Als ich nach Deutschland kam - International Women* Space e.V. - E-Book

Als ich nach Deutschland kam E-Book

International Women* Space e.V.

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Beschreibung

Im Oktober 2017 kamen auf der Konferenz von International Women Space »Als ich nach Deutschland kam« mehrere hundert Frauen zusammen, um über das Ankommen in Deutschland, das Arbeiten und Leben hier sowie die politische Organisierung als Frauen in diesem Land zu sprechen. In diesem Buch begegnen sich die Erzählungen und das Wissen von 22 Frauen unterschiedlicher Generationen über Migration, Rassismus, feministische Kämpfe und Selbstorganisierung in ihrem politischen und historischen Zusammenhang. Die Frauen sind Geflüchtete, Migrantinnen, nichtweiße Deutsche, Ossis und Wessis, Illegalisierte, Arbeiterinnen, Akademikerinnen, Künstlerinnen, Aktivistinnen. Persönlich und radikal geben sie Einblicke in ihre Biografien, ihre Communities und ihre solidarischen Zusammenschlüsse. Ihre Erfolge und ihr Widerstand weisen den Weg für den gemeinsamen feministischen Kampf, der vor uns liegt.

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2021

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International Women* Space e.V. (IWS) ist eine feministische Gruppe in Berlin, die durch die Dokumentation der Lebensrealitäten und politischen Kämpfe von Migrantinnen und geflüchteten Frauen antirassistische Diskurse und Perspektiven erweitert.

Publikationen (im Selbstverlag, ohne ISBN):

2015: In Our Own Words – Refugee Women in Germany Tell Their Stories / In Unseren Eigenen Worten – Geflüchtete Frauen in Deutschland berichten von ihren Erfahrungen

2018 (25.11.2018): »Uns gibt es, wir sind hier! We exist, we are here!«

International Women* Space (Hg.)

»Als ich nach Deutschland kam«

Gespräche über Vertragsarbeit, Gastarbeit, Flucht,Rassismus und feministische KämpfeEine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Drucklegung wird finanziell gefördert von der

Rosa-Luxemburg-Stiftung: www.rosalux.de/stiftung/ifg.html

Dieses Buch wird unter den Bedingungen einer Creative Commons License veröffentlicht: Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License. Nach dieser Lizenz dürfen die Texte für nichtkommerzielle Zwecke vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden unter der Bedingung, dass die Namen der Autor_innen und der Buchtitel inkl. des Verlags genannt werden, der Inhalt nicht bearbeitet, abgewandelt oder in anderer Weise verändert wird und er unter vollständigem Abdruck dieses Lizenzhinweises weitergeben wird. Alle anderen Nutzungsformen, die nicht durch diese Creative Commons Lizenz oder das Urheberrecht gestattet sind, bleiben vorbehalten.

International Women* Space

»Als ich nach Deutschland kam«

Rassismus und feministische Kämpfe

1. Auflage, März 2019

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2021

ISBN 978-3-95405-084-0

© UNRAST-Verlag, Münster 2019

www.unrast-verlag.de – [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST-Verlag, Münster

Coverfoto: © Irene Brocket

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

EinführungInternational Women* Space

VorwortNataly Jung-Hwa Han

Gespräch 1: Gastarbeiterinnen in Westdeutschland und Vertragsarbeiterinnen in OstdeutschlandFigen Izgin, Mai-Phuong Kollath & Aurora Rodonò

Gespräch 2: Geflüchtete Frauen in Ost- und WestdeutschlandNancy Larenas, Saideh Saadat-Lendle & María do Mar Castro Varela

Gespräch 3: Die Wartezeit – Überleben im deutschen AsylsystemDoris Messa, Jacqueline Maffo, Masture Hares, Ivanka Sinani & Asma-Esmeralda Abd’Allah-Álvarez Ramírez

Gespräch 4: Rassismus und rassistische Gewalt in Deutschland von den Neunzigerjahren bis heuteAurora Rodonò, Ayşe Güleç, Bafta Sarbo, Peggy Piesche & Ceren Türkmen

Gespräch 5: Deutsch, aber mit MigrationshintergrundStefanie-Lahya Aukongo, Tülin Duman & Clementine Ewokolo Burnley

Gespräch 6: Selbstorganisierung und feministische Arbeit im Kontext von MigrationGülşen Aktaş, Kook-Nam Cho-Ruwwe, Seher Yeter & Saboura Naqshband

Anhang

Kurzbiografien der Sprecherinnen

Glossar

Organisationen & Gruppen

Literatur

IWS über sich

Team & Danksagungen

Anmerkungen

Einführung

»Eine Geschichte fängt nie mit uns selbst an. Vor uns gab es ganz wunderbare Schwestern, die etwas getan haben, was es uns möglich macht, uns zu sehen.«

– Peggy Piesche[1]

Unzählige Frauen haben erfahren was es bedeutet, als Frau zu migrieren, zu fliehen, anzukommen, für das Bleiben zu kämpfen, Rassismus zu erleben. Die Worte von Peggy Piesche machen Mut: Die Geschichte fängt nie mit uns selbst an. Wir können Kraft und Wissen schöpfen von jenen, die bereits zu anderen Zeiten und an anderen Orten Erfahrungen gesammelt und gekämpft haben. Und doch ist es alles andere als selbstverständlich, dass dieses Wissen in die Sammelunterkünfte, in die Lager, in die Ungewissheit und Isolation durchdringt. Dort wird es am dringendsten gebraucht. Die Barrieren des Nationalismus, des Asylsystems und der Sprache sind für viele nicht ohne weiteres überwindbar. Im Oktober 2017 haben wir daher in Berlin zu einer Konferenz unter dem Titel Als ich nach Deutschland kam eingeladen, die von Frauen für Frauen organisiert wurde – angefangen bei der Planung, der Technik, der Übersetzung, der Dokumentation, bis hin zur Realisierung dieses Buchs. Hiermit geben wir einen Einblick in die Beiträge und Diskussionen der Konferenz, um sie insbesondere jenen zur Verfügung zu stellen, die nicht dabei sein konnten.

Die Konferenz war ein wichtiger Schritt für uns, denn auch unsere feministische Organisierung als International Women* Space hat nicht bei Null angefangen. Wir wollten mehr wissen über jene Kämpfe, die uns vorangegangen waren, dieses Wissen mit vielen anderen teilen und eine gemeinsame Perspektive daraus entwickeln. Auf dem Weg zur Konferenz haben wir uns in vergangene und aktuelle Kämpfe vertieft, zusammen reflektiert, Gemeinsamkeiten entdeckt und lange daran gearbeitet uns mit jenen 22 Frauen in Kontakt zu setzen und auszutauschen, die wir als Sprecherinnen und Moderatorinnen für die Konferenz gewinnen konnten:

Frauen, die als sogenannte Gastarbeiterinnen nach Westdeutschland oder als Vertragsarbeiterinnen nach Ostdeutschland kamen; Frauen, die als Migrantinnen oder Geflüchtete in das geteilte oder in das wiedervereinte Deutschland kamen sowie deutsche Frauen, die von Rassismus betroffen sind. Was sie vereint, ist ihre feministische Selbstbehauptung gegenüber den Asyl- und Migrationspolitiken und gegenüber dem institutionellen und alltäglichen Rassismus in diesem Land.

Die zweitägige Konferenz war ein Erfolg. An den beiden Tagen kamen über 250 Frauen zusammen, darunter viele, die noch nicht lange in Deutschland leben, andere, die bereits vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen und Frauen, die hier geboren sind. Einige von ihnen reisten aus Lagern in Potsdam, Hamburg und anderen Städten an. Sie hörten einander zu und tauschten Erfahrungen über ihre Situation, ihre politischen Kämpfe und Widerstandsstrategien aus. Es waren zwei besondere, berührende und bestärkende Tage. Um sich gegenseitig zuhören und verstehen zu können, galt eine unserer größten Anstrengungen der Überwindung von Sprachbarrieren. Hierzu haben wir eine ständige Simultanübersetzung in Deutsch, Englisch, Arabisch, Farsi, Türkisch und Vietnamesisch organisiert. Sie war die Basis unserer Konferenz. Dort, wo wir keine professionelle Übersetzung anbieten konnten, wurde im Publikum spontan eine Flüsterübersetzung ins Französische und Portugiesische vorgenommen. Für dieses Buch wurden alle Beiträge der Konferenz transkribiert und für die Veröffentlichung in deutscher Sprache überarbeitet. Wir wünschen uns, dass dieses Buch auch in andere Sprachen übersetzt wird und die deutsche Übersetzung nur ein erster Schritt von vielen ist.[2]

Ebenso wichtig wie die Überwindung von Sprachgrenzen war es uns, Frauen unterschiedlicher Generationen zusammenzubringen. Die Frauen in diesem Buch sind nicht nur Zeuginnen, sondern Akteurinnen wichtiger politischer Momente und Entwicklungen. Sie sind in Deutschland geboren, sind als Kinder hierher migriert, haben ihre Herkunftsländer aus verschiedenen Zwängen und Kämpfen heraus verlassen, sind mit unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen angekommen, sind legalisiert oder illegalisiert. Sie haben dieses Land verändert. Sie haben Geschichte geschrieben. Eine internationalistische, feministische, widerständische, und – entgegen nationaler Vorstellungen – deutsche Geschichte.

Wer dieses Buch liest, versteht, dass die Geschichte des geteilten und des wiedervereinten Deutschlands keine weiße, nationale, von Männern gestaltete Geschichte ist.[3] Millionen von Arbeitsmigrant*innen – sogenannte Gastarbeiter*innen in der BRD und Vertragsarbeiter*innen in der DDR – und ihre Nachkommen haben diese Länder wirtschaftlich aufgebaut und ihnen wichtige politische und nicht zuletzt feministische Impulse gegeben. 2019 – im Erscheinungsjahr dieses Buchs – feiern viele Menschen in Deutschland den 30. Jahrestag des Mauerfalls und damit den Auftakt einer deutschen Wiedervereinigung und deutschen Einheit.[4] Was sie dabei vergessen oder vergessen machen wollen: Im nationalen Taumel der Wende nahm die rassistische Gewalt sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland ungeahnte Ausmaße an. Politiker*innen und Medien verlautbarten: »Das Boot ist voll«.[5] Anfang der Neunzigerjahre vergeht keine Woche, ohne dass Menschen aus rassistischen Gründen verfolgt, attackiert und ermordet werden.[6] Infolgedessen wird 1993 das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft. Und heute? Nazi-Mobs ziehen durch die Straßen, Asylunterkünfte brennen, Menschen werden aufgrund rassistischer Zuschreibungen kontrolliert, verhaftet und in Polizeizellen verbrannt, sie sterben im Mittelmeer und der Sahara, sie verlieren ihre Menschenrechte an den Grenzen oder im inneren Europas. Ihre Geschichte steht in einer historischen Kontinuität zu früheren Generationen, die wir begreifen und in eine gemeinsame Stärke umwandeln wollen.

Im ersten Gespräch berichten Figen Izgin, Tochter einer türkischen Gastarbeiter*innenfamilie, und Mai-Phuong Kollath, vietnamesische Vertragsarbeiterin in der DDR, wie es mit der Gastfreundschaft der BRD und der sozialistischen Bruderschaft der DDR in Wirklichkeit bestellt war. Sie haben sich entgegen vieler Widerstände nicht nur eine eigene Existenz aufgebaut, sondern den Kampf für die politischen und sozialen Rechte vieler anderer aufgenommen. Im zweiten Gespräch erweitern die Biografien von Nancy Larenas, chilenische Exilantin in der DDR, und Saideh Saadat-Lendle, iranische Exilantin in der BRD, unser Bild über das Ankommen in den beiden deutschen Staaten und zeigen, welche Chancen und Hürden für sie und ihre Kollektive damit verbunden waren. Was es bedeutet, sich im heutigen Asylsystem in Deutschland durchsetzen und gegen die ständige Gefahr der Abschiebung kämpfen zu müssen, berichten Doris Messa, Mitglied von International Women* Space, Jacqueline Maffo, Mitbegründerin von Women in Exile, Masture Hares, afghanische Frauenrechtlerin und Ivanka Sinani, Roma-Aktivistin, im dritten Gespräch.

Ayşe Güleç, Bafta Obras und Peggy Piesche zeigen im vierten Gespräch, welchen Formen des antirassistischen und feministischen Widerstands sie im Angesicht des erstarkenden gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus aufbauen konnten. Im fünften Gespräch berichten Stefanie-Lahya Aukongo und Tülin Duman davon, welche gesellschaftliche Macht Fremd- und Selbstzuschreibungen ausüben können und wie wir diese selbstbestimmt aneignen und umwandeln können. Im sechsten und letzten Gespräch berichten Kook-Nam Cho-Ruwwe, die 1970 als koreanische Arbeitsmigrantin aus Korea in die BRD kam, Seher Yeter, politische Exilantin aus der Türkei, und Gülşen Aktaş, Betreiberin einer migrantischen Seniorinnenbegegnungsstätte, über die erfolgreiche Selbstorganisierung und feministische Arbeit von Migrantinnen in Deutschland.

Ihre Geschichten zeugen, jede für sich, von einer ungemeinen Kraft. Sie zeigen, dass es möglich ist von erfahrenem Leid zu sprechen, ohne in eine Rolle des Opfers zu verfallen, das wehrlos, sprachlos und unsichtbar ist. Sie zeigen, dass wir unsere Erfahrungen und Kämpfe zusammentragen und vereinen müssen.

International Women* Space

Januar 2019

Vorwort

Im Oktober 2017 erfuhr ich per Zufall über eine Freundin von der Konferenz Als ich nach Deutschland kam. Beim Lesen des Titels wurde in mir sofort etwas ausgelöst und ich spürte, wie mein Herz vor Aufregung höher zu schlagen begann. Ein angenehmes Gefühl stieg in mir auf, darüber dass es eine Gruppe von Frauen gibt, die sich ernsthaft für andere Migrantinnen interessiert. Ich fühlte mich durch den Titel persönlich angesprochen: DU wirst gefragt, unter welchen Umständen DU nach Deutschland gekommen bist und wie es DIR nach der Ankunft in Deutschland erging.

Auf dem Weg zur Konferenz zogen vor meinen Augen Bilder der letzten 40 Jahre vorbei, seit ich im April 1978 im Alter von 16 Jahren alleine ins Flugzeug stieg, um meiner Mutter nach Stuttgart zu folgen. Sie war eine der 110.000 Krankenpflegerinnen, die von Anfang 1960 bis 1977 aus Südkorea nach Deutschland angeworben wurden. Ihr Arbeitsvertrag war wie üblich auf drei Jahre befristet und der Familienzuzug nicht gestattet. Aufgrund des Personalmangels im OP wurde ihr Arbeitsvertrag jedoch mehrmals um ein weiteres Jahr verlängert, wie es auch bei den meisten anderen koreanischen Krankenschwestern der Fall war. Nach der Ölkrise 1974 sollten jedoch alle wieder in ihre Heimat abgeschoben werden. Sie organisierten sich erfolgreich gegen die Abschiebung und erhielten dann die unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Meine Mutter holte mich nach Deutschland, sobald sie den sicheren Aufenthaltsstatus erhalten hatte. Wir waren sieben Jahre lang getrennt. Allerdings waren wir noch ahnungslos, welche Schwierigkeiten uns bevorstanden …

Als ich am ersten Tag der Konferenz den Saal betrat, erblickte ich als erstes sechs Kabinen für Dolmetscher*innen, die technisch von Frauen betreut wurden. Das beeindruckte mich schwer, denn ich weiß, wie teuer Kabinen mit jeweils zwei Simultandolmetscherinnen sind. Mit diesem großen Aufwand setzte der International Women* Space ein deutliches Zeichen, dass möglichst alle Frauen die Chance erhalten sollten, sich an der Diskussion zu beteiligen. Keine Frau sollte wegen der Sprache ausgeschlossen werden. Ein Partizipationsgedanke, der ein Gefühl des Respekts vermittelt, was für mich die Grundvoraussetzung für eine mögliche Integration darstellt! Allerdings halte ich den Begriff Integration für problematisch.

Als nächstes nahm ich wahr, dass der Saal voll von unterschiedlichsten Frauen war. Meistens bin ich auf Veranstaltungen unterwegs, die überwiegend von einem deutsch-asiatischen Publikum besucht werden. Alle Akteurinnen auf dem Podium begannen ihre Reden immer mit ihren persönlichen Erfahrungen, so dass etwas Vertrautes entstand. Alles, was gesagt wurde, stellte für mich ein historisches Moment dar, weil die persönlichen Erfahrungen sowohl mit den politischen Ereignissen in den Herkunftsländern als auch mit der deutsch-deutschen Geschichte in Verbindung standen. Mit atemberaubendem Tempo wurde über so komplexe Themen diskutiert.

Die Stimmung war euphorisch in dem geschützten Raum, so dass auch Kritik frei geäußert werden konnte: Eine der Teilnehmerinnen aus dem Publikum, die erst seit einem Jahr in Deutschland lebte, stellte die Frage, warum wir während der Tagung so viel über die deutsche Identität sprächen. Sie sei in der Türkei geboren, aber sie wehre sich dagegen, als Türkin bezeichnet zu werden, weil sie die Politik in ihrem Land ablehne. Für sie war der Gedanke fremd, dass es für die zweite oder dritte Generation mit Migrationsgeschichte ein politisches Zeichen sei, als Deutsche anerkannt zu werden, dass auch anders als die Mehrheitsgesellschaft aussehende Menschen als deutsch gelten. Um eine solche Wahrnehmung zu schärfen, muss die Geschichte der Migration als ein Teil der Geschichte Deutschlands verstanden werden.

Frauen, die als Gastarbeiterinnen nach Westdeutschland kamen, die als Vertragsarbeiterinnen nach Ostdeutschland kamen, Frauen, die als Migrantinnen und Geflüchtete in das wiedervereinigte Deutschland kamen sowie deutsche Frauen, die von Rassismus betroffen sind. So lautete die Unterüberschrift der Konferenz, welche verdeutlicht, dass auch die Geschichte der Migrantinnen in der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands impliziert ist. Obwohl wir fast mehr als ein halbes Jahrhundert hier leben, werden unsere jeweiligen Geschichten nur als eine Fortsetzung der nationalen oder ethnischen Geschichte der Herkunftsländer verstanden. Wir stehen jedoch nicht außerhalb der deutsch-deutschen Gesellschaft, sondern befinden uns mitten in diesem historischen Prozess. Warum ist es wichtig, dass Migration auch in der Geschichte Deutschlands vorkommt und auch zum Teil der deutsch-deutschen Geschichte werden muss? Wenn Migrierte in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, dann werden sie auch ein Verantwortungsgefühl für die gesamte Gesellschaft entwickeln.

Angesichts dieser Forderung bin ich ein Beispiel für die misslungene Integrationspolitik Deutschlands, obwohl die meisten Mitbürger*innen mich stets loben und glauben, ich sei vorbildlich integriert. Unzählige Male in meinem Leben wurde ich gelobt, dass ich so akzentfrei und so perfekt Deutsch spreche. Im gleichen Atemzug senkten meine deutschen Mitbürger*innen ihre Stimme und erzählten: »Sie sind ja anders als die anderen Ausländerinnen, die sind schon seit mehr als 20 Jahren hier und sprechen kaum Deutsch!« Hinter diesem angeblichen Kompliment werden Migrantinnen in gute und schlechte Menschen aufgeteilt.

Obwohl ich mich mustergültig integriert habe, ist mein Gefühl heute noch so, als halte ich mich seit vierzig Jahren nur vorübergehend hier auf. Denn irgendwann bemerkte ich, dass all die Bemühungen um Integration mir nichts nützen, weil ich stets nur als Fremde wahrgenommen werde. Eine Zeit lang glaubte ich beschämenderweise selbst an diese Taktik des ›Teile und Herrsche‹. Ich achtete auf der Straße und in den U-Bahnen sehr darauf, mich möglichst unsichtbar zu machen und ja nicht negativ aufzufallen. Insgeheim wollte ich nicht zu den anderen schlechten Migrantinnen gehören. Immer kleiner, unauffälliger und angepasster wurde ich! Schließlich stellte ich bei mir selbst fest, dass ich keine wirkliche Verantwortung in Deutschland übernehmen wollte. Ich hätte schon längst als Bildungsinländerin – eine Bezeichnung, die vom Immatrikulationsbüro an den Universitäten tatsächlich gebraucht wird – die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen können. Aber ich weigere mich innerlich, Deutsche zu werden, weil ich niemanden glauben lassen möchte, alle kämen her, wollen Deutsche werden und ihnen etwas wegnehmen.

Mein Verstand versucht mich zu überreden: »Bitte fühle dich nicht mehr als Gast.« Denn wenn ich selbst die Denkweise annehme hier fremd zu sein, so wie es mir tagtäglich von anderen widergespiegelt wird, akzeptiere ich ja genau jenes Konstrukt des ethnisch homogenen Nationalstaates, die unmenschlichen Grenzen und das Denken in nationalen Kategorien: Du bist eine Deutsche, Türkin, Koreanerin, Griechin etc. Obwohl du seit Jahrzehnten hier lebst und auch wenn du hier geboren bist, gehörst du nicht hierher, weil du anders aussiehst. Ich fühle mich hier nicht heimisch, weil ich weiß, dass die Menschen mich nicht als gleichberechtigt betrachten. Ich werde immer eine kleine Asiatin bleiben. Das heißt aber nicht, dass ich mit meinem Leben unzufrieden bin oder mich unwohl fühle.

Im Frühjahr 2016 organisierte ich anlässlich des fünfzigjährigen Anwerbeabkommens der Krankenpflegerinnen zwischen Deutschland und Südkorea eine Veranstaltung mit einer Gewerkschaft und einer politischen Stiftung mit dem Titel Anwerben, Ankommen, Anpassen?[7]. Bei der Vorbereitung war ich zutiefst enttäuscht, dass große Institutionen zwar inzwischen gerne über Migration und Integration diskutieren, aber sich nicht wirklich für die Erfahrungen der Migrant*innen interessieren. Nur mit viel Mühe konnte ich durchsetzen, dass eine ehemalige Krankenschwester, die selbst um ihre Aufenthaltsrechte gekämpft hatte und sich heute noch für die Rechte der Migrant*innen einsetzt, an dem Podium mit den politischen Entscheidungsträger*innen aus Politik, Gewerkschaft und Forschung teilnehmen durfte. Die Gewerkschaftsvertretung wollte lieber eine Professorin auf dem Podium. Diese Zusammenarbeit war für mich damals sehr ernüchternd.

Auf der Konferenz Als ich nach Deutschland kam wurde im Gegensatz tatsächlich eine vertrauensvolle Grundlage für Austausch und gegenseitigem Empowerment geschaffen. Ich konnte viele ungeklärte Fragen in mir aufdecken, weil wir gemeinsam und offen aus unterschiedlicher Perspektive über unsere persönlichen Erfahrungen diskutieren konnten. Nur auf diese Weise können wir eine gemeinsame Sprache entwickeln. Es war eine große Ehre, dass ich vom IWS gefragt wurde, ein Vorwort für diesen wichtigen Tagungsband zu schreiben. Ich wünsche mir, dass es bald eine weiterführende Konferenz in dieser Reihe gibt.

Nataly Jung-Hwa Han

Leiterin der AG Trostfrauen und Vorstandsvorsitzende des Korea Verband e.V.

Dezember 2018

Gespräch 1

Gastarbeiterinnen in Westdeutschland und Vertragsarbeiterinnen in Ostdeutschland

Aurora Rodonò im Gespräch mit Figen Izgin und Mai-Phuong Kollath

v.l.n.r Figen Izgin, Mai-Phuong Kollath und Aurora Rodonò. Foto: Janis Garnet

Die Nachkriegsgeschichte Deutschlands kann nicht erzählt und verstanden werden, ohne dabei die Rolle der migrantischen Arbeiter*innen zu beachten. Im ersten Panel der Konferenz geht es um die Geschichte von Arbeitsmigrantinnen in der BRD und der DDR seit den Sechzigerjahren. Aurora Rodonò, Aktivistin, Kulturschaffende und Forscherin, moderiert das Gespräch und gibt eingangs einen Überblick zur Geschichte von Ausbeutung, Alltag und Widerstand der sogenannten Gastarbeiterinnen und Vertragsarbeiterinnen in Ost- und Westdeutschland. Zu Gast sind Figen Izgin, die 1979 als Kind türkischer Gastarbeiter*innen nach Deutschland kam und sich in einer diskriminierenden Welt von Schule, Arbeit und Gesellschaft zu behaupten sowie gewerkschaftlich und politisch zu organisieren wusste. Mai-Phuong Kollath, die 1981 als Vertragsarbeiterin aus Vietnam in die DDR ging, erzählt von der Ausbeutung und Rechtlosigkeit als Vertragsarbeiterin, gefolgt von ihrer Geschichte im wiedervereinten Deutschland.

*****

Aurora: Danke für die Einladung! Ich lebe in Köln und habe dort auch den International Women* Space (IWS) kennengelernt. Wir haben dort das Tribunal NSU-Komplex auflösen veranstaltet, wo es darum ging, den Rassismus in Deutschland, ausgehend von den rassistischen Morden durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), anzuklagen. Außerdem haben wir einen Workshop zum Thema Sexismus und Rassismus organisiert, an dem der IWS und andere Frauen teilgenommen haben, um ihre Arbeit vorzustellen und zusammen über ihre Kämpfe zu sprechen. Danach entstand die Idee, gemeinsam eine Konferenz in Berlin zu machen und ich habe mich direkt total gefreut, dass sie mich und uns eingeladen haben, mitzumachen.

Und so sind wir heute hier, um über das Thema Gastarbeit und Vertragsarbeit zu sprechen. Auch, um aus der historischen Situation zu lernen. Denn alles, was wir heute erleben – die starke Regulierung von Migration, der Rassismus, aber auch die Kämpfe, die subjektiven Praktiken von vielen Frauen und auch Männern – hat eine Geschichte. Wie war das eigentlich in den Fünfziger-, Sechziger und Siebzigerjahren, als die sogenannten Gastarbeiter*innen nach Deutschland in die Bundesrepublik gekommen sind und die Vertragsarbeiter*innen in die DDR? In diesem ersten Gespräch soll es darum gehen zu rekonstruieren, was damals passierte.

Das klassische Bild der sogenannten Gastarbeiter*innen-Ära ist immer der männliche Migrant.Ich beginne mit einem kleinen Abriss über die Arbeitsmigration in die BRD und die DDR seit den Sechzigerjahren. In beiden Fällen handelte es sich um eine sehr regulierte Migration. Aber auch da gab es viele Frauen, die auf ganz anderen Wegen gekommen sind – nicht über die damaligen Anwerbeabkommen in der BRD oder über die Verträge der ehemaligen DDR mit unterschiedlichen Ländern. Zwischen Italien und der Bundesrepublik wurde 1955 das erste Anwerbeabkommen geschlossen.[8] Meine Eltern kamen in den Sechzigerjahren als Gastarbeiter*innen aus Sizilien nach Deutschland, wo sie zwei oder drei Jahre bleiben wollten. Heute sind sie immer noch hier. Wie so viele andere sind auch sie am Ende hiergeblieben. Das klassische Bild der sogenannten Gastarbeiter*innen-Ära ist immer der männliche Migrant. Ihr kennt vielleicht diese Bilder, wie der Mann mit dem Koffer nach Deutschland kommt. Das ist nur die halbe Wahrheit. Es kamen auch sehr viele Frauen als Gastarbeiterinnen nach Deutschland. Aus Griechenland, Spanien und der Türkei kamen viele Frauen alleine und wurden zu den Ernährerinnen ihrer Familien. Aus Italien kamen auch Frauen, aber wesentlich weniger, diese kamen oft später im Familienzusammenschluss.

In den Anfängen lief die Anwerbung in Italien ein bisschen schleppend. Deswegen hat man sich entschieden, Abkommen zu schließen mit Spanien, Griechenland, Portugal, der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien – was natürlich etwas sehr Besonderes war. Im Zuge der Ostpolitik war das auch eine Strategie. Genauso wie das Abkommen mit der Türkei, weil die Türkei schon in der NATO war und es politische Interessen gab, im Rahmen des Kalten Krieges auch mit diesen Ländern Abkommen abzuschließen. Die Anwerbung war von Anfang an reguliert auf einen bestimmten Zeitraum. Die Leute sollten kommen, ein paar Jahre hierbleiben und dann am besten auch wieder gehen. Es gibt ein Zitat, das mich sehr bewegt hat: »Die Arbeitskräfte sollten kommen, für sich allein existieren, die Straßen fegen, Häuser bauen, Maschinen bedienen, Beton aufbrechen, Elektroschweißen, dabei aber völlig unsichtbar bleiben […] Am liebsten hätte man die Ausländer jeden Abend um 5 Uhr in ihre Heimatländer zurückgeschickt und sie morgens zurückgeholt.«[9]

Und so war das auch: Es gab eine bewusste Strategie, die Leute unsichtbar zu halten. Migrant*innen haben sich relativ bald, auch trotz des Anwerbestopps von 1973, widersetzt und haben gestreikt. Anwerbestopp hieß: Schluss jetzt mit Gastarbeit und Ölkrise. Aber natürlich gab es auch rassistische Gründe. Es gab schon damals eine große Xenophobie. Interessanterweise gab es genau in dem Jahr 1973 über 300 Streiks. Ein sehr prominenter Streik, der von Frauen angeführt wurde, war der Streik bei Pierburg. Das ist eine Firma in Neuss in Nordrhein-Westfalen. Dort haben Frauen dafür gekämpft, die sogenannte Leichtlohngruppe abzuschaffen. Auch das ist eine typische Geschichte. Die Frauen wurden natürlich im Niedriglohnsektor eingesetzt. Auch die männlichen Gastarbeiter bekamen zum Teil weniger als ihre Kollegen, weil sie oftmals unter ihrer Qualifizierung eingesetzt wurden. Aber die Frauen wurden in einer noch niedrigeren Lohngruppe eingestellt und dagegen haben sie sich gewehrt. Sie haben gestreikt und beim Pierburg-Streik ist es wirklich gelungen, mehrere Wochen – einmal im Frühjahr, dann nochmal im August – die männlichen Kollegen und auch die deutschen Frauen zu mobilisieren und so die Leichtlohngruppe II abzuschaffen. Ganz viele Leute haben auf dem Gelände solidarisch mit den Migrantinnen gekämpft. Der Streik wurde in dem Film Ihr Kampf ist unser Kampf, von den beiden Filmemacher*innen David Wittenberg und Edith Marcello, verfilmt.[10]

In den Siebzigern kam wie gesagt der Anwerbestopp, aber die Menschen bleiben. Und dann erfand die Bundesrepublik eine neue Maßnahme: das sogenannte Rückkehrhilfegesetz von 1983. Das hieß, man gab den Migrant*innen Geld, damit sie bitteschön nach Hause gehen, aber auch das passierte nicht. Einige gingen natürlich zurück. Andere blieben hier, machten sich selbstständig, gründeten ihre eigenen Läden. Und wenn wir in die Geschichte hineinschauen, zum Beispiel auf den NSU-Komplex, dann sind das genau diese Menschen, die letztendlich angegriffen worden sind. Die sich hier ein Leben aufgebaut haben, die eigene Geschäfte gegründet haben. Und obwohl sie rassistische Verfolgung erlebt haben, obwohl es in den Neunzigerjahren sehr viele Anschläge gab, sei es im Osten oder im Westen, in Rostock-Lichtenhagen, in Hoyerswerda, in Mölln[11] und so weiter, blieben die Menschen hier und kämpften. Und ich glaube, dass wir davon sehr viel lernen können, nämlich solidarisch zu sein und gegen den Rassismus und den Sexismus in Deutschland zu kämpfen.

In der DDR wurden ab den Siebzigerjahren Verträge mit den sogenannten sozialistischen Bruderländern abgeschlossen. Das waren etwa Angola, Mosambik und Kuba. Vorher gab es Abkommen mit Ungarn, Polen und Algerien.[12] Da gab es eine umfangreiche Regulierung. Zum Beispiel durften Männer und Frauen, auch wenn sie Ehepaare waren, nicht im gleichen Wohnheim wohnen und Frauen durften nicht schwanger werden. In der BRD war es auch so, dass Schwangerschaftstests durchgeführt wurden, aber die Sanktionen waren in der DDR größer. Die Frauen wurden abgeschoben und es gab Zwangsabtreibungen. Selbst Paare durften nicht zusammenwohnen, denn sie waren ja zum Arbeiten hier. Das heißt, sie sollten sich auch bitte nicht vermehren. Und mit dem Mauerfall 1989 dramatisierte sich plötzlich vieles. Die Verträge wurden von heute auf morgen gekündigt. Die Leute sollten einfach abgeschoben werden. Trotzdem sind die Menschen hiergeblieben und haben ihr Leben weitergelebt. Wir werden gleich davon hören, wie diese Geschichten verlaufen sind. Einige sind in den Westen gegangen, haben also eine doppelte und dreifache Marginalisierung erlebt. Die Bruderliebe war auf einmal vorbei. Auch im Osten gibt es viele Beispiele für Bleiberechtskämpfe und auch für die Solidarisierung von ehemaligen Arbeitsmigrant*innen. Ich glaube, das ist auch etwas, wovon wir viel lernen können.

Figen, ich würde gerne mit deiner Geschichte anfangen, weil wir gerade beim Pierburg-Streik von 1973 waren. Du bist 1979 nach Deutschland gekommen, deine Eltern schon früher. Was ist deine Geschichte? Was hat deine Familie bewegt, hierher zu kommen? Und was hast du vorgefunden, als du nach Deutschland kamst?

Figen: Bevor ich zu deiner Frage komme, möchte ich kurz eines sagen: Einwanderung und Auswanderung hat es weltweit immer gegeben. Die Deutschen selbst sind und waren Auswanderer*innen. Allein bis zum Ersten Weltkrieg sind mehr als sechs Millionen Deutsche in die USA gegangen. Das wird hier in diesem Land nur schwer geglaubt, keine Ahnung aus welchem Grund. Das ist nicht nur typisch für Deutschland und für die Menschen, die in Deutschland leben.

Ich möchte kurz eine Geschichte erzählen, eine Chronologie, wie es in der Türkei zu diesem Anwerbeabkommen kam. Es war der 30. Oktober 1961. Ich glaube, als viertes Land wurde das Abkommen mit der Türkei abgeschlossen. In der Türkei herrschte damals hohe Arbeitslosigkeit. Für viele Menschen war das eine Rettung, das ist eine Wahrheit. Die Türkei wollte ihre Leute nach Deutschland schicken. Sie wollten, dass die Menschen in diesem Land nur zwei Jahre bleiben. Eine Art Rotationsprinzip. Und diese Leute sollten Geld reinbringen, plus das Wissen aus Europa, aus Deutschland, damit das Land sich schneller entwickeln kann. Aurora hat das gesagt und ich würde dazu gerne Zahlen nennen, weil das einfach ignoriert wird: Von den ersten circa 800.000 Menschen, die aus der Türkei gekommen sind, waren rund 150.000 Frauen. Das ist für ein Land, was heute noch als rückständig markiert wird, ein großer Erfolg.

… ich habe bisher von keiner Frau gehört, die gesagt hat: »Ich halte die schwere Arbeit und das Leben hier nicht aus, ich gehe zurück.«So auch Frauen aus der Stadt Kars, die ihre Stadt noch nie im Leben zuvor verlassen hatten. Sie haben es gewagt nach Deutschland zu kommen, in ein Land, das sie nicht mal von der Karte kannten. Und diese Frauen haben es alle geschafft. Sie sind hiergeblieben. Ich kenne Geschichten von vielen Männern, die nach 24 Stunden Fabrikarbeit gesagt haben: »Oh Gott, ich bin enttäuscht, ich gehe zurück.« Viele Männer sind nach kurzer Zeit zurückgegangen, aber ich habe bisher von keiner Frau gehört, die gesagt hat: »Ich halte die schwere Arbeit und das Leben hier nicht aus, ich gehe zurück.« Diese Frauen waren ledig. Diese Frauen waren geschieden, diese Frauen waren verheiratet. Manchmal hat der Ehemann den ersten Test nicht bestanden. Sie sind gekommen, haben den Ehemann nachgeholt und später auch die Kinder.

Diese Kinder wurden damals, weiß ich heute, einfach da geparkt, weil beide Seiten gedacht haben, die gehen zurück.Nun zu meiner Geschichte: Mein Vater ist das erste Mal 1969 zu Siemens hier nach Berlin gekommen. Ein paar Monate später hat er meine Mutter und drei von meinen Geschwistern nach Berlin geholt. Meine Schwester und ich mussten in Kars bei meinen Großeltern väterlicherseits bleiben. Ein Jahr später wurden wir beide auch nach Deutschland geholt. Ich habe hier in Berlin die zweite Klasse besucht. Das war eine Klasse nur für türkische Kinder und die Lehrerin war selbst auch aus der Türkei. Da ging es nicht um die deutsche Sprache und Schulbildung. Diese Kinder wurden damals, weiß ich heute, einfach da geparkt, weil beide Seiten gedacht haben, die gehen zurück. Nach etwa einem Jahr bin ich mit meiner Schwester wieder zurückgeschickt worden, weil meine Mutter und mein Vater, beide, hier vor folgender Situation standen: Fünf Kinder, beide Elternteile arbeiten. Wenn wir sie zur Kita schicken, dann können wir das Gehalt, das wir verdienen, für fünf Kinder in Deutschland ausgeben oder wir alle kehren wieder zurück. Sie standen vor dieser Entscheidung, deshalb haben sie mich und meine Schwester nach einem Jahr wieder zurückgeschickt. Diesmal aber nicht mehr nach Kars, sondern nach Istanbul zu Oma und Opa mütterlicherseits.

Das zeigt, wenn man genau hinguckt, eine Migration ins Ausland, dann eine Migration zwischen Kars und Istanbul, zwei ganz unterschiedliche Städte, wie auch heute noch. In Istanbul habe ich ein paar Jahre die Grundschule besucht, dann haben meine Eltern sich doch für die Türkei entschieden und ich habe die Schule gewechselt. Zwei Jahre später konnte mein Vater nicht mehr, ist wieder nach Deutschland, hat wieder Mama nachgeholt. Ich und meine Schwester mussten in ein Internat. Also, wenn ich es so richtig im Kopf habe: Bis zur achten Klasse habe ich achtmal die Schule gewechselt. Ja, zwei Länder, drei Städte, wechselnde Schulkamerad*innen und Lehrer*innen. Schon allein das war eine Belastung. Ich bin mit dieser Biografie nicht allein. Es sind sehr viele Männer und Frauen betroffen. Und ich denke, trotz dieser Schwierigkeiten haben es sehr viele geschafft, hier Fuß zu fassen.

Das letzte Mal, also für immer, bin ich mit 14 Jahren nach Deutschland gekommen, im Jahr 1979. Diesmal konnten wir gleich einen Deutschkurs bei der Volkshochschule besuchen. Dann wurde ich in der Schule angemeldet. Meine Schwester, die anderthalb Jahre älter ist als ich, wurde nicht eingeschult, weil sie knapp 16 war, ein paar Monate später endete die Schulpflicht. Ich durfte aber noch in die Regelschule gehen. Dieses Mal aber nicht in eine Ausländerklasse, wie es damals hieß, sondern es gab eine sprachliche Aufwertung. Diesmal hieß es dann Vorbereitungsklasse. Wieder nur türkische und kurdische Schüler*innen aus der Türkei, wieder ein Lehrer, der aus der Türkei kam. Ich bin mir sicher, dass ich es als Einzige geschafft habe, aus dieser Klasse rauszukommen, in eine normale deutsche Regelklasse. Und nach zwei Jahren habe ich meinen erweiterten Hauptschulabschluss geschafft.

Mir ist in den Gesprächen vor dieser Konferenz nochmal klar geworden, dass ich in dieser Zeit in Sachen Schulsystem und allem was danach kommen sollte, also berufliche Bildung, Schulabschluss nachholen oder Studium, keinerlei Hilfe hatte. In die Richtung wurden wir gar nicht beraten. Ich habe in den zwei Jahren nur einmal eine Beraterin vom Arbeitsamt gesehen. Das war meine einzige Beratung, die ich hier in Berlin erhalten habe. Meine Eltern kannten das System nicht. Heute noch ist es so, dass sehr viele Eltern, die seit vielen Jahren hier leben, das komplizierte Bildungssystem hier nicht richtig kennen. Aber auch viele Deutsche haben damit Probleme. Man sagt, das Bildungssystem hier ist sehr durchlässig. Man hat die Möglichkeit über verschiedene Wege vieles nachzuholen, das stimmt. Aber das muss man erstmal kennen. Da muss man jemanden rechtzeitig begleiten. Oder es selbst in die Hand nehmen. So habe ich den erweiterten Hauptschulabschluss geschafft.

Ein Freund hat mal erzählt, er musste denselben Teppich für seine Mutter viermal zwischen Deutschland und der Türkei transportieren. Also viermal musste derselbe Teppich hin- und hergebracht werden. So haben wir auch gelebt.Meine Eltern wollten, so wie alle, wieder zurückkehren. Das war immer bei allen Familien so. Das hat sich glaube ich 20, 30 Jahre nicht geändert. Ich erzähle eine kleine Geschichte, damit es deutlich wird. Ein Freund hat mal erzählt, er musste denselben Teppich für seine Mutter viermal zwischen Deutschland und der Türkei transportieren. Also viermal musste derselbe Teppich hin- und hergebracht werden. So haben wir auch gelebt. Wenn man sich die Wohnung von damals vor Augen führt, war entweder unter den Betten oder über den Schränken alles gestapelt, neu in Verpackungen, für die Türkei. So hat mein Vater natürlich auch gesagt, eine Ausbildung anzufangen macht keinen Sinn. »Wir werden in zwei Jahren zurückgehen.« Meine Eltern sind zum Teil heute noch da, leben zwar überwiegend in der Türkei, aber aus verschiedenen Gründen wie Kinder, Enkelkinder und Gesundheitsversorgung sind sie immer noch eng mit Deutschland verbunden.

Damals stand ich vor der Frage: »Warte ich jetzt zwei Jahre oder arbeite ich?« Ich habe mich für Arbeiten entschieden, bei Siemens angerufen und wurde gleich genommen. Damals, in den Achtzigerjahren, war Arbeitslosigkeit gar kein Thema. Man hat gleich Arbeit gefunden und als junge Frau hat man – nach damaligen Verhältnissen – auch gut verdient. Als ungelernte Kraft bei Siemens, da hat man sich natürlich nicht beschwert. So sind damals mit mir in den Achtzigerjahren sehr viele junge Menschen aus der Türkei, zweite Generation, zu dieser Fabrik und zu anderen Siemens-Fabriken gekommen, die alle als Ungelernte angefangen haben da zu arbeiten. Manche konnten gut Deutsch, andere weniger. So war das bis zu den Neunzigerjahren. Mit der Wende 1990 hat sich alles verändert. Westberlin war nicht mehr isoliert. Nicht wenige Firmen haben ihre Arbeit verlagert. Und als es um die Kündigung oder Verschlankung der Betriebe ging, waren die Migrant*innen die ersten, die gehen mussten.

Natürlich hat man sie nicht sofort vor die Tür setzen können, das ging ja nicht. Man hatte ja einen Arbeitsvertrag. Aber das Ausscheiden aus dem Betrieb wurde einem dann mit Abfindungen und dergleichen schmackhaft gemacht. Oder wenn man keine Abfindung haben wollte wurde gesagt: »Dann müssen Sie mit nach Nauen kommen, unser neuer Betrieb wird dort sein.« Nauen, oh Gott! Ehemaliger Osten – Ausländerfeindlichkeit. Mölln, Solingen, Rostock und viele andere Angriffe lagen gerade hinter uns.[13] So haben sich sehr viele Migrant*innen aus der zweiten Generation für das Geld entschieden. Die meisten von ihnen sind seitdem arbeitslos. Schule beendet oder nicht beendet, gleich bei Siemens angefangen, gearbeitet, solange die Arbeit da war. Dann drohte vielen die Arbeitslosigkeit. Manche von ihnen haben eine Anschlussbeschäftigung gefunden, zum Beispiel bei der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe), da sehe ich heute einige ehemaligen Kollegen als Busfahrer arbeiten. Aber viele sind seitdem erwerbslos.

Ich erzähle euch noch kurz von meiner Tätigkeit als Gewerkschaftsvertreterin bei Siemens: Bereits am ersten Tag meiner Anstellung wurde ich Gewerkschaftsmitglied. Damals war ich 18 Jahre alt und habe das gar nicht so richtig verstanden. Ich komme nicht unbedingt aus einer Familie, die politisch organisiert ist. Trotzdem war ich von Anfang an ein gutes Gewerkschaftsmitglied und habe jeden Monat brav meinen Beitrag bezahlt. Aber nach ein paar Monaten wurde mir klar: Was mache ich hier nur? Die Arbeit ist so schwer: Akkordarbeit am Band, im Schichtsystem. Das Geld, das ich bekomme, ist auf jeden Fall verdient! Es war auf Dauer sehr schwierig. Dazu kamen die Sprachprobleme. Im Betriebsrat gab es nur drei Arbeiter, die aus der Türkei stammten. Zwei von ihnen waren für Dolmetschertätigkeiten bestellt. Es gab also faktisch nur einen jungen Mann, der wirklich als Betriebsrat tätig war. Da haben viele von uns gesehen: Wir brauchen auch andere. Wir brauchen Frauen für frauenspezifische Themen. Wir brauchen migrantische Betriebsrät*innen, die sich hier schon besser auskennen und nicht nur als Dolmetscher*innen aktiv sind. Die sich für Rechte einsetzen können. So habe ich mich durch die Seminare von der IG Metall (Industriegewerkschaft Metall) qualifizieren lassen. Ich habe mich zum Vertrauenskörperleitungsmitglied wählen lassen. Später, zum Schluss, bevor ich im Jahr 1995 bei Siemens aufgehört habe, war ich auch als Betriebsrätin tätig.

Auch das hat eine Geschichte: Ab 1961 kamen die Menschen aus der Türkei. 1972 wurde das Betriebsverfassungsgesetz geändert. Erst dann durften Menschen mit Migrationshintergrund Betriebsrät*innen werden. Als ich im Mutterschutz war – das ist wirklich wichtig jetzt – haben sich sieben Personen zusammengefunden – leider ausschließlich Männer, alle aus der Türkei mit kurdischem oder türkischem Hintergrund. Sie haben gesagt, dass wir bei der Liste von IG Metall keinen Platz bekommen würden. Also gründeten wir eine alternative Liste. Die Migrant*innen haben das also selbst in die Hand genommen und haben eine Liste gegründet. Und sie waren sehr erfolgreich. Diese jungen Männer, alle aus meiner Generation, wurden nach diesem Erfolg aus der IG Metall rausgeworfen, die Mitgliedschaft wurde beendet. Daraufhin gab es viele Kämpfe und sie wurden wieder aufgenommen. Dieses Beispiel zeigt: So einfach geben auch Migrant*innen nicht das auf, was sie schon erreicht haben. Frauen und Männer müssen in einem Land, wo sie neu sind, wirklich für ihre Rechte kämpfen.

Aurora: Vielen Dank, Figen. Was du gerade beschrieben hast, zeigt sehr deutlich, dass das System Gastarbeit nicht darauf ausgelegt war, dass man hierbleiben soll, man qualifiziert wird und es Möglichkeiten für die Kinder gibt, wirklich in der Schule anzukommen. Du hast auch gezeigt, dass die Selbstorganisierung – in Gewerkschaften, in Vereinen und anderen Organisationen – eine bedeutende Rolle spielte. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Ich würde jetzt gern zu dir kommen, Mai-Phuong. In der DDR war es ein bisschen anders. Wie war es, als du nach Rostock gekommen bist? Was hast du vorgefunden? Wie waren die Arbeits- und Wohnbedingungen?

Mai-Phuong: