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Vom Holocaust zu Gefangenen hinter dem Eisernen Vorhang – die Geschichte der dramatischen Flucht zweier Familien nach Dänemark. Es ist Sonntag, der 24. Juli 1960, als Jan Rocek gemeinsam mit seiner Frau, ihren zwei kleinen Kindern und seiner Schwiegermutter über die Reling der ostdeutschen Fähre »Seebad Ahlbeck« springt. Mitten im Hafenbecken von Gedser, Dänemark. Einen Tag später versuchen die Reisers, die engsten Freunde der Familie, diesen Fluchtversuch zu wiederholen, um somit ebenfalls der jahrzehntelangen Unterdrückung der beiden jüdischen Familien in Osteuropa zu entkommen. Im Reportagestil erzählt Jesper Clemmensen hautnah und erschütternd die unglaubliche Geschichte dieser zwei Familien: Von ihrem Überleben des unermesslichen Grauens im Konzentrationslager Auschwitz, von ihrem Gefangensein hinter dem Eisernen Vorhang in der Tschechoslowakei, bevor sie es schließlich nach Dänemark schaffen – nur um dort vor dem Kommunismus in eine ungewisse Zukunft fliehen zu müssen. Eine eindringliche Biografie vom Leben in der totalitären Finsternis und von der Sehnsucht nach Freiheit. Eine aufrüttelnde Flucht- und Überlebensbiografie und ein akribisch recherchierter Reportage-Roman. Ein wichtiges Zeitzeugen-Buch, das auch LeserInnen von Heather Morris interessieren wird.
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vom Holocaust zu Gefangenen hinter dem Eisernen Vorhang – die Geschichte der dramatischen Flucht zweier Familien nach Dänemark.
Es ist Sonntag, der 24. Juli 1960, als Jan Rocek gemeinsam mit seiner Frau, ihren zwei kleinen Kindern und seiner Schwiegermutter über die Reling der ostdeutschen Fähre »Seebad Ahlbeck« springt. Mitten im Hafenbecken von Gedser, Dänemark. Einen Tag später versuchen die Reisers, die engsten Freunde der Familie, diesen Fluchtversuch zu wiederholen, um somit ebenfalls der jahrzehntelangen Unterdrückung der beiden jüdischen Familien in Osteuropa zu entkommen.
Im Reportagestil erzählt Jesper Clemmensen hautnah und erschütternd die unglaubliche Geschichte dieser zwei Familien: Von ihrem Überleben des unermesslichen Grauens im Konzentrationslager Auschwitz, von ihrem Gefangensein hinter dem Eisernen Vorhang in der Tschechoslowakei, bevor sie es schließlich nach Dänemark schaffen – nur um dort vor dem Kommunismus in eine ungewisse Zukunft fliehen zu müssen.
Eine eindringliche Biografie vom Leben in der totalitären Finsternis und von der Sehnsucht nach Freiheit.
eBook-Neuausgabe September 2025
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2020 unter dem Originaltitel »Afhopperne« bei Lindhardt og Ringhof.
Copyright © der Originalausgabe 2020 Jesper Clemmensen und Lindhardt og Ringhof Forlag
Copyright © der deutschen Erstausgabe Lindhardt og Ringhof
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redakteur des Original-Verlags: Ole Sønnichsen
Berater: Peer Henrik Hansen
Text-Editor: Tobias Koch
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock/gru Pictures, ESB Professional sowie eines Fotos von Rocek Reiser Esrom 1960 und eines Fotos aus dem Bundesarchiv
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (cdr)
ISBN 978-3-69076-140-6
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Jesper Clemmensen
Nach einer wahren Geschichte
dotbooks.
»Es ist mir egal, im Namen welcher Ideologie Gräueltaten begangen wurden. Ich möchte, dass sie erkannt und benannt werden, damit sie sich nicht wiederholen.«
Anne Applebaum, Historikerin und Journalistin
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»Abspringer«, Person, die plötzlich und illegal ihr Land (oder ihre Partei) verlässt. Der Begriff wurde (in Dänemark) insbesondere für Menschen verwendet, die aus der ehemaligen Sowjetunion und den kommunistischen Regimen in Osteuropa geflohen sind.
Den Store Danske, Gyldendal
Schlussstriche in Prag
Freitag, 6. September 2019
Weit weg vom Zentrum Prags, näher an den Schornsteinen der Fabriken als an den alten Türmen der Stadt, biegt ein Lastwagen in die kleine Straße Nad Olšinami ein. Es ist Freitag, um halb neun Uhr morgens. Von der Hauptstraße her hört man ein Brummen und Surren, und weiter weg erklingen regelmäßig Einsatzfahrzeuge. Der Lastwagen hält vor einem pfirsichfarbenen dreistöckigen Haus. Zwei breitschultrige Pflasterer springen heraus und gehen auf einen dritten Mann zu, der einen Karton unter dem Arm trägt. Sie grüßen sich kurz und gehen dann zu einer Stelle auf dem Bürgersteig, auf die der Mann mit dem Karton zeigt. Er blickt auf ein Stück Papier und dann auf die Fassade des Gebäudes: Hier sind sie richtig. Einer der Pflasterer, offensichtlich der Vorarbeiter, zeigt auf das Pflaster und murmelt seinem Kollegen etwas zu, der eilt daraufhin zum Lkw zurück und holt Werkzeug und Materialien heraus. Stromaggregat, Betonfräse, kleiner Pressluftbohrer, Eimer mit Mörtel, Kelle, Hammer und ein Besen mit weichen Borsten. Der Mann mit dem Papier in der Hand stellt die Kiste auf den Boden und nimmt den Inhalt heraus. Drei Pflastersteine mit Messingplatten, auf denen ein kurzer Text geschrieben steht. Namen, Städte, Daten. Drei Leben.
Es ist Viertel vor neun. Eine kleine Gruppe von Menschen versammelt sich um den Bereich, in dem die Pflasterer ihre Maschinen bereitlegen. In der Menge steht ein gebeugter älterer Herr mit Krawatte und dunkelblauem Sakko, der mit verschiedenen Leuten spricht. Er ist so etwas wie der Gastgeber. Und er ist derjenige, an den man sich wendet, wenn man eine Frage zu den Steinen hat. Die meisten der Anwesenden sind seine Familienmitglieder, aber es sind auch einige alte und neue Freunde dabei. Unter ihnen ist eine dänische Frau mit dunklem Pagenkopf. Einer der beiden Söhne des Mannes macht ein Foto von den Pflastersteinen, die aufgereiht auf der Bordsteinkante liegen. Weitere folgen seinem Beispiel, bevor die Steine vorsichtig an ihren Platz getragen werden. Sobald sie dort sind, zieht der Vorarbeiter Striche um sie herum und legt sie zur Seite. Er schaltet den Generator ein und nimmt die Fräse. Die Lautstärke steigt wie eine Staubwolke auf, als die Fräse auf den Asphalt trifft und schmale Kerben in die harte Oberfläche schneidet. Die Zuschauer verstummen und kneifen instinktiv die Augen zusammen oder wenden sich ab. Wenig später zerkleinert der Pressluftbohrer den Asphalt in den Kerben, so dass er mit der Hand herausgeholt werden kann. Der Vorarbeiter entfernt die letzten Reste mit dem Maurerlöffel und macht Platz für die Pflastersteine. Die Männer setzen sie kurz an; das Loch ist groß genug. Einige der jüngeren Zuschauer dürfen Mörtel auf die Unterseite der Steine schmieren und sie in die Straße setzen. Anschließend füllen sie die Kerben mit Mörtel auf und einer der Pflasterer fegt die Steine sauber, bevor er und sein Kollege die Werkzeuge auf den Lastwagen laden und abfahren. Die glänzenden Messingschilder sind jetzt Teil des Pflasters. Sie gehören hierher. Oder gehörten hierher.
Der Sohn im grauen Sakko nimmt drei Fotos aus einer Plastiktasche und legt sie neben die Steine. Auf einem der Bilder blickt eine junge Frau in einem feinen weißen Kleid direkt in die Kamera. Das ist Frieda, die später den tschechischen Namen Bedriska annahm. Geboren 1895, gestorben 1944. Ein Foto ihres Ehemannes Hugo liegt daneben. Ein klassisches Porträt eines Mannes mittleren Alters mit wassergekämmtem Haar. Geboren 1887, gestorben 1944. Auf einem Foto auf dem untersten Stein lächelt ihre Tochter Helga dem Fotografen zu. Im Jahr 1936 war sie sieben Jahre alt. Auch sie starb 1944. Die drei Steine haben eine weitere gemeinsame Jahreszahl: 1942. Die Deportation. Helga lehnt ihre Wange an einen etwas größeren Jungen in Hemd und Strickweste. Auch er lächelt. Es ist ihr älterer Bruder Jan – der ältere Mann mit Krawatte und dunkelblauem Sakko, der sich jetzt von den Leuten abwendet, die miteinander reden. Er steht mit dem Rücken an der Hauswand und schaut sich um. Blickt zu seinen beiden Söhnen, seiner Schwiegertochter, seinen Enkeln und Freunden. Es ist neun Uhr. Jan Rocek räuspert sich und das Gespräch verstummt.
»Ich möchte ein paar Worte sagen ... Ich möchte allen danken, die gekommen sind, um meinen Eltern und meiner kleinen Schwester zu gedenken, die erst 15 Jahre alt war, als sie und meine Eltern in die Gaskammer gesperrt und vor 75 Jahren in Auschwitz ermordet wurden. Meine Familie und ich lebten hier, seit ich vor über 95 Jahren geboren wurde. Alle meine Kindheitserinnerungen sind mit diesem Ort verbunden. Ich erinnere mich, wie meine Mutter sich ganz der Familie widmete, als die Hausarbeit noch viel schwieriger war als heute. Wir hatten keinen Kühlschrank, keinen Staubsauger, keine Waschmaschine und keinen Wäschetrockner. Das Essen wurde auf einem Kohleherd gekocht. Sie war körperlich aktiv, ging mit mir spazieren, im Winter Schlittschuhlaufen und Schlittenfahren. Und im Sommer schwammen wir. Wir schwammen durch die Moldau. Und wir wanderten ... und wanderten ...«
Er verstummt, als ein Einsatzfahrzeug auf der Hauptstraße vorbeifährt. Wartet, bis die Sirenen nur noch ein entferntes Hintergrundgeräusch sind.
»Im Sommer wanderten wir in den Bergen. Von ihr habe ich eindeutig die Liebe zu den Bergen und zum Wandern geerbt. Und ich erinnere mich an meine süße kleine Schwester, die viel, viel aufgeschlossener war als ich und viel mehr Freunde hatte.«
Die meisten Menschen in der Menge schauen automatisch auf das kleine Mädchen, das von dem Schwarz-Weiß-Foto auf dem Bürgersteig lächelt. Und der Junge, dessen Arm sie hält, fährt mit seiner Trauerrede fort:
»Ich erinnere mich an meinen Vater, er war ... Ja, ich erinnere mich an ihn, besonders während der Wirtschaftskrise, die sehr, sehr hart war, da er mit seinem Bruder darum kämpfte, ihre kleine Farbenfabrik am Leben zu halten. Und ich erinnere mich, dass ich später so schockiert war, als wir eines Tages auf dem Balkon standen – hier, genau darüber – und er zu mir sagte: ›Weißt du, es gibt keinen großen Unterschied zwischen Kommunismus und Nazismus. Außer, dass wir Juden sind.‹ Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Damals kämpfte die sowjetische Armee gegen die Deutschen, und ich dachte, er sei ein alter Dummkopf. Er war über 50, also wusste er wahrscheinlich nicht, wovon er sprach. Ich brauchte zehn Jahre, um zu erkennen, wie recht er hatte. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so viel Integrität besaß wie er. Er hasste alle Lügen. Er glaubte an die Wahrheit und duldete nicht die kleinste Notlüge. Ich denke, sein Einfluss und das Aufwachsen unter dem bewundernswerten Präsidenten Tomàš Masaryk, der das Motto ›Sieg der Wahrheit‹ vertrat, halfen mir, die Lügen der Kommunisten zu durchschauen. Lügen, die man nicht nur akzeptieren, sondern auch wiederholen musste, wenn man überleben wollte. Es war für mich inakzeptabel und unmöglich, meine Kinder unter diesen Bedingungen aufwachsen zu lassen.«
Das war's. Er blickt auf und stellt seinen Sohn vor, Martin Rocek. Ein begabter Physiker, sagt Jan, der auch gute Gedichte schreibt. Martin tauscht den Platz mit seinem Vater und liest Window Seat. Eine Erinnerung daran, wie er während eines Fluges plötzlich vom Verlust dreier naher Verwandter überwältigt wurde, obwohl er sie nie kennengelernt hat. Das Gedicht habe er vor Jahren geschrieben, aber es passe zu der heutigen Zeremonie, sagt er.
»... they are but stories from the past: they lived and loved and then were gassed ...«
Der 95-jährige Jan Rocek hat in Prag eine Art Schlussstrich gezogen. Nicht nur unter seiner eigenen Geschichte, sondern auch physisch. Drei so genannte Stolpersteine im Straßenpflaster, von denen es in allen europäischen Großstädten Tausende gibt. Sie erinnern daran, dass in dem Haus, an dem man vorbeigeht, einst eine Person oder eine Familie wohnte, die vor dem mörderischen Nazi-Regime dort lebte. Jetzt gibt es drei weitere Stolpersteine. Eine Erinnerung an Hugo, Bedriska und Helga, die im 3. Stock des Hauses Nad Olšinami 448 wohnten, lebten und träumten. Der heutige Tag kommt einer Beerdigung von Jans Familie am nächsten, flüstert Schwiegertochter Karen, die alles organisiert hat. Es ist besonders wichtig, in diesem langen Leben diesen Schlussstrich ziehen zu können.
Eine dänische Frau steht in der Menge. Ihr Name ist Helle West. Bis vor kurzem kannte Jan sie nicht. Bis gestern hatten sie sich noch nie persönlich getroffen. Ihre Wege kreuzten sich vor 59 Jahren zufällig in Dänemark, aber nur flüchtig und hektisch. Und doch sind sie durch die mutige und riskante Tat eines Mannes im Sommer 1960 eng miteinander verbunden. Eine Aktion, die dafür sorgte, dass Jan, seine Frau und seine Kinder von den totalitären Kräften befreit wurden, die zum zweiten Mal ihr Leben zu zerstören drohten.
***
Vernehmung eines Geflohenen
Dienstag, 26. Juli 1960, Polizeiwache, Kopenhagen
Kriminalobermeister Dalgaard ist es kaum entgangen, dass seine Kollegen in der südlichsten Stadt Dänemarks dramatische Tage hinter sich haben. Den zweiten Tag in Folge prangt der Fall auf den Titelseiten aller großen Zeitungen. Es geht um die Flüchtlinge, die von der ostdeutschen Polizei in einem Gummiboot in Gedser verfolgt wurden. Es wird behauptet, die Ostdeutschen hätten sich eines kleinen Jungen bemächtigt, den sie »als Geisel genommen« hätten, aber auch, dass ein »dänischer Held« eingegriffen habe. Die Zeitungen haben ausführlich über den Fall berichtet, aber nur wenige haben mit den betroffenen Personen gesprochen. Und niemand hat bisher ihre Version der Geschichte gehört. Dalgaard ist der erste, der ein richtiges Verhör durchführt.
Ihm liegen mehrere Berichte und Zeugenaussagen von vor zwei Tagen vor. Daraus geht hervor, dass Kriminalhauptkommissar Scharling aus Gedser am späten Sonntagnachmittag bei der Polizeistation in Kopenhagen anrief. Der Grund war, dass »fünf Personen, drei Erwachsene und zwei Kinder, vor kurzem von der ostdeutschen Fähre Ahlbeck ›gesprungen‹ waren. Sie waren über Bord ins Wasser gesprungen und befanden sich nun mit dem Krankenwagen auf dem Weg ins Krankenhaus in Nykøbing F.«
Ein Däne – »ein Passant« – scheint die Fliehenden gerettet zu haben, aber am Sonntagnachmittag hatte die Polizei keine konkreten Informationen über den Mann. Das Gleiche galt für die fünf Betroffenen.
»Es ist noch nicht möglich, ihre Identität festzustellen«, hieß es in dem Bericht am Sonntagnachmittag. Es war 17.15 Uhr. Zwei Stunden später meldete sich ein weiterer Kollege, diesmal vom Bahnhof Nykøbing Falster, in Kopenhagen. Er sagte, es handele sich um »fünf tschechische Staatsbürger«. Ein Ehepaar mit zwei kleinen Jungen und die Mutter der Frau. »Sie haben um politisches Asyl gebeten und sind aus Angst vor den Kommunisten geflohen.«
Der Kriminalobermeister entnimmt den Unterlagen weitere höchst ungewöhnliche Entwicklungen der letzten 24 Stunden. Die fünf Abgesprungenen vom Sonntag, dem 24. Juli, waren nicht die einzigen, die versuchten, über den Hafen von Gedser zu entkommen. Eine andere Familie – mit Verbindungen zur ersten – hatte kurz darauf den gleichen verzweifelten Fluchtversuch unternommen: sie wollten ebenfalls über Bord des ostdeutschen Schiffes in das Hafenbecken springen.
Der zweite Versuch gehört jedoch nicht zum Aufgabenbereich des Kriminalobermeisters. Er wird den Familienvater von der Flucht am 24. Juli befragen.
Name der befragten Person: »ROCEK, Jan«. Angeblich 36 Jahre alt, Chemiker, zuletzt an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Institut für organische Chemie und Biochemie, beschäftigt. Es gibt nur wenige Informationen über seinen Hintergrund, aber Dalgaard wird wahrscheinlich bald mehr herausfinden.
Um ein Uhr mittags sind Schritte auf dem Korridor zu hören. Die Tür öffnet sich, und Jan Rocek wird in einen Raum mit hohen Decken und großen Fenstern zum kreisrunden Innenhof geführt. Der schlanke Mann mit dem dünnen roten Haar setzt sich Dalgaard gegenüber. Er bestätigt auf Deutsch seinen Namen, seine Familienverhältnisse, seinen Beruf und die Namen seiner Eltern. Der Däne notiert, dass der Mann »sich bereit erklärt, über sein Privatleben und über seine Flucht hierher und deren Gründe zu berichten.«
Herr Rocek gehört zu einer Gruppe von Personen, die seit den späten 1940er Jahren regelmäßig in den Medien Thema sind. Man nennt sie »Abspringer«. Flüchtlinge, die ihr Leben riskieren, um ein Dasein voller Unterdrückung, Verfolgung oder schlechter Lebensbedingungen in einer kommunistischen Diktatur gegen ein freieres Leben in einer Demokratie auf der anderen Seite einzutauschen. Die Ostblockregime haben ihre Grenzen zum Westen geschlossen und die Überwachung mit Sperrzonen, elektrifiziertem Stacheldraht, Minenfeldern und bewaffneten Grenzpatrouillen verstärkt. Diese Barriere ist heute als Eiserner Vorhang bekannt. Jener sorgt dafür, dass die Bevölkerung in der kommunistischen Einflusssphäre bleibt – ob lebendig oder tot. Aber es gibt Auswege. Viele Bürger des Ostblocks sind buchstäblich in den Westen »abgesprungen«, zum Beispiel bei offiziellen Besuchen als Diplomaten oder bei großen Sportveranstaltungen, und einige haben Flugzeuge und Züge entführt. Die meisten versuchen jedoch, die Landesgrenzen zu überschreiten. Jeden Tag und jede Nacht schleichen sich gewöhnliche Menschen in die Grenzgebiete und versuchen, den Zaun zu überwinden. Viele Fluchtversuche sind erfolgreich, aber es gibt auch viele Menschen, die von Gewehrkugeln aufgehalten oder von Tausenden von Volt im Stacheldraht mit einem Stromschlag getötet werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich derzeit in erster Linie auf das Zentrum des Kalten Krieges, Berlin, wo Tausende von Menschen aus der DDR die offene Stadtgrenze überschreiten und im westlichen Teil der Stadt bleiben. Die Weltpresse spekuliert wie verrückt darüber, wie die ostdeutsche Regierung das Loch in Berlin stopfen wird. Der ostdeutsche Diktator Walter Ulbricht heckt einen Plan aus, aber es wird noch ein weiteres Jahr dauern, bis die Welt die Umsetzung zu Gesicht bekommt.
Obwohl unsichtbar, durchschneidet der Eiserne Vorhang auch die Ostsee. In dieser Zeit haben bereits Tausende von Menschen versucht, über das Meer in die Freiheit zu gelangen. Die geografische Nähe Dänemarks zu mehreren Ostblockländern spiegelt sich in all den polnischen und deutschen Namen im Polizeiregister der Festgenommenen wider. Die Zahl der Abgesprungenen ist auf Bornholm und Falster besonders hoch. Seit Ende der 1940er Jahre kommen sie in Jollen oder größeren Booten an, nachdem sie von Fischerbooten und Kreuzfahrtschiffen gesprungen waren. In seltenen Fällen landen sie als Deserteure in Kampfflugzeugen. Im Kopenhagener Hafen verließen in zwei Sommern 1957 und 1958 über hundert »Abspringer« zwei polnische Kreuzfahrtschiffe, die an Langelinie festgemacht hatten. Die Flüchtlinge kamen hauptsächlich aus Polen und Ostdeutschland, manchmal aber auch aus weiter entfernten Ländern. Wie in diesem Fall aus der Tschechoslowakei oder Ungarn und in einigen wenigen Fällen aus Rumänien, Bulgarien oder der Sowjetunion. Jene, denen die Flucht gelingt, werden immer zur dänischen Polizei gebracht, weil sie die Grenze ohne Papiere überquert haben, was eine Straftat ist. Wenn sie aus offiziellen Feindesländern kommen, werden ihre Angaben von den Geheimdiensten überprüft. Einige bitten um Asyl, andere wollen weiter nach Westdeutschland, England, Kanada oder in die USA. Aber alle müssen gute Gründe haben, um den Ostblock zu verlassen.
Der Kriminalobermeister sieht sich mit einer der spektakulärsten Fluchtaktionen auf dänischem Boden konfrontiert. Es handelt sich um ein Schicksal, das den Kalten Krieg und den Eisernen Vorhang konkreter werden lässt. Aber es gibt vieles, was er fragen und klären möchte. Nicht zuletzt, wie sie ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder riskieren konnten, indem sie über Bord sprangen? Im ersten Bericht von Gedser heißt es: »... sind aus Angst vor den Kommunisten geflohen«. Doch was verbirgt sich hinter dieser Formulierung? Er bittet den Verhafteten, noch einmal von vorne zu beginnen. Jan Rocek erzählt, und Dalgaard macht sich Notizen:
»Er wurde als Sohn der bereits erwähnten tschechischen Staatsbürger geboren. Ohne irgendeinen Glauben zu praktizieren, wurde er in seinem Zuhause erzogen. Im Alter von sechs Jahren wurde er in Prag eingeschult, besuchte zunächst fünf Jahre die allgemeine Grundschule und dann fünf Jahre das Gymnasium, konnte aber wegen der deutschen Besatzung als Jude seine Ausbildung nicht fortsetzen. Er besuchte einen halbprivaten Chemiekurs, der von der jüdischen Gemeinde organisiert wurde. 1942 wurde er mit seiner Familie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, später kam er nach Auschwitz und 1945 nach Meuselwitz, in die HASAG-Werke, die zum Lager Buchenwald gehörten. Nach der Kapitulation wurden er und seine Mitgefangenen in Eisenbahnwaggons verfrachtet und an die tschechische Grenze gefahren. Als alles vorbei war, verließen die deutschen Wachen den Zug, und die Häftlinge konnten aufgrund ihrer Schwäche nur darauf warten, bis sie gefunden wurden. Danach verbrachte er vier Monate in einem Krankenhaus im Sudetenland. Seine Eltern und Schwester waren in den deutschen Konzentrationslagern ermordet worden.«
1924, Prag
Hugo Robitschek war während des Ersten Weltkriegs zweimal dem Tod entkommen, und es hatte ganze zwei Jahre gedauert aus Russland heimzukehren. Als er im Alter von 37 Jahren zum ersten Mal Vater wurde, war das fast ein Wunder, obwohl er nicht an so etwas glaubte. Am 24. März 1924 eilte er in eine Entbindungsklinik in Prag.
Hugo war selbst in einer deutschsprachigen jüdischen Familie südöstlich von Prag aufgewachsen. Im Jahr 1914 wurde er zum Kampf für die Mittelmächte einberufen, da seine Heimatstadt, die damals in Böhmen lag, Teil der mit dem Deutschen Reich verbündeten österreichisch-ungarischen Monarchie war. Er kämpfte also für und mit den Deutschen. Ein Detail, das etwas mehr als ein Jahrzehnt später sonderbar wirken würde.
Als er sich auf den Weg an die Front machte, verabschiedete sich ein Kamerad mit den Worten: »Wir sehen uns im Massengrab.« Hugo Robitschek gelang es, dem Tod zu entkommen, aber er kam nicht ohne Verletzungen davon. Er wurde in Serbien angeschossen und lag mehrere Wochen im Krankenhaus. Als er sich erholt hatte, wurde er direkt an die russische Front geschickt, wo er in Usbekistan in Kriegsgefangenschaft geriet. Er kam in ein Lager für Offiziere und entkam so ein zweites Mal dem Tod. In einem nahegelegenen Lager für Gefreite brach eine Typhusepidemie aus, an der etwa 90 Prozent der Gefangenen starben. Später wurden Hugo und andere tschechische Kriegsgefangene wegen des Verdachts auf Fluchtpläne in ein Arbeitslager im 9000 Kilometer östlich gelegenen Wladiwostok deportiert. Dort schloss er sich tschechischen und slowakischen Gefangenen an, die die Seiten gewechselt hatten und lieber auf der Seite der Entente gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich und damit für eine unabhängige Tschechoslowakei kämpften. Viele der Soldaten wurden zum Kämpfen in den Westen zurückgeschickt. Robitschek gehörte jedoch nicht dazu. Stattdessen erlebte er den Sieg der Bolschewiki in Russland und die Anfänge der Sowjetunion, die ihn alles andere als beeindruckte. Nach langem Warten ging er in Wladiwostok an Bord eines chinesischen Frachtschiffs, das ihn in den Süden brachte. Er segelte um Indien herum und durch den Suezkanal, bevor er 1920 in Triest, Italien, landete. Zu diesem Zeitpunkt lag das Ende des Krieges bereits zwei Jahre zurück. Während Hugo Robitschek auf der Suche nach einem Weg vom asiatischen Kontinent nach Hause war, hatte Europa große Veränderungen durchlebt. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges hatte bedeutet, dass die gesamte Landkarte Europas neu gezeichnet wurde. Die Niederlage Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches ebnete den Weg für mehrere neue Staaten, darunter die Tschechoslowakei, deren Landesvater Tomàš Masaryk 1918 die Unabhängigkeit erklärte.
Als Hugo in Böhmen ankam, war seine Mutter bereits verstorben: sie hatte für die religiöse Orientierung der Familie gesorgt und ihre Kinder jeden Tag in die Synagoge geschickt, um für ihren verstorbenen Vater zu beten – ein Zwang, der bei ihrem Sohn zu Widerstand gegen ihren Glauben führte. Als sie nicht mehr da war, sah er keinen Sinn mehr darin, Teil der Gemeinde zu sein. Stattdessen fand er Zuflucht im festen Glauben an seinen neuen Staat.
Tomàš Masaryk hatte sich bereits für die Sache der Tschechen eingesetzt, als Österreich-Ungarn Böhmen und Mähren noch beherrschte, und drängte gemeinsam mit den Slowaken, die sich weiter im Osten des Reiches angesiedelt hatten, auf eine starke Unabhängigkeitsbewegung. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gelang es ihm, rund 130 000 Tschechen und Slowaken zu organisieren, die die Seiten wechselten und zum Sieg der Entente-Mächte beitrugen. Masaryk wurde von den Siegern bei der Gründung eines neuen Staates unterstützt, der nach den Friedensverhandlungen von Versailles 1919 mit der Ausarbeitung einer eigenen Verfassung begann. Die Tschechoslowakei wurde auf der Grundlage der politischen Philosophie von US-Präsident Wilson gegründet, welche im Grunde einer modernen, liberalen Demokratie entsprach. Das Land hielt bereits 1919 seine ersten freien Wahlen ab. Die neue Demokratie schien wie aus Hugo Robitscheks Traumwelt entsprungen zu sein, und er kehrte so in eine vielversprechende Zukunft zurück.
Hugos Vater hatte seiner Familie nach seinem Tod eine kleine Erbschaft hinterlassen, die Hugo und sein Bruder Otto bereits vor dem Ersten Weltkrieg nutzten, um eine kleine Lack- und Farbenfabrik am Rande von Prag zu erwerben. Von hier aus verfolgten sie den bemerkenswerten Aufstieg der Tschechoslowakei in den frühen 1920er Jahren. Die Entwicklung war so rasant, dass die Tschechoslowakei bald zu einem der ersten Industrieländer der Welt wurde. Sie blühte wirtschaftlich, kulturell und politisch auf. Präsident Tomàš Masaryk war eine angesehene Persönlichkeit, und Hugo bewunderte den Mann mit der fast ritterlichen Haltung, der eine liberale Demokratie gegründet hatte, in der das Wahl-, Versammlungs- und Meinungsrecht der Bürger geschützt war. Das Motto des Präsidenten, »der Sieg der Wahrheit,« war für Hugo eine große Inspiration. Obwohl er sich nicht zu seinem jüdischen Glauben bekannte und daraus keine besondere Identität zog, hatte er den Eindruck, dass Herr Masaryk die mehr als 300 000 im Land lebenden Juden schützen würde. Der Antisemitismus war in der Tschechoslowakei wie im übrigen Europa weit verbreitet; noch vor seiner Präsidentschaft hatte Masaryk in einem Gerichtsverfahren interveniert, in dem ein jüdischer Landstreicher namens Leopold Hilsner wegen Mordes an einem christlichen Mädchen und Schändung ihrer Leiche verhaftet worden war. Die antisemitische Stimmung erhob sich zu einem öffentlichen Sturm, und Gerüchte über einen Ritualmord begannen zu kursieren. Alle möglichen mittelalterlichen Vorurteile über Juden wurden wiederbelebt. Als Hilsner vor Gericht gestellt wurde, spielte seine »jüdische Herkunft« eine wichtige Rolle. Er wurde zum Tode verurteilt, doch der spätere Präsident widersetzte sich seinen katholischen Unterstützern und engagierte sich für einen neuen, fairen Prozess. Daraufhin wurde das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Hilsner wurde später begnadigt.
In Masaryks Nation sollte es Raum für Vielfalt geben. Man konnte sein, wer immer man wollte, aber man musste Raum geben und versuchen, in Frieden zusammenzuleben. Ein moderner Ansatz, da die Tschechoslowakei aus vielen kleineren ethnischen und nationalen Minderheiten bestand. Diese Position sah sich jedoch auch einem Paradoxon ausgesetzt. Die größte Minderheit des Landes, die Sudetendeutschen, lebten in einem hufeisenförmigen Gebiet an der Grenze zu Deutschland und Österreich. Drei Millionen deutschsprachige Bürger, von denen sich die meisten auch als Deutsche oder Österreicher bezeichneten. Viele von ihnen hatten sich nur sehr widerwillig in die Tschechoslowakei eingliedern lassen. Außerdem fühlten sie sich diskriminiert. Präsident Masaryk war nicht gerade ihr idealer Landesvater. Auch das, was die Ostslowaken mit den Tschechen verband, war nicht sehr stark und verlässlich. Viele empfanden die Macht in Prag als zu zentralisiert. Darüber hinaus gab es entlang der Grenze im Norden und Süden polnische und ungarische Minderheiten. Obwohl die Tschechoslowakei eine moderne Demokratie war, war sie jung und zerbrechlich. Es gab mehrere Millionen Menschen im Land, die andere Ansichten als Herr Masaryk vertraten.
Anfang der 1920er Jahre lernte Hugo Robitschek eine Frau aus dem Sudetenland kennen, die acht Jahre jünger war als er. Sie hatte während des Krieges als Krankenschwester gearbeitet. Ihr Name war Frieda Löbl und sie hatte zwei Dinge mit ihrem zukünftigen Mann gemeinsam: Frieda war jüdischer Abstammung und sprach Deutsch, jedoch ohne besonderen Bezug zum Deutschen Reich. Das Paar heiratete 1922 und erwartete im folgenden Jahr sein erstes Kind.
Am 24. März 1924 wurde ihr Sohn im Sanopz-Sanatorium am linken Moldauufer, unweit vom Masaryk-Schloss entfernt, geboren. Der Junge kam gesund und rothaarig wie sein Vater auf die Welt. Seine Eltern nannten ihn Jan Kurt Robitschek.
Glaube, Hoffnung und Sorge
Die Geburt fand nur einen Monat nach dem Prozess gegen Hitler in München statt. Hitler, damals 34 Jahre alt, wurde beschuldigt, einen gescheiterten Putsch zum Sturz der Weimarer Republik angeführt zu haben. Viele taten ihn als Possenreißer ab und sagten voraus, dass der politische Fanatiker, der von der Idee einer jüdischen Weltverschwörung besessen war, im Gefängnis verrotten würde. Doch Hitler gelang es, die Anklagebank in ein Rednerpult zu verwandeln, von dem aus er verkündete, die Juden seien schuld an der deutschen Niederlage im Krieg. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die jedoch viel kürzer ausfiel als erwartet. Adolf Hitler wurde zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, verbüßte aber nur gut acht Monate. Diese Zeit reichte aus, um ein politisches Manifest zu verfassen, das sich hauptsächlich mit seinem Lieblingsthema befasste: der jüdischen Bedrohung. In seinem Manifest Mein Kampf schreibt er, dass »das Judentum immer ein Volk mit bestimmten rassischen Eigenarten und niemals eine Religion [war] [...] Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben.« Nach Hitlers Auffassung waren die Juden ein Volk, das zu Verlogenheit, Habgier, Feigheit und Ausbeutung neigte. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis berichtete der Korrespondent der New York Times in Berlin, dass der Mann, der einst »der Halbgott der reaktionären Extremisten« gewesen war, nun »im Gefängnis zahm geworden« sei. Dieser Hitler sei »nicht mehr zu fürchten,« hieß es in dem knappen Telegramm.
Das Leben der Familie Robitschek wirkte in der zweiten Hälfte der 1920'er Jahre vielversprechend. Die Wohnung im zweiten Stock eines kleinen Wohnblocks im Prager Stadtteil Strasnica belegte einen gewissen Wohlstand. Damals war die Klassenstruktur eines Gebäudes oft vertikal – die Reichsten wohnten im obersten Stockwerk und die Armen auf der Straße oder im Keller. Jans Eltern waren nicht schwerreich, aber gut situiert. Hugo war erfolgreich in der kleinen Fabrik, die seinem Bruder und ihm gehörte. Zu Hause, in ihrer Dreizimmerwohnung, konnte sich Frieda um ihr eigenes Wohl und das ihrer Familie kümmern. Wie viele andere bürgerliche Familien in Prag hatten auch die Robitscheks ein Hausmädchen.
Jans frühe Jahre waren von Geborgenheit geprägt. Er liebte es, wenn seine Mutter Frieda im großen Sessel saß und ihm aus den Klassikern vorlas. Schon früh wurde er mit dem Wilhelm Tell des großen deutschen Schriftstellers Friedrich Schiller vertraut. Im Alter von fünf Jahren kannte er fast das gesamte Langgedicht »Die Bürgschaft« auswendig. Seine Mutter war körperlich sehr aktiv. Im Sommer gingen sie gemeinsam schwimmen und im Winter Schlittschuh laufen. Sie nahm Jan oft mit in die Natur, und als er alt genug war, begleitete er sie auf Wanderungen in den böhmischen Bergen, die Jan zu lieben lernte. Gemeinsam mit ihr bestieg er den höchsten Gipfel Böhmens, die Schneekoppe mit 1603 Metern. Der Wind war an diesem Tag so stark, dass Jan dachte, er würde weggeblasen werden. Er ließ seine starke Mutter nicht los, und sie brachte ihn mit Leichtigkeit in Sicherheit.
Vater Hugo war Jans anderer Anker. Der Fels in der Brandung, der zwar sein Leben der Familie gewidmet hatte, diese aber nur selten mit Küssen und Liebkosungen überschüttete. Das war damals nichts Ungewöhnliches, aber Robitschek Senior war auch ein ernster Mann. Sein strenges Auftreten wirkte manchmal einschüchternd auf seinen Sohn. Hugo hatte Prinzipien, und vor allem eines wurde ihm eingeimpft: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.« Der Wert der Wahrheit war ein Eckpfeiler seiner Erziehung. Lügen war im Elternhaus strengstens untersagt. Zuwiderhandlungen wurden mit unangenehmem Schweigen über mehrere Tage bestraft. Jan lernte, dass er das Schweigen am besten brechen konnte, in dem er seinen Vater nach seinen Erinnerungen an den Krieg fragte. Und so musste Hugo seinem Sohn noch einmal von dem Tag erzählen, an dem er als Einziger in der Division einer Strafe für ein Vergehen entging, weil er als Einziger dem Offizier die Wahrheit sagte. Denn »einem Lügner glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.«
Die Robitscheks gingen nicht in die Synagoge – sie galten als säkulare Juden. Sein Vater sagte es zwar nie, aber Jan stellte später fest, dass er in Wirklichkeit Atheist war. Seine Mutter hingegen hielt etwas mehr an ihrer religiösen Herkunft fest. Frieda war in der Gemeinde registriert und zündete jedes Jahr am Todestag ihres Vaters eine Yahrzeit-Kerze an. Davon abgesehen feierte die Familie sowohl Weihnachten als auch Ostern und machte keinen Unterschied zwischen heidnischen und religiösen Praktiken. Auf diese Weise waren sie repräsentativ für den ethnischen und religiösen Schmelztiegel, der die Tschechoslowakei war. Auch sprachlich. Sie beherrschten zwar Tschechisch, aber zu Hause war es unüblich. Hugo und Frieda sprachen seit ihrer Kindheit hauptsächlich Deutsch, und so war es nur natürlich, dass sie diese Sprache zu Hause am häufigsten benutzten. Sie abonnierten die deutschsprachige Zeitung Prager Tagblatt, hörten deutsches Radio und gingen oft ins deutsche Theater. Es war nicht ungewöhnlich, dass zu Hause bei den Robitscheks ein tschechisches Leben geführt wurde, man aber Deutsch sprach und sang. Jan besuchte einen deutschen Kindergarten, wo er sich in die Tochter des Direktors, Liesl, verliebte und deshalb verlangte, dass seine kleine Schwester diesen sehr deutschen Namen erhielt, als sie 1929 geboren wurde. Stattdessen bekam sie den Namen Helga, ein weiterer Name mit starken deutschen Wurzeln. Jan konnte sich trotzdem durchsetzen: Helgas zweiter Vorname war Liesl. Aufgrund des Altersunterschieds von fünf Jahren verbrachten die Geschwister jedoch nicht viel Zeit miteinander, die Chance, sich näher zu kommen, sollte ihnen bald genommen werden.
Die Depression der 1930er Jahre traf die Tschechoslowakei hart. Die Lack- und Farbenfabrik litt wie viele andere Unternehmen unter dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, aber Hugo und Onkel Otto kämpften Tag und Nacht, um sie über Wasser zu halten. Es waren schwierige Jahre, aber für viele andere schlimmer als für Familie Robitschek. Jan sah, wie ein Freund in der Schule vor Hunger in Ohnmacht fiel, Bettler klingelten unaufhörlich an der Tür und schliefen auf der Treppe. Es war erschütternd zu sehen, wie die Depression um sich griff. Vielleicht waren es diese nahegehenden Erfahrungen, die Jan die anderen unheimlichen Zeichen der Zeit nicht wirklich wahrgenehmen ließen. Oder vielleicht war er noch zu jung, um sich dafür zu interessieren. Auf jeden Fall bekam er kaum mit, dass Adolf Hitler und seine Nationalsozialistische Partei (NSDAP) immer mehr Zulauf bekamen, weil sie die Misere des Landes auf eine jüdische Verschwörung zurückführten. Er hörte nicht, dass Hitlers braun gekleidete Truppen Menschen jüdischer Herkunft angriffen und zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen. Er wusste auch nicht, dass dieser neue starke Mann viele Sitze im Reichstag gewann und Reichskanzler wurde, oder dass er 1933 durch ein Sondergesetz, das seine Regierung ermächtigte, ohne gewähltes Parlament zu regieren, endgültig die Macht ergriff. Das »Ermächtigungsgesetz« trat an Jans neuntem Geburtstag in Kraft. Eine halbe Woche später wurde der »Arierparagraph« eingeführt, der es ermöglichte, Personen im öffentlichen Dienst zu entlassen, die »nicht-arischer« Abstammung waren, und einige Tage später wurde die offizielle Definition eingeführt: »Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt« Noch im selben Jahr verboten die Nazis alle anderen Parteien. Das galt natürlich nur für Deutschland, aber die Nachbarländer hatten allen Grund, sich Sorgen zu machen.
Das Prager Parlament reagierte mit einem Gesetz, das Parteien verbot, deren Politik die demokratische Verfassung gefährdete. Ziel war es, die nationalsozialistischen Kräfte im Sudetenland, wo die deutsche Minderheit des Landes lebte, einzudämmen. Auf Druck aus Prag wurde die regionale Ortsgruppe der NSDAP aufgelöst. Im Gegenzug betrat ein neuer starker Mann die politische Bühne. Der Faschist Konrad Henlein gründete die Sudetendeutsche Heimatfront, die spätere Sudetendeutsche Partei (SdP), die sich gerade so auf der rechten Seite des Gesetzes bewegte und behauptete, der tschechoslowakischen Regierung gegenüber loyal zu sein. Es bestand jedoch kein Zweifel daran, dass sie eine Zusammenarbeit mit Deutschland anstrebte. Schon bald flossen beträchtliche Mittel aus dem nationalsozialistischen Nachbarland.
Der Groschen fiel für Jan, als sein Vater ein Sprachverbot aussprach. Sie mussten aufhören, zu Hause in der Nad Olšinami Deutsch zu sprechen. Als ihm bewusst wurde, dass es sich beim Weihnachtsbaum um einen germanischen Brauch handelte, wurde auch diese Tradition abgeschafft. Obwohl Hugo sich nie mit seinen jüdischen Wurzeln identifizierte, hatte er keinen Zweifel daran, dass die Entwicklungen in Deutschland Konsequenzen für ihn und seine Familie haben könnten. Ab dem Frühjahr 1933 wuchsen der neunjährige Jan und die vierjährige Helga daher als Tschechen auf. Oder Tschechoslowaken, wenn man so will. Das waren sie natürlich schon, aber jetzt nichts anderes mehr. Tschechisch in der Sprache, im Geist, in allem. Jans Mutter änderte ihren deutschen Vornamen Frieda in das tschechische Pendant Bedriska, aber im Gegensatz zu ihrem Mann und ihren Kindern fiel es ihr schwer, sich an die tschechische Sprache zu gewöhnen. Aber sie tat, was sie konnte. Es war ihr und Hugos Protest gegen die Entwicklung in Deutschland.
Jahr der Angst
Jan, Helga, Hugo und Bedriska verbrachten den Sommer 1935 im Adlergebirge, Orlické Hory, in der nordöstlichen Tschechoslowakei. Es war ein wunderschöner Urlaub. Vielleicht am meisten für Jan, der jetzt 11 Jahre alt war. Er verliebte sich Hals über Kopf in Herta Nussbaum aus Brünn. Niemand in der Familie Robitschek wusste, dass dies ihr letzter gemeinsamer Urlaub sein sollte.
Am 16. März desselben Jahres räumte Hitler alle Zweifel aus, als er die massive Wiederaufrüstung der Nation ankündigte. Das Reich wurde stärker, aber er versprach, dass dies den Frieden sichern würde. Es gab keinen Grund, an seiner ersten Ankündigung zu zweifeln. Der Nachsatz war hingegen anders. Der deutsche Führer wollte neue Gebiete erobern und hatte dabei vor allem den Osten im Visier. Hitler wollte mehr Lebensraum für das germanische Volk schaffen. Darüber hinaus zeichnete sich das Sudetenland in der Tschechoslowakei durch eine riesige Industrie aus, die gut in die Aufrüstungspläne des Führers passte.
Die Regierung in Prag beschloss, dem deutschen Beispiel zu folgen. Sie befürchtete eine Invasion und stellte dem tschechoslowakischen Militär mehr Mittel zur Verfügung; viel grösser waren hingegen die Pläne für eine Verteidigungsanlage des Sudetenlandes. Entlang der 1500 Kilometer langen Grenze zu Deutschland begann das größte und teuerste Projekt der Nation: die Errichtung einer riesigen Verteidigungslinie aus Stacheldraht, Stahl und Beton. Im Laufe des Jahres wurden alle paar hundert Meter Hunderte von Bunkern unterschiedlicher Größe mit Maschinengewehren und Geschütztürmen errichtet. Gepanzerte Autosperren mit geschweißten Stahlträgern füllten die Lücken. Eine einfache und wirksame Barriere, die den Spitznamen »tschechischer Igel« erhalten sollte. Im Mai 1935 fanden in der Tschechoslowakei Parlamentswahlen statt. Nur zwei Jahre nach der Gründung seiner Sudetenland-Partei errang Kurt Henlein einen überwältigenden Sieg bei den Wahlen. Seine SdP wurde zur zweitstärksten Partei im Parlament, da mehr als eine Million Sudetendeutsche für die Partei stimmten – zwei Drittel der Wahlberechtigten in der Region. Eine weitere faschistische Partei mit slowakischen Wurzeln zog ins Parlament ein, und eine Koalition mehrerer separatistischer Bewegungen aus anderen Grenzregionen erhielt ebenfalls viele Stimmen. Unter ihnen fanden sich Polen, Slowaken und Ungarn.
In Deutschland wurde die »Judenfrage« weiter angeheizt. Schikanen und Vandalismus gegen jüdische Geschäfte hatten seit langem an Intensität zugenommen. Im September 1935 kam es zu einem Wendepunkt. Der Reichstag verabschiedete die Nürnberger Gesetze. Nun entschied die »Blutsverwandtschaft« über das Schicksal eines Menschen. Nicht der Glaube. Es war reine Rassenpolitik, die Juden und Sinti und Roma ein für alle Mal als minderwertige Menschen im Deutschen Reich abstempelte.
1935 war auch das Jahr, in dem Tomàš Masaryk nach vielen gutgemeinten Ratschlägen zurücktrat. Vom Alter geschwächt, gab der 85-jährige Präsident Mitte November seinen Rücktritt bekannt. Millionen von Menschen bedrückte diese Neuigkeit, aber einige Menschen hatten besonderen Grund zur Sorge über ihre Zukunft. »Ein guter Verbündeter der Juden tritt zurück«, schrieb die New Yorker Jewish News Agency in einem Magazin, das die Verteidigung des Zionismus durch den Präsidenten und seine Besuche bei den Juden in Palästina hervorhob. »Dr. Masaryk war seine gesamte Laufbahn hinweg als Freund der Juden bekannt, die er stets zu schützen versuchte, auch wenn dies auf seine Kosten ging und massiven Widerstand hervorrief [...] Jüdische Kreise befürchten, dass Masaryks Rücktritt den antisemitischen Winden Auftrieb geben wird, die seit langem in verschiedenen Teilen der Tschechoslowakei, insbesondere in den deutschen Gebieten, wehen [...] Es heißt, dass die Situation sowohl für Dr. Masaryk als auch für Edvard Beneš, der sein Nachfolger im Präsidentenamt werden soll, schwierig ist. Auch er ist als pro-jüdisch bekannt.«
Wie erwartet wurde Präsident Masaryk von Außenminister Beneš abgelöst, der die Präsidentschaftswahlen im Dezember gewann. Wie sein Vorgänger war er ein Demokrat und Zentrist, aber seine Gegner sahen in ihm einen der »alten Hasen«, die sich an die Macht klammerten. Auch bei seinen Anhängern sorgte er in dieser unsicheren Zeit weder für Beruhigung oder Optimismus. Tomàš Masaryk war ein Fels gewesen. In der Schule lernte Jan einen Vers über den Gründer und die Waffen des Landes:
Unser alter Vater
Dein Haar ist grau
Solange du bei uns bist, ist alles gut.
Jetzt klang der Vers wie eine Warnung.
Im Jahr 1936 wurde Jans Mutter immer schwächer. Der Arzt stellte fest, dass ihr Blutdruck zu hoch war. Weitere Untersuchungen ergaben, dass Bedriska Robitschek an einer schweren Herzerkrankung litt. Es war, als ob die Diagnose den Zustand verschlimmerte. Seine Mutter, mit der er durch die Moldau geschwommen war, die sich in Wanderstiefeln in den Berge wohlfühlte, verwandelte sich in kürzester Zeit in ein kleines, gebrechliches Geschöpf, das sich fast den ganzen Tag ausruhen musste.
Präsident Masaryk starb im September 1937. Die Tschechen trauerten, womöglich mehr als die Slowaken. Ihre Unzufriedenheit mit den Machthabern in Prag schwelte. Hitler fühlte sich durch die wachsende Zahl von Slowaken, unter ihnen viele Faschisten und Kommunisten, die für die Unabhängigkeit kämpften, ermutigt. In Deutschland ging die Verfolgung der Juden weiter, und die Betroffenen hatten es noch schwerer, ihre Geschäfte zu führen, weil sie boykottiert oder zur Schließung gezwungen wurden. Die Juden zogen sich aus Deutschland und dem Sudetenland zurück. Ende März 1938 traf die Nachricht ein, dass eine Freundin von Jans Mutter vom Judenhass betroffen war. Die Freundin, Steffi Fried, hatte sich zum Schutz ihres nichtjüdischen Ehemanns scheinbar scheiden lassen. Andernfalls hätte er seine Anwaltskanzlei nicht weiterführen können, aber die vorgetäuschte Scheidung hatte ihre Freundin angreifbargemacht. Steffi Fried kam in den Tagen um Jans 14. Geburtstag mit anderen jüdischen Flüchtlingen in Prag an. Sie besuchte die Familie Robitschek und erzählte ihnen von ihrer Flucht.
»Ich erinnere mich noch daran, wie Steffi ›johlende Menschenmenge‹ sagte, um die Menschen zu beschreiben, die die Nazis willkommen hießen, bevor sie sich gegen die Juden wandten«, sagte Jan.
Hitlers Truppen überquerten am 15. März die Grenze in den Alpen, als er den »Anschluss« Österreichs an Deutschland vollzog. Obwohl dies bedeutete, dass Deutschland gegen internationale Vereinbarungen verstieß, kam der »Anschluss« für die Welt nicht überraschend. Hitler war Österreicher, und die Entwicklungen in seinem Heimatland deuteten schon früh auf einen »Anschluss« an Deutschland hin. Zwei der wichtigsten europäischen Staaten, Großbritannien und Frankreich, machten keine Anstalten, Hitlers Vormarsch zu stoppen, und so befürchtete Steffi Fried, dass die Tschechoslowakei Hitlers nächste Eroberung sein könnte. Bedriskas Freundin reiste deshalb weiter zu ihrer Schwester nach Holland und von dort über den Atlantik in die Vereinigten Staaten. Sie entkam noch rechtzeitig.
Die Ereignisse in Österreich gaben den Sudetendeutschen zu denken. Die Mitgliederzahl der faschistischen Partei von Kurt Henlein stieg. Viele Anhänger patrouillierten auf den Straßen an der Grenze. Sie forderten »Heim ins Reich«, heim zum Führer zu kommen. Adolf Hitler schickte nach Henlein, der daraufhin heimlich nach Berlin reiste.
Hitler sagte ihm, er solle mit neuen unmöglichen Forderungen weitermachen. Indem er die Regierung in Prag gegen sich aufbrachte, konnte der deutsche Führer Unruhe stiften und vielleicht die Sympathie der Briten und Franzosen gewinnen, die alles andere als einen weiteren großen Krieg wollten. Außerdem hatte man nach dem Ersten Weltkrieg das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker hochgehalten. So konnte sich beispielsweise eine Minderheit mit einem Land zusammenschließen, dem sie sich zugehörig fühlte. Doch was auch immer der Grund für die Untätigkeit der Großmächte war, es bestand die Gefahr, dass die Unruhen im Sudetenland Hitler der Annexion Böhmens und Mährens einschließlich der Hauptstadt Prag näherbrachten – der slowakische Teil des Landes war für ihn weniger wichtig. Konrad Henlein forderte, was Hitler vorschlug, und der tschechische Führer Edvard Beneš lehnte die Forderungen vorhersehbar ab. Um sie zu erfüllen, müsste die Tschechoslowakei das Sudetenland aufgeben, und die anderen Minderheiten würden höchstwahrscheinlich ähnliche Forderungen stellen. Dem Land drohten die Zerschlagung und wirtschaftliche Schwächung, da sich ein Großteil der lukrativen Industrie im Sudetenland befand. Henlein reiste nach England, um für sein Volk zu sprechen. Er gewann einige Sympathien, während zu Hause der Widerstand wuchs. Dies kulminierte im Mai 1938. Die Tschechische Republik wurde in Alarmbereitschaft versetzt, nachdem sie ungenaue Geheimdienstmitteilungen erhalten hatte, die nahelegten, dass sich deutsche Truppen der Grenze zum Sudetenland näherten. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Ruhe zu bewahren; sie bereitete sich auf den Krieg vor.
Die Familie Robitschek befolgte die Anweisungen der Regierung. Jan half seinem Vater, Papier an die Fenster zu kleben. Sie besorgten sich Gasmasken und verdunkelten die Wohnung bei Nacht. Die Leute schienen in Aufruhr zu sein:
»Mein Vater kam als Pazifist aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Ich durfte nie Spielzeugwaffen, Spielzeugschwerter oder Soldaten haben. Aber er änderte seine Meinung, als die Bedrohung durch Deutschland real wurde und er die Tschechoslowakische Republik verteidigen wollte.«
Europa stand an der Schwelle eines Krieges, doch erst einmal blieb es nur beim Säbelrasseln. Die massive Aufrüstung der Tschechoslowakei hatte sowohl die Franzosen als auch die Briten verärgert. Hitler schien die vernünftige Partei in diesem Konflikt zu sein, und die Propagandamaschine der Nazis arbeitete den ganzen Sommer über auf Hochtouren, um die Situation auszunutzen. Die ganze Welt bekam von den unterdrückten und verfolgten Sudetendeutschen unter tschechoslowakischer Herrschaft erzählt. Es wurde ein Bild in Umlauf gebracht, auf dem einige sudetendeutsche Mütter mit ihren Neugeborenen nach Deutschland flohen – ihre tapferen und aufopferungsvollen Ehemänner blieben zurück, um sich gegen tschechoslowakische Angriffe zu verteidigen. Auf einem anderen Bild stand eine arme Familie in einem deutschen Zentrum für Flüchtlinge aus dem Sudetenland und erklärte ihr Schicksal. Das Bild hinterließ einen starken Eindruck. Die britischen und die französischen Regierungen kamen zu dem Schluss, dass das »tschechoslowakische Problem« gelöst werden musste, wenn ein neuer Krieg vermieden werden sollte. Sie waren der Überzeugung, dass die Regierung in Prag das Problem war.
»Peace for our time»
In der Nacht des 13. September 1938 brachen im Sudetenland Unruhen aus. Der Grund dafür war, dass Hitler das Feuer schürte, indem er in einer Rede auf dem Parteitag in Nürnberg erneut die Behandlung der Sudetendeutschen durch die Tschechoslowakei verurteilte. Tausende von Deutschen und Nazis gingen in der Grenzregion auf die Straße. Viele Juden und Kommunisten wurden angegriffen, bevor es den tschechoslowakischen Streitkräften gelang, die Unruhestifter zu stoppen. Der Aufstand im Sudetenland dauerte zwei Tage. Sowohl Soldaten als auch Zivilisten verloren ihr Leben.
Neville Chamberlain, der britische Premierminister, war überzeugt davon, dass die tschechoslowakische Regierung maßgeblich selber schuld an den Unruhen war, da sie unbeirrbar war. Er hatte bereits im August versucht, die Tschechoslowaken zum Umdenken zu bewegen, indem er einen Diplomaten nach Prag schickte – ohne Erfolg. Chamberlain beschloss stattdessen, mit Hitler Kontakt aufzunehmen. Am 15. September reiste er nach Berchtesgaden und traf den deutschen Führer auf dem Berghof. Hitler behauptete lautstark, die tschechoslowakischen Angriffe hätten mindestens 300 sudetendeutsche Opfer gefordert. Es handelte sich um eine deutliche Übertreibung, aber Hitler nutzte diese Behauptung, um seine Forderung zu untermauern: das Sudetenland müsse Teil Deutschlands werden. Chamberlain versprach, den Vorschlag mit seinem Kabinett zu erörtern, wenn Hitler ihm versicherte, dass er nicht sofort in das Sudetenland eindringen und heftige Kämpfe provozieren würde. Zurück in London gab das Kabinett seine Zustimmung, und anschließend wurde der französische Premierminister Daladier in dieser Angelegenheit konsultiert. Frankreich steckte in der Klemme, da es seit der Gründung der Tschechoslowakei ein enger Verbündeter jener war. Daladier stimmte den Forderungen Hitlers zu, machte Chamberlain jedoch klar, dass die Tschechoslowakei zumindest eine Garantie erhalten müsse, dass es keine weiteren territorialen Annexionen geben würde. Der britische Premierminister flog erneut zu einem Treffen mit Hitler nach Deutschland. Diesmal sei die Lage jedoch anders, so der deutsche Führer, der nun forderte, dass auch Polen und Ungarn ein Stück der Tschechoslowakei erhalten sollten, und dass den Slowaken Autonomie gewährt werden müsse. All diese neuen Forderungen überraschten und verärgerten Chamberlain. Doch Hitler gab keinen Millimeter nach und stellte ein Ultimatum, dass Deutschland am 1. Oktober in das Sudetenland einmarschieren würde, wenn die Tschechoslowakei nicht einlenken würde. Großbritannien und Frankreich lehnten Hitlers Forderungen ab, und die Regierung in Prag machte erneut mobil. Die Gewissheit, dass es zum Krieg kommen würde, wurde immer größer.
Auch Großbritannien bereitete sich auf den Krieg vor. Armee und Marine machten sich bereit, und im Hyde Park gruben die Bewohner primitive Schutzräume, während Chamberlains Frau in der Abtei von Westminister kniete und für die Nation betete. Im letzten Moment klingelte das Telefon von Chamberlain.
Hitler, Chamberlain, Frankreichs Daladier und Italiens Mussolini trafen sich am 29. September 1938 in München und verhandelten 13 Stunden lang über die Lösung des »tschechoslowakischen Problems.« Mussolini hatte Hitler überredet, einen Gipfel zu organisieren und dem Frieden eine letzte Chance zu geben. Trotz allem war es immer noch Hitlers Wunsch, der die Lösung bringen sollte. Eine Lösung, die immer noch die Forderungen beinhaltete, die der deutsche Führer bei seinem zweiten Besuch in Deutschland an Chamberlain gerichtet hatte. Alle waren damit einverstanden, den Plan umzusetzen – mit einigen Ergänzungen. Die wichtigste Nation wurde nicht einmal zu den Verhandlungen eingeladen. Nur einige wenige tschechoslowakische Beobachter waren auf dem Korridor anwesend. Am frühen Morgen des 30. September wurde ihnen der Text des Abkommens ausgehändigt, und einer der Beobachter fragte, wann die vier Großmächte spätestens eine Antwort von der Regierung in Prag erwarteten. Ihnen wurde mitgeteilt, dass man keine Antwort benötigte: Das Abkommen sei bereits in Kraft getreten.
Prag wurde angerufen und über die Neuigkeiten informiert. Der Privatsekretär von Beneš musste den Präsidenten bei seinem morgendlichen Bad unterbrechen. So erfuhr er über jene Entscheidung, bei der es sich im Grunde um eine Verordnung handelte: Das Sudetenland gehört geräumt und außerdem muss eine Lösung für die polnischen und ungarischen Forderungen gefunden werden. Beneš wusste ganz genau, was er über das Münchner Abkommen dachte: »Verrat. Unglaublich. Sie glauben, dass sie sich auf unsere Kosten vor Revolution und Krieg retten können. Sie irren sich.«
Als Beneš durch Prag in Richtung Regierungsgebäude fuhr, sah er weinende Menschen auf der Straße. Die Neuigkeiten hatten sich bereits herumgesprochen. Der Tag war gefüllt mit Versammlungen, in denen Offiziere verschiedene Szenarien aufstellten, und Politiker der verschiedenen Parlamentsparteien ihre Meinung kundtaten. Der Führer der Kommunisten, Klement Gottwald, sprach sich für einen Krieg aus, aber letztlich würde ein Krieg viele Menschenleben kosten und das Münchner Abkommen letztlich kaum verändern. Es blieb nichts anderes übrig: Die Tschechoslowakei musste nachgeben.
»Wir wurden nicht von Hitler besiegt«, sagte Präsident Beneš zu seinen Kabinettsmitgliedern, »sondern von unseren Freunden.«
Später an diesem Tag landete Neville Chamberlain im grauen London, wo es in Strömen regnete. Aber das konnte weder seine gute Laune noch die der Menschen, die ihn empfingen, trüben. Lächelnd stieg er aus dem Flugzeug der British Airways und hielt ein Stück Papier mit seiner und Hitlers Unterschrift in die Luft. Ein Friedensbeleg flatterte im Wind. Neben dem Münchner Abkommen war eine weitere Vereinbarung getroffen worden, in der die beiden europäischen Mächte ihre Absicht erklärten, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen. Außerdem sei »das tschechoslowakische Problem« gelöst. Der Premierminister reiste weiter zum Buckingham-Palast und freute sich, dass Tausende von Briten die Straßen säumten. Dort ging der Mann, der sie und die Welt vor einem weiteren Blutbad bewahrt hatte. Im Palast wurde der König informiert und begleitete seine Frau und Chamberlain auf den Balkon, wo das Königspaar in einer seltenen Geste einen Schritt zurücktrat, um dem Helden des Tages den Beifall des Volkes zukommen zu lassen. Chamberlains Triumphzug endete am späten Abend in der Downing Street 10, wo eine singende und jubelnde Menge auf »Good old Neville, a jolly good fellow« wartete. Der Premierminister streckte seinen Kopf aus dem zweiten Stock heraus und erklärte der fröhlichen Menge, dass das Münchner Abkommen »Frieden für unsere Zeit« bedeutete. Dann beendete er seinen großen Tag mit einem Appell an seine erleichterten Landsleute: »Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie gut.«
Am 1. Oktober 1938 begann die Tschechoslowakei mit dem Rückzug aus dem Sudetenland. Wertvolle Stahl- und Textilindustrie fiel an Hitler, und ebenso schlimm war, dass die Tschechoslowakei nun völlig schutzlos war. Die Soldaten verließen mit Tränen in den Augen ihre Bunker an der Verteidigungslinie gegen Deutschland, die vier Männer mit ihrer Unterschrift zerstört hatten. In Prag wurde von allgemeinen Protesten gegen die Deutschen berichtet. Die Verteidigung beschränkte sich auf ein paar hartnäckige Tschechen, die hinausgingen und versuchten, die deutsche Armee aufzuhalten. Hitlers Truppen nahmen das Gebiet problemlos ein und erweiterten ihren »Lebensraum«. Die Sudetendeutschen hoben ihre Hände zum Hitlergruß, weinten hysterisch vor Freude, jubelten und schwenkten kleine Hakenkreuzfahnen. Währenddessen flohen Tausende von Juden und Antifaschisten über die Grenze in das, was von der Tschechoslowakei übriggeblieben war. Es wurde immer schwieriger für sie, Sicherheit und einen Platz zum Leben zu finden.
Präsident Beneš beschloss, zurückzutreten. Er unterzeichnete seinen Rücktritt und flog mit seiner Ehefrau in den Westen in Sicherheit. Kurioserweise landete er in der Hauptstadt, deren Regierung maßgeblich zu der Tragödie beigetragen hatte: in London. Der Kommunistenführer Klement Gottwald und seine rechte Hand Rudolf Slánský flohen ebenfalls, jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Slánský wurde nicht nur wegen seiner politischen Zugehörigkeit, sondern auch wegen seiner jüdischen Herkunft bedroht. Die beiden Kommunisten und ihre Familien schlossen sich anderen prominenten Exilkommunisten an, die alle im Hotel Lux in Moskau wurden. Dort waren bereits viele deutsche Kommunisten sesshaft, die vor Hitlers Regime geflohen waren – paradoxerweise wurden viele von ihnen Opfer von Stalins Paranoia über Spione in den eigenen Reihen und endeten in brutalen Verhören und Arbeitslagern. Doch Gottwald und Slánský waren jedoch nicht vom Terror des großen Anführers betroffen. Noch nicht.
Die Tschechoslowakei erlebte in kurzer Zeit große Veränderungen. Das Land schrumpfte erheblich in Größe und Bevölkerung, und auch die Politik änderte sich stark. Die Slowaken forderten mehr Autonomie, und die faschistischen Parteien nutzten den Rückenwind und übten Druck auf die Regierung in Prag aus, wobei sie die Juden und die Kommunisten ins Visier nahmen. In der deutschen Propaganda wurde die junge Demokratie wegen der vielen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen abschätzig als »Mosaikland« bezeichnet. Nun zerfiel es zusehends. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Hitler den letzten Schritt tun würde.
Am 14. März 1939 traf Emil Hácha, der Nachfolger von Beneš, in Berlin mit Adolf Hitler zusammen. Der ältere Hácha wirkte schwach und nervös, als er den Raum betrat, in dem der Führer selbst, der Chef der Luftwaffe, der korpulente Hermann Göring, Außenminister von Ribbentrop und Armeechef Keitel anwesend waren. Der tschechische Präsident versuchte, den Führer zu überreden, die Reste der Tschechoslowakei zu verschonen. Hitler war damit einverstanden, allerdings als Protektorat unter Deutschland, d.h. als Teil des Nazi-Reiches. Hitler teilte Hácha brüsk mit, dass die deutschen Truppen bereits an der Grenze stünden und diese in wenigen Stunden überschreiten würden. Hermann Göring nahm den schockierten Präsidenten beiseite und legte ihm nahe, einfach einzuwilligen, wenn er nicht erleben wolle, wie die goldene Stadt Prag in einem fulminanten Luftangriff zerstört würde. Emil Hácha fiel in Ohnmacht.
Am Morgen des 15. März 1939 blieben viele Menschen viel länger als sonst am Radio. Auch die Robitscheks. Alle verfolgten die Nachrichten. Die deutschen Truppen hatten um halb fünf die Grenze überquert. Sie waren nun auf dem Weg ins Sudetenland und würden wohl in den nächsten Stunden in Prag eintreffen. Die Menschen wurden aufgefordert, sich zu beruhigen. Die Erklärung von Präsident Hácha wurde verlesen:
»Nach meiner ausführlichen Unterredung mit dem Reichskanzler und nach Abwägung der Lage beschließe ich, das Schicksal des tschechischen Volkes in die Hände des Führers und des deutschen Volkes zu legen.«
Der Radiosender, der noch einige Stunden in tschechischer Hand war, verbreitete treu Háchas Aufruf an die Bürger. Geht zur Arbeit, geht zur Schule, macht das, was ihr normalerweise tut.
»Und man macht einfach weiter, wie ein Pferd«, sagte Hugo Robitschek. Ein Pferd mit Scheuklappen, das eine schwere Last zieht und weitermacht, egal, was drumherum passiert.
Draußen war es eiskalt. Der Wind wehte, und der Schneefall verwandelte sich unter Autoreifen, Straßenbahnen und Stiefeln in Schneematsch. Einige Bewohner widersetzten sich dem Aufruf und machten sich auf den Weg ins Stadtzentrum, nicht aber ein 14-jähriger Junge mit roten Haaren und Sommersprossen. Jan ging zur Schule. Für eine kurze Zeit noch.
Frühling 1939, Prag
Überall, wo er hinkam, musste er in einer langen Schlange stehen. Hugo Robitschek versuchte es trotzdem, denn Tausende andere hatten es auch geschafft. Doch die Möglichkeit, auf legalem Weg zu entkommen, schwand mit den Monaten und der steigenden Nachfrage nach Visa. Jan war jetzt 15 Jahre alt. Er stellte fest, dass das Leben weiterging, aber auf eine gedämpfte Art und Weise. Die Nazis in Prag und die Krankheit seiner Mutter waren bedrückend. Die Lage wurde auch nicht besser, als die Versuche seines Vaters, ein Visum für Mittel- oder Südamerika zu beschaffen, schließlich scheiterten.
Nach der Annexion des Sudetenlandes durch Hitler im Herbst 1938 waren die Warteräume vieler ausländischer Botschaften mit jüdischen Bürgern gefüllt. Die Angst wurde noch größer, als am 15. März 1939 klar wurde, dass die übrige Tschechoslowakei nun ein Protektorat des Hitler-Reiches war – ein Land in Sicherheit. Die so genannte Sicherheit galt für Böhmen und Mähren, einschließlich Prag. Die Slowakei erhielt Autonomie unter faschistischer Führung. Für mehr als 300 000 Juden, die in den Überresten von Masaryks zerstörtem Land lebten, bedeutete dies jedoch alles andere als Sicherheit.
Wenn schon nicht für ihn und Bedriska, dann wenigstens für die Kinder, erkannte Hugo Robitschek und begann, nach Möglichkeiten zu suchen, Jan und Helga in Sicherheit zu bringen. Die größte Hoffnung waren einige wohlhabende Verwandte in England, die sich jedoch weigerten, die Kinder aus Prag aufzunehmen. Eine Cousine hatte mehr Glück. Sie schloss sich einer Gruppe von jüdischen Kindern an, die der englische Geschäftsmann Nicolas Winton retten wollte. Bis zum Herbst 1939 vermittelte er insgesamt 669 jüdischen Kindern einen Platz bei englischen Familien. Wintons Bemühungen waren von unschätzbarem Wert, aber er war mit seiner Hilfe nicht allein. Nach der Kristallnacht in Deutschland, Österreich und dem Sudetenland am 9. November 1938, als die Nazis in den Abend- und Nachtstunden jüdische Geschäfte und Synagogen angriffen und 91 Juden ermordeten, retteten Gemeinden in mehreren westeuropäischen Ländern Tausende von Kindern aus Deutschland und Österreich. Nach Hitlers Annexion von Böhmen und Mähren schaffte man es auch, viele Kinder mit sogenannten Kindertransporten aus der Tschechoslowakei zu bringen. Die große Mehrheit kam nach England, aber auch Pflegefamilien in Frankreich, Belgien, Dänemark und Schweden nahmen Kinder jüdischer Herkunft auf. Die meisten dieser Kinder sahen ihre Eltern nie wieder – so auch Jans Cousine.
Nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 und dem darauffolgenden Ausbruch eines neuen Weltkriegs schlossen sich allmählich die letzten Fluchtwege für Flüchtlinge. Erwachsene und Kinder gleichermaßen. Die Familie Robitschek musste, wie Hunderttausende andere Juden, im Protektorat bleiben. Das Leben, wie sie es kannten, würde nie wieder dasselbe sein.
In all den Jahren, in denen Jan und Helga zur Schule gingen, gab es nur wenige Momente, in denen sie sich ausgegrenzt fühlten. Doch immer aus demselben Grund: die Sommersprossen und ihre leuchtend roten Haare. Manch einer fühlte sich durch ihr Aussehen zu einem Kommentar veranlasst. Seltener kam es dazu, dass ihnen ein Passant auf den Ärmel spuckte, weil dies einem alten Aberglauben zufolge Glück brachte. All das war unangenehm, aber absolut nichts im Vergleich zu der Ausgrenzung, die sie im Herbst 1940 erlebten. Ihr Leben veränderte sich abrupt. Die Rassenpolitik der Nazis bedeutete, dass Kinder jüdischer Abstammung nicht in öffentlichen Schulen unterrichtet werden durften. Das Verbot kam jedoch nicht überraschend. Seit dem deutschen Einmarsch wurden die Juden im Protektorat mit Erlassen, Verboten und Auflagen überhäuft.
Bereits am 16. März 1939 – dem Tag nach der Annexion – wurde den Juden verboten, als Anwälte, Lehrer, Ingenieure oder Beamte zu arbeiten. Kurz darauf wurde die Ausgangssperre eingeführt, die es Juden verbot, sich nach 20:00 Uhr an öffentlichen Orten aufzuhalten. Das Verbot wurde auf Restaurants ausgedehnt, es sei denn, sie verfügten über spezielle Räume für Juden. Öffentliche Museen, Parks und Schwimmbäder wurden angewiesen, Verbotsschilder für die »Untermenschen« des Protektorats anzubringen. Absurde Erlasse regneten auf sie nieder. Der Besitz von Brieftauben wurde verboten, Skiausrüstungen beschlagnahmt, sogar Radios. Dann wurde der Aufenthalt auf Schiffen, die auf der Moldau fuhren, und in den Restaurant- und Schlafwagen von Zügen verboten. Es wurde ein Gesetz erlassen, das die Summe, die Juden pro Woche abheben konnten, begrenzte. Alles wurde noch viel schwieriger, als die Nazis der jüdischen Gemeinde befahlen, ihre Mitglieder zu benachrichtigen, dass ihre Ersparnisse zu deponieren seien, und Gold- und Silberreserven für einen Spottpreis an eine neu eingerichtete Behörde für konfiszierten jüdischen Besitz und Eigentum abgegeben werden mussten. Es gab Vorschriften darüber, wann Juden Handel treiben durften und welche Waren für sie verfügbar waren. Im Sommer 1940 wurde ihnen befohlen, ihre Ausweispapiere mit einem »J« zu kennzeichnen. Juden mussten sich schon während der Zeiten des Kalifats und im Mittelalters kennzeichnen, doch die Nazis in ihrer Ausgrenzung waren extrem. Schon das Gespräch mit einem Juden wurde verhöhnt und unter Strafe gestellt. Aber es gab immer noch Leute, die Jan und seine Familie offen grüßten, während andere Freunde sich nur noch heimlich zu ihnen schlichen.
Wenn Hugo Robitschek ein ernsthaftes Gespräch mit seinem Sohn führte, geschah dies meist auf dem Balkon. Dort hörte er eines Tages im Jahr 1940 für einen Moment auf, sich zu verstellen, und sagte seinem Sohn, wie er die Situation sah:
»Hitler wird den Krieg nicht gewinnen. Aber es wird ihm wahrscheinlich gelingen, den Juden schweren Schaden zuzufügen.«
