Achtung Abzocke! - Detlef Tiegel - E-Book

Achtung Abzocke! E-Book

Detlef Tiegel

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Beschreibung

Das Schwarzbuch zum Datenklau

Keine andere Branche in Deutschland hat ein so negatives Image – zu Recht! Detlef Tiegel, der selbst in einem Callcenter gearbeitet hat, beschreibt die Realität. Dieses Buch handelt von Seilschaften, Deals und falschen Verträgen – und es erläutert, wie die Abzocke per Telefon funktioniert und wie wir uns davor schützen können.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: im »Spiegel«
I Die Berufung
1 Mein Weg ins Call-Center
2 Die heimliche Großbranche
3 Mein Einstieg als Agent
4 Erste Erfolge im neuen Job
5 Ein Blick auf die Arbeitsbedingungen
6 Unter ständiger Beobachtung
7 Unsauberes Vorgehen zur Bilanzfrisierung
8 Fazit: das erste Jahr
II Recht auf Datenschutz
1 Das Datenschutzgesetz
2 Datenspuren
3 Die Folgen der Überwachung
4 Im Zweifel für die Sicherheit
5 Die Wirtschaft, der größte Datensammler
6 Schutzlose Angestellte
7 Selbstentblößung im Internet
8 Für ein wenig Rabatt
III Der Fall Hanse Service
1 Mein erster Eindruck
2 Der Mitarbeiter warnt
3 Neue Listen eindeutiger Herkunft
4 Mein Tag als Geheimagent
IV Das Vorgehen der Datensammler
1 Von Käufern und Verkäufern
2 Mehr Profil
3 Ein Jawort für die Ewigkeit
4 Illegaler Datenhandel
V Wie Daten missbraucht werden
1 Alter Wein in neuen Schläuchen
2 Sie haben gewonnen!
3 Vorsicht, Abofalle
4 Last mit der Lastschrift
5 Die im Dunkeln
6 Opfer der Abzocke
VI Die heiße Phase
1 Ein langer Tag
2 Mein erstes Interview
3 Im Rampenlicht
4 17.000 oder 1,5 Millionen Datensätze?
5 Sprachrohr des Datenschutzes
6 Es wird persönlich
7 Im Strudel der Ereignisse
VII Die Datenschützer
1 Die Datenschutzbeauftragten
2 Verbraucherzentralen
3 Vereine und Initiativen
VIII Nachwehen
1 Wieder auf der Suche
2 Menschenschinder
3 Ein neuer Datenschutz
4 Und jetzt?
IX Abzocke abwehren
1 Abwehrmaßnahmen
2 In die Falle getappt
3 Hilfreiche Adressen
Copyright
Vorwort
»Datenskandal!« Ich sehe die Schlagzeilen noch heute vor mir. Ausgelöst wurden sie durch eine kleine Aktion: Ich habe in einem Call-Center Daten entdeckt, die dort nicht hingehörten. Daten, die dort niemanden etwas angingen und mit denen Schindluder getrieben werden sollte. Ich habe sie dem Verbraucherschutz zugespielt, und dadurch ist eine Debatte ausgelöst worden, die bis heute anhält. Sie drehte sich am Anfang um Datenschutz, Verbraucherrechte, Telefonwerbung. Und sie zieht weitere Kreise. Im Zentrum steht der Umgang mit persönlichen Daten. Sei es der Handel mit ihnen, die Weitergabe oder die Nutzung zu Werbezwecken. Sei es die Überwachung von Mitarbeitern, die Bespitzelung von Lieferanten, das Sammeln von Daten über Mitarbeiter, das Abhören von Telefonaten oder die Überwachung von E-Mails.
Viele Menschen sind seit dem Sommer 2008 sensibilisiert. Sie achten genauer darauf, was mit ihren Daten geschieht, wer sie hat und wer sie weitergibt. Doch immer noch gilt: Die größten Datenlecks sind wir selber. Auch weil wir sorglos mit unseren Daten umgehen, können andere sie sammeln.
Ich finde noch heute, dass mein Beitrag zur Diskussion nicht groß war. Ich habe nur das getan, was irgendjemand tun musste: den illegalen Datenhandel offenlegen und damit auch den Blick auf den legalen Datenhandel lenken. Denn was dort geschieht, ist genauso bestürzend.
Eines sollte inzwischen kein großes Geheimnis mehr sein: Unsere Daten gehören nicht mehr uns. Der vielbeschworene »gläserne Mensch« ist zu großen Teilen Realität geworden. Und es ist nicht nur der Staat, der uns durchleuchtet, sondern auch die Wirtschaft. Ob Werbetreibende, Adressenhändler, Versandhändler oder Verkäufer: Jeder von ihnen gibt viel Geld aus, um an unsere Daten zu kommen. Die Einzigen, die davon nicht profitieren, sind wir selbst. Im Gegenteil: Wir werden überschüttet mit Werbepost, werden zu Tag- und Nachtzeiten mit Werbeanrufen genervt, und das E-Mail-Fach quillt über vor Werbung. Das ist größtenteils ärgerlich, aber dennoch legal. Allerdings sind die Grenzen fließend. Damit hieraus nervtötende Penetranz, Nepp und Betrug werden, braucht es nur einen kleinen Schritt und ein wenig bösen Willen. Und der ist vorhanden. Das musste ich während meiner Tätigkeiten in verschiedenen Call-Centern feststellen.
Dieses Buch zeigt nicht nur unsaubere Aktionen und kleine Mauscheleien auf; nicht nur Neppereien und Betrug. Es blickt auch auf den Zustand des Datenschutzes in Deutschland, auf Gesetze und Verordnungen, auf den legalen Datenhandel, auf erlaubte Nervereien. Es zeigt, wie fließend die Grenze zwischen erlaubtem und nichterlaubtem Handel ist. Und wie wenig sich viele darum kümmern, auf welcher Seite sie eigentlich stehen. Hauptsache, sie verdienen Geld.
Dieses Buch ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen von Call-Centern und gibt einen Eindruck von der Arbeit der Agents, den Mitarbeitern darin. Gezeigt wird, unter welchen Bedingungen sie dort arbeiten, wie ein seriöses Umfeld aussieht und wie manipuliert werden kann. Es ist für die Menschen geschrieben, die von Werbeanrufen genervt sind und sich dagegen wehren wollen. Für die, die schon einmal auf eine Abzockmasche hereingefallen sind und dabei Geld verloren haben.
Eines möchte ich schon jetzt klarstellen: Das Buch ist keine generelle Anklage gegen Call-Center. Ich arbeite immer noch in einem, und die Arbeit macht mir sehr viel Spaß. Nicht alle Call-Center sind schlecht, es gibt genug seriöse Firmen. Die meisten sind sogar ehrlich und genau deshalb nahezu unsichtbar. Für Call-Center, die arbeiten, wie sie sollen, interessiert sich kein Mensch. Nur diejenigen, die unsauber arbeiten, stehen im Fokus. Und das ist gut so, denn an den von ihnen ausgeübten Praktiken muss sich etwas ändern. Es geht nicht an, dass diese schwarzen Schafe weiter so agieren, als ob ihnen niemand etwas anhaben könnte.
Mir geht es darum, durch meine Erfahrungen zu zeigen, dass unsaubere und illegale Praktiken nicht sein müssen. Ich möchte anderen Agents zeigen, dass sie nicht aus Angst vor Sanktionen oder vor Arbeitslosigkeit in Jobs verharren sollten, die sie kaputt machen, sie zermürben. Wo miese Arbeitsbedingungen herrschen, Druck gemacht wird und offensichtlich Betrügereien begangen werden, besteht die Möglichkeit, auf diese Zustände hinzuweisen. Nur so lässt sich Unrecht verhindern.
Sicherlich gibt es einige Agents, die in einer ähnlichen Situation sind, wie ich es damals war. Denn es gibt mehr Call-Center, die unsauber arbeiten, als der Branche recht sein kann. Selbst in denen, die Geschäftsbeziehungen zu großen, seriösen Konzernen unterhalten, wird gemauschelt. Ich habe das selbst erlebt. Vielleicht trauen sich auch andere Agents, miese Praktiken aufzudecken, damit die Arbeit zukünftig einfacher und sauberer wird.
Der Preis für einen solchen Einsatz kann hoch sein. Wie bei mir: Zuerst kam die Arbeitslosigkeit. Und es war mühsam, einen neuen Job zu finden, denn viele Firmen mögen keine Menschen, die an die Öffentlichkeit gehen. Das ist ihnen unheimlich, und sie fürchten, es mit einem Querulanten zu tun zu haben. Auszupacken erfordert Mut, gerade für Menschen, die eine Familie haben. Ich muss nur für mich selbst sorgen und konnte den Preis daher zahlen. Ich bereue das, was ich gemacht habe, überhaupt nicht. Im Gegenteil: Ich würde es wieder machen. Sofort.
Einleitung: im »Spiegel«
»Das sind doch Sie!« Die Verkäuferin im Lübecker Bahnhofskiosk schlägt den neuen »Spiegel« auf und blättert darin. Endlich findet sie, was sie sucht. Sie zeigt mir ein Bild auf Seite 23 in der Mitte. Darauf zu sehen: ein Mann Mitte dreißig, schwarz gekleidet, kurz geschorene bis nicht vorhandene Haare, leichter Bauchansatz. Ernst schaut er in die Kamera, scheint zu fragen: »Was wollt ihr eigentlich von mir?« Hinter ihm ein Lübecker Backsteinhaus. »Könnte sein«, sage ich und grinse etwas verlegen. Natürlich bin ich das. Ich habe mich sofort erkannt, schließlich ist das Gesicht zu sehen, in das ich jeden Morgen im Spiegel blicke. Nicht im gedruckten, sondern in dem in meinem Bad. Das sage ich der Verkäuferin dann auch. Sie lacht, drückt mir den »Spiegel« in die Hand und sagt, ich soll ihn mitnehmen. »Ist ja eine tolle Geschichte. Wer so was macht, dem muss man wenigstens etwas schenken.«
Das, was ich gemacht habe, ist eigentlich eine einfache Sache: Ich habe einen CD-Rohling genommen, ihn in einen Computer gelegt, ein Brennprogramm gestartet und vier Dateien darauf kopiert: »skl(21).xls«, »skl(22).xls«, »skl(24).xls« und »skl(26).xls«. Nichts Kompliziertes. Interessant wurde es nur, weil ich diese CD in einen braunen Briefumschlag gesteckt und an den Verbraucherschutz in Schleswig-Holstein geschickt habe. Anonym.
Zwei Tage später platzte die Bombe: Eine Pressemitteilung erschütterte die Geschäfte unseriöser Call-Center-Betreiber und windiger Glücksspielverkäufer. Die Excel-Dateien auf der versandten CD enthielten die Daten von 17.000 Kunden: ihre Vor- und Nachnamen, ihre Telefonnummern, ihre Anschriften, das Alter – und ihre Bankverbindungen. Ich hatte diese Dateien bei meinem damaligen Arbeitgeber kopiert, denn das waren Informationen, die er gar nicht hätte haben dürfen. Es handelte sich nicht um seine Kunden. Er wollte die Daten benutzen, um den betreffenden Personen dubiose Gewinnspiele unterzujubeln. Und er verfügte noch über weitere anderthalb Millionen Adressen.
Zehn Tage, nachdem ich den Brief eingeworfen hatte, bin ich auf dem Weg nach Berlin, zur Bundespressekonferenz. Gemeinsam mit den obersten Datenschützern Deutschlands soll ich dort auftreten, vor der Presse – die CD hat das ausgelöst, was »Datenskandal« genannt wird. Man hatte schon lange geahnt, dass mit persönlichen Daten schwunghafter Handel betrieben wird. Endlich gab es Beweise; ich hatte sie geliefert. Und plötzlich öffneten sich überall in Deutschland Datenlecks. Aus 17.000 Kontodaten, die ich geliefert hatte, wurden erst 1,5 Millionen, bald waren es sechs Millionen. Experten schätzten schließlich, dass mehr als 20 Millionen Kontendaten von Bundesbürgern in illegalen Börsen gehandelt werden.
Mir hätte es gereicht, wenn die Inhalte der CD bekannt geworden wären. Ich habe kein Bedürfnis, mich selbst in die Öffentlichkeit zu begeben, den Kopf hinzuhalten. Natürlich ist es anders gekommen, sonst würde ich nicht hier vor dem Lübecker Bahnhof stehen und auf meine Mitfahrgelegenheit nach Berlin warten. Und mich fragen, warum die vom »Spiegel« nicht ein besseres Foto von mir genommen haben. Schließlich haben sie ja Hunderte gemacht. Zumindest hat sich das so angefühlt, als ich vor dem Haus stand, in dem Hanse Service ein Büro gemietet hatte, und der Fotograf mit der Kamera auf mich gehalten hat.
Aber ich war zu neugierig und konnte meine Klappe nicht halten. Mit sehr guten Argumenten haben mich meine Gesprächspartner dann doch aus meinem Versteck herausgelockt. Die Verbraucherschützer, die Datenschützer und die Polizei waren sich einig: Ich sollte das Gesicht sein, um das Thema Datenmissbrauch zu vermitteln. »Nun gut«, dachte ich, »es ist ja für einen guten Zweck.« Ich ahnte ja nicht, worauf ich mich einließ.
Das Interesse am Datenskandal war von Anfang an enorm. Jeder wollte wissen, wie das mit dem Datenhandel funktioniert, wie viele Datensätze im Umlauf sind. Und jeder, so scheint es, wollte es von mir wissen. Dabei bin ich doch gar kein professioneller Datenhändler, sondern ein einfacher Call-Center-Agent. Ich war nur zufällig bei einer Firma angestellt, die äußerst dilettantisch vorgegangen ist. Die einen Chef hatte, der nicht wusste, was er tat. Jemand, der auf keine Warnungen hörte und der deshalb ziemlich tief gefallen ist. Das Bein habe ich ihm gestellt. Und obwohl er eigentlich ein netter Kerl ist, habe ich kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil, ich würde das Gleiche sofort wieder machen.
Auch weil ich hoffe, dass meine Aktion dazu beiträgt, dass die Menschen etwas vorsichtiger mit ihren Daten umgehen. Weil sich vielleicht die einen oder anderen im Gewerbe mein Verhalten zum Vorbild nehmen und selbst auspacken. Zumindest sind genug Fälle aufgeflogen, seitdem ich die CD verschickt habe. Kundendaten der Telekom, die verkauft wurden. Call-Center-Agents, die zugegeben haben, Daten geklaut und verkauft zu haben. Dazu kommt Datendiebstahl bei Banken und Kreditkartenunternehmen. Datensammlungen in Unternehmen wie Bahn und Telekom. Bespitzelung der Mitarbeiter bei Lidl. All diese Dinge mögen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, dennoch sind sie Teil eines großen Themas: des Daten- und damit auch des Persönlichkeitsschutzes. Denn wo Menschen überwacht werden, werden Daten gesammelt.
Wahrscheinlich wären diese ganzen Fälle auch so an die Öffentlichkeit gelangt. Doch vielleicht wäre die Empörung nicht so groß gewesen, wenn ich nicht mit den im Nachhinein mickrigen 17.000 angefangen hätte. Es scheint so, als ob man immer jemanden braucht, der sein Gesicht für eine gute Sache hergibt, diesmal war ich an der Reihe. Durch einen kleinen Zufall: Ich habe im Juli 2008 angefangen, in einem Call-Center zu arbeiten, das dubiose Praktiken angewendet hat.
I Die Berufung
»Können Sie sich vorstellen, in einem Call-Center zu arbeiten?« Es gibt Fragen, die können das eigene Leben verändern, ohne dass man es merkt. Bei mir war es diese. Ich bin durch sie zu einer Art Held wider Willen geworden, habe aber auch etwas anderes gefunden: nämlich einen Beruf, der mir wirklich Spaß macht, der mich ausfüllt und der mir eine Perspektive bietet. Das war mir aber nicht von Anfang an klar. Im Gegenteil: Ich hatte ziemlich große Bedenken, als ich die Frage bejahte.

1 Mein Weg ins Call-Center

Nicht nur meine Freunde schauen immer wieder ungläubig, wenn ich erzähle, wie gerne ich im Call-Center arbeite. Ich weiß warum, ich habe lange ähnlich gedacht wie die meisten Menschen. Die gängige Vorstellung: In einem Call-Center sieht es aus wie in einer Legebatterie. Darin schuften Agents von morgens bis abends, sie haben keine Minute Pause, nicht mal zum Austreten, und werden zudem noch von der Kundschaft beschimpft. Durch die Reihen der Mitarbeiter geht ein Kerkermeister mit Peitsche, der sie erbarmungslos antreibt. Und: Hier arbeiten sowieso nur Leute, die sonst nichts werden können – so lautet zumindest ein Vorurteil -, nämlich Hausfrauen, Studenten und Langzeitarbeitslose, die vom Arbeitsamt in den Job gedrängt werden.
Ich gehöre zwar in keine der drei Gruppen, aber vielleicht zähle ich doch auf eine gewisse Art dazu. Denn mein Leben ist alles andere als geradlinig verlaufen. Geboren wurde ich 1972 in Berlin. Dort bin ich aufgewachsen und habe meine Kodderschnauze in Wortgefechten mit meinen Freunden entwickelt. Ein typischer Berliner halt: Hauptsache große Klappe, der Rest ergibt sich schon irgendwie. Die Schlagfertigkeit, die mir später sehr helfen sollte, behinderte mich allerdings auf meiner nächsten Station eher.
Mit 14 Jahren musste ich die spannenden Hinterhöfe Berlins hinter mir lassen, um nach Lübeck zu ziehen, ins spröde Norddeutschland. Meine Mutter wollte dorthin, ich musste mit. Dort bin ich dann weiter zur Schule gegangen. In Kücknitz, einem Teil von Lübeck, der nicht so hübsch ist wie die Altstadt hinter dem Holstentor. Durch Kücknitz rumpelt die Bahn nach Travemünde und dröhnen die Lkws auf ihrem Weg zur Fähre nach Schweden oder Finnland. Eine typische Vorstadt ist das, wie so viele in Deutschland. Hier bin ich zur Hauptschule gegangen und habe meinen Abschluss gemacht. Was heute der sichere Weg in die Arbeitslosigkeit ist, war damals noch mit der Chance auf eine Lehrstelle verbunden. Ich hatte Glück und kam schnell unter. Radio- und Fernsehmechaniker bin ich geworden, bis zum Gesellen habe ich es gebracht. Dann hat es mich in die Welt hinausgezogen. Ein paar Jahre bin ich herumgetingelt.
Als ich mich entschied, wieder in Deutschland zu leben, hatte sich der Job so sehr verändert, dass ich nicht mehr zurückkonnte – ich wollte auch nicht. Das Problem: Seitdem bin ich eigentlich ohne echten Beruf. Ich habe als Lagerarbeiter, Programmierer und Gabelstaplerfahrer gearbeitet. Ich habe viele Jobs gemacht, in keinem hat es mich lang gehalten. Auch weil kein Arbeitsplatz darauf angelegt war, Mitarbeiter lange zu binden. Wenn Arbeit da ist, wird eingestellt, wenn nicht, wird entlassen.
In Call-Centern ist das ähnlich, auch deshalb passe ich da ganz gut rein. Diese Arbeit wollte ich aber von vorneherein länger machen. In meinem ersten Call-Center-Job landete ich im Frühjahr 2007 durch meinen Arbeitsvermittler beim Arbeitsamt. Einen Vertrag über ein Jahr habe ich bekommen. Das ist ein langer Zeitraum in einer Branche, in der die Mitarbeiter oft nur über Zeitarbeitsfirmen angestellt werden und von den Call-Centern je nach Arbeitsaufkommen angefordert werden.
Vieles von dem, was über Call-Center gesagt wird, stimmt in zu vielen Fällen. Das habe ich im Lauf der Jahre erfahren. Es gibt viele, gerade große Firmen, in denen seriös gearbeitet und das Wohlergehen der Mitarbeiter ernst genommen wird, in denen die Arbeitsplätze gut ausgestattet sind, das Betriebsklima stimmt und man sich als Mitarbeiter wertgeschätzt fühlt. Es gibt aber auch das Gegenteil: kleine Call-Center in abgewirtschafteten Büroräumen oder Privatwohnungen, in die einfach ein paar Tische und Telefone gestellt werden und wo Mitarbeiter unter unwürdigen Bedingungen schuften müssen, oft für einen Hungerlohn.
Die Grenzen sind fließend. Manche kleinen Betriebe werden exzellent geführt, wogegen auch in einigen großen gemauschelt und die Gesundheit der Mitarbeiter für Profit aufs Spiel gesetzt wird. Ich habe vieles selbst erlebt und in Gesprächen mit Kollegen aus anderen Firmen gehört. Die Welt der Call-Center ist genauso vielschichtig wie die der sonstigen Wirtschaftszweige. Es gibt keine eindeutig Guten und keine eindeutig Bösen.

2 Die heimliche Großbranche

1,2 Milliarden Euro werden jährlich in den rund 6.000 deutschen Call-Centern umgesetzt, eine halbe Million Menschen arbeiten dort – ein Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland. Sie sind als Telefonauskunft tätig, rufen bei Pannen den Abschleppdienst oder betreuen Bankgeschäfte. Sie nehmen telefonische Bestellungen entgegen, suchen Züge heraus oder helfen bei Computerproblemen. Das ist die gute Seite.
Es gibt aber auch die andere Seite: Da werden alten Leuten am Telefon Sachen aufgeschwatzt, die sie nicht haben wollen, Verträge ohne Zustimmung der Kunden verlängert oder verändert, unerwünschte Zeitungsabos an den Mann und die Frau gebracht. Da werden Menschen aus angeblichen Marktforschungszwecken genervt und Bitten um ein Ende der Belästigung ignoriert. Rund eine Million unerbetener Anrufe gehen täglich von Call-Centern aus, 95 Prozent der Angerufenen fühlen sich dadurch belästigt.
Das ist der Teil der Call-Center-Branche, der für den schlechten Ruf sorgt. Und er wächst stetig, denn nur noch knapp ein Drittel aller Call-Center betätigt sich im Umfeld der klassischen Hotlines für Kunden. Aus allen anderen müssen Menschen angerufen, müssen Verkäufe abgeschlossen werden, um Geld zu verdienen. Oft bewegen sich die Methoden am Rande der Legalität. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, auch wenn das der Branchenverband immer wieder behauptet. Es ist vielmehr ein System, das nur funktioniert, weil es einen florierenden Datenhandel gibt. Und weil viele Menschen sehr leichtgläubig sind.
Das, was wir heute Call-Center nennen, gibt es seit den 1970er Jahren. Entstanden sind diese Unternehmen, weil sich immer mehr Geschäfte telefonisch erledigen ließen. Nach und nach bekam jeder Haushalt ein eigenes Telefon, das Netz wurde ausgebaut und die Gebühren waren nicht mehr astronomisch hoch.
Am Anfang nutzten das vor allem Warenhäuser wie Quelle oder Neckermann, bei denen man die neuesten Produkte aus dem Katalog telefonisch bestellen konnte. Die Post, die damals noch das Telefonnetz betrieb, gab telefonisch Auskunft, die Bahn ebenfalls. Immer mehr Firmen entdeckten das Telefon als bequemen und einfachen Weg, um mit ihren Kunden zu sprechen. Telefonisch konnte man sie beraten, ihnen Hilfestellung bei Problemen geben und eben auch neue Produkte verkaufen. Lange Zeit wurde die Telefonberatung von den jeweiligen Firmen selbst betrieben. In den 1990er Jahren entstanden dann immer mehr Call-Center, erst in den USA, bald auch in Europa. Ihre Dienstleistung bestand und besteht darin, für verschiedene Auftraggeber das Telefonieren zu übernehmen.
Dabei spielen nicht nur finanzielle, sondern auch organisatorische Gründe eine Rolle: Die Firmen müssen keine eigenen Angestellten mehr für diese Tätigkeiten bezahlen, sondern können die entsprechende Arbeitskraft im Call-Center mieten. Und sie brauchen auch keine Büroräume für diese Mitarbeiter zu unterhalten. Zudem erhöht sich die Flexibilität. Warenhäuser beispielsweise, die vor allem zu Weihnachten und Ostern viele Bestellungen entgegennehmen, können einfach mehr Kapazität im Call-Center buchen.
Ein weiterer Vorteil für große Unternehmen bestand darin, dass sie nach und nach Filialen schließen konnten, vor allem auf dem Land. Was vorher Hunderte Mitarbeiter in persönlichen Gesprächen mit den Kunden klärten, ließ sich jetzt über das Telefon erledigen. Damit konnte viel Geld gespart werden. Dass damit jedoch die Kundenbindung verlorenging, wurde erst einmal übersehen. Zuvor hatten sich die Kunden darauf verlassen können, auf ein bekanntes Gesicht zu treffen, wenn es Probleme zu lösen gab. Auf einmal mussten sie mit der anonymen Stimme eines Call-Center-Agents vorliebnehmen. Und auch das war bei jedem Anruf ein anderer. Mit Call-Centern wurden Geschäfte für die Kunden unpersönlich. Für das Call-Center hingegen wurde der Kunde immer durchschaubarer. Denn mit einem immer besser funktionierenden Datenhandel, mit immer mehr Informationen über den Kunden, war sehr viel über sie bekannt. Und das konnte man ausnutzen.
Einen Vorteil brachte das nur für die Kunden mit sich, die sowieso viel telefonisch erledigten: Mit dem Aufkommen der Call-Center sind die durchschnittlichen Zeiten in der Warteschleife deutlich kürzer geworden. Call-Center verdienen nämlich nur an bearbeiteten Anrufen. Daher bringt es wirtschaftlich nichts, Kunden warten zu lassen, im Gegenteil: Es schreckt sie ab, und das Call-Center verdient kein Geld.
All das beschreibt eine ganz bestimmte Art von Call-Centern, und zwar die, die im sogenannten Inbound-Bereich arbeiten. Hier gehen Anrufe ein. Das Gegenteil davon ist Outbound, hier tätigen die Agents Anrufe. Wer sich von Call-Centern belästigt fühlt, hat es garantiert mit einem zu tun, das in die zweite Kategorie fällt. Das liegt nicht nur daran, dass Outbound-Call-Center naturgemäß anrufen und nicht angerufen werden, sondern auch an einem kleinen, aber wesentlichen Unterschied: Sie werden meist nach abgeschlossenen Verträgen bezahlt, nicht nach erledigten Anrufen. Das Outbound-Call-Center verdient also nur Geld, wenn es einem Kunden etwas verkaufen kann. Deshalb steht es unter hohem wirtschaftlichen Druck. Auch für die Agents lohnt es sich, wenn sie viele Abschlüsse erzielen: Sie bekommen eine gute Provision. Dass man da in Versuchung kommt, es mit der Wahrheit nicht ganz so genau zu nehmen und zu mauscheln, ist nicht erstaunlich.
So war das auch in dem Call-Center, in dem ich als Erstes gearbeitet habe. Hier wurden Telefon- und Internetverträge für eine große deutsche Telefongesellschaft verkauft. Entsprechend hoch war der Druck: Das Call-Center und damit jeder Agent musste nicht nur wirtschaftlich arbeiten, sondern auch den Vorgaben des Auftraggebers nachkommen. Den Druck habe ich an meinem ersten Tag noch nicht gespürt. Bald aber merkte ich, dass ich immer besser funktionieren musste. Egal, wie gut ich verkaufte.

3 Mein Einstieg als Agent

Ich habe keine großen Erwartungen, als ich am 15. April 2007 das erste Mal das alte Fabrikgebäude betrete. Call-Center-Agent ist einfach ein neuer Job für mich. Mal schauen, wie es so wird.
Meine Vorurteile lösen sich schnell in Luft auf, eine Legebatterie ist das hier nicht. Die Großraumbüros sind hoch und hell, die vielen Pflanzen sorgen für eine angenehme Atmosphäre, und trotz der vielen Menschen, die hier sitzen und telefonieren, ist es leise, geradezu entspannt. Auch die Vorgesetzten machen einen guten Eindruck: nett und freundlich und sogar für meine schlechten Witze zu haben. Ich kann mich immer besser mit dem Gedanken anfreunden, hier tatsächlich ein Jahr lang zu arbeiten, vielleicht sogar länger.
Als Nächstes werde ich in einen Schulungsraum geführt. Das Call-Center arbeitet für einen großen deutschen Telefonkonzern, deshalb muss die Qualität stimmen und jeder Mitarbeiter gut vorbereitet sein. Das bedeutet für mich: Ich muss den Verkauf üben. Argumente dafür lernen, dass die Angerufenen Verträge unterschreiben. Am besten den teuersten, denn der bringt am meisten Provision. Die Schulung läuft in Form von Rollenspielen ab, einer ist Kunde, ein anderer der Agent. Als Anhaltspunkt dient ein sogenannter Gesprächsleitfaden, der die wichtigsten Punkte des Gesprächs vorgibt. Begrüßung, die passenden Antworten auf die wichtigsten Fragen der Kunden und das Vorgehen beim Vertragsabschluss. Denn damit ein am Telefon geschlossener Vertrag gültig wird, sind einige Punkte zu beachten. Die Kunden müssen über alle Kosten aufgeklärt, über die Vertragslaufzeit informiert und über ihr Rücktrittsrecht belehrt werden. Und sie müssen mir ihre Bankdaten geben. Als Nachweis dafür, dass sie den Vertrag tatsächlich eingehen wollen. Nur das zählt später als Beweis, falls es zu Streitigkeiten kommen sollte.
Zwei Wochen dauert die Schulung. Immer wieder werden die anderen Teilnehmer und ich mit neuen Situationen konfrontiert, wir lernen, wie man unwillige Kunden doch noch überzeugt. Es gibt regelrechte Tabellen, in denen Gesprächssituationen aufgezeigt werden. Hier ist beschrieben, wie man argumentativ den Kunden am besten überzeugt und wie man auch die stärksten Argumente gegen eine Vertragsverlängerung entkräftet.
Diese Schulungen sind deshalb wichtig, weil die meisten Menschen, die in Call-Centern arbeiten, Anfänger und Quereinsteiger sind – wie ich. Lange Zeit gab es keine Ausbildung in diesem Bereich, aber seit 2006 ist es möglich, sich zum Call-Center-Agent ausbilden zu lassen. Das dauert rund drei Jahre, danach kann man sich Kaufmann für Dialogmarketing nennen. Doch das haben nur die wenigsten, die hier arbeiten, hinter sich. Die meisten Kollegen bestätigen alle Vorurteile, sie sind Studenten, Hausfrauen oder vom Arbeitsamt hierher geschickt worden. Wie ich auch.
Zwei Wochen lang lernen wir, das Headset – eine Kombination aus Kopfhörer und Mikrofon – richtig aufzusetzen. Es ist das wichtigste Arbeitsgerät eines Call-Center-Agents. Das Headset ersetzt den Telefonhörer und bietet beträchtliche Vorteile. Man hört den Angerufenen besser, weil er direkt ins Ohr spricht, zudem bleiben die Hände frei, um auf der Tastatur zu tippen. Wichtig, wenn man einen Vertrag fertig machen will. Angeschlossen ist das Headset an einen Apparat, der einem herkömmlichen Telefon sehr ähnlich sieht, doch ganz anders funktioniert. Die anzurufenden Telefonnummern werden nicht per Hand gewählt, sondern der Angerufene wird einfach durchgestellt. Das übernimmt ein Zentralcomputer, der sämtliche Anrufe des Call-Centers steuert.
In diesem Rechner befindet sich ein sogenannter Dialer, eine Art automatische Wähleinheit. Der Dialer wird mit den Daten der Menschen gefüttert, die angerufen werden sollen. Die Personen sortiert er nach gewissen Kriterien, zum Beispiel Alter und Ablauf der Vertragszeit, dann startet er. Er wählt viele Nummern gleichzeitig, bei allen Angerufenen klingelt jetzt das Telefon. Doch nur der erste Angerufene, der sich meldet, wird zu einem Agent durchgestellt, bei den anderen wird der Anruf abgebrochen. Diese Menschen wundern sich, warum sie nur das Freizeichen hören, wenn sie den Hörer abnehmen. Das sind die sogenannten Ghost Calls, die Geisteranrufe. Sie können immer wieder kommen, je nachdem, wie der Dialer eingestellt ist. Wenn die Call-Center unhöflich sind, kann das mehrmals am Tag passieren; wenn sie wenigstens ein bisschen Schamgefühl besitzen, wird nur ein Versuch am Tag unternommen.
Der Dialer erkennt, wer den Anruf annimmt: Mensch, Fax oder Anrufbeantworter. Wenn es ein Fax ist, wird die Nummer gleich gelöscht, dort muss nicht mehr angerufen werden. Meldet sich ein Anrufbeantworter, wird eine Anmerkung eingetragen, die Nummer aber nicht gestrichen. Sie wird weiter angerufen, und zwar so lange, bis doch jemand drangeht.
Schnell läuft das Ganze ab, der Dialer schafft zehn Anrufe in wenigen Sekunden. Und alle Anrufe liefern etwas für die Datenbank. Helfen, den Datenberg besser zu bewältigen, die Daten aufzubessern, das Profil des Angerufenen zu schärfen. Dialer lernen nämlich und fügen dem Kundenprofil neue Informationen hinzu: Erst einmal wählen sie eine Nummer täglich zur gleichen Zeit. Wenn über einige Tage hinweg niemand an den Apparat geht, stellen sie die Anrufzeit selbstständig um. Sie rufen also nicht mehr am Nachmittag, sondern am Vormittag oder am Abend an. So lange, bis sie endlich einen Menschen an der Strippe haben. Oder feststellen, dass wirklich niemand rangeht. Auch dann hören sie irgendwann auf, der Aufwand lohnt sich nicht mehr. Die Telefonnummer wird erst einmal gestrichen. Für die Angerufenen sind vor allem die Ghost Calls eine ziemlich starke Belästigung, die durchaus an Telefonterror grenzen kann. Vor allem, wenn das Spiel über Wochen hinweg andauert. Die Betroffenen werden sich fragen, wer eigentlich dauernd anruft und gleich wieder auflegt. Für das Call-Center dagegen ist ein Dialer immens praktisch, denn mit ihm lässt sich die Zahl erfolgloser Anrufe verringern. So muss sich ein Agent keine Fax-Geräusche oder Anrufbeantworter-Sprüche anhören, das wäre auch verlorene Zeit. Solche Anrufe kosten nur Geld, bringen aber nichts ein. Der Agent kann sich voll und ganz denen widmen, denen er etwas verkaufen will: seinen potenziellen Kunden.

4 Erste Erfolge im neuen Job

»Guten Tag, mein Name ist Detlef Tiegel, schön, dass ich Sie erreiche.« Wie oft ich diesen Spruch inzwischen gesagt habe, weiß ich nicht. Immer wieder derselbe Satz, immer wieder das gleiche Anliegen: Ich will Internetverträge verkaufen. Denn das ist der Job: Menschen, die einen alten Vertrag mit dem Telefonanbieter haben, einen neuen zu verkaufen. Ihnen zu erklären, dass ein DSL-Anschluss wirklich gut ist fürs Surfen im Internet, dass es damit viel schneller geht und er auch noch andere Vorteile mit sich bringt. Und dass sie dabei Geld sparen können. Alte Verträge sind im Regelfall teurer als die neuen und bieten dazu noch weniger.
Natürlich werden günstigere Verträge nicht aus reiner Menschenliebe angeboten. Die Telefongesellschaft erhofft sich davon, dass Kunden länger bei ihr bleiben. Zwangsläufig. Denn alte Verträge können mit einer kurzen Frist gekündigt werden, während neue erst einmal zwei Jahre laufen, bevor das Vetragsverhältnis überhaupt beendet werden kann. Ein schlechtes Gewissen muss ich deswegen nicht haben. Die Kunden wissen, worauf sie sich einlassen. Die Erwähnung der Vertragsdauer ist Teil des Gesprächsleitfadens, ein wichtiger Punkt beim Vertragsabschluss. So habe ich immer das Gefühl, dass ich die Menschen gut beraten kann und sie nicht über den Tisch ziehe.