Agamemnon - Wolfgang Glagla - E-Book

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Wolfgang Glagla

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Beschreibung

Mitten in Hannover wird auf der Alten Bult die Leiche eines Mannes gefunden. Obwohl die Identität schnell geklärt ist, scheint die Vergangenheit des Opfers aus einem großen Rätsel zu bestehen. Welches Geheimnis umgab ihn? Wer war der Mann? Richard Tackert macht sich auf die Suche ... und gewinnt nebenbei die Freundschaft zu einem ganz besonderen Zeitgenossen.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Agamemnon

Wolfgang Glagla

Copyright: © 2016 Wolfgang Glagla, Merianweg 13, 30655 Hannover

www: wolfgang-glagla-autor.jimdofree.com/

Umschlaggestaltung: Copyright: © 2016 Wolfgang Glagla

Verlag: epubli - ein service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7375-8362-6

Wolfgang Glagla

Agamemnon

Kriminalroman

Für Jasmin

Dieses ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht gewollt.

Er lächelte. Heute würde sie sterben, wusste er, denn die Begleitumstände könnten kaum passender sein, um das Risiko auf ein Minimum zu reduzieren.

Der schwache Regen hielt dauerhaft an und erschwerte die ohnehin eingeschränkte Sicht dieser Septembernacht. Ein leichter Südwestwind schob das erste Laub vorsichtig über das blasse Grün. Ideale Bedingungen, erkannte er, würde es doch dazu führen, dass nur wenige Spuren seiner Ausführung verbleiben würden.

Seine Waffe hatte er im hohen Gras abgelegt. Bevor sie zum Einsatz kommen sollte, waren kleine Vorbereitungen nötig, die aber wichtig waren, um im Ergebnis eine maximale Befriedigung zu erzielen. Und dieses Wissen beruhte auf mehreren Jahren Erfahrung.

Die Fehler der ersten beiden Durchführungen damals waren sehr lehrreich gewesen und haben zu umfangreicheren Planungen und damit zu intensiverem Erleben seiner Taten geführt.

Ein letztes Mal ging er in Gedanken den Ablauf durch, während seine Augen den Horizont absuchten, um sicherzustellen, dass niemand ihn beobachtete.

In der Wahl seines Tatortes bestand heute ein höheres Risiko als in der Vergangenheit. Eigentlich viel zu nah an zu vielen Häusern, und somit zu groß die Möglichkeit, durch Zufall entdeckt zu werden. Aber andererseits auch geschützt, wegen der besonderen Lage mit umliegenden Bäumen und Sträuchern. - Mitten in der Stadt, und doch mitten in der Natur.

Er lauerte im Schatten einer wuchtigen Eiche und wartete auf den richtigen Augenblick, als er plötzlich hinter sich ein Geräusch vernahm. Fast so, als würde ein Zweig brechen.

»Eh, du Schwein!«, flüsterte jemand in seinem Rücken. Als er sich erschrocken umdrehte, erreichte ihn mit ungeheurer Wucht ein Hieb in der Magengegend, der augenblicklich nie erfahrene Schmerzen auslöste. Noch während er den Angreifer anstarrte, wurde er ein zweites Mal getroffen und verlor fast im selben Augenblick das Bewusstsein.

***

Natalie Bischoff hatte ihrem Hund versprochen, heute früh einen längeren Auslauf zu ermöglichen.

Als um fünf Uhr fünfzehn der Wecker klingelte, wartete der Border-Collie bereits ungeduldig auf das Startsignal. Wegen des leichten Nieselregens entschloss sich Natalie, das Auto zu nehmen, obwohl die Alte Bult in nur etwa zehn Minuten Fußmarsch zu erreichen war.

Sie parkte das Fahrzeug am Kinderkrankenhaus, wo zu dieser Stunde nur wenige Autos abgestellt waren.

Hannovers Pferderennbahn befand sich fast siebzig Jahre lang auf der Alten Bult, wurde aber wegen geplanter Industrieansiedlung, die dann nicht realisiert wurde, 1971 in den Norden der Stadt verlegt. Die Tribüne war bereits abgerissen, ersatzweise der Bau eines Kinderkrankenhauses beschlossen, und die verbleibende Restfläche als Naherholungsgebiet und später sogar Naturschutzgebiet ausgewiesen. - Sehr zur Freude des nahegelegenen Reitstalls.

Die Hundebesitzer in den angrenzenden Stadtteilen erkannten schnell das Potenzial dieser Fläche und so wurde der Bereich zu einem beliebten Hundetreff.

Dass hier die meisten Hundebesitzer die Anleinpflicht missachteten, wurde von den Verantwortlichen der Stadt toleriert. Zumindest solange, bis dann wieder einer dieser Hunde, der ja nur spielen wollte, einem Pony samt Kleinkind auf dem Rücken, an die Kehle sprang. Dann war das Geschrei groß - fast größer als die Dankbarkeit, dass sich das Kinderkrankenhaus und die Tiermedizinische Hochschule in unmittelbarer Nähe befanden.

Natalie ging schnellen Schrittes in Richtung Bismarckbahnhof, was zum einen an den lausigen Temperaturen, zum anderen an dem Empfinden lag, dass diese Gegend zu dieser Tageszeit einen unheimlichen Eindruck auf sie machte. Der Hund war nirgends zu sehen, aber sie wusste, dass ein kurzes Signal reichen würde.

Sie hatte gerade den Bereich verlassen, wo seinerzeit die Tribüne endete, als der Border-Collie aufgeregt bellend auf sie zueilte und sie aufforderte, ihm zu folgen.

Sie hatte nie zuvor einen Toten gesehen - erst recht keinen dahingeschlachteten - und musste schwer gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Es dauerte einen kleinen Moment, bis sie in der Lage war, ihr Handy aus der Jacke zu fischen und den Notruf zu wählen.

Richard Tackert und sein Kollege Sven erreichten gegen sieben Uhr dreißig den Tatort, den sie weiträumig abgeriegelt antrafen. Uniformierte Kollegen waren damit beschäftigt, die zahlreichen Schaulustigen zu ermahnen, ihre Hunde anzuleinen, die natürlich immer wieder den abgesperrten Bereich durchkreuzten.

An der Fundstelle des Leichnams war ein Pavillon aufgestellt. Acht Mitarbeiter der Technischen Abteilung suchten konzentriert das Gelände ab.

»Morgen …«, wurden die beiden Kommissare von ihrer Kollegin Sonja begrüßt, die auf Grund eines sehr kurzen Anfahrtsweges bereits vor Ort war. »Schöne Schweinerei. Der Mann wurde … na ja, förmlich abgeschlachtet.«

»Ist Dr. Schröder schon da?«, fragte Sven. »Gibt es schon erste Details?«

»Allerdings. Wir haben eine Geldbörse, Handy und Schlüssel am Opfer gefunden. Es handelt sich dabei um einen Clemens Hinrichs, 39 Jahre alt, wohnhaft in Mellendorf. Die Tatzeit liegt zwischen drei und vier Uhr in den Morgenstunden. Schröder meint, dass die Tatwaffe ein großes Messer gewesen sein muss.«

»Wurde die Waffe gefunden?«, wollte Tackert wissen.

»Bis jetzt noch nicht.«

»Wissen wir bereits Näheres über den Toten?«

»Nein. Noch nicht … aber Nicola ist unterrichtet und hat mit den Recherchen schon begonnen.«

Drei Stunden später saß Hauptkommissar Richard Tackert mit seinen Kollegen Sven Weiss, Sonja Raabe, Nicola Kleinschmitt und Jan Ackermann im Präsidium.

»Also, Clemens Hinrichs ist kein Unbekannter«, begann Nicola mit ihren Ausführungen. Nicola war mit Abstand die Jüngste der Anwesenden, und gehörte erst seit einigen Monaten zum Team. »Hat zwei Vorstrafen wegen Körperverletzung. Zweitausenddrei und zweitausendelf. Einmal sechs Monate, einmal neun Monate auf Bewährung. - Geschieden, ein Kind. Gelernter Bankkaufmann. War aber seit über vier Jahren für ein Energieberatungsunternehmen tätig. Lebt seit seiner Scheidung vor sechs Jahren in Mellendorf in einer Ein-Zimmer-Wohnung.«

»Das ist ja schon mal was«, murmelte Tackert. »Noch mehr?«

»Das Auto haben wir gefunden«, erklärte Jan. »War auf einem Waldparkplatz östlich vom Bismarckbahnhof abgestellt. Wird von der KTU gerade untersucht. Die junge Frau, die ihn gefunden hat, hat eine erste Aussage gemacht. Von dieser Seite gibt´s aber nichts Besonderes. Ihr Hund hat ihn heute früh, beim Gassi gehen entdeckt. Weitere Zeugen sind bisher nicht bekannt. Auf dem angrenzenden Reiterhof haben sich zwar zwei Personen aufgehalten, aber niemand hat etwas gehört oder gesehen. Beide geben an, geschlafen zu haben. Die Tatwaffe fehlt weiterhin. Und Dr. Schröder wird erst morgen ein vorläufiges Ergebnis vorlegen.«

»Okay! Dann werden Nicola und Sven sich in seiner Wohnung in Mellendorf umsehen. Sonja, du suchst seinen Arbeitgeber auf, und ich fahre zu seiner geschiedenen Frau«, verteilte Tackert die Aufgaben. »Und Jan. Beschäftige dich bitte mit seinem Handy, und sieh zu, was du zu seiner Person in Erfahrung bringen kannst.«

Michaela Hinrichs wohnte, gemeinsam mit ihrer Tochter Laura, im Stadtteil Groß Buchholz im Merianweg. Typischer, sozialer Wohnungsbau, dachte Tackert. Aber wegen der vielen Grünanlagen gar nicht unsympathisch.

Entgegen seiner Befürchtung wurde nach dem ersten Versuch der Türsummer betätigt. In der zweiten Etage des dreigeschossigen Hauses erwartete ihn eine unscheinbare, mittelgroße dunkelhaarige Frau.

Nachdem er sich ausgewiesen hatte, wurde er in ein einfach möbliertes Wohnzimmer geführt. Als er die Frau vom Tod ihres geschiedenen Mannes informierte, reagierte diese in unerwarteter Form. »Ist das Schwein endlich aus dem Verkehr gezogen! Es tut mir leid, aber etwas anderes fällt mir dazu nicht ein. Und ich glaube kaum, dass sie jemanden finden werden, der in große Trauer ausbricht. Clemens ist das mieseste Sch … war das mieseste Schwein, dass ich jemals kennengelernt habe. Und das werden wohl die Meisten so bestätigen. Ich kann jedenfalls keine große Trauer empfinden, und werde nicht eine Träne vergießen.«

Tackert war überrascht. Nicht gerade eine alltägliche Reaktion, wenn er eine Todesnachricht überbringen muss. »Was war ihr geschiedener Mann für ein Mensch? Wie würden sie ihn beschreiben?«

»Gewalttätig. Jähzornig. Brutal. Gewissenlos. Und noch einiges mehr an schlechten Attributen. Sie können sich was aussuchen. Der Dreckskerl hat nicht nur mich, sondern auch unsere Tochter geschlagen.«

»Aber das war doch bestimmt nicht immer so?«

»Nein, weiß Gott nicht. Clemens war bis vor etwa neun Jahren ein netter, unauffälliger Kerl. Wir hatten einen größeren, gemeinsamen Freundeskreis und unser Leben verlief recht harmonisch. Er war ein liebevoller Vater und zeigte bis dahin keine auffällige Gewaltbereitschaft. Dann sind seine Eltern in einem Italienurlaub bei einem Autounfall ums Leben gekommen. - Und damit begann seine Wandlung. Clemens hat eine Schwester … Doris, und mit der gab es einen Erbschaftsstreit, der sage und schreibe drei Jahre andauerte, bis schließlich ein Gericht darüber entscheiden musste, wem welcher Anteil aus dem Erbe zusteht. Es war nämlich so, müssen sie wissen, dass Clemens davon ausgegangen ist, dass Doris gar nicht seine richtige Schwester ist. Nur eine Halbschwester. Es geisterten da wohl schon seit ewiger Zeit Gerüchte in der Familie herum, ob seine Mutter nicht doch, mit wem auch immer, ein Verhältnis hatte. Na ja. Sie wissen schon. Auf jeden Fall kam es zu diesem Streit zwischen den Geschwistern, die sich noch nie besonders gut verstanden haben, und am Ende dann völlig zerstritten waren. Und nicht nur ich behaupte, dass mit Beginn des Erbschaftsstreits auch die schrittweisen Veränderungen bei Clemens zu beobachten waren. Nach den drei Jahren war er dann unausstehlich geworden. Unausstehlich und gewalttätig. Er war plötzlich ein komplett anderer Mensch. Voller Hass und Aggressionen. Auch Laura und mir gegenüber. Wir mussten jede Menge psychische und physische Gewalt ertragen, und irgendwann wollte und konnte ich nicht mehr und habe die Scheidung eingereicht.«

»Wie alt ist ihre Tochter jetzt?«, wollte der Hauptkommissar wissen.

»Vierzehn, fast fünfzehn.«

»Und nach der Scheidung? Wurden sie da weiterhin von ihrem Mann belästigt?«

»Anfangs ja. Bis ich dann eine längere Beziehung mit einem Bodybuilder hatte, vor dem Clemens ordentlich Respekt hatte, glaube ich. Der hat Clemens gegenüber jedenfalls eine deutliche Ansage gemacht, und dann hörten die Belästigungen auch auf.«

»Ging es bei der Erbschaft um eine größere Summe?«

»Ein Haus im Wert von vierhunderttausend Euro und zirka sechzigtausend an Barvermögen.«

»Und wie hoch war der Anteil, der ihrem Mann zugesprochen wurde?«

»Das weiß ich nicht. Das hat er mir nie gesagt. Und es hat mich auch nicht interessiert.«

»Wann haben sie ihren geschiedenen Mann das letzte Mal gesehen?«

»Zum Scheidungstermin, vor zirka sechs Jahren.«

»Können sie mir die Adresse seiner Schwester geben? Und ich muss danach fragen. Wo waren sie vergangene Nacht zwischen drei und vier Uhr?«

»Natürlich zu Hause … und habe geschlafen. Ich war`s auch nicht, auch, wenn ich ihn am liebsten einige Male umgebracht hätte.« Nebenbei notierte sie etwas auf einem Post-it und reichte ihn Tackert. »Wie ist er denn eigentlich zu Tode gekommen?«

»Er wurde erstochen«, klärte Tackert sie auf.

Michaela Hinrichs antwortete nicht, aber Tackert glaubte, Genugtuung in ihren Blick zu erkennen.

Sonja brauchte länger als erwartet für die Fahrt in den Stadtteil Herrenhausen. Den Firmensitz der Energieberatung Lauert, hatte sie sich gänzlich anders vorgestellt. Eine gewerblich genutzte Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses empfand sie als unpassend.

Der Firmeninhaber persönlich öffnete die Tür und schob sie in einen hässlichen und lieblos eingerichteten Raum. An den kahlen Wänden hing ein einzelnes, an den Kanten mehrfach eingerissenes Poster von Pro-Klima mit einem Werbeslogan, der seine Aktualität schon vor einigen Jahren verloren hatte. Auf dem Fußboden stapelten sich Kartons.

»Tut mir leid wegen der Unordnung«, entschuldigte sich der Energieberater. »Wir renovieren gerade … und können daher unser eigentliches Büro nicht nutzen. Was kann ich für sie tun?«

Sonja stellte sich vor und unterrichtete Herrn Lauert über den Tod von Clemens Hinrichs, der die Nachricht mit deutlichem Entsetzen aufnahm.

»Mein Gott! Das ist ja schrecklich. Was ist da passiert?«

»Tut mir leid. Mehr kann ich ihnen im Augenblick wegen der laufenden Ermittlungen nicht sagen«, klärte Sonja den Mann auf, der wenig Sympathie auf sie ausstrahlte. »Was genau, war denn das Aufgabengebiet von Herrn Hinrichs?«

»Herr Hinrichs hat für uns die Thermofotografie durchgeführt. Also: die Aufnahmen gemacht und auch die Auswertung des Bildmaterials vorgenommen. Das ist ja mittlerweile ein sehr wichtiger Bestandteil bei der Erstellung eines Gutachtens geworden.«

»Das bedeutet, wenn ich die richtige Schlussfolgerung treffe, dass Herr Hinrichs selbstständig arbeitete und viel unterwegs war?«

»Ja! Da haben sie vollkommen recht. Wir haben nur die Adressen der zu bearbeitenden Objekte weitergeleitet. Die entsprechende Planung, wie auch eventuell nötige Terminabsprachen mit den Auftraggebern hat er selbst vorgenommen.«

»War er bei ihnen fest angestellt?«

»Nein, nein! Um Gottes Willen. Das würde sich für uns nicht bezahlt machen. Er war quasi als Subunternehmer für uns tätig und wurde pro Auftrag bezahlt.«

»Kann man davon leben?«

»Ausschließlich mit diesen Einnahmen, eher nicht. Sein Einkommen war sehr unterschiedlich. In den Sommermonaten ist natürlich weniger zu tun, da ja die Thermofotografie bestimmte äußere Bedingungen voraussetzt. Bei Temperaturen über acht Grad Celsius macht eine thermografische Aufnahme keinen Sinn. Ideale Voraussetzungen für gutes Bildmaterial findet man am Ehesten in den Wintermonaten in den frühen Morgenstunden. Und: je kälter, umso besser. Daher ist in der kalten Jahreszeit immer sehr viel zu tun, wogegen in den Sommermonaten kaum etwas anfällt.«

»Hatte Herr Hinrichs einen Auftrag in Hannover, in der Nähe der Alten Bult?«

»Nein. Wenn ich mich recht erinnere, sind zurzeit nur vier Aufträge offen. Davon aber ganz bestimmt keiner in Hannover. Alle weit außerhalb der Stadt. Die Saison hat ja gerade erst begonnen. Die Nachttemperaturen sind meist noch zu hoch, besonders hier in der Stadt.«

»Habe ich das richtig verstanden, dass sie nicht ausschließlich im Großraum Hannover arbeiten?«

»Ganz genau. Achtzig bis neunzig Prozent der Aufträge kommen aus dem weiteren Umland. Mit einem Radius von bis zu hundert Kilometern.«

»War Herr Hinrichs zuverlässig? Hatte er Probleme mit den Kunden?«

»Wir hatten in den vergangenen vier Jahren, die er für uns gearbeitet hat, keinen Grund zur Klage. Und etwas Negatives von unseren Kunden haben wir auch nie gehört. Aber die haben in der Regel auch nie persönlich mit ihm zu tun. Die schlafen für gewöhnlich, wenn er nachts in ihren Gärten umherschleicht, und das Haus von allem Seiten thermografiert.«

»Was wissen sie über sein privates Umfeld? Hatte er Streit mit jemandem? Gab es eine Frau? Wie hat er seine Freizeit verbracht? Hatte er Hobbys?«

»Dazu kann ich ihnen überhaupt nichts sagen. Wir sind uns nur drei-, viermal im Jahr persönlich begegnet. Der Kontakt lief in erster Linie über Telefon oder Internet. Über sein Privatleben weiß ich gar nichts. Überhaupt nichts. Um ehrlich zu sein: Ich weiß noch nicht einmal, ob er verheiratet ist … war. - Tut mir leid.« Lauert legte eine kleine Pause ein, bevor er fragte. »Wann bekommen wir unsere Wärmebild-Kamera zurück? Die haben wir Herrn Hinrichs nur zur Verfügung gestellt und gehört eigentlich zum Firmeninventar. Kostet ja auch ein kleines Vermögen, so eine Kamera.«

Sonja war etwas perplex. »Ich fürchte, das wird noch ein paar Tage dauern. Am besten, sie fragen in zwei bis drei Wochen nochmal nach.«

»Zwei bis drei Wochen?«, wiederholte der Energieberater nachdenklich. »Zwei bis drei Wochen? Wer bezahlt mir den Verdienstausfall?«

Doris Reimann empfing den Hauptkommissar, der sich telefonisch angemeldet hatte, mit ausgeprägter Neugier. Es war ihr nicht gelungen, ihm auch nur die kleinste Andeutung am Telefon zu entlocken, und war gespannt zu erfahren, worum es eigentlich geht. Was die Kriminalpolizei von ihr wollte.

Als Tackert sie dann vom Tod ihres Bruders unterrichtete, zeigte sie eine ähnliche Reaktion, wie Tackert sie schon bei seiner geschiedenen Frau erlebt hatte. Von Trauer war nicht viel zu spüren. Eigentlich war gar keine Regung zu erkennen. Und die Schwester lieferte auch gleich den Grund für ihre Gleichgültigkeit und erzählte dem Hauptkommissar von einem Jahrzehnte lang andauerndem Kleinkrieg mit ihrem Bruder Clemens. Alle erdenklichen Versuche, auch von Seiten der Eltern, die Wogen zu glätten, blieben über Jahre hin erfolglos. Sie erzählte von den Erbstreitigkeiten, dem Verdacht, dass sie eventuell das Ergebnis eines Seitensprungs war, von Verleumdungen, Beschimpfungen und Hass, den ihr Bruder ihr gegenüber offen zeigte, und von dem Unvermögen der Eltern, die Streitigkeiten zu schlichten. Auf die Frage, warum die Angelegenheit nicht mittels DNA-Test ein für allemal aus der Welt geschafft wurde, erwiderte sie, dass sich in erster Linie ihre Eltern dagegen gesträubt haben. Vermutlich aus Scham. Was dann letzten Endes dazu führte, dass sich ihr Bruder in seinen Vermutungen bestätigt sah.

Nach einer knappen Stunde verließ der Hauptkommissar Doris Reimann, ohne dass sie auch nur ein freundliches Wort über ihren Bruder verlauten ließ. Die Beschreibung der Charaktereigenschaften des Ermordeten deckten sich zu hundert Prozent mit den Aussagen seiner geschiedenen Frau.

Sven und Nicola waren ein wenig erstaunt, als sie endlich die Adresse in Mellendorf gefunden hatten.

Sie trafen auf ein kleines Häuschen, das etwas abseits, am Ende einer Gartenkolonie lag, und einen schrecklich heruntergekommenen Eindruck machte. Das Gebäude wurde von einem verwilderten Grünstreifen umrandet. Ein kleiner Schuppen im hinteren Bereich machte auch keinen besseren Eindruck. Eingegrenzt wurde das Ganze von einem etwa ein Meter fünfzig hohen, stabil wirkenden, massiven Zaun, der so gar nicht in das Gesamtbild passte.

Mit einer gewissen Vorahnung schloss Sven die Haustür auf, wurde aber schon im ersten Moment unerwartet positiv überrascht. Innen machte das Haus einen komplett anderen Eindruck. Mit der verwahrlosten Fassade hatte der Innenbereich nichts gemeinsam. Ganz im Gegenteil. Hier hatte jemand mit viel Mühe ein mehr als ansehnliches Ambiente geschaffen.

Bis auf ein separates Badezimmer, dass einen recht sauberen Eindruck machte, gab es nur einen Raum, der sowohl den Schlaf- wie auch den Küchenbereich beinhaltete. Einen erheblichen Anteil nahm eine Arbeitsfläche ein, die über Eck unter den Fenstern verlief und an deren einem Ende ein Flachbildfernseher den Abschluss bildete. An den Wänden klebte, neben diversen pornographischen Darstellungen, auch eine große Niedersachsenkarte, wie auch einige Fotografien und Postkarten. Ein scheinbar neuwertiger Laptop stach den beiden Beamten förmlich ins Auge. Nicola ließ den Apparat hochfahren und stellte fest: »Noch nicht einmal passwortgeschützt. Aber scheinbar eine Menge drauf.«

Sven stand am Bücherregal, dass fest am kurzen Ende der Arbeitsfläche in der Wand verankert war. »Interessante Literatur. Ein totales Durcheinander. Vom Playboy über die Anatomie des Pferdes oder Mein Garten als Heilkräuter-Lieferant bis hin zum Herrn der Ringe und Jerry Cotton.«

»Vielseitig interessiert eben …«, lachte Nicola. »Nicht so wie du, der wahrscheinlich nur die neuesten, flachen Witze liest«, was natürlich eine gemeine Anspielung darauf war, dass Sven die Kollegen ständig mit sehr eigenartigen Witzen nervt, über die meist keiner lachen kann. Aber jeder von ihm erwartet, und somit nicht nur duldet, sondern regelrecht fordert. »Was aber keine Aufforderung war …«, schob Nicola schnell hinterher, die das Gefühl hatte, das Sven in Gedanken bereits sein Repertoire durchkämmte.

»Ziemlich ordentliche Bude hier, nicht? Hatte, ehrlich gesagt, was ganz anderes erwartet. Es gibt sogar einige Anzeichen von richtigem Geschmack, wenn man sich das eine oder andere wegdenkt. Zum Beispiel die obszönen Darstellungen sexuell aktiver Heteros … Schrecklich. Vor allem, weil der eine oder andere Mann viel zu gut aussieht, um seine Leidenschaft am falschen Geschlecht zu vergeuden«, erklärte Sven selbstbewusst, aber ironisch.

»Dann lass das man nicht Jens hören. Das gibt sonst einen Monat Liebesentzug«, vermutete Nicola mit einem breiten Grinsen.

»Ach was«, antwortete Sven bestimmt. »Zwischen Fantasie und Realität gibt es ja Gott sei Dank einen großen Unterschied. Und manchmal glaube ich, dass uns Schwulen das eher bewusst ist, als euch Heteros, die oftmals aus jeder kleinen Geste ein Drama machen. Und Fantasien verbieten? Oder unterdrücken? Das kann doch nicht gut ausgehen? Oder? Und damit meine ich nicht unbedingt nur den sexuellen Bereich.«

Nicola sagte nichts, nickte aber zustimmend mit dem Kopf. Irgendwie stimmt es schon, was häufig behauptet wird, dachte sie. Dass nämlich die nettesten Männer oft schwul sind. Die nettesten, einfühlsamsten und ehrlichsten. Scheiße! Alles ungerecht verteilt. Wie immer!

Schweigend setzten sie ihren Rundgang fort. Nach einer halben Stunde meinte Sven: »Wir sollten die Niedersachsenkarte mitnehmen. Die vielen markierten Punkte darauf haben sicherlich eine Bedeutung. Und natürlich den Laptop. Entdeckst noch irgendetwas, was eine Idee oder Vermutung bei dir auslöst?«

»Nicht wirklich. Aber den Schuppen und das Außengelände sollten wir uns noch ansehen.«

Das Gelände war schnell abgeschritten. Auch, weil es nichts zu sehen gab, außer wild wuchernden Gräsern und Sträuchern.

Aber einen Schlüssel für das wuchtige Vorhängeschloss am Schuppen war nicht zu finden. Weder am Schlüsselbund, noch im Haus.

Nach dreißig Minuten vergeblichen Suchens gaben sie auf.

»Dann müssen die Kollegen das Schloss gewaltsam öffnen. Was man durchs Fenster erkennen kann, sieht nur nach einem Werkstattbereich aus«, meinte Sven.