die Damen sich gerade im Mövenpick auf einen Prosecco trafen, um auf ihrer Erfolge anzustoßen.
»Das glaube ich nicht. Da hinten kommt nämlich eine«, sagte Nika trocken. »Lass uns zusehen, dass wir hier verschwinden.«
Fünfundzwanzig Minuten später erreichten sie den Parkplatz am Silbersee.
Eingebettet zwischen lockeren Baumbeständen gab es hier eine größere Anzahl an Parkplätzen, von denen zurzeit aber nur vereinzelte belegt waren. Hier war es schon schwieriger, den genauen Tatort zu finden. Sie mussten ein kurzes Telefonat mit Jessica führen, um schließlich fündig zu werden. Ein zweites Telefonat war nötig, um zu bestimmen, aus welcher Richtung der Schuss gekommen sein muss. Als einzige, realistisch erscheinende Möglichkeit, blieb nur die am äußersten Rand liegende Parkreihe. Dahinter wurde der Baumbestand zu dicht, um aus entsprechender Entfernung ein Ziel ins Auge zu fassen. Richtig hilfreich war der Aufenthalt hier nicht. Außer freigelegtem Waldboden und ein paar Bäumen gab´s hier nichts zu sehen und sie machten sich auf zum Ikea-Parkplatz.
Sie lehnen sich an ihren Wagen und schauten zum Eingang des Möbelhauses hinüber.
»Hier ist ja nichts«, stellte Nika fest. »Nichts als eine riesige Betonfläche. Bestenfalls mal ein Gänseblümchen, hinter dem man Deckung suchen konnte. Wir müssen unbedingt versuchen, das Fahrzeug zu identifizieren. Alles, was größer als ein PKW ist, kommt da infrage, denke ich.« Sie machte eine Pause und ihre Augen wanderten hin und her. »Hier ist ganz schön Betrieb. Ohne den Rettungshubschrauber wäre es ein ziemlich riskantes Unternehmen gewesen, die Waffe zu benutzen. Das ungewöhnliche Geräusch, das trotz Schalldämpfer im nahen Umfeld immer noch gut wahrzunehmen ist, wäre bestimmt jemandem aufgefallen. Ein leises Plopp, wie es in den Fernsehkrimis immer so schön dargestellt wird, ist es nämlich nicht. Aber wem sage ich das?«
Thorvald ging auf die Bemerkung nicht näher ein und sagte stattdessen: »Ich sehe auf Anhieb mindestens ein Dutzend Fahrzeuge, die infrage kämen. Mit einigen SUVs doppelt so viele. Was denkst du? Haut er nach der Tat sofort ab, oder wartet er, bis sich der Trubel gelegt hat. Obwohl das für ihn zusätzlichen Stress bedeuten würde. Wenn es hier nachher nur so von Polizei wimmelt, ist es vermutlich klüger, sofort zu verschwinden.«
»Das denke ich auch«, teilte Nika seine Einschätzung. »Ich jedenfalls, würde zusehen, dass ich mich sofort aus dem Staub mache. Ich befinde mich in einiger Entfernung zum Unglücksort, da wird es kaum jemandem auffallen, wenn ich losfahre, während alle anderen sich um einen hilflos am Boden liegenden Menschen kümmern. Wenn sie es denn tun und nicht einfach weitergehen, was aber wohl nur am Opernplatz der Fall war.«
Jessica Weinbergers erste Aufgabe bestand darin, die an der Ermittlung beteiligten IT-Forensiker in einen Raum zusammenzuführen. Kurze Kommunikationswege waren wichtig. Außerdem ermöglichte die Nähe jederzeit die Möglichkeit, einen Ideenaustausch vorzunehmen. Sinnvolle Diskussionen eröffneten nicht selten neue Strategien.
Sie wählte einen Raum in der zweiten Etage mit achtzehn Arbeitsplätzen, der bestens ausgerüstet war. Unter anderem gab es an der Stirnseite eine Wand mit Bildschirmen unterschiedlicher Größe, wobei jeder Bildschirm von jedem Arbeitsplatz aus angewählt werden konnte, was jederzeit eine sinnvolle Gesamtübersicht ermöglichte.
»Wir werden uns also in Dreiergruppen aufteilen«, legte Jessica fest. »Die erste Gruppe arbeitet weiterhin an den Hintergrundinformationen zu Jörg Lüders, Simone Hanke und Vanessa Baumgarten. Die anderen drei Gruppen übernehmen jeweils ein Tatort-Umfeld, um ein mögliches Täterfahrzeug aufzuspüren. Das Problem dabei ist, wie wir wissen, dass wir nicht die leiseste Ahnung haben, wonach wir eigentlich suchen. Aber egal was es ist, wir werden es finden. Wir werden es finden, und dem Drecksack das Handwerk legen.«
Die Jagd auf den Unbekannten war eröffnet.
Eine Jagd, von der niemand ahnen konnte, welchen irrwitzigen Verlauf sie noch nehmen sollte.
Nika Brömmer und Thorvald Sieprecht saßen in ihrem Büro und diskutierten Thorvalds Vorschlag, einen Profiler hinzuzuziehen.
Nika war skeptisch. Sie wussten bisher nichts über den Täter. Bis auf die Tatsache, dass er ein guter Schütze war. Und skrupellos vorging. Und das war ein bisschen wenig.
»Warum sperrst du dich so davor?«, wollte Thorvald wissen.
»Wie soll man ein Profil erstellen von einem Menschen, über den man nichts weiß. Wie soll das aussehen? Ein Mann, zwischen zwanzig und sechzig. Vielleicht ein ehemaliger Polizeibeamter oder Soldat. Vielleicht ein Jäger oder Sportschütze. Wahrscheinlich zwischen 1,50 Meter und 2 Meter groß. Wahrscheinlich Schuhgröße vierzig bis fünfundvierzig. Hat zwei Arme, die Füße reichen bis auf die Erde und die Nase trägt er mitten im Gesicht … Das ist doch alles Blödsinn und verleitet am Ende nur dazu, dass man sich ein vollkommen falsches Bild von dem Typen macht. Vielleicht stellt sich irgendwann sogar heraus, dass wir es mit einer Frau zu tun haben, 1,65 Meter, Verkäuferin an der Käsetheke bei Edeka, die sich monatelang den Umgang mit einem Präzisionsgewehr selbst beigebracht hat.«
»Ist natürlich auch gut möglich«, schmunzelte Thorvald. »Nur das mit der Käsetheke glaube ich nicht.«
Das Festnetztelefon klingelte und Nika nahm den Hörer ab. Sie wollte sich gerade melden, als eine elektronisch verzerrte Stimme sofort zu sprechen begann.
»Wenn das Gespräch nicht ohnehin aufgezeichnet wird, sollten Sie jetzt dafür sorgen, dass es mitgeschnitten wird, um Missverständnisse zu vermeiden. Ich bin der Schütze, der bei Ikea, am Silbersee und am Opernhaus unter Beweis gestellt hat, dass ich es ernst meine. Es liegt in ihren Händen, die Sache zu beenden. Nach einer Zahlung von 10 Millionen Euro kann ich Ihnen versichern, dass niemand mehr zu Schaden kommen wird. Sollten Sie sich aber weigern oder eine Geldübergabe aufgrund unerwünschter Polizeimaßnahmen scheitern, wird es nicht nur ein weiteres Todesopfer geben, sondern meine Forderung steigt um weitere 5 Millionen auf 15 Millionen. Ich beabsichtige übrigens, diesen Rhythmus beizubehalten. Jede gescheiterte Geldübergabe bedeutet also: weitere 5 Millionen und ein weiteres Opfer. Nur Hunderter, keine anderen Werte. Nur gebrauchte, nicht registrierte Scheine. Gleichmäßig verstaut in zwei Seesäcke. In exakt fünf Tagen melde ich mich wieder mit genauen Anweisungen. Das Geld muss dann zum sofortigen Abtransport bereitstehen. Und übrigens: Sparen Sie sich die Rückverfolgung des Handys. Sie finden es im Mülleimer auf dem Spielplatz neben der Post an der Bussestraße. Sie können es dann der jungen Frau zurückgeben, von der ich es mir heute Morgen leider ausleihen musste.«
»Halt, warten sie!«, brüllte Nika fast ins Telefon. »Wer sagt mir, dass ich wirklich mit dem richtigen Mann spreche? Und nicht mit einem Trittbrettfahrer.«
»Ich benutze ein Heckler & Koch Präzisionsgewehr GGK vom Kaliber 5,56. Diese Information sollte den Medien nicht bekannt sein und reichen.«
Eigentlich wollte Nika noch etwas erwidern, aber der Mann hatte aufgelegt.
Noch zum Ende des Telefonats hin, hatte Thorvald dafür gesorgt, dass zwei Streifenwagen zur Bussestraße beordert wurden.
»Hm«, resümierte Nika, »den Stimmverzerrer in dieser Art zu nutzen, ist ja mal ganz was Neues. Ein etwa fünfjähriges Kind hatten wir noch nie, oder? Verleiht dem Inhalt mehr Harmlosigkeit. Oder mehr Herausforderung. Auf jeden Fall sauberes, akzentfreies Hochdeutsch. Lässt sich die Tonspur eigentlich wieder zurücksetzen?«
»Keine Ahnung. Frag Jessica. Auf jeden Fall ziemlich clever, für diesen einzelnen Anruf ein geklautes Handy zu nutzen.«
»Stimmt«, bestätigte Nika. »Dann werde ich mal hochgehen, und den Polizeidirektor informieren. 10 Millionen! Mann, der kriegt ´ne Macke.«
Für den nächsten Vormittag wurde in aller Eile eine Krisensitzung ins Leben gerufen.
Neben Nika und dem Polizeidirektor Hagenbruch als Initiator nahm auch der Polizeipräsident Bernd Richter und Staatssekretär Malte Biermann, der offensichtlich vom Innenminister vorgeschoben wurde, teil.
»Ich möchte Sie um eine kurze Zusammenfassung der Sachlage bitten, Frau Brömmer«, übernahm der Polizeidirektor das Wort. »Zumindest Staatssekretär Biermann wird nicht in allen Einzelheiten informiert sein.«
Nika öffnete ihren Laptop und räusperte sich kurz: »Wir haben es augenscheinlich mit einem äußerst gefährlichen und entschlossenen Mann und einer außergewöhnlichen Situation zu tun, wie sie, meines Wissens, in diesem Land noch nicht vorkam. In nur neun Tagen hat der Mann drei Attentate begangen, wobei er den Tod seiner Opfer nicht nur in Betracht zieht, sondern scheinbar bevorzugt. Und dabei geht er äußerst geschickt vor. Er hinterlässt keine Spuren und es gelang ihm bisher jedes Mal, vollkommen im Verborgenen zu handeln. Bis gestern am späten Nachmittag hatten wir keine Ahnung, worin seine Motivation besteht, wahllos auf Menschen anzulegen. Bis dann das Telefonat einging.« Nika drückte auf ihrem Laptop eine Taste und die elektronisch verstellte Kinderstimme war zu hören. Alle lauschten aufmerksam der Ansprache und die Anspannung war deutlich in ihren Gesichtern zu erkennen, die auch dann noch anhielt, als die Tonspur verstummt war.
Staatssekretär Biermann war der Erste, der sich zu Wort meldete. »Das kommt nicht infrage, dass wir uns erpressen lassen. Wenn wir die Forderung erfüllen, wird das in Zukunft Schule machen. Und was das bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Ich habe das zwar letzten Endes nicht zu entscheiden, aber ich bin mir sicher, dass der Innenminister genauso denken wird.«
»Dann wird er weitermachen«, unterbrach ihn Nika. »Wollen Sie das verantworten, wenn es weitere ein, zwei oder drei Todesopfer gibt?«
»Ich denke, hier ist in erster Linie die Polizei gefordert. Dann müssen sie sich etwas mehr ins Zeug legen und dem Mann das Handwerk legen. Schließlich sind ja noch vier Tage Zeit.«
In Nika verkrampfte sich etwas.
Was sollte der Scheiß?
Was bildet sich dieser Lackaffe ein? Diese Äußerung war nicht nur unnütz, sie kam einer Provokation gleich. Entsprechend wütend reagierte Nika: »Die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten vier Tagen der Vatikan sein Vermögen unter den Ärmsten der Weltbevölkerung verteilt, ist hunderttausendmal höher, als diesen Mann zu fassen. Wir haben ... «
»Dann sind Sie persönlich vielleicht mit dieser Aufgabe überfordert? Dann muss man vielleicht darüber nachdenken, jemand anderem die Leitung zu übertragen.«
Das war der Augenblick, in dem sich Polizeidirektor Hagenbruch einschaltete.
»Bei allem Respekt, Herr Staatssekretär, aber solche unqualifizierten Äußerungen sind hier fehl am Platz. Frau Brömmer zählt zu den erfolgreichsten Ermittlern. Ermittlerinnen. Landesweit. Sie dürfen davon ausgehen, dass zurzeit dutzende hoch motivierte Beamte damit beschäftigt sind, Ergebnisse zu erzielen. Tag und Nacht. Aber bei der derzeitigen Spurenlage ist es vollkommen unrealistisch zu erwarten, den Schützen in nur vier Tagen zu identifizieren. Wir sollten uns also auf die Geldübergabe konzentrieren und bei dieser Gelegenheit versuchen, ihn zu überwältigen.«
»Dem kann ich mich nur anschließen«, stimmte Polizeipräsident Richter zu. »Sorgen sie nur dafür, den Innenminister von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Geld freizugeben. Rechtzeitig. Um alles Weitere werden wir uns kümmern.«
»Der Finanzminister wird da wohl auch noch ein Wörtchen mitreden wollen«, erklärte Staatssekretär Biermann herablassend. »Wie bereits erwähnt, meine Befugnisse reichen da nicht aus. Aber ich werde die entsprechenden Stellen umgehend informieren. Ich denke, wir sind dann hier fertig, oder? «
Nachdem der Politiker den Raum verlassen hatte, wartete der Polizeipräsident noch einen Moment ab. »Ich hoffe doch sehr, dass er sich nur wichtig machen wollte. Sollte das Geld nicht freigegeben werden, müssen wir uns entscheiden, entweder eine fiktive Geldübergabe zu planen, oder aber dem Mann zu erklären, dass es kein Geld geben wird. Was spätestens dann, wenn die Presse davon Wind bekommt, sowieso die einzige Möglichkeit sein wird. Dann ist eine fiktive Geldübergabe ohnehin hinfällig.«
»Wir sollten uns auf beide Varianten vorbereiten«, gab der Polizeidirektor von sich. »Sowohl auf eine reguläre, wie auch eine fiktive Geldübergabe. Ich werde Leitner und Brose von der OK damit beauftragen. Das hält Ihnen und ihrem Team den Rücken frei«, sagte er in Richtung der Kriminalhauptkommissarin. »Die beiden haben nicht nur eine gewisse Erfahrung auf dem Gebiet, sondern können auch auf einige Erfolge zurückblicken.«
Damit war die Unterredung beendet und Nika machte sich auf den Weg. Beruhigt hatte sie sich aber noch nicht. Das blöde Geschwafel des Politikers klebte immer noch wie ein misslungenes Tattoo an ihr.
Das war eine ihrer Schwächen, wie sie selbst am besten wusste. Wenn sie sich zu Unrecht angegriffen fühlte, gelang es ihr im Anschluss nur schwer, ihre Verärgerung abzuschütteln.
Auf dem Rückweg legte sie einen Zwischenstopp bei Jessica ein.