Als Mama mit der Lampe sprach - Nilüfer Türkmen - E-Book

Als Mama mit der Lampe sprach E-Book

Nilüfer Türkmen

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Beschreibung

Nelly ist erst vier, als ihr Vater stirbt. Von nun an ist sie allein mit ihrer Mutter. Doch Nellys Mutter ist krank, sie erteilt unsinnige Verbote, impft dem kleinen Mädchen Angst vor Infektionen und Entführern ein. Und sie spricht mit Michael, der in der Lampe wohnt, der eigentlich gar nicht da ist, aber trotzdem alles über die beiden weiß. Nellys Mutter leidet an Schizophrenie, nicht alles, was sie sieht und hört, existiert auch wirklich. Tapfer schlägt sich das Mädchen durch - und versucht zu verstehen, was "wirklich" ist, und was nicht.
Nilüfer Türkmens Erfahrungsbericht ist ein berührendes Zeugnis einer Kindheit und Jugend. Und er lässt uns einen Blick in eine verborgene Welt werfen, die viel mehr Menschen betrifft, als wir gemeinhin glauben.

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Seitenzahl: 219

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Inhalt
CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumMottoVorwort1: Ich schließe meine Augen und hülle mich ein2: Kann meine Gelbsucht vom Kaffee sein?3: Der Magier spricht zu mir4: »Diese Züge sind nicht von dir!«5: Mein Magen, ergriffen von Hexerei6: Lässt das Denken nicht mehr frei7: Unbehaust, verfolgt von Gestalten8: Im Dunklen, im Rauch und im KaltenNachwortAnhangBriefe meiner MutterDanksagungBildteilTafelteil

Über dieses Buch

Nelly ist erst vier, als ihr Vater stirbt. Von nun an ist sie allein mit ihrer Mutter. Doch Nellys Mutter ist krank, sie erteilt unsinnige Verbote, impft dem kleinen Mädchen Angst vor Infektionen und Entführern ein. Und sie spricht mit Michael, der in der Lampe wohnt, der eigentlich gar nicht da ist, aber trotzdem alles über die beiden weiß. Nellys Mutter leidet an Schizophrenie, nicht alles, was sie sieht und hört, existiert auch wirklich. Tapfer schlägt sich das Mädchen durch – und versucht zu verstehen, was »wirklich« ist, und was nicht. Nilüfer Türkmens Erfahrungsbericht ist ein berührendes Zeugnis einer Kindheit und Jugend. Und er lässt uns einen Blick in eine verborgene Welt werfen, die viel mehr Menschen betrifft, als wir gemeinhin glauben.

Über die Autorin

Nilüfer »Nelly« Türkmen schreibt die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend unter Klarnamen und mit Erlaubnis der Mutter. Die Studentin der Politik- und Rechtswissenschaften ist in der Aufklärungsarbeit zu psychischen Erkrankungen aktiv und besucht ihre Mutter regelmäßig in dem Heim für betreutes Wohnen, in dem sie heute lebt. Sie wünscht sich, dass wir alle netter mit psychisch kranken Menschen umgehen würden.

Nilüfer Türkmen

Meine Kindheit miteiner schizophrenenMutter

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Die Geschehnisse in diesem Buch haben sich so abgespielt wie geschildert. Zur Wahrung der Rechte der Personen wurden einige Namen, Orte und Details geändert. Die Sprache meiner Mutter wollte ich so wiedergeben, wie sie ist, Neologismen und zerfahrene Gedanken sind Symptome ihrer Erkrankung und keine »Fehler«.

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Küpper, München

Textzeilen Seite 145 aus dem Song Time To Wondervon Fury in the Slaughterhouse, 1988 Pinpoint Records, Worpswede

Titelillustration: © Yummy pic/iStock

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0418-2

luebbe.de

lesejury.de

Wenn du Steine statt Federn auf deinem Weg findest,wirst du dir daraus keine Flügel bauen können,aber dafür einen Berg, der mit dir wächst unddich bis über den Horizont blicken lässt.

Vorwort

Es ist ein ganz normaler Tag kurz nach meinem fünften Geburtstag. Meine Mutter und ich halten uns im Wohnzimmer auf, so wie meistens. Sie sitzt auf unserem Sofa mit den vielen Brandflecken und Löchern in den Polstern, während ich mich in eine Ecke dahinter verzogen habe. Die Wände um mich herum sind durch den ständigen Zigarettenrauch stark vergilbt. Die Tapete hat einige Risse vorzuweisen, da meine Mutter oft denkt, dass sich überall Kakerlaken eingenistet haben, und in allen Winkeln und Ecken nach ihnen sucht.

Doch nicht heute. Heute spiele ich mit meinen Plüschtieren, und meine Mutter redet wie so oft mit dem Spion, der in unserer Deckenlampe versteckt ist.

»Ich stehle hier keine Bettwäsche … Nein … Ich stehle auch nichts von kleinen Kindern!«, sagt sie. »Manchmal muss man Bettwäsche klauen, auch von kleinen Kindern, um Gelder zu machen. Das ist logisch …«

Die Deckenlampe besteht aus einer einzigen Glühbirne, die mitten im Raum herunterbaumelt. Auch das Kabel, an dem die Glühbirne hängt, ist gelb von dem ganzen Zigarettenrauch.

Was immer der Spion zu meiner Mutter gesagt hat – jetzt wendet sie sich an Michael, ihren Magier, und fragt ihn um Rat. Er ist nicht im selben Raum, deshalb muss meine Mutter über unsere Deckenlampe Kontakt zu ihm aufnehmen. Immer wenn sie mit ihm spricht, schaut sie hoch. Dann sieht es so aus, als würde sie die Decke fixieren und auf eine Antwort warten. Wenige Sekunden später bekommt sie tatsächlich eine, behauptet sie. Was genau sie mit ihrem Magier bespricht, weiß ich nicht, da ich nur ihre Seite des Gesprächs mithören kann. Manchmal unterhält sie sich mit ihm auf Französisch und manchmal auf Englisch, damit ich von den geheimen Machenschaften in dieser Welt nichts mitbekomme.

Doch heute spricht meine Mutter Deutsch. Also bleibt mir wieder einmal nicht erspart, mitanzuhören, wer uns alles ermorden will: Oma und Opa, die laut meiner Mutter nicht mit uns blutsverwandt sind. Ebenso Tante und Onkel, die sie als ihre Stiefgeschwister bezeichnet.

Während sie dem Magier lauscht, holt meine Mutter tief Luft, ihre Augen werden größer, und ihre Stimme wird rauer und bedrohlicher. »Geh nicht zu Oma, sie ist gefährlich«, raunt sie mir zu. »Sie will unser Essen stehlen und uns ermorden, weil wir nicht genügend Müll gemacht haben, um unsere Schulden zu decken.«

Jetzt steht sie auf und hebt den Zeigefinger. Dann wendet sie sich erneut dem Spion in der Deckenlampe zu und spricht kurz darauf wieder mit unserem Magier.

Ich hinterfrage nicht, was sie da tut, denn ich habe mich längst an ihr Verhalten gewöhnt. Zwar kann ich die Personen nie sehen, mit denen meine Mutter redet und oft auch streitet, aber ich kann sehen, wenn sie sich von jemandem bedroht fühlt. Dann krümmt sie sich zusammen, steht auf und wandert nervös vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück; manchmal versteckt sie sich auch unter der Bettdecke. Es gibt Zeiten, in denen nicht nur der Spion oder übel meinende Verwandte uns etwas anhexen wollen, sondern auch der Magier, obwohl meine Mutter ihn zu unserem Wohl eingestellt hat. In solchen Momenten schreit und schimpft sie laut, manchmal bleibt sie auch einfach stumm, macht große Augen und deutet mit dem Zeigefinger in eine Richtung.

Diese Auseinandersetzungen führen meist dazu, dass sie keine Zeit hat, etwas für mich zu kochen. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, uns vor den bösen Gestalten, die uns etwas antun wollen, zu beschützen und zu verteidigen. Dann muss ich mir selbst etwas zu essen machen. Das kann ich, denn ich habe meiner Mutter dabei zugeguckt, wie sie Suppe kocht. Meistens Fertigsuppen, die gehen ganz leicht. Aber nicht immer sind welche da. Zwar ist meine Mutter in der Lage, einkaufen zu gehen, versäumt dies jedoch oft wegen der starken Medikamente, die sie einnehmen muss. Sie machen so müde, dass meine Mutter auch tagsüber die meiste Zeit schläft. Doch ich weiß mir zu helfen und esse das, was da ist.

Heute nehme ich die Karotten aus dem Meerschweinchenkäfig, schneide sie in kleine Stücke, gebe etwas Fertiggewürz aus der Tiefkühltruhe hinzu und koche sie in einem Kochtopf voll Wasser. Das schaffe ich richtig gut. Ich nehme eine Scheibe Toastbrot aus der Packung und tunke es in die Suppe, das habe ich mir bei meiner Oma abgeschaut.

Meistens aber esse ich Schokolade und trinke ganz viel Multivitaminsaft. Meine Mutter sagt nämlich, dass ich etwas Gesundes zum Ungesunden nehmen muss, damit mir nichts passiert.

Heute ist einer der Tage, an denen die Halluzinationen und der Verfolgungswahn besonders stark sind. An denen die Gefahr überall lauert, in jeder Wand, in jedem Objekt und in jedem Menschen. Daher darf ich auch nicht raus, es ist draußen einfach zu gefährlich. Angst habe ich eigentlich keine. Ich würde am liebsten jede Minute im Freien verbringen. Auf Hügel steigen, auf Bäume klettern oder auf feuchtem Rasen Fußball spielen – das liebe ich! Ich weiß auch nicht, welche Gefahren dort auf mich warten sollen. Vielleicht, weil ich nicht immer so genau hinhöre, was meine Mutter redet, da es mir zu anstrengend wird. Laut ihr sind meine Freunde nämlich auch gefährlich, und das weiß ich besser.

Nachdem ich gegessen habe, stelle ich den Fernseher an und gucke eine Krimisendung. Meine Mutter sitzt neben mir und zündet sich eine neue Zigarette an. Sie hat nichts dagegen, dass ich Krimis schaue, doch ständig mischt sie sich in die Handlung ein. Sie ist überzeugt, dass die Hauptdarstellerin der Serie vergewaltigt wird – ein Wort, das ich immer wieder höre, denn in der Welt meiner Mutter besteht ständig die Gefahr, vergewaltigt zu werden. Nach und nach macht sie sich die Handlung zu eigen, erzählt von jemandem, den sie kennt, dem angeblich etwas Ähnliches passiert sei, und ist sich schließlich ganz sicher, dass es sich bei der Tat um einen Ehrenmord handelt. Wie so oft trichtert sie mir ein, dass auch ich ein Opfer werden kann: dann nämlich, wenn ich Tim aus dem Kindergarten heirate. Das würde meine türkische Familie niemals dulden.

Ich bin ihre Kommentare längst gewohnt und versuche, mich ganz auf den Bildschirm zu konzentrieren. Dass ich Krimis schaue, finden die Erwachsenen, denen ich davon erzähle, gar nicht gut, weil ich zu jung für solche Sendungen sei. Wenn sie so etwas sagen, fühle ich mich nicht ernst genommen, weil ich mit meinen fünf Jahren schon viel Schlimmeres gesehen habe, als im Fernsehen gezeigt wird, und ich fast alles verstehe von dem, was dort gesagt wird. Ich verstehe auch mehr von den Qualen meiner Mutter als jeder Sozialarbeiter oder Verwandte, der mich über ihre Erkrankung aufklären will.

»Ich weiß«, antworte ich dann immer und ernte einen erstaunten und zugleich irritierten Gesichtsausdruck. Denn auch wenn das Verhalten meiner Mutter für mich normal ist, habe ich inzwischen begriffen, dass sie anders ist als andere Mütter und mein Zuhause sich stark von dem meiner Kindergartenfreunde unterscheidet.

Das war jedoch nicht immer so. Am Anfang meines Lebens kam mir alles ganz normal vor. Da gab es nur sie und mich und Baba, meinen geliebten Vater …

1

Ich schließe meine Augen und hülle mich ein

Meine Eltern lernten sich vier Jahre vor meiner Geburt in Bremen kennen. Meine Mutter lebte zu der Zeit schon lange in Deutschland, sie war mit ihren Eltern und Geschwistern im Zuge der Gastarbeiterbewegung in den Siebzigerjahren aus der Türkei immigriert. Mein Vater war erst 1993 auf der Suche nach Arbeit aus Aydin nach Bremen gekommen. Eines Tages sprach er meine Mutter vor einem Blumenladen an. Anfangs war meine Mutter eher zögerlich, was ihn betraf. Einmal, als sie sich gerade erst kennenlernten, rief er sie an, doch sie war drauf und dran, aufzulegen, weil er so eine weibliche Stimme hatte. Sie erzählte mir, sie habe gedacht, jemand wolle sie auf den Arm nehmen. »Sie sind eine Frau, Sie sind nicht Ibrahim! Was wollen Sie denn von mir?«, sagte sie in den Hörer und beendete das Gespräch. Das fand ich ziemlich lustig. Ein Jahr später heirateten die beiden und lebten gemeinsam in einer Wohnung im Bremer Stadtteil Blockdiek.

Mehrere Monate nachdem ich im Herbst 1997 in Bremen geboren worden war, flogen wir in die Türkei, in das Dorf meines Vaters. Auch wenn ich noch sehr klein war, meine ich mich an das warme Gefühl zu erinnern, das mich umfing, als ich während des Hinflugs an der Brust meines Vaters schlief. Da wusste ich noch gar nicht, was mich alles erwartete. Ich wusste auch nicht, wer mich alles erwartete – der andere Teil meiner Familie nämlich, die Seite meines Vaters.

Mein Vater war bereits mit einer anderen Frau verheiratet, mit der er Kinder hatte, bevor meine Mutter und er sich kennenlernten. Das verstand ich erst, als ich älter war und meine Anneanne, meine Großmutter mütterlicherseits, mir erklärte, dass der Islam einem Mann bis zu vier Ehefrauen erlaube, auch wenn in der Türkei die Vielehe seit einer ganzen Weile offiziell verboten sei. Deshalb hatte ich auch noch einen Halbbruder aus der allerersten Ehe meines Vaters, aber der war schon groß und hatte seine eigene Familie.

Das Haus, in dem wir fortan wohnten, hatte mein Vater eigenhändig gebaut. Und man muss dazusagen: Mein Vater war weder Ingenieur noch Bauarbeiter. Es war ein mitgenommenes, schiefes graues Haus mit Rissen in den Wänden. Auch war es ziemlich klein und hatte nur ein Stockwerk. So richtig bewusst wurde mir das aber erst, als ich zehn Jahre später Kontakt zu der Familie meines Vaters aufnahm und die Vergangenheit Revue passieren ließ. Als Kleinkind war es mir egal, wie brüchig und arm unser Haus aussah. Um mich sicher zu fühlen, brauchte ich nur meine Eltern. Mein Vater war einfach mein Superheld, und ich war stolz, dass er unser Haus selbst errichtet hatte. Mir fiel es damals auch gar nicht auf, wie beengt die Räume waren. Logisch, ich war ja selbst klein. (Obwohl, eigentlich bin ich es immer noch mit meinen eins dreiundfünfzig, würden meine Freunde jetzt sagen …)

Während ich heranwuchs, dachte ich nie darüber nach, ob das Haus in der Türkei für immer mein Zuhause bleiben würde. Aber damals wünschte ich es mir. Das Haus lag in einem kleinen Dorf südöstlich von Izmir, nahe der Stadt Aydin. Die Umgebung gab nicht viel her: eine Grundschule, ein paar kleine Läden und eine Apotheke im Nachbardorf. Die Landschaft war hügelig, die Mauern heruntergekommen und einige Häuser, so wie auch unseres, einsturzgefährdet.

Ein paar Stufen hinaufklettern, und schon stand ich vor der Haustür. Der Flur war lang. Der erste Raum auf der rechten Seite war die Küche. Der Tisch stand direkt am Küchenfenster. Links in der Ecke war die Küchenzeile. Durch das Fenster hatte man den Blick in den Garten. Gegenüber der Küche befand sich das Schlafzimmer meines Vaters. Dort schlief auch die Mutter meiner Halbgeschwister. Das war schwer auszuhalten für meine Mutter, wie sie mir Jahre später erzählte. Mein Halbbruder Abi Tahir, meine Halbschwester Abla Elif, meine Mutter und ich schliefen gemeinsam in einem anderen Zimmer. Es war weiß und kahl, Matratzen lagen auf dem Boden verteilt. Geradeaus den Flur entlang gelangte man zu einem Abstellraum.

Schon bald hatte ich Freunde im Dorf – zwei Zwillingsmädchen in meinem Alter, Yonca und Yade. Die beiden wohnten nicht weit von uns, aus dem Haus heraus und an der roten Mauer entlang auf der rechten Seite. Ihr Haus war nicht so stabil gebaut wie unseres. Kartons, Bleche und Holz schützten vor Regen und Wind.

Ganz in der Nähe lebte auch Babaanne, meine Großmutter väterlicherseits. Meist aßen wir bei ihr, doch meine Mutter pflegte ihr gegenüber Misstrauen. »Sie hat dir und Baba tagelang nichts zu essen gegeben und dir alles weggegessen, du wärst fast verhungert und gestorben«, schimpfte sie. Diesen Eindruck hatte ich gar nicht, ich fühlte mich wohl in Babaannes Gegenwart.

Anders als bei der Mutter meiner Halbgeschwister. Da spürte ich bald, dass wir nicht willkommen waren. Ich war ein ziemlich überdrehtes Kind, das nicht lange stillsitzen konnte und immer draußen spielen wollte. Vor allem spielen! Das ging ihr abends natürlich gegen den Strich. Ich wollte raus, aber sie schrie mich an und sagte, dass es regne und gewittere. Als ich nicht lockerließ, schickte sie mich vor die Tür in den kalten Regen und ließ mich nicht wieder rein. Dort stand ich so lange, bis meine Mutter es mitbekam und mich reinholte.

Doch auch wenn ich die andere Frau meines Babas nicht mochte, hatte meine Mutter ein viel größeres Problem mit ihr. Sie stritten sich um Baba. Beide waren mit ihm verheiratet, und beide liebten ihn, wollten ihn aber für sich allein. Das konnte ich erst nachvollziehen, als ich älter war.

Wegen der ganzen Streitereien, die bei uns tagtäglich herrschten, versuchte ich oft, mit Baba allein zu sein oder mich anderweitig zu beschäftigen. Das Nokia-Handy meines Halbbruders Tahir faszinierte mich. Es hatte ein grün leuchtendes Display und eine Tasche, die man sich an den Gürtel schnallen konnte. Ich durfte damit spielen, auch wenn ich gar nicht wusste, wie es funktionierte. Ich drückte einfach irgendwelche Tasten, das reichte mir schon als Beschäftigung.

Meine Halbschwester Elif hatte leider nicht viel Zeit für mich, weil sie vormittags zur Schule musste. Manchmal weinte ich, weil ich mitwollte. Ich versuchte ihr hinterherzurennen, aber jedes Mal hielt mich ihre Mutter davon ab. Kaum war ich losgerannt, fing sie mich wieder ein und trug mich zurück ins Haus. Die Haustür blieb so lange verschlossen, bis meine Halbschwester nicht mehr zu sehen war. Wenn sie mittags wiederkam, machte ich große Freudensprünge und rief: »Ablam geliyor – meine Schwester kommt!« Doch auch am Nachmittag konnte Elif nur selten mit mir spielen, da sie ihre Hausaufgaben machen musste.

Wenn meine Halbgeschwister keine Zeit für mich hatten, ging ich manchmal zu meiner Großmutter Babaanne, half ihr beim Kochen und fütterte mit ihr die Hühner.

Hühner, so fand ich, waren lustige Wesen. Außer wenn sie mir das Futter aus der Hand pickten. Sie erinnerten mich komischerweise an die andere Ehefrau meines Vaters. Auch wenn sie sich vom Äußeren her überhaupt nicht ähnelten, war es dieses ständige Picken, was sie gemeinsam hatten. Das tat weh und war lästig. So fühlte sich das immer an, wenn sie fies zu mir war. So distanziert. Als könnte sie mich gar nicht leiden. Mir gefiel der Gedanke, sie mit einem Huhn zu vergleichen. Und das tat ich dann auch. So war es für mich einfacher, mit ihr zusammenzuleben.

Im Stillen dachte ich oft, dass sie die Dinge, die sie zu mir sagte, in Wirklichkeit gar nicht so meinte. Wenn meine Mutter in der Nähe war, war sie ausgesprochen nett zu mir. Aber wenn meine Mutter nur einmal wegsah, machte sie einen vollkommen anderen Gesichtsausdruck, so böse und hinterlistig. Genau wie die Hühner, bevor sie nach mir pickten. Die taten das auch nur dann, wenn meine Großmutter Babaanne nicht hinsah – dachte ich jedenfalls.

Am liebsten lag ich bei Baba in seinem Krankenbett. Mein Vater war schon vor meiner Geburt erkrankt, aber so schlimm wie in den Jahren nach seiner Rückkehr in die Türkei war es noch nie gewesen. Er hatte immer stehen und gehen können, doch jetzt mussten wir ihm einen Rollstuhl besorgen, weil er auf einmal gar nicht mehr laufen konnte. So kam es, dass ich die meiste Zeit des Tages bei ihm in seinem Bett verbrachte. Wir redeten viel. Mein Vater schrieb Gedichte und Balladen, von denen er mir erzählte. Er sagte mir oft, dass wir unsere Träume und Wünsche mit ins Grab nehmen würden.

Ich verstand noch nicht, was er damit meinte. Aber mir gefiel der Gedanke, etwas zu haben, mit dem man zusammen starb. Wie einen Teddy, mit dem man sich beerdigen ließ, so stellte ich mir das vor. Jahre später dachte ich über die Worte meines Vaters nach und fand es schade, seine Wünsche und Träume mit ins Grab zu nehmen, statt sie zu leben. Ich fragte mich, was seine Träume gewesen waren und was er sich im Leben oder vom Leben gewünscht hatte …

Baba und ich redeten auch viel über meine Mutter, die damals bereits sehr krank war. Ich hatte selbst bemerkt, dass mit ihr irgendetwas anders war als mit den Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte. Schon als Kind beobachtete ich viel, und Unehrlichkeit fiel mir sofort auf. Einmal hatten mein Vater und ich Hunger und baten sie, uns etwas zu essen einzukaufen. Sie trat vor die Haustür und blieb dort eine Weile stehen, wie wir durchs Fenster beobachten konnten. Irgendwann kam sie wieder herein und sagte, dass alle Läden geschlossen hätten. So verbrachten wir den Tag ohne Essen, und hinterher behauptete sie, mein Vater sei schuld, weil er uns hintergangen habe. Das verstand ich nicht.

Dafür gab es dann am nächsten Tag riesige Melonen, die ich ganz allein mit meinem Vater auf dem Wohnzimmerteppich aß. Hinterher war ich superstolz auf uns, weil wir so viel gegessen hatten. Mein Mund war komplett rot und mein Bauch rund wie eine Melone.

Später legte ich mich, wie so oft, für den Mittagsschlaf zu meinem Vater ins Krankenbett. An seine Schulter geschmiegt fühlte ich mich sicher und konnte wie immer gleich einschlafen.

Eine Weile darauf sagte er zu mir: »Nilüfer, du musst stark sein, denn schon bald werde ich nicht mehr an deiner Seite sein, um dich zu unterstützen.« Was genau er mit Letzterem meinte, war mir nicht klar, auch wenn ich wusste, wie krank und schwach er war. Schließlich saß er im Rollstuhl.

Ich war vier Jahre alt, als ich spürte, dass er immer kränker wurde. Innerlich war ich auf den Moment seines Todes schon lange vorbereitet, auch wenn mir das nicht bewusst war. Alles, was er sagte, klang jetzt so traurig. Wir konnten nicht mehr gemeinsam spielen, wenn er im Bett lag oder im Rollstuhl saß, und er konnte mich auch nicht mehr durch die Gegend schleudern. Das hatte er immer gemacht, als ich noch viel, viel kleiner gewesen war. Vielleicht war ich ja zu groß und schwer dafür geworden.

In den kommenden Wochen sah Baba so niedergeschlagen aus und war viel ruhiger als zuvor. Er hatte sonst immer so viel geredet, dass ich mir manchmal die Ohren zugehalten hatte, erzählte mir einmal Anneanne. Aber jetzt lag ich weiterhin die meiste Zeit an der Seite meines Vaters und lauschte seinen Geschichten, Gedichten und Balladen.

Als ich Jahre später die Verwandtschaft in der Türkei besuchte, gab mir mein Onkel ein Foto, auf dem mein Vater abgebildet war. Er schenkte es mir, und ich bewahre es seither in meiner Erinnerungskiste auf.

Auf die Rückseite des Bildes hatte mein Vater ein Gedicht geschrieben:

Yaşayanlar bir gün ölür

ölenler hemen gömülür

bu çansız hayalim ne olur

nede gömülür.

Die Lebenden werden eines Tages sterben,

die Toten werden sofort begraben.

Dieser leblose Traum wird weder sterben

noch begraben werden.

A

Baba und ich träumten beide davon, Berge zu erklimmen und mit dem Motorrad durch die Gegend zu fahren. »Das können wir jetzt leider nicht mehr tun«, sagte er eines Tages. Ich schätzte, das sagte er, weil er auf einen Rollstuhl angewiesen war, und versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Ich war die Erste, die ihn fand. Leise betrat ich den Raum, während das Knarren der Tür die Stille durchbrach. Sogleich machte sich auf meiner Haut eine Kühle bemerkbar, die meinen ganzen Körper durchdrang. Ich setzte einen Fuß vor den anderen – zögernd. Und legte mich zu dem leblosen Körper, der mir nun zu Füßen lag.

Kahl war der Raum schon immer gewesen, nur fiel mir die Leere erst jetzt auf, als ich der Stille lauschte. Ich schreckte nicht davor zurück, meinen Vater zu berühren, auch wenn es wehtat, ihn so zu sehen. Er fühlte sich kalt an. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter, so wie immer, wenn er wach in seinem Krankenbett lag und mir von seinen Geschichten und Gedichten erzählte.

Es war schwer, die Stille auszuhalten, da ich sie nicht gewohnt war. So schwer, dass ich mir die Ohren zuhalten musste und Lieder summte, die wir einst gemeinsam gesungen hatten. Und dabei machte ich mich klein. So klein, dass die Leere nicht nur den Raum füllte, sondern auch mich. Vielleicht aus Unsicherheit, vielleicht aber auch aus Angst. Ich machte mich so lange klein, bis uns jemand fand, uns die Leere nahm und die Stille durchbrach.

All die Jahre über, die ich mit meinem Baba verbracht hatte, hatte ich Zeit gehabt, um Abschied nehmen zu können. Es traf mich nicht wie ein Schlag, da ich innerlich gespürt hatte, dass es ihm immer schlechter ging und nicht mehr lange dauern würde, bis seine Kräfte ihn im Stich lassen würden. Es war dieser Moment, in dem ich mich zu ihm auf den Boden legte und wusste, dass er friedlich eingeschlafen war. Ich war in diesem Moment leer.

Die Beerdigung durften wir nicht mehr miterleben, da wir im Haus meines Vaters nicht länger willkommen waren.

Vielleicht mussten wir deswegen gehen: weil die andere Ehefrau meines Vaters uns nicht mochte und nicht damit zurechtkam, dass sie nicht die Einzige war, die ihn geliebt hatte. Ich hatte gehofft, dass die Liebe zu meinem Vater uns alle wie ein gemeinsames Band zusammenhalten würde. Aber da hatte ich mich getäuscht. Nach seinem Tod begegneten uns nur noch mehr Hass und Zorn. Als wären wir an diesem Verlust schuld gewesen.

Ein Jahrzehnt danach erzählte man mir, dass wir aus finanziellen Gründen eine Last für die übrige Familie gewesen seien und sie uns nicht länger bei sich hätten aufnehmen können. Warum hatten sie uns dann nicht in einem klärenden Gespräch gebeten zu gehen? Nein, es hatte sich alles völlig anders abgespielt. Mein Vater war tot, und sie hatten keine Zeit zu trauern, da sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, einen Streit vom Zaun zu brechen. Ich hatte wenigstens die paar Minuten allein mit meinem Vater gehabt, bevor meine Mutter uns beide fand. Mehr Zeit blieb nicht übrig. Die Mutter meiner Halbgeschwister sagte zu uns, wir sollten unsere Sachen packen. Mein Halbbruder würde uns zu meiner Großmutter fahren, der Mutter meiner Mutter, die zu der Zeit in ihrem Ferienhaus in Izmir lebte.

Das stellte sich jedoch als eine Lüge heraus. Tahir fuhr uns zwar, aber nur in die Nähe von Izmir. Wie aus dem Nichts hielt er an, hieß uns auszusteigen, reichte uns unser Gepäck und fuhr einfach weiter, ohne sich zu verabschieden. So jedenfalls schilderte es mir meine Mutter im Nachhinein. Ich selbst war viel zu durcheinander von den Ereignissen der vergangenen Stunden, um zu verstehen, was um mich herum geschah. Auch hatte ich Angst um meine Mutter, da sie schon einige Tage ihre Medikamente nicht genommen hatte, was ich daran merkte, dass sie sich komisch verhielt. Vorher war es mir nicht allzu sehr aufgefallen, da ich die meiste Zeit mit meinem Vater verbracht hatte, aber von jetzt an gab es nur noch uns zwei.

Als wir auf der Straße standen, blickte ich mich suchend um. Tahir hatte uns irgendwo an der Grenze zu Izmir ausgesetzt, ohne Essen und Trinken. Wir hatten kein Geld dabei, da uns die Mutter meiner Halbgeschwister alles weggenommen hatte. Auch ein Telefon besaßen wir nicht.

Meine Mutter brach in Tränen aus und schrie hysterisch wie ein Baby. Auf mich machte das einen sehr verstörenden Eindruck, da ich das Gefühl hatte, mit meinen vier Jahren plötzlich die Starke von uns beiden sein zu müssen. Trotz der Umstände war ich zuversichtlich, dass wir irgendwo ankommen würden, wo uns jemand helfen würde.

Die Tage, die wir auf der Straße verbrachten, waren nicht einfach. Wir mussten hinter großen Müllcontainern unser Geschäft verrichten und auf einer ausgetrockneten Wiese am Straßenrand schlafen. Darüber schimpfte meine Mutter noch lange Zeit danach: wie wir uns entblößen mussten vor anderen Menschen.