Ach, Italien! - Inge Adams - E-Book

Ach, Italien! E-Book

Inge Adams

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Beschreibung

Die Autorin hat 43 Berufsjahre in diplomatischen und konsularischen Vertretungen Italiens in Deutschland verbracht . Flessibilità, so erfährt sie gleich am Anfang ihrer Karriere, ist das Zauberwort italienischer Wesensart: - Arbeitsvertrag bei Dienstantritt: Kommt noch! - Pünktliche Gehaltszahlungen: Was sind die Deutschen doch pingelig! - Steuern zahlen: Auf keinen Fall! Die tatkräftige Übersetzerin erwirbt sich mit ihrer "monströsen Effizienz" einen Ruf als "Mehrzweckwaffe". Sie bewegt sich mit Geschick auf politischem und diplomatischem Parkett, knüpft klug Kontakte und baut sich im Laufe der Jahre ein wertvolles Netzwerk auf. Sie avanciert nicht nur zur Vertrauten mancher Chefs, sondern auch zu deren Pressebeauftragten, Briefeschreiberin und zur Dolmetscherin wider Willen. Bei aller Liebe für ihren Job verzweifelt sie dennoch hin und wieder an der italienischen Mentalität und Logik. Das Handtuch werfen kommt jedoch auch in den schwierigsten Situationen nicht infrage. Neben Übersetzen, Dolmetschen, Vermitteln und Organisieren kann Inge Adams vor allem eines: Geschichten erzählen: - vom Bundesaußenminister Genscher, der sie ins Schwitzen bringt, weil sie um ein Haar die Pointe seiner Erzählung über die Begegnung mit dem chinesischen Sportminister im Rahmen der Ping-Pong-Diplomatie vermasselt; - von den Vorbereitungen zur Verleihung des Karlspreises an den italienischen Staatspräsidenten, in deren Verlauf sie die Forderung des italienischen Protokollchefs zu übersetzen hat, man solle die Kiste im Aachener Dom wegschaffen, womit der heilige Karlsschrein gemeint ist; - von der Arbeit in der Presseabteilung der Botschaft, wo sie lernt, Texte nicht nur zu übersetzen, sondern bei Bedarf auch zu "(ver)fälschen", beispielsweise wenn Giulio Andreotti als Mafioso bezeichnet wird oder Bundeskanzler Helmut Schmidt mit norddeutscher Schnauze Witze über italienische Panzer mit einem Vorwärts- und drei Rückwärtsgängen erzählt; - von der offiziell beharrlich geleugneten Existenz mafiöser Strukturen in Nordrhein-Westfalen, wo Ndranghetisti sich nächtens vor angekokelten Heiligenbildchen massakrieren. Unverblümt erzählt sie aus ihrer Zeit in der Welt der italienischen Diplomatie: kenntnisreich, amüsant, selbstironisch, manchmal auch irritiert, kritisch oder empört, aber immer voller Zuneigung für Italien und die Italiener. Ein hochunterhaltsamer Blick hinter die Kulissen des diplomatischen Dienstes und ein beeindruckendes Porträt eines erfüllten Berufslebens.

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für Papa, der Abend für Abend gesagt hat:

„Und schreib das bloß alles auf!“

und für den Ehemann, der Abend für Abend sagt:

„Das glaubt dir sowieso kein Mensch!“

Inge Adams, geboren 1950 in Bonn, seit 1975 verheiratet, zwei erwachsene Kinder, ein Hund, lebt in Bad Godesberg.

Nach dem Sprachenstudium an der Universität Heidelberg tritt sie ihre Arbeitsstelle als Übersetzerin an der italienischen Botschaft in Bonn an. Als die Botschaft im Zuge der Verlegung der Hauptstadt nach Berlin umzieht, wechselt sie an das italienische Generalkonsulat in Köln. Nach dreiundvierzig Jahren im italienischen Staatsdienst wird sie Ende 2016 pensioniert und macht sich an das Verfassen ihrer Erinnerungen.

Inhalt

Assessment-Center auf Italienisch

Lehr- und Wanderjahre

Ein italienischer Arbeitgeber

Zwischen zwei Stühlen

Gewerkschaftliche Umtriebe

Der Mann mit der Lupara

Cocktails

Kriegsverbrecher und Kanzlerwitze

Der Italo-Ossi

Sizilien!

Le ragazze della Farnesina

Mord in bester Gesellschaft

Ein Armenier, eine Schwiegermutter und ein Esel

Wenn Welten aufeinanderprallen

Compagnia bella

Connazionali

Die Kunst der Diplomatie

Nicht nur Gold

Azzurri und Mafiosi

Der Mann vom besten Team

Ein Rumpelstilzchen in Köln

Schluß mit lustig

Eine Tragödie in Duisburg

Ein ganz großes Tier

Der apokalyptische Reiter

Besuche aus der Heimat

Knöllchen und andere Mißverständnisse

Vento nuovo

Epilog

1

Assessment-Center auf Italienisch

Bonn, Sommer 1973. Ein mächtiger Jugendstilbau dicht am Bad Godesberger Bahnhof. Durch das gewaltige Oberlicht scheint die goldene Septembersonne unerbittlich auf den dunkelblauen Anzug meines schneidigen Wegbereiters und lässt den verschlissenen Stoff an Ellenbogen und Hemdkragen erglänzen. Und merkwürdig: Nach dem Aufgang durch das imposante Treppenhaus mit schmiedeeisernem und goldverziertem Geländer und schweren Ölgemälden an den meterhohen Wänden hätte ich auch keine Trennwände in Leichtbauweise auf dem piano nobile dieser einst großbürgerlichen Villa erwartet. Zwei blecherne Vorkriegsschreibtische in einem mit Aktenordnern und Regalen vollgestopften Raum, ein wackliges Tischchen mit einer kleinen, etwas schmutzigen Heizplatte und einem alten Espressomaschinchen, fornello und moka, seit Generationen unverzichtbare Bestandteile eines jeden italienischen Haushalts; bodentiefe Sprossenfenster, die zu einem breiten Balkon mit Blick auf die Godesburg führen; in unregelmäßigen Abständen Erschütterungen des gesamten Gebäudes durch vorbei rauschende D-Züge.

Der schöne Diplomat weist mir wortlos und mit angemessen ernster Miene einen Platz an einem der Schreibtische zu, legt mir einen Text vor und verschwindet. Ich bin sehr beeindruckt von seiner Erscheinung, und auch der Mann selbst ist geradezu ergriffen von der eigenen Person – ob aufgrund seiner bemerkenswerten Ähnlichkeit mit Alain Delon, seiner Herkunft oder seines Dienstgrades als Erster Botschaftssekretär hat sich mir damals nicht erschlossen. Ich war gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt und habe noch eine ganze Weile gebraucht, bis ich erkannte, dass – nach Jean Giono – nicht immer die Stillen auch die Weisen sind, sondern dass es auch verschlossene Truhen gibt, die leer sind.

In dem Augenblick aber besteht mein konkretes Problem erst mal darin, eine elektrische Schreibmaschine zu bedienen. Der schöne Diplomat hat mir nur eine knappe Frist gegeben, um den deutschen Text zu lesen, ins Italienische zu übersetzen und die Übersetzung zu tippen, fünfzehn oder zwanzig Minuten. Als ich schon die Hälfte der vorgegebenen Zeit damit verbracht habe, den Schalter zu suchen, mit dem man das Gerät einschaltet, steckt irgendjemand seinen Kopf in das Zimmer, auf der Suche nach irgendwem. Er ist jung, ein bisschen hässlich und anhand seines nicht nur verschlissenen, sondern auch schlecht sitzenden Anzugs als irgendeine niedere Charge zu erkennen.

„Signorina? Ah, la prova scritta!“ Ja, in der Tat, die schriftliche Prüfung. Übersetzen kann ich. Aber eine elektrische Schreibmaschine habe ich noch nie gesehen, geschweige denn benutzt.

„Wo ist denn bloß dieser verdammte Knopf?!“

Mit einem strahlenden Lächeln, das lange, unregelmäßige Zähnen enthüllt, hilft der junge Mann mir aus meinem Dilemma, indem er rechts an mir vorbei ausgreift, dabei meinen Busen leicht streift, scusi, und schließlich mit vollendeter Grandezza die Stromzufuhr einschaltet.

Nach Ablauf der mir gesetzten Frist baut sich der Botschaftssekretär wieder vor mir auf und nimmt schweigend und mit strenger Miene die Übersetzung entgegen, ohne diese zu überprüfen. Das ist nicht seine Aufgabe. Seine Deutschkenntnisse sind nur rudimentär oder gar nicht vorhanden. Mitsamt dem getippten Text geleitet er mich zur Überprüfung der Übersetzung und meiner Tippfähigkeiten sowie zur allgemeinen Begutachtung meiner Person zu seinem Vorgesetzten. Wir laufen wieder durch das prächtige Treppenhaus, vorbei an einer hohen, doppelflügeligen Türe (hinter der sich das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz des italienischen Botschafters befindet), an einer dunklen Bretterwand entlang (dahinter der Gesandte). Weiter geht es durch mehrere Büros hindurch in das letzte Zimmer am Ende des Ganges, wo bis zum Umzug der Botschaft von Bonn nach Berlin der jeweilige Erste Botschaftsrat und Chef der Politischen Kanzlei residierte.

Dieser hier ist hochgewachsen, hat eine etwas gebeugte Haltung (ein Bandscheibenleiden), leicht schütteres, fussiges Haar, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und wirkt ganz und gar nicht italienisch, aber – als Tochter aus gutem Hause hat man ein sicheres Gespür für so was – irgendwie nicht ungefährlich. Als ich ihm meinen Text reiche, verharrt seine Hand wenige Sekunden zu lang auf meiner. Er lächelt, schaut flüchtig auf meine Übersetzung, parliert ein wenig auf Französisch mit mir – völlig problemlos. Französisch war mein zweites Studienfach und – wichtiger – meine erste Liebe.

Ich hatte Michel am Strand von Folkstone kennengelernt, wohin Papa meine Schwester und mich zur Verbesserung unserer Englischkenntnisse geschickt hatte. Er war ein paar Jahre älter als ich, schmal, zerzauste dunkle Haare, lächelnde hellbraune Augen, ein Grübchen rechts, Gauloise zwischen den schmalen Lippen, witzig, lebhaft und der schönste Mann, dem ich bis dahin begegnet war.

Vier Wochen Englischunterricht, Strand, Coffee Shop, Strand und spätestens um 22 Uhr per Taxi in mein englisches Zuhause: Papa hatte meinen Gastgebern zuvor leider präzise Angaben zu meinen Ausgehzeiten zukommen lassen. Nach einem glückseligen Sommer reisten ein Jahr lang wöchentlich, fast täglich, handgeschriebene Briefe zwischen Bonn und Paris hin und her: „Ma pétite chérie!“ Paris Match wurde meine bevorzugte Lektüre, ich lernte „Le Métèque“, „Les Bicyclettes“, „Ma Liberté“ quasi auswendig und rauchte heimlich im großen Garten des Elternhauses Gitanes. Meine Französischnote kletterte binnen einen Jahres von ungenügend auf sehr gut.

Im folgenden August reiste ich nach Le Torquet an der Kanalküste, um bei einer französischen Familie mein Französisch weiter zu verbessern – völlig überflüssig, aber darum gings gar nicht mehr: Michel holte mich heimlich nach Paris. Mein Freund zeigte mir stolz seine Stadt, nicht ohne zuvor mein Outfit für la Capitale de la mode geprüft zu haben: mohnrotes Kostüm, ausgestellter Rock, kurzes Jäckchen: „Jolie, très jolie.“ Ein endlos langer, warmer Tag im Wollkostüm zu Fuß durch Paris, Sainte Chapelle, Montmartre, Sacré Coeur, Bateaux mouches. Erschöpft fuhren wir in der Dämmerung mit der Metro nach St. Cloud zu dem eleganten, leeren Elternhaus. Die Mutter weilte am Strand von Deauville, der Vater, Filmproduzent, drehte in Angoulême, das Personal hatte Urlaub. Essen hatten wir den ganzen Tag über total vergessen, im Kühlschrank ein einsamer Käse und ein paar Weintrauben. „Und was hat dir von der Stadt am besten gefallen?“ Müde: „Bof?“ „Was? Du hast einen ganzen Tag PARIS angeschaut – und bof?!“! „Also, la Sainte Chapelle: ja, eindeutig das Schönste, was ich je gesehen habe.“ (Da hatte ich die Capella Palatina in Palermo noch nicht gesehen). Sofa, Käse, Trauben. Unversehens wurde die Situation kritisch: Der Franzose wollte faire l‘amour, „C‘est normal, quoi?“ Die Deutsche hatte allergrößte Bedenken: streng erzogen, protestantisch, 16 Jahre alt. Michel sah in dem Alter nun gar kein Problem: Umgekehrt stieg er ja bisweilen mit den Freundinnen seiner Mutter ins Bett, allesamt fast doppelt so alt wie er. „Faire l‘amour, donc, das ist normal, wie essen und atmen und schlafen.“ Irgendwie haben die Franzosen in diesem Bereich des Lebens offenbar einen vollkommen anderen Ansatz. Mir gingen die Argumente aus, zumal ich mit mohnroter Unterwäsche vermutlich auch ein völlig falsches Signal gesetzt hatte.

Da kam die Erlösung buchstäblich von oben: nicht gerade vom Himmel, aber vom Dach des Hauses, an dem sich zwei Einbrecher lautstark zu schaffen machten. „Paris au mois d‘aout“ haben die wohl gedacht: keiner im Haus, aber ein Picasso an der Wand! Mein Held vertrieb die Verbrecher, im Morgengrauen fuhren wir zurück nach Le Torquet, belanglose Nachmittage am Strand mit den Freunden meiner Gastfamilie. Abschied: Michel reiste zur Mutter und deren Freundinnen zum Baden oder zu was auch immer nach Deauville, ich zu Papa und Mutti zum Wandern ins Berner Oberland.

Wir sahen uns nicht wieder. Viel später erinnerte er mich via Facebook an unsere sweet memories. Noch ein wenig später las ich in der Provence entsetzt in der Tagespresse, dass Michel, ancien Président de Viacom France, im Urlaub in Bayonne auf seinem Motorroller tödlich verunglückt war:

„Michel était un très grand professionnel connu et respecté qui débordait de vitalité. Éminemment sympathique et dynamique, aucun événement ne pouvait entamer son enthousiasme“. In der Tat: überschäumende Vitalität, enorm sympathisch und dynamisch, nichts konnte seinen Enthusiasmus hemmen. Erst kurz vorher seine letzte Nachricht mit einem Foto beim einsamen Aperitif auf einer Hotelterrasse in Biarritz: „Pimm‘s and birds à l‘Hôtel du Palais – on a les spectateurs que l’on mérite.“

„Allora, Signorina?!“ Der italienische Botschaftsrat holt mich abrupt aus meinen Erinnerungen zurück und legt mir als abschließende Prüfung ein kleines Heftchen mit zwei Seidenbändchen in den italienischen und chinesischen Landesfarben vor: das protokollarische Programm für einen Staatsbesuch des italienischen Präsidenten in China. Vielleicht irre ich mich, ein Besuch auf Präsidentenebene zu Zeiten der Ping-Pong-Diplomatie wäre eigentlich verwunderlich. Doch die italienische Außenpolitik war ja bisweilen gern Vorreiter, wenn es darum ging, die politische und insbesondere die wirtschaftliche Isolation einer von der Staatengemeinschaft geächteten Nation aufzubrechen. Genützt hat das am Ende weder Fidel Castro noch Muammar al-Gaddafi, aber vermutlich zu allen Zeiten der ENI. Das ist das größte, halbstaatliche italienisches Erdöl- und Gasunternehmen, dessen wirtschaftliche und politische Bedeutung für die Nation vergleichbar ist mit der russischen Gasprom.

Aber hic et nunc gilt es, die Tischrede des Präsidenten der Italienischen Republik im Stegreif aus dem Italienischen ins Deutsche zu übersetzen. Und trotz eines eklatanten Fehlers, aufgrund dessen ich den Präsidenten in meiner Interpretation von mio personale auch im Namen seiner Belegschaft seinen Dank aussprechen lasse, bekomme ich einen Arbeitsvertrag als Übersetzerin an der italienischen Botschaft in Bonn.

Ich war der einzige Bewerber.

Diese Form des Anheuerns hat vermutlich über viele Generationen hinweg Heerscharen von Staatsbediensteten in Italien mehr oder minder verdient in Lohn und Brot gebracht.

Behördensitze in Rom erkennt man in der Regel ziemlich leicht daran, dass ganze Horden von Männern mit schlichten Gesichtern und glänzenden Anzügen vor dem Eingang herumlungern, um diesen oder jenen Diener des Staates in einem der auto blu durch den römischen Verkehr zu chauffieren. Denn einstmals galt die Regel, dass für jedes der immerhin rund 80.000 Dienstfahrzeuge zwei Fahrer eingestellt werden mussten. Dies war eine bewährte Methode der Entlohnung williger, aber unterbelichteter Parteihelfer, bis Matteo Renzi Jahrzehnte später während seiner kurzen Amtszeit als italienischer Ministerpräsident ein paar dieser Karossen publikumswirksam bei Ebay verhökerte.

Einige Jahre nach meiner Einstellung wurde die Rekrutierung von Personal durch komplizierte Auswahlverfahren streng reglementiert, um Transparenz herzustellen und Klientel- und Vetternwirtschaft Einhalt zu gebieten – mit zweifelhaftem Erfolg. Jahrzehnte später konnte ich mich des Verdachts nicht erwehren, dass die eine oder andere Kraft am Kölner Konsulat womöglich in jungen Jahren frisch vom Trottoir weg engagiert worden war.

Der Schein eines ganz und gar objektiven Verfahrens musste jedoch immer und unter allen Umständen gewahrt bleiben: Im Gespräch mit dem späteren, sehr vertrauten Botschafter Luigi Vittorio Ferraris habe ich in den Achtzigerjahren mal eine bevorstehende Veranstaltung als concorso finto, bezeichnet, ein getürktes Auswahlverfahren. Er wies diese Unterstellung mit höchster Empörung zurück – obwohl wir nur zu zweit in seinem Arbeitszimmer saßen und nicht nur wir beide, sondern auch sonst jedermann in der Botschaft wusste, dass es bei dem aktuellen Verfahren lediglich darum ging, einer seit Jahren bewährten, aber im unsicheren Anstellungsverhältnis bei der sehr italienischen Institution zur Förderung italienischer Schulkinder namens CoAsScIt befindlichen Kraft einen sicheren Arbeitsplatz in der Sozialabteilung der Botschaft zu verschaffen, für den sie zweifelsohne bestens qualifiziert war. Und genau dieses Ergebnis hatte eben schon vor der umständlichen Prozedur des Ausschreibungsverfahrens festgestanden.

2

Lehr- und Wanderjahre

Die folgenden dreiundvierzig Jahre meines Lebens verbrachte ich tagsüber auf exterritorialem Gebiet, sozusagen in einem fremden Land, das ich am Ende des Studiums in Heidelberg eigentlich schon zu kennen geglaubt hatte. Denn Professoren und Dozenten hatten sich redlich bemüht, uns Studentinnen die italienische Sprache, Geschichte, Landeskunde nahezubringen. Jungens gab es unter den vierzig Erstsemestern exakt zwei. Die Kommilitoninnen waren allesamt Töchter aus solidem Elternhaus, wo man die Universität vorrangig als Heiratsmarkt betrachtete. Während der Suche nach einem passenden Akademiker sollten die Mädchen „irgendwas mit Sprachen“ machen. Tatsächlich waren wir Mädchen im Examenssemester nur noch zu sechst.

Nichts ist so wirkungsvoll wie full immersion, das hatten mir meine Erfahrungen in England und Frankreich gezeigt. Nach dem ersten Heidelberger Studienjahr mit miserablen Prüfungsergebnissen entschloss ich mich, ein halbes Jahr als Au-Pair-Mädchen in Italien zu verbringen. Ich landete auf einem weitläufigen, alten Landsitz in der Nähe von Turin, bei einem Ehepaar der guten Gesellschaft mit zwei fein gekleideten, völlig verzogenen Gören im Alter von drei und fünf Jahren, denen ich Französisch beibringen sollte. Die Erziehung beziehungsweise Nicht-Erziehung italienischer Kinder ist ein notorisches Phänomen, das jeder Reisende kennt und das auch durch regelmäßige Umfragen unter europäischen Hoteliers bestätigt wird, deren Ergebnisse sodann unter italienischen Bloggern heftig diskutiert werden. Als Erklärung für die Erziehungsresultate deutscher Eltern wird dabei mitunter der Film „Das weiße Band“ angeführt.

Papa schickte mir viele Briefe nach Turin, darin wiederholt die Mahnung „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“, aber vor allem ein Paket Aachener Schokoladenprinten als Trost, dessen ich vor allem in den ersten Wochen wirklich bedurfte.

Zum Haushalt gehörten eine alte Araberin als Tata und Mädchen für alles, die offenbar schon den Hausherrn in Jerusalem großgezogen hatte und ihn und die Kinder buchstäblich anbetete; die beiden sprachen Arabisch untereinander, und manchmal wurde Couscous serviert, das, in Salatblätter gerollt, mit der Hand zu essen war; aber nach den Tripes à la mode Caen konnte mich das nicht aus der Fassung bringen. Weiteres Personal war ein Ehepaar: Die Frau war für die Sauberkeit des Hauses verantwortlich, ihr Ehemann fungierte als Diener. Wenn er nicht gerade mit weißen Handschuhen servierte, polierte er im Innenhof des Hauses seinen Ferrari Dino, was der Signora ausgesprochen unangenehm war, nicht wegen der Tätigkeit, sondern wegen des Fahrzeugs, das einträchtig neben dem bescheideneren Mercedes des Hausherrn und dem noch bescheideneren Mini Cooper der Hausherrin im Hof stand.

Entgegen der Verabredung hatte ich kein eigenes Zimmer, sondern bekam einen Schlafwinkel im großen Kinderzimmer zugewiesen. Und das zuvor schriftlich vereinbarte monatliche Taschengeld von 100 DM wurde erst nach mehrmaligen und hartnäckigen Bitten gewährt. Freie Nachmittage hatte ich in den sechs Monaten insgesamt zwei. Den ersten verbrachte ich im Februar in der Innenstadt von Turin unter grauem, regenverhangenem Himmel, um mir für die anstehende Reise in die Schneealpen ein Paar safrangelbe Steghosen und als seelischen Trost zwei Päckchen KitKat-Riegel zu kaufen; den zweiten habe ich im Juni genutzt, um ziellos auf der eleganten Piazza Cavour herumzulaufen. Den Mut, bei strahlendem Sonnenschein eine Bar für einen Campari oder ein Tramezzino aufzusuchen, hatte ich nicht. Schließlich habe ich mir eine deutsche Tageszeitung und für die Sommermonate am Meer ein weißes T-Shirt mit verlaufenden blauen Farbschlieren gekauft: Schick der Siebzigerjahre.

Wenige Tage nach meiner Ankunft fuhr die Signora mit den Kindern und mir zum Wintersport in die Berge. Für mehrere Wochen quartierten wir uns in einem feinen Hotel in Sestrière ein. Die Signora lief Ski, die Kinder besuchten einen Kinderskikurs, den der kleine Simone meist heulend und mit vollgepinkelter Hose absolvierte, und ich strich in meiner knapp bemessenen Freizeit um die örtliche Pasticceria herum, aus deren Türen und Lüftungen der köstliche Duft frisch gebackener Bignès und anderer Köstlichkeiten waberte, von denen deutsche Konditoren bis heute keine Ahnung haben. Die Mahlzeiten im Hotel waren jedes Mal ein Alptraum: Die Kinder verweigerten regelmäßig das Essen, rannten im Restaurant herum, heulten, brüllten.

Zurück im Landhaus bei Turin verbrachte die Hausherrin viel Zeit in der Badewanne, mit Mode-Einkäufen und bei Freundinnen. Die Kinder und mich hat sie hin und wieder auf einen Spielplatz in Turin und später, während eines mehrwöchigen Aufenthalts in Rom, an einem Sonntagmorgen zum Pincio Park begleitet. Der Hausherr war ein vielbeschäftigter Mann in der Textilindustrie, der meist daheim blieb, wenn der gesamte Haushalt im Frühjahr in die Alpen, im Frühsommer in die Hauptstadt und anschließend ans Mittelmeer verlegt wurde: eine prächtige Villa hoch über der Bucht von Gaeta, wo es nichts als Meer und Sonne und völlig unbekannte Verlockungen wie Mandelmilch, Meeresfrüchte und Mozzarella gab. Derweil verbrachte der capo famiglia, der den ganzen Spaß vermutlich erwirtschaften musste, seine freie Zeit am hellen Tag müde vor dem Fernseher in Piemont und schaute Pferderennen oder Fußballspiele. Um die Kinder Simone und Francesca kümmerte auch er sich nicht weiter, obwohl er sie, ebenso wie die Signora, innig liebte.

Wir drei aber hatten es nach den ersten schauderhaften Wochen, in denen die Bambini gern ihre Schuhe nach dem Au-Pair-Mädchen schmissen, fertiggebracht, zunächst ein paar wenige, gemeinsame Regeln aufzustellen, uns dann ein bisschen gegenseitigen Respekt entgegenzubringen und schließlich dicke Freunde zu werden.

Erst in der Rückschau fällt mir auf, wie unendlich isoliert diese beiden Kinder aufwuchsen. Sie besuchten keinen Kindergarten und keine Freunde. Kontakt mit Gleichaltrigen hatten sie nur, wenn die Kinder aus dem gesellschaftlichen Umfeld ihrer Eltern Geburtstag feierten. Dann wurden die Signora samt Kinder und Au-Pair-Mädchen in die Häuser der Turiner Gesellschaft eingeladen, wo jeweils getrennt gefeiert wurde: Die Damen saßen elegant im salotto, wo sich auf den Tischen antikes Silber und feine Torten türmten (die nichts gemein haben mit einer Schwarzwälder Kirschtorte), und machten Small Talk, die Kinder spielten oder zankten, und die Au-Pair-Mädchen schwatzten in einem lustigen Mix aus Italienisch, Französisch und Englisch. Solche Besuche haben mir überraschende Einblicke in italienische Haushalte eröffnet, zu denen auch der Palazzo einer veritablen Principessa gehörte, dessen Bäder zu meinem Staunen mit den sprichwörtlichen goldenen Wasserhähnen ausgestattet waren.

Ich habe eine Menge gelernt über italienisches Leben und italienisches Essen und natürlich Italienisch – was ja Zweck der ganzen Übung war, denn die vorangegangene Abschlussprüfung des Propädeutikums hatte ich wegen meiner miserablen Grammatikkenntnisse nur mit Ach und Krach bestanden.

Das italienische Essen daheim nachzukochen, stellte übrigens eine größere Herausforderung dar als die Bewältigung der italienischen Klausuren, und zwar nicht allein wegen des Mangels an Zutaten, die heute jeder Edeka oder Aldi anbietet, sondern in erster Linie wegen der fehlenden Anleitung. Die heutige, überwältige Vielfalt an Kochbüchern, vorzugsweise von Männern für Männer geschrieben (einen davon habe ich zu Hause), kam erst später. Die deutsche Hausfrau schöpfte ihr Wissen aus „Dr. Oetkers Schulkochbuch“; eine „Henriette Davidis“-Ausgabe hat sich erst der spätere Ehemann aus dem Sperrmüll angeeignet. Wie viele vergebliche Versuche habe ich unternommen, auf dem Elektrokocherchen in meinem Heidelberger Studentenzimmer einen Risotto milanese zu fabrizieren, unter anderem unter Zuhilfenahme von Eigelb, in der irrigen Annahme, dass es die gelbe Farbe und cremige Konsistenz bewirken würde!

Die ganze Pracht der geschichtsträchtigen Hauptstadt Piemonts habe ich an den beiden freien Tagen während meines langen Aufenthalts nicht annähernd ermessen können. Im folgenden Sommer aber gab mir ein mehrwöchiger Sprachkurs an einer Scuola Superiore für Irgendwas di Torino die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen.

Für völlige Verblüffung sorgte das Verhalten sämtlicher Verkehrsteilnehmer – Autofahrer, Fahrradfahrer, motociclisti und Fußgänger gleichermaßen – auf meinem kurzen Fußweg quer durch das Stadtzentrum von einer kleinen Pension zur Schule.

„Aber die halten sich ja überhaupt nicht an die Verkehrsregeln?!“

Nach einer Weile habe ich festgestellt, dass die Hinweise von Ampeln und Verkehrszeichen vermutlich erkannt, aber eher als freundliche Empfehlungen betrachtet und nur dann befolgt wurden, wenn das dem Verkehrsteilnehmer in der aktuellen Situation tatsächlich sinnvoll schien. Ein ähnliches Gebaren hat übrigens viele Jahre später unser italienischer Schäferhund an den Tag gelegt und sich damit ganz erheblich vom Verhaltensmuster sämtlicher deutschen Kollegen abgesetzt.

Und es funktionierte! Wessen Ampel Grün zeigte, überquerte trotzdem mit Vorsicht und Bedacht die Kreuzung, denn er konnte ja nicht davon ausgehen, dass die rote Ampel den anderen Verkehrsteilnehmer wirklich zum Stoppen brachte. Und selbst dort, wo sich sechs Autofahrer auf drei Spuren nebeneinander ihren Weg suchten oder in einem Kreisverkehr der Lenker eines motorino einen Maulesel am Zügel hinter sich herzog, rollte der Verkehr störungsfrei. Meine italienischen Freunde, welche dieses rücksichtsvolle Verkehrsverhalten in Italien vermutlich von Kindesbeinen an verinnerlicht haben, schockiert bei der Ankunft in Deutschland wenig so sehr wie das Fahrverhalten der Radfahrer – insbesondere im so toleranten Köln: immer voll drauf, allzeit und allerorts vorfahrtberechtigt, im Bewusstsein der eigenen zwar nicht körperlichen, doch zumindest moralischen Überlegenheit und vermeintlichen Unverletzbarkeit.

Womöglich habe ich seinerzeit einige italienische Praktiken adaptiert, denn der spätere Ehemann sieht bis heute vielerlei Anlass, das, was er einen „mediterranen Fahrstil“ nennt, zu bemängeln. Unsere Kinder vermuten eher eine genetische Belastung. Ihre mittlerweile vierundneunzigjährige Großmutter chauffiert seit Jahrzehnten ihre schweren BMWs mit Höchstgeschwindigkeit und halb durchgetretener Kupplung über Autobahnen und durch Innenstädte, wobei es nicht an ungeduldigen Kommentaren über die saumselige Fahrweise anderer Automobilisten mangelt:

„Die Überholspur ist nur für die ganz großen Autos gedacht!“ oder „Da vorne sitzt bestimmt eine Frau am Steuer! Oder ein Neger!“ Langjährige Nachbarn sehen jedenfalls Veranlassung, sich beim Herannahen eines älteren BMW-Modells vorsorglich auf dem Bürgersteig in Sicherheit zu bringen.

Im Klassenzimmer der Turiner Sprachschule, die im ersten Stockwerk eines Altbaus untergebracht war, saßen inmitten einer bunt gewürfelten Schülertruppe ein Schweizer Medizinstudent mit bernsteinfarbenen Augen und eine deutsche Sprachstudentin mit grünen Augen dicht nebeneinander, hielten unter der Schulbank verstohlen Händchen und schwänzten ab der ersten Pause den Unterricht, um auf der Terrasse des traditionsreichen Caffè Torino an der Piazza Cavour bei Aperitif und Kartoffelchips Zeitung zu lesen und sich über den Rand der Zeitung hinweg verstohlene Blicke zuzuwerfen. Wobei die Konzentration auf die politische (in meinem Fall) und die sportliche (in seinem Fall) Berichterstattung natürlich ganz und gar flöten ging.

Was für eine Stadt! Und erst der mächtige Strom – der damals völlig harmlos dahinfloss, bis ihn Jahrzehnte später die politische Formation Lega Nord mit padanischem Symbolgehalt und separatistischem Gedankengut schwer befrachtete. Manchmal, in der Dämmerung, liefen wir zum Flussufer, um ein kleines Ruderboot zu mieten. Während die künftige Übersetzerin und Presseattachin im letzten Licht der untergehenden Sonne Kommentare aus der Neuen Zürcher Zeitung vorlas, griff der künftige Spitalratspräsident beherzt in die Riemen, um seine Muskeln zu trainieren. Und doch hatte damals keiner von uns beiden auch nur eine leise Ahnung davon, wohin unser späteres Berufsleben uns jeweils führen würde.

Für die gemeinsame Rückreise von Turin in die Schweiz beziehungsweise nach Deutschland hatten wir einen romantischen Zwischenaufenthalt in Lugano eingeplant. Aber daraus wurde nichts. Zwar saßen wir unter Palmen am malerischen Ufer des Luganer Sees, aber meinen Begleiter plagte ganz banal der Weisheitszahn. Unsere Wege trennten sich deshalb noch am selben Abend beim ersten Zughalt hinter der Grenze zur Schweiz, wo der Mediziner sich wenig später daran machte, die Klassenarbeiten seiner Verlobten, einer Lehramtsanwärterin, zu korrigieren und darüber in unbeschwerten Briefen zu berichten. Die Übersetzerin hingegen hatte mittlerweile das Gewissen gepackt, und sie zog sich in den hintersten Winkel des elterlichen Gartens zurück, um am wackeligen Gartentisch ein sehr verantwortungsvolles Schreiben zu Papier zu bringen, in dem sie umständlich darlegte, dass es ihr als langjährige Verlobte eines anderen Mannes unmöglich sei, das Techtelmechtel fortzusetzen (anzufangen natürlich auch nicht).

Meine letzte Studienreise nach Italien dauerte nicht viel länger als achtundvierzig Stunden. Als Thema meiner Diplomarbeit hatte ich „Das Bild der berufstätigen Frau in italienischen Frauenzeitschriften“ gewählt, das ich aus redaktionellen Texten, Anzeigenwerbung und Zuschriften von Leserinnen herausfiltern und analysieren wollte: Amica, Noi Donne und eine dritte Zeitschrift, deren Namen ich vergessen habe. Vielleicht war es Famiglia Cristiana, denn deren Redaktion schickte mir auf mein Anschreiben, in dem ich mein Projekt erläutert hatte, eine Menge Handarbeitsrezepte, Häkelanleitungen, Strickmuster und so weiter. Vielleicht hatte ich das Thema mit „La Donna lavoratrice“ nicht richtig übersetzt. Ich machte mich mit dem Zug auf nach Italien, wo ich mir in Mailand und Rom während jeweils kurzer Aufenthalte die Ausgaben eines halben Jahres aus den Archiven von Amica und Noi Donne besorgte und zusammen mit vier Kugeln Mozzarella und einem Viertel Pfund Mailänder Salami nach Heidelberg transportierte.

Da saß ich dann viele Nachmittage auf meinem Balkon am Neuenheimer Neckarufer ratlos vor einem leeren Blatt und meiner Schreibmaschine: ein hohes, schwarzes Ungetüm, das ich für 40 DM gebraucht erworben hatte. Sie wurde nicht mit einer Druckerpatrone, sondern mit rot-schwarzem Farbband gefüttert und hatte auf der Rückseite eine Art Inspektionsfenster, eine kleine, rechteckige Glasscheibe. Irgendwann habe ich es geschafft, meine Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Die Reinschrift der Arbeit tippte ich am Ende allerdings nicht auf dem schwarzen Monster, sondern sie wurde dank eines Zuschusses von Papa von einer Schreibkraft abgeschrieben – mit mehreren Durchschlägen. Für die jüngeren Leser: Das sind hauchdünne Papierblätter, die zusammen mit einem ebenfalls dünnen Kohlepapier hinter den eigentlichen Papierbogen gelegt wurden, sodass die Buchstaben beim Tippen auf ein zweites (manchmal auch drittes) Papier „durchschlagen“. Fotokopien gab es noch nicht, USB-Sticks auch nicht und die Cloud schon gar nicht. Beim Transport der Arbeit samt Durchschläge im Bötchen über den Neckar von Neuenheim zum Buchbinder in der Heidelberger Altstadt habe ich deshalb inständig für die sichere Überfahrt (50 Pfennig) gebetet.

Die Note war nachher eher mäßig, befriedigend, glaube ich. Am ganzen Examen richtig hervorragend war nur die Diplom-Übersetzung (eigenhändig getippt), in die ich mich wirklich mit großer Leidenschaft hineingekniet hatte: Augen auf bei der Berufswahl!

Rückblickend kann ich heute, nach über vierzig überaus glücklichen Jahren, tatsächlich sagen, dass ich in zwei essenziell wichtigen Situationen meines Lebens – von wem auch immer gelenkt – die absolut richtige Entscheidung getroffen habe: bei der Wahl des Berufes und der des Ehemannes (das ist die chronologische Reihenfolge).

3

Ein italienischer Arbeitgeber

Nach dem erfolgreichen Abschluss der Studien in Heidelberg und Turin trat ich am 1. Oktober 1973 vereinbarungsgemäß meine Stelle als contrattista an der italienischen Botschaft an und war vom ersten Tag an begeistert. Der Job war völlig kurios, im heutiger Diktion spannend, fantastisch. Mein späterer Ehemann nannte mich unter Vernachlässigung vieler Aspekte meiner Tätigkeit „den bestbezahlten Spiegel-Leser von Bonn“.

Der mir zugewiesene Schreibtisch im Sekretariat war bis auf ein paar Plätzchenkrümel in den Schubladen leer. Von meinem Stuhl fiel jedes Mal, wenn ich aufstehen wollte, die Sitzfläche zu Boden. Mutti gab mir später als Ersatz einen ausrangierten Bürostuhl aus unserem Betrieb mit. In meiner ersten Mittagspause ging ich ins Kaufhaus, um mir Schreibmaschinenpapier, Kohlepapier, Stifte, Aschenbecher und alles, was mir notwendig erschien, zu kaufen. Bei dem Blau-, Kohle- oder Pauspapier handelt es sich um die erwähnten beschichten Bögen, dank derer man damals Kopien anfertigte.

Ein paar Tage nach meinem Dienstantritt wurde ich dem Botschafter vorgestellt. Das war Ludovico Luciolli, ein kleiner, dicklicher älterer Herr mit dicken Brillengläsern, von dem die Sekretärinnen sagten, er sei ein politischer Botschafter. Der Botschafter ist naturgemäß der Chef des Ganzen und wird, wie alle vom Außenministerium entsandten Beamten, in der Regel nach vier Jahren auf einen anderen Posten versetzt. Sein Stellvertreter und die Nummer zwei in einer Botschaft ist die Figur des außerordentlichen und bevollmächtigten Gesandten, der bei Abwesenheit des Botschafters zum Geschäftsträger ad interim wird. In jenen Jahren war das der freundliche und stille Girolamo Nisio, der während seiner gesamten Amtszeit in Bonn im Rheinhotel Dreesen logierte und viele Nachmittage damit verbrachte, in einer sanft whisky-aromatisierten Luft das Muster seines Teppichs zu betrachten, in Gang und Habitus dem das „Dinner for One“ servierenden Butler James erstaunlich ähnlich. In der Hierarchie folgt sodann der sogenannte Erste Botschaftsrat. Davon kann es an einer größeren Botschaft mehrere geben; die Rangfolge richtet sich dann nach dem Dienstalter. Diese jeweiligen Ersten Botschaftsräte sind üblicherweise die Leiter der verschiedenen Abteilungen: Politische Abteilung, Wirtschaftsabteilung, Sozialabteilung, Kulturabteilung, Presseabteilung (nur die Militärabteilung ist außen vor, sie untersteht nicht dem Außen-, sondern dem Verteidigungsministerium und wird in der Regel von einem General geleitet). Den Ersten Botschaftsräten unterstellt sind die einfachen Botschaftsräte, Legationsräte, Erste Botschaftssekretäre und Zweite Botschaftssekretäre. Ziemlich weit darunter angesiedelt ist das Fußvolk, Sachbearbeiter (Männer), Sekretärinnen (Frauen), Büroboten (Männer), und am untersten Ende der Leiter befinden sich die vor Ort (und zeitlich befristet) eingestellten contrattisti. Das Ganze ist vergleichbar mit der Rangordnung in einem Krankenhaus, die man unschwer bei einer Visite erkennen kann: vorweg der alles beherrschende Chefarzt, danach die schon ziemlich selbstbewusst auftretenden Oberärzte, die strebsamen Stationsärzte, die noch unbedarften Assistenzärzte, die Oberschwester (in Auftritt und Erfahrung vergleichbar mit der Sekretärin des Botschafters), sodann Pfleger, Schwesternschülerin, Praktikant/in.

In den ersten Wochen war ich hauptsächlich damit beschäftigt, mich nicht nur hierarchisch, sondern auch fachlich und geographisch in der neuen Umgebung zu orientieren.

Gegenüber von meinem Arbeitsplatz im Sekretariat der Politischen Abteilung befand sich das Archiv. Da saßen aus Rom entsandte Kollegen des einfachen Dienstes vor zwei gigantischen Büchern, in denen die eingehende und ausgehende Post, mit fortlaufenden Nummern versehen, handschriftlich eingetragen wurde. Sie trugen schwarze Ärmelschoner wie in einem Heinz-Rühmann-Film. Im Archiv wurden alle Korrespondenzen, Depeschen, Verbalnoten, Aktenvermerke aufbewahrt, ob geographisch oder nach Themenkreisen geordnet, wusste ich nicht so genau. Das wussten womöglich auch die nicht sehr hellen archivisti auch nicht so genau – und zwar lange bevor Litauen und Lettland, Slowenien und Slowakei richtig Verwirrung stifteten. Es war fast unmöglich, von dort eine Akte oder eine Briefkopie wiederzubekommen, weshalb ich später eigene Durchschläge von all meinen Briefen, Reden, Übersetzungen angefertigt habe. Ja, ja, später traten Disketten an die Stelle der Durchschläge. Die Cloud kam noch viel später. Das Problem der Computer, welche in den Neunzigerjahren die Schreibmaschinen ersetzten, bestand nicht so sehr in einer intellektuellen Überforderung des Personals als vielmehr in der Beschaffungsmethode der Software. Diese wurde bis zur Jahrtausendwende nicht regulär mit Lizenz und Seriennummer erworben, sondern stammte in der Regel von einem Giorgio oder Antonello, der seinen Dienst als commesso, also Laufbursche, Bürodiener, im Büro des Militärattachés im Parterre der Botschaft tat und über einen Freund eines Vetters seiner Frau, der bei Olivetti arbeitete, geeignete Beschaffungsmöglichkeiten hatte.

Den damaligen Botschafter bekam ich nach meiner Vorstellung nie je wieder zu Gesicht. Arbeitsaufträge erteilte mir zunächst der junge Botschaftssekretär, der mich bei meiner Einstellung begleitet hatte. Seine Deutschkenntnisse waren miserabel, weshalb er bei den italienischen Texten und meinen deutschen Übersetzungen die einzelnen Wörter zählte, um mir dann empört vorzuwerfen:

„Da kann was nicht stimmen, der deutsche Text ist ja länger!“

So spärlich wie seine Deutschkenntnisse war auch sein politisches Gespür. In einer Depesche an das römische Außenministerium verortete er später die noch junge Bundestagsfraktion der Grünen unter den engagierten Befürwortern einer Exportgenehmigung für Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien. Und eine Glosse der Süddeutschen Zeitung, deren Autor sich im Streiflicht auf der ersten Seite über ein in Italien offenbar unbekanntes Elftes Gebot „Du sollst nicht an deinem Sessel kleben!“ ironische Gedanken machte, stürzte ihn in Ratlosigkeit:

„Ja, ist es denn möglich, dass dieses undicesimo comandamento in der italienischen Übersetzung tatsächlich verloren gehen konnte?“

Dessen ungeachtet machte er eine ansehnliche Karriere, bekleidete prestigeträchtige Posten sowohl im Ausland als auch in der Zentrale und viele Jahre später als Erster Botschaftsrat wieder in Bonn, wo ihm das schöne, nunmehr noch markantere und von silbernem Schläfenhaar gerahmte Gesicht bei den Godesberger Damen Tür und Tor und so weiter öffnete.

Mein nächster Vorgesetzter war der Erste Botschaftsrat und Leiter der Politischen Abteilung, der das Prüfungsgespräch mit mir geführt hatte. Nachdem ich durch Lernfreude, Tüchtigkeit und Freundlichkeit das Wohlwollen aller sechzigjährigen Sekretärinnen gewonnen hatte, durfte ich auch an deren Geheimnissen teilhaben. Sie vertrauten mir an, dass mein Chef sich des Nachts heimlich per Bettlaken aus der ehelichen Wohnung in der Amerikanischen Siedlung in Plittersdorf abzuseilen pflege, um sich in das Godesberger Nachtleben oder sonst wohin zu stürzen. Und man habe ihn mit meiner Vorgängerin Hand in Hand durch Abano Terme (die Bandscheibe) spazieren gesehen.

Auch er gab mir die Arbeitsaufträge. Zu meiner Überraschung waren das nicht nur oder vorwiegend Übersetzungen, sondern jede Menge privater Korrespondenz und Telefonate. Ich hatte seine Rechnungen zu bezahlen, Heizöl zu bestellen, Arzt- und Friseurtermine zu vereinbaren, Verhandlungen mit seinem spanischen Hausmädchen zu führen und handschriftliche italienische Texte abzutippen. Eine meiner vorrangigen Aufgaben bestand darin, unter allen Umständen den Vorsitzenden der lokalen deutsch-italienischen Gesellschaft Dante Alighieri am Telefon abzuwimmeln. Den Grund dafür habe ich erst viele Jahre später bei einer Feier im italienischen Generalkonsulat in Köln erkannt.

In Unkenntnis der möglichen Bandbreite italienischer Flexibilität fand ich die Situation an meinem Arbeitsplatz in der Botschaft bisweilen vollkommen unmöglich. Ich war manchmal trotz der anfänglichen Begeisterung ehrlich indigniert.

Sekretärin?

Tippse?

Mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium?

Aber ich hielt die Luft an und tat, was mir aufgetragen wurde – getreu Papas‘ Mahnung: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“.

Vermutlich war es diese weitgehend widerspruchsfreie und sehr tatkräftige Arbeitshaltung, die mir im Laufe der Zeit den Ruf eines mostro di efficienza eintrug. Denn manches italienische Personal war und ist weitaus schwieriger zu lenken oder zu motivieren. Das zeigte sich auch bei einem Botschaftsrat, der an seinem ersten Arbeitstag nach seiner Versetzung aus der römischen Zentrale an die Spitze unserer Presseabteilung den internen Telefonanschluss unserer Pforte wählte, um dem Angestellten am Empfang kundzutun:

„Ich nehme meinen caffé stets um 9 Uhr.“

Der Mann an der Pforte wiederholte für die zahlreich um ihn herumstehenden Bürodiener kichernd „Il Consigliere prende il suo caffé alle nove“, woraufhin die ganze Bande in prustendes Gelächter ausbrach und nicht im Traum daran dachte, dem Herrn Botschaftsrat zu welcher Uhrzeit auch immer einen Espresso zu servieren. Tatsächlich ist es mir in all den Jahren weder an der Botschaft noch am italienischen Konsulat in Köln gelungen herauszufinden, was die Bürodiener ihrer eigenen Einschätzung nach für ihren Aufgabenbereich halten – außer den Türöffner zu betätigen. Der Diplomat jedoch war, wie manch einer seiner Kollegen, zutiefst beeindruckt von seiner eigenen Wichtigkeit und pflegte sich am Telefon auch weiterhin als „der Botschaftsrat“ zu erkennen zu geben: „Sono il Consigliere“, was die Identifizierung des Anrufers angesichts der Vielzahl von Botschaftsräten schwierig machte.

Am Ende meines ersten Arbeitsmonats in der Botschaft ruft mich der Kanzler zu sich in den 2. Stock. Bis dahin wusste ich nicht einmal von dessen Existenz deshalb auch nicht, dass er als Leiter der Verwaltung Herr über Papier, Stifte, Farbbänder, Toilettenpapier, die Zentralheizung, die Auszahlung der Gehälter und auch über die Verträge der contrattisti ist.

Er eröffnet mir, dass mit dem wöchentlichen Kurier mein Arbeitsvertrag aus Rom eingetroffen sei.

„Aha.“

Ich müsse ihn noch unterschreiben.

„Aha.“

Er sei auf den 19. Oktober datiert.

„Aha.“ (Die doofe Deutsche hatte immer noch nicht kapiert.)

„Na, das heißt, das Gehalt wird auch erst ab dem 19. Oktober bezahlt!“

„Ach was?! Aber ich bin doch schon seit dem 1. Oktober hier.“

„Und wenn schon, viel Arbeit werden Sie ja in den paar Wochen nicht geleistet haben ....“.

Da fehlen dir die Worte.

So erkenne ich schon sehr früh, was Jahrzehnte später Umberto Eco quasi ex cathedra oder besser ex tomba bestätigte, nämlich dass Flexibilität im weitesten Sinne – oder, um mit Mario Monti zu sprechen, precisione elastica – eines der prägenden Kriterien im Verhalten nicht nur meines Arbeitgebers, sondern des ganzen Landes ist: Nach seinem Tode wurde Umberto Ecos „Videoguida dell’Italia“ aus dem Jahre 2012 dem Publikum zugänglich gemacht, wo gleich zu Beginn das Erste italienische Gebot aufgeführt wird: flexibel sein.

„Primo, essere flessibili: il comandamento italiano.“

Tatsächlich versprach man mir im Gegenzug für das folgende Jahr drei zusätzliche Urlaubswochen, doch als ich – ziemlich gewitzt, wie ich fand – das Versprechen in schriftlicher Form erbat, platzte meinem Chef der Kragen.

Ob ich seiner mündlichen Zusage etwa nicht traue?

Na ja, eher nicht, oder?

Aber auf einmal schien es mir angebracht, den für alle Zukunft wichtigsten und vor allem relativ einfachen Rat der mütterlichen Seite zu beherzigen: Immer freundlich! Im Laufe meines Lebens hat sich mir nicht nur am Arbeitsplatz bestätigt, dass Freundlichkeit die beste Gabe schlechthin ist. Man muss nicht vom lieben Gott mit einem strahlend glücklichen Herzen bedacht worden sein, das manchen Kollegen zu einem dieser unnachahmlich italienischen Komplimente: „Wenn diese Deutsche das Zimmer betritt, geht die Sonne auf “ hinreißt. Eigentlich reichen ein Minimum an Selbstbeherrschung und die Basiselemente einer guten Erziehung aus, um den Mitmenschen mit einem liebenswürdigen Lächeln gegenüberzutreten, anstatt grämlich als Dürers Mutter durchs Leben zu schlurfen – auch wenn die Arbeitslast groß oder die Verdauung unregelmäßig, der Rücken malade oder der Sohn renitent, der Arbeitgeber schlecht oder das Leben ungerecht sein mag.

Also strahlte ich meinen Chef an.

„Selbstverständlich, Consigliere! Welch ein Fehler meinerseits!“ und reiste im Frühjahr – ohne dass ein schriftlicher Antrag in mehrfacher Ausfertigung an die Personalverwaltung in Rom geschickt wurde, was verboten war und verboten ist – mit meinem langjährigen Verlobten im Frühjahr für drei Wochen nach Griechenland.

Das war zu Beginn der Siebzigerjahre ein geradezu waghalsiges Unternehmen. Den gefährlichen Autoput durch Jugoslawien haben wir trotz der abenteuerlichen Geschichten, die man uns erzählt hatte, völlig schadlos überstanden. Belgrad war nicht viel anders als die DDR. Die kannte ich recht gut von regelmäßigen Besuchen bei Verwandten in Thüringen, von denen sich zu Papas Entsetzen die meisten für eine in diesem Umfeld buchstäblich brotlose Kunst im evangelischen Kirchendienst entschieden hatten.

Allerdings war der Autoput, je näher wir der Hauptstadt kamen, immer dichter von schwerbewaffneten Soldaten gesäumt. Ob das ein Dauerzustand oder einem anstehenden hohen Besuch aus einem sozialistischen Bruderland geschuldet war, weiß ich nicht, denn für die Rückkehr nach Bonn haben wir eine Route von Patras über Bari durch Italien gewählt.

Der langjährige Verlobte hingegen gab sich gern ein wenig weltmännisch (er war Fernsehjournalist), ging meist mit dem Kellner in die Küche, um sich die vorbereiteten Speisen zeigen zu lassen und mit dem Personal zu palavern. Er schaute in die Töpfe und ließ sich die Gerichte erklären, darunter etwas, das nach der pantomimischen Vorstellung des Kellners ein Hühnchen sein mochte. Da wir als seltene ausländische Gäste in jedem Lokal unter erhöhter Beobachtung standen, verfolgte die gesamte Dorfbevölkerung, wie der Verlobte angesichts des servierten Tellers vollkommen seine Contenance verlor:

„Das esse ich nicht. Das kann ich nicht essen. Nein, auf keinen Fall.“ Ich schaute zufrieden von meinem gegrillten Fisch, äußerst sparsam dekoriert mit jeweils einer Zitronen- und Gurkenscheibe, auf:

„Mann, was ist denn los? Du hast das Hühnchen doch selbst bestellt?!“

Der Verlobte blickte entsetzt in eine andere Richtung, jedenfalls nicht auf seinen Teller. Ich musste eine Weile konzentriert hingucken, um zu erkennen, dass es sich um ein komplettes Vögelchen handelte, gnädig mit Sauce zugedeckt.

Für den Sommer desselben Jahres konnte ich dank des Arrangements mit meinem Chef großzügig einen zweiten Urlaub planen, der auch ordnungsgemäß in den Akten vermerkt wurde. Dem Verlobten fiel es deshalb leicht, mich zu einer mehrwöchigen Segeltour mit einer Schar von Freunden auf einem alten Zweimaster zu überreden, den ein langjähriger Freund als Skipper in Sanary sur Mer für den August gechartert hatte.

Eigentlich wird mir auf Booten immer schlecht, und der langjährige Freund, der gerade sein Examen in Germanistik, Philosophie und Pädagogik abgelegt hatte und deshalb ziemlich aufgekratzt war, stellt (bis heute) schon zu normalen Zeiten eine gewisse nervliche Belastung dar. Er sprüht ständig vor Initiativkraft und Begeisterung für irgendwas oder irgendwen. Aber am Ende der fünfwöchigen Segeltour von Sanary nach Calvi, Ajaccio, Bonifacio, Lavezzi, La Maddalena, Portovecchio und zurück nach Sanary hatte sich das Tableau komplett geändert, woran die Umrundung von Capu Rossu einen nicht unerheblichen Anteil hatte.

Nach der Überfahrt von Sanary nach Calvi schaukelt die Aicetan II sanft in der heißen Augustsonne auf spiegelglattem Meer westlich vor Korsika; die Segel schlackern lustlos herum, von weniger als einer leichten Brise angetrieben. Dösige Langeweile.

„Ich komme um das Cap auf diesem Schlag herum. Wetten?!“

„Schaffst du nie, nicht ohne eine Wende, nicht ohne Wind!“

„Schaffe ich!“

Der Skipper spricht mit dem Boot, mit den Segeln, immer wieder, mit tiefer, eindringlicher Stimme. Der alte Holzkahn (Baujahr 1920, 70 Fuß) schwankt ächzend im nicht vorhandenen Wind. Die Takelage knarzt. Fock, Genua, Großsegel, Besan scheinen sich leise mit einem Hauch von Wind zu füllen. Oder doch nicht? Langsam bewegt sich die schwere Yacht. Oder bewegt sie sich nicht? Der Skipper führt sanft die 2-Meter-Pinne und flüstert unentwegt:

„Komm, komm, komm, schieb, schieb! Voran!“

Das dauert. Und dauert. Zum Zeitvertreib macht irgendjemand Fotos. Auf einer dieser Aufnahmen stehe ich mit beiden Händen gegen die Reling gelehnt, in jugendlicher Schlankheit, sonnenbraun, blonder Bob, knapper Bikini, weiße Turnschuhe und weiße Söckchen, scheinbar arg gelangweilt. In Wahrheit zeigt das Foto exakt den Moment, als vollkommen unerwartet mein Herz für den Skipper entflammt.

Plötzlich heult der alte Motor auf.

„Mann, Paul, verdammt noch mal, KEIN Motor! Was soll das denn, du Esel! Wieso startest du den Motor, Herrgottsakra?!“

„Na ja, ich dachte, die Felsen sind wirklich nahe, und da hab ich halt gedacht ....“ (Paul ist Arzt bei der ESA und denkt immer irgendwas).

„Oh Mann! Das war‘s dann mit der Wette.“ Der Skipper steckt sich zornig eine Pfeife an und drückt missmutig die Pinne. Schwerfällig schiebt sich die alte Yawl weiter und umrundet nach fast einer Stunde endlich matt und langsam das Cap. Dümpeln. Rudolf, Maschinenbaustudent aus Aachen, gesellt sich zu dem enttäuschten Skipper ins Cockpit und meint, dass man zur Hebung der allgemeinen Stimmung doch jetzt mal richtig Gas geben und unter vollem Motor Tempo machen könne. Kurz darauf brüllt er über den ganzen Kahn:

„He, hört mal, der läuft ja im Leerlauf! Der ist im LEERLAUF! Der Paul hat überhaupt keinen Gang eingelegt! Wir haben das Cap umSEGELT!“

Am Ende des Törns bin ich entschlossen, nicht den langjährigen Verlobten, sondern den Skipper zu heiraten.

So einfach, wie sich das jetzt anhört, war die Sache aber keineswegs. Muttis Herz hing unverbrüchlich an dem langjährigen Verlobten, der im Fernsehen auftrat, Trompete spielte und auch Klavier (zugegebenermaßen besser als ich), „die Knie beim Gehen durchdrückte“ (das taten nach ihrer Erfahrung eigentlich nur Offiziere) und ihr zu meinem zwanzigsten Geburtstag zwanzig Tulpen schenkte, weil sie mich ja zur Welt gebracht hatte. Die hatte er vorher aus einem städtischen Blumenbeet geklaut – eine verwegene Tat, die mir 1968 aufrichtig imponierte.

Papa dagegen war ein Mann von Grundsätzen, der zwar geduckte Kinder und Korinthenkacker verabscheute, aber für uns Kinder neben diversen anderen Regeln drei Dogmen aufgestellt hatte:

Jedes Kind erlernt ein Instrument.

Jedes Kind übt eine Sportart aus.

Jedes Kind schließt eine Berufsausbildung ab, und zwar verbunden mit der Drohung: „Sonst könnt ihr später bei HARIBO in Bonn-Kessenich die Lakritzbonbons rundlutschen!“

Unsere kulturelle Erziehung begann mit den Märchen aus Tausendundeiner Nacht und den Geschichten von Wilhelm Busch, und die Träume von uns Kindern wurden von Sindbad der Seefahrer, Lehrer Lämpel und Witwe Bolte bevölkert, von Hans Huckebein dem Unglücksraben und der kühnen Müllerstochter, die besonders meiner Schwester ungeheuer imponierte. Später las Papa uns Gedichte von Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern und Theodor Fontane vor: über den „Seemann Daddeldu“, den „Lattenzaun mit Zwischenraum“, „Das Einsame Hemmed“, „unseren Steuermann John Maynar: noch 10 Minuten bis Buffalo“ und über die Birnen des „Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Noch später nahm er uns mit ins Kino: „Goldrausch“ mit Charlie Chaplin, „Mein Onkel“ und „Die Ferien des Monsieur Hulot“ mit Jacques Tati, „Die Brücke am Kwai“ mit Alec Guiness und „In Achtzig Tagen um die Welt“ des Phileas Fogg. Alles andere sei kompletter Mist, „Ben Hur“ mit Charlton Heston auch und die von uns so geliebten Mickymaus-Heftchen, die wir heimlich bei den Nachbarskindern ausliehen, sowieso.

Der Umstand, dass er nicht etwa nur den Sohn zum Medizinstudium nach Tübingen schickte, sondern auch den Töchtern in den Sechzigerjahren ein Wirtschaftsstudium in Köln beziehungsweise ein Sprachenstudium in Heidelberg finanzierte, hat ihm allerdings am wöchentlichen Stammtisch Bonner Honoratioren viel Hohn eingetragen. Beim Genuss dicker Zigarren und süßer Spätlese im feinen Hotel Esplanade waren die Gestalter des deutschen Wirtschaftswunders einhellig der Überzeugung, dass es sehr viel vorausschauender wäre, tüchtig in die Garderobe der Töchter zu investieren.

Auch unsere langen Sommerurlaube in der Schweiz unterlagen präzisen Regeln: zwei Tage Schwimmen im Strandbad Neuhaus bei Interlaken am Thuner See, am dritten Tag Bergwanderungen ab Grindelwald, Lauterbrunnen, Kandersteg, Bettmeralp rauf und runter durch das gesamte Berner Oberland.

Papa hatte also feste Prinzipien. Was den Verlobten betraf, so erschien es ihm schlichtweg nicht anständig, jemandem nach so langer Zeit die Türe zu weisen.

Den wirklich harten Kern des elterlichen Widerstandes erkannte der Segler allerdings ziemlich schnell in der Mutter. Und so hielt er es für angeraten, diesen Stier bei den Hörnern zu packen. Für einen förmlichen Besuch zog er ein frisches Hemd, Krawatte und Jackett an, rasierte sich sauber um das 68er Bärtchen herum, kündigte ihr kurzfristig telefonisch seinen Besuch an, woraufhin sie sofort nach dem Beistand des Ehemannes rief:

„Er kommt! Der Student kommt!“

Und während ich in Bad Godesberg an meinem Arbeitsplatz saß und – im Unterschied zu dem, was der Cancelliere unserer Verwaltung dachte — durchaus etwas leistete für ein Anfangsgehalt von 2.000 DM (es kamen danach über zehn Jahre hinweg Nullrunden, aber das wusste ich damals noch nicht), feilschten in Bonn meine Eltern über meine Zukunft.

„Sie lassen in den kommenden drei Monaten die Finger von unserer Tochter. Während dieser Zeit hat der Verlobte freien Zugang. Wenn unsere Tochter sich dann noch immer für Sie entscheidet, sind wir einverstanden!“

Dem eher an Kabuler Verhältnisse gemahnenden Bazar setzte der Segler an dieser Stelle unmissverständlich ein Ende.

„Also, ich werde hier nun mit Sicherheit keinem Vorschlag zustimmen, der meinen eigenen Interessen zuwiderläuft.“

Nachdem auf diese Weise der sozusagen gesellschaftliche Teil der Reise abgehandelt worden war, ging Papa zum sportlichen Teil über und forderte den neuen Schwiegersohn begeistert auf: