Am Abgrund wachsen dir Flügel - Daniel Aminati - E-Book + Hörbuch

Am Abgrund wachsen dir Flügel Hörbuch

Daniel Aminati

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Beschreibung

Wenn ich durch die Straßen von München, Hamburg oder Berlin gehe, bleiben die Menschen stehen und machen Fotos mit mir. Wo immer ich bin, ich werde erkannt. Die Menschen sehen den prominenten »Typen aus dem Fernsehen«, der immer einen witzigen Spruch auf Lager hat und sich zur Belustigung anderer auch mal gern selbst zum Affen macht. Sie sehen den Fitnessguru, den Clown, den Star. Sie sehen nur eine Maske.

Aber was hat all das mit Ihnen zu tun?

In diesem Buch möchte ich von meinem Weg erzählen, von meinen Ängsten und all den Kämpfen, die ich auszutragen hatte, um nicht unterzugehen. Ich möchte Ihnen Mut machen und Hoffnung schenken und dabei meine Spuren in den Herzen all jener hinterlassen, die auf der Suche nach Glück und innerem Frieden sind. Ja, ich möchte mit diesem Buch etwas bewirken. Und ich beginne mit meiner Geschichte …

»Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mich für die Liveshow in Schale werfe. Zeit genug, um ein paar Mails zu beantworten. Aber plötzlich, aus dem Nichts heraus, rast mein Herz, pocht so laut, dass ich es dröhnen höre wie Glockenschläge. Meine linke Gesichtshälfte kommt mir taub vor. Ich schlage mir panisch auf die Wange. ›Komm schon, bleib wach!‹ Ich, der immer strotzt vor Kraft, bin kurz davor umzukippen? Ausgeschlossen. Krampfhaft klammere ich mich an die Lehne meines Stuhls …«

»Das Buch wird dir ein Lächeln ins Gesicht zaubern, weil du verstehst: Ganz gleich, wie tief du gefallen bist, du kannst aus deinem Leben ein Meisterwerk machen.«

Bodo Schäfer

Autor der Bestseller »Ich kann das« und »Die Gesetze der Gewinner«

»Mit diesem Buch hebt Daniel Aminati den Schleier seiner glitzernden Welt im Rampenlicht und zeigt radikal ehrlich die andere, ja düstere Seite seines Lebens. Dieses Buch rüttelt auf, zwingt zum Hinschauen und Umdenken. Ich habe gelacht, geweint und vor allem oft mein eigenes Handeln reflektiert.«

Tobias Beck

Speaker und Bestseller-Autor von »Unbox Your Life«

»Daniel Aminatis Biografi e ist weit mehr als eine unterhaltsame Lebensgeschichte. Sie ist eine Einladung, seinem Weg zu folgen – und ein glücklicherer Mensch zu werden.«

Stefanie Stahl

Autorin des Bestsellers »Das Kind in dir muss Heimat finden«

»Mutig und ohne Eitelkeiten schreibt Daniel Aminati, wie wichtig Willenskraft ist, um die täglichen Herausforderungen des Lebens zu meistern. Seine sehr persönliche Geschichte erinnert uns daran, dass das Streben nach Glück eine unerschöpfliche Aufgabe ist.«

Dr. Wladimir Klitschko

Autor des Bestsellers »F.A.C.E. the Challenge«

»Ich hatte das große Glück, Daniel Aminati persönlich kennenzulernen. Ich bin bis heute beeindruckt von seinem Lebensweg, den dieses Buch sehr bewegend beschreibt. Er hat so viele Talente, die er uns bereits gezeigt hat, als angehender Fußballprofi, Tänzer, Musiker, Sportler, Schauspieler und Moderator. Aber vor allem inspirieren mich seine große Kämpfernatur, seine Passion und sein großes Herz, die ihm und uns all das geschenkt haben!«

Alexander Müller

CEO Greator/Gedankentanken

»Daniel Aminati war ganz oben und ist ebenso tief gefallen. Mit Willenskraft, Mut und Disziplin hat er sich jedoch wieder an die Spitze gekämpft, wo er bis heute steht. Wo andere aufgegeben hätten, hat er an sich geglaubt. Meinen allerhöchsten Respekt!«

Lars Amend

Autor der Bestseller »Where is the Love?« und »It’s All Good«

»Wow und unfassbar zugleich! Dieses Buch hat mich sehr berührt. Ich hätte nie geglaubt, was Daniel Aminati – das immer gut gelaunte Energiepaket – bereits alles durchlebt hat. Genau deshalb ist er wohl heute diese authentische und inspirierende Persönlichkeit. Er ist das beste Beispiel dafür, dass es nie zu spät ist, an sein Glück zu glauben, dafür aber auch alles zu geben!«

Sophia Thiel

Influencerin & Autorin des Bestsellers »Come Back Stronger«

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Zeit:9 Std. 11 min

Sprecher:Daniel Aminati

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Zum Buch:

»Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mich für die Liveshow in Schale werfe. Zeit genug, um ein paar Mails zu beantworten. Aber plötzlich, aus dem Nichts heraus, rast mein Herz, pocht so laut, dass ich es dröhnen höre wie Glockenschläge. Meine linke Gesichtshälfte kommt mir taub vor. Ich schlage mir panisch auf die Wange. ›Komm schon, bleib wach!‹ Ich, der immer strotzt vor Kraft, bin kurz davor umzukippen? Ausgeschlossen. Krampfhaft klammere ich mich an die Lehne meines Stuhls …«

Wenn ich durch die Straßen von München, Hamburg oder Berlin gehe, bleiben die Menschen stehen und machen Fotos mit mir. Wo immer ich bin, ich werde erkannt. Die Menschen sehen den prominenten »Typen aus dem Fernsehen«, der immer einen witzigen Spruch auf Lager hat und sich zur Belustigung anderer auch mal gern selbst zum Affen macht. Sie sehen den Fitnessguru, den Clown, den Star. Sie sehen nur eine Maske.

Aber was hat all das mit Ihnen zu tun?

In diesem Buch möchte ich von meinem Weg erzählen, von meinen Ängsten und all den Kämpfen, die ich auszutragen hatte, um nicht unterzugehen. Ich möchte Ihnen Mut machen und Hoffnung schenken und dabei meine Spuren in den Herzen all jener hinterlassen, die auf der Suche nach Glück und innerem Frieden sind. Ja, ich möchte mit diesem Buch etwas bewirken. Und ich beginne mit meiner Geschichte …

Zum Autor:

Daniel Aminati wurde 1973 in Aachen geboren, agiert seit über 30 Jahren auf der Bühne und seit mehr als 16 Jahren im deutschen Fernsehen. Auf Facebook, Instagram und TikTok folgen ihm knapp 1,6 Millionen Menschen. Er war Tänzer und Leadsänger der ersten deutschen Boyband Bed & Breakfast, die über eine Million Tonträger verkaufte, und wurde über Nacht zum umjubelten Popstar. Bis er sich mit einem Bandmitglied verkrachte und ausstieg. Daraufhin stürzte er ab, nahm Drogen und verschuldete sich hoch. Als ihm ein Schuldenberater riet, Privatinsolvenz anzumelden, lehnte er ab. Er kämpfte sich zurück, arbeitete gegen den Schuldenberg an. Mittlerweile ist Daniel Aminati Unternehmer und seit 2015 das Gesicht eines der erfolgreichsten Bodyweight-Fitness-Programme Deutschlands Mach dich krass. Er moderierte u.a. über 400 Mal das bekannteste Wissensmagazin Galileo und über 2.500 Sendungen des quotenstärksten Boulevardmagazins taff. Aktuell steht er in den Startlöchern für sein nächstes Projekt und verfilmt die Lebensgeschichte der Mannheimer Boxlegende Charly Graf.

Daniel Aminati

Am Abgrund wachsen dir Flügel

Du scheiterst erst, wenn du aufgibst

Die Autobiografie

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Verfasst in Zusammenarbeit mit Kai Psotta und Thorsten Kolle

Redaktion: Thomas Bertram, Gelsenkirchen

Covergestaltung: Anja Carina Clemens, Frankfurt am Main

unter Verwendung zweier Fotos von © Robert Sakowski

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25767-5V002

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1: Bittere Erkenntnisse

Kapitel 2: Mama

Kapitel 3: Heimkind

Kapitel 4: Was für ein Theater

Kapitel 5: Geruchsveränderung

Kapitel 6: Auf einmal ein Popstar

Kapitel 7: Wenn plötzlich niemand mehr klingelt

Kapitel 8: Neun-Jahres-Marathon

Kapitel 9: A bisserl schwarz, a bisserl weiß, a bisserl anders

Kapitel 10: Dünnes Eis

Kapitel 11: Parallelen

Kapitel 12: Vater

Kapitel 13: Zu den Sternen

Epilog

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis

Für meine Mutter

»Einer alten indischen Schöpfungsgeschichte zufolge schuf Gott zunächst eine Muschel und legte sie auf den Meeresboden. Dort führte sie kein aufregendes Leben.

Den ganzen Tag über tat sie nichts anderes, als ihre Klappe zu öffnen, etwas Meerwasser hindurchfließen zu lassen und dann wieder die Klappe zu schließen.

Tagaus, tagein gab es für sie nichts anderes als Klappe auf, Klappe zu, Klappe auf, Klappe zu, Klappe auf, Klappe zu …

Dann schuf Gott den Adler. Ihm gab er die Freiheit zu fliegen und selbst die höchsten Gipfel zu erreichen. Es existierte fast keine Grenze für ihn.

Allerdings zahlte der Adler für diese Freiheit einen Preis: Täglich musste er um seine Beute kämpfen. Nichts fiel ihm einfach so zu.

Wenn er Junge hatte, musste er oft tagelang jagen, um genügend Futter heranzuschaffen.

Aber diesen Preis bezahlte er gerne.

Schließlich schuf Gott den Menschen und führte ihn zuerst zu der Muschel und anschließend zum Adler.

Dann forderte er ihn auf, sich zu entscheiden, welches Leben er führen wolle.«

Bodo Schäfer, Die Gesetze der Gewinner1

Vorwort

Es lohnt sich immer, etwas für sich zu tun

von Stefanie Stahl

Es gibt Menschen, bei denen man intuitiv annimmt, ihnen sei das Glück wohl in die Wiege gelegt worden. Sie versprühen so viel Leichtigkeit und Lebensfreude, dass man sie sich nicht deprimiert oder schlecht gelaunt vorstellen kann. Sie bewältigen die Stufen des Lebens nicht bloß, sie hüpfen sie offenbar mühelos empor. Sie strahlen Selbstbewusstsein aus. Energie.

Daniel Aminati ist so ein Mensch. Ein Multitalent. Einer, dem offenbar alles gelingt. Seit vielen Jahren ist er nun schon ein erfolgreicher TV-Moderator. Davor war er Leadsänger der Boygroup Bed & Breakfast. Er war Tänzer, Fotomodell, Fußballer beim FC Bayern. Wer ihn persönlich kennenlernt, wird außerdem feststellen, dass Daniel auch noch freundlich und aufmerksam ist. Und unglaublich fröhlich.

Als ich ihn zum ersten Mal persönlich traf, war ich als Psychotherapeutin zu Gast in seinem Podcast »Die Glücksritter«. Ich fand diesen Titel ziemlich treffend, denn genau so wirkte Daniel ja: wie ein Glücksritter. Wir wollten uns über Faktoren für ein zufriedeneres Lebensgefühl unterhalten und darüber, was Menschen eigentlich hilft, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. In meiner 30-jährigen Arbeit als Psychotherapeutin habe ich immer wieder festgestellt, wie zentral das Selbstbild eines Menschen für alle seine Beziehungen ist. Es entscheidet darüber, mit welchen Augen er andere Menschen betrachtet und wie er sich ihnen gegenüber verhält. Ein gutes Thema also für einen Podcast für mehr Glück und Seelenfrieden!

Ich war allerdings überrascht, als Daniel mir erklärte, dass er meinen bekanntesten Ratgeber dazu nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals gelesen hatte. Und zwar nicht aus beruflichen, sondern aus privaten Gründen! Das Kind in dir muss Heimat finden lautet der Titel dieses Buches, und Daniel sagte, dass das vor einigen Jahren sein Mantra gewesen sei. Er durchlebte damals eine schwere Lebenskrise. Sein Körper – dieser sportliche Körper, auf den er sich immer verlassen konnte – versagte ihm plötzlich den Dienst, und er bekam eine Panikattacke. Damals entschied Daniel intuitiv, dass es nur einen Weg geben könne, diese Krise zu bewältigen. »Das Kind in mir muss Heimat finden«, sagte er sich selbst immer wieder und machte sich bewusst, dass er seine Vergangenheit und seine daraus resultierenden Muster reflektieren musste. Die Verdrängungstaktik, die er bis dahin praktiziert hatte, ging nicht mehr auf.

Daniel Aminatis Kindheit als schwierig zu bezeichnen, wäre eine unzutreffende Verharmlosung. Der Entertainer erlebte eine schreckliche Kindheit. Er hatte so viel Angst und Wut in sich, dass er sogar verhaltensauffällig und in ein Erziehungsheim gegeben wurde.

Was Daniel Aminati in jungen Jahren erleben musste, kann einen Menschen lebenslang traumatisieren. Unsere Kindheitserlebnisse prägen uns nachhaltig. Das liegt auch daran, dass wir alle mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt kommen, nur etwa 27 Prozent davon sind bei unserer Geburt ausgebildet. Die Art und Weise, wie unsere Eltern oder unsere Bezugspersonen mit uns interagieren, formt weitere Verschaltungen und legt eine Mindmap an. Diese Landkarte unserer Wahrnehmung bestimmt unser Selbstwertgefühl, unser Urvertrauen. Menschen, die in den ersten Lebensjahren viel Stress aushalten mussten, können stattdessen eine Art Urmisstrauen ausbilden. Sie halten sich selbst nicht für wertvoll. Sie fühlen sich anderen unterlegen, obwohl es dafür objektiv keinen Grund gibt.

Daniel Aminati beschreibt in seiner Biografie sehr offen, dass es ihm oft genauso erging. Selbst als er, von außen betrachtet, einfach stolz und zufrieden hätte sein können, beherrschte ihn häufig sein »Schattenkind«.

In jedem Menschen gibt es so ein Schattenkind. Es ist Teil unseres »inneren Kindes«: unserer Kindheitserinnerungen, die unsere Persönlichkeit prägen. Unser »inneres Kind« beeinflusst auf der unbewussten Ebene sehr machtvoll unser Selbstbild und unsere Wahrnehmung. In meinem Ansatz unterscheide ich das Schatten- und das Sonnenkind. Das Sonnenkind verkörpert die positiven, das Schattenkind unsere schwierigen Prägungen und die daraus resultierenden belastenden Gefühle.

Dass ein Mann wie Daniel Aminati – nach einer solchen Kindheit – ein machtvolles Schattenkind hatte, ist nicht verwunderlich. Es mag vielleicht auf den ersten Blick überraschen, dass er trotzdem schon in jungen Jahren derart erfolgreich war, erst als Tänzer, dann als Popstar durchstartete. Aber viele Künstler und Stars sind Getriebene. Sie ackern für die eine Sache, die ihnen Beachtung und Beifall beschert. Sie kompensieren durch die Liebe ihrer Bewunderer auch die mangelnde Liebe für sich selbst. »Der Gang auf die Bühne ist günstiger als der Gang zum Therapeuten«, schreibt Daniel Aminati. Sein Talent, seine Leidenschaft und seine Disziplin halfen ihm in vielen schwierigen Situationen.

Er hätte in seiner Biografie auch den Fokus auf seine Erfolge legen können. Aber Daniel Aminati scheut sich nicht, auch von den Passagen seines Lebens zu erzählen, die wir alle lieber vor anderen verbergen. Er schreibt über seine Abstürze, lässt uns teilhaben an seinen dunkelsten Momenten. Und weil er uns auf seinem gesamten Weg mitnimmt, können wir von seiner Erkenntnis profitieren.

Was Daniel Aminati letztendlich inneren Frieden schenkte, war nicht sein Erfolg, sondern sein Schritt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Viele Menschen scheuen diesen Schritt. Sie befürchten, dass eine Therapie aufwendig und schmerzhaft wäre. Sie haben Angst, sich mit ihrer Kindheit zu beschäftigen. Aber letztendlich kostet uns die Verdrängung viel mehr Energie und Lebensfreude.

Kindliche Prägungen sitzen tief. Aber unser Gehirn kann zu jeder Zeit lernen. Das heißt: Wir können unsere Überzeugungen ändern, indem wir das Erlernte mit einem alternativen Programm überschreiben. Daniel Aminati ist diesen Weg gegangen. Er hat sich zentralen Fragen gestellt, seine Muster reflektiert und seinen Umgang mit sich und anderen verändert und verbessert.

Seine Biografie ist deshalb weit mehr als eine unterhaltsame Lebensgeschichte. Sie ist eine Einladung, seinem Weg zu folgen – und ein glücklicherer Mensch zu werden.

Prolog

Fehlende Erinnerungen

Zum wiederholten Mal nehme ich den alten Leitz-Ordner aus dem stählernen, enzianblauen Aktenschrank. Ich stehe im Arbeitszimmer in meinem Haus in Potsdam. Wie so oft bin ich schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen, um genauer zu sein, seit 4.30 Uhr. Ich bin allein und lausche der Stille, höre lediglich ein paar Vögel zwitschern, die fröhlich ihr Liedchen auf dem Schnabel tragen, um den Tag zu begrüßen. Ein wenig von dieser Beschwingtheit würde mir jetzt auch guttun, eine Prise Mut, ein klein wenig Zuversicht.

Der Ordner dokumentiert auf mehr als 300 Seiten die Scheidungsgeschichte meiner Eltern. Ich schiebe ihn ungeöffnet und vorsichtig an den Platz zurück, an den ich ihn vor drei Tagen gestellt habe, nachdem meine Mutter ihn mir zugesandt hatte.

Der damalige Anwalt meiner Mutter stieg in die Tiefen seines Kellers, um zu ergründen, ob nach mehr als 40 Jahren die Dokumentation der Schlammschlacht überhaupt noch zu finden wäre. Der Ordner war da, leider, Gott sei Dank, ich weiß es nicht.

Jetzt habe ich den »Salat«, den unappetitlichen, vor mir liegen. Meine Neugier, die ich den letzten Monaten verspürt habe, um meiner Geschichte auf den Grund zu gehen, schwindet gegen null. Seit drei Tagen also steht dieses dämonische Brevier einfach da und stiert mich herausfordernd an. Ich habe es noch nicht geöffnet, noch nichts gelesen, aber den Ordner schon unzählige Male nervös herausgezogen, um mich letztlich doch nicht zu trauen, ihn zu öffnen und hineinzuschauen. Der Deckel ist ziemlich abgeschabt, er sieht so aus, als habe eine Maus versucht, sich hindurchzuknabbern.

Mann, warum hat sie’s nicht getan, fährt es mir wie ein Blitzschlag ins Hirn. Hätte sie doch bloß diese beschissenen juristischen Dokumente zernagt, dann würde ich jetzt nicht hier vor dieser Situation stehen, die ungeschönten Wahrheiten über mein Leben nachlesen zu können. Zu dürfen? Zu müssen? Will ich das überhaupt noch!?

Ich habe sehr vieles aus meiner Kindheit verdrängt. Typische Kindheitsbilder habe ich so gut wie gar nicht auf meiner persönlichen Festplatte abgelegt. Jedenfalls nicht sofort abrufbar. Kein kleiner Daniel auf Papas Schultern oder beim Fußballspielen. Kein Basteln mit Mama, auch kein Auspusten der Kerzen auf meiner Geburtstagstorte. Das meiste erscheint selbst bei größter Anstrengung verschwommen, unscharf und unklar. Meine Kindheit ist wie ein 18 000-Teile-Puzzle, in dem mindestens 5000 Teile fehlen.

Vielleicht will ich aber auch, dass sie fehlen, zumindest habe ich mir das über all die Jahre eingeredet. Es wäre vermutlich schmerzhaft, ein Gesamtbild meiner Kindheit und Jugend zu bekommen. Lange Zeit dachte ich, es sei einfacher, mit dem Verdrängten zu leben.

Zu den ganz wenigen Erinnerungen, die ich glasklar vor meinem geistigen Auge sehen kann, zählt ein Ereignis aus den 1980er-Jahren.

Es ist ein sonniger Frühlingstag 1987. Ich bin 14 Jahre alt, sitze hinten im Auto, einem schlammfarbenen Passat Kombi. Meine Mutter, die keinen Führerschein hat, sitzt auf dem Beifahrerplatz. Sie trägt ihr blaues Kleid mit den weißen Punkten, das sie eigentlich immer nur zu besonderen Anlässen anzieht. In Kombination mit ihren frisch frisierten Haaren sieht sie aus wie ein Schlagerstar.

Wenn sie die Zeit fand, saß sie gefühlt stundenlang mit einer R6 im Mund auf dem Küchenstuhl und hatte eine imposante Trockenhaube auf dem Kopf. Wie sie bei dem Lärm, den dieses einem luftbefüllten Astronautenhelm ähnliche Ungetüm machte, überhaupt noch Radio hören konnte, ist mir bis heute schleierhaft.

Herr Reinhardt vom Jugendamt Aachen steuert den Wagen einen Hügel in Solingen hoch, durch eine gepflegte Parkanlage, bis er vor einer riesigen Villa stoppt. Wie ein englisches Landhaus mit Türmchen sieht das Gebäude aus, ich muss an Edgar-Wallace-Filme denken. Wir steigen aus, ich blicke auf eine lang gestreckte Grünfläche, groß wie ein Fußballplatz. Der Rasen muss erst vor wenigen Stunden gemäht worden sein. Es riecht so schön, so intensiv nach Land. Einige große Bäume erstrecken sich gen Himmel. Ein Bullerbü-Idyll? Nicht wirklich. Irgendetwas stört dieses Bild.

Es ist diese gespenstische Stille. Da ist niemand, der auf der Wiese picknickt, niemand, der spielt oder lacht. Nicht einmal ein bellender Hund, der hinter einem geworfenen Stöckchen herjagt. Selbst die Vögel schweigen. Dieser Ort riecht so gut – und ist gleichzeitig so erschreckend leise und damit freudlos. Dann dringt doch ein Geräusch an mein Ohr. Es ist der Motor des Passat, in dem meine Mutter sitzt und aus dem Fenster sieht. Ihr Blick ist leer, sie hebt ganz kurz nur die Hand, ein zartes Winken, dann wendet sie sich ab. Langsam, wie in Zeitlupe, fährt das Auto davon.

Ein mir unbekannter Mann steht neben mir, wohl schon länger, seine Hand liegt auf meiner Schulter. Er sagt etwas, das ich nicht verstehe, in meinen Ohren rauscht es. Ich drehe mich um, an der Mauer des Gebäudes steht auf einem Schild »Kinder- und Jugendhilfe Halfeshof«.

Ein Erziehungsheim. Meine Mutter lässt mich allein. Verstößt mich. Sie gibt mich weg. Schon wieder gibt sie mich weg. Inzwischen ist das mein dritter Heimaufenthalt. Warum hat sie das getan? Was haben die Heimaufenthalte aus mir gemacht? Fragen, die ich mir lange Jahre nicht gestellt habe, die mich jetzt aber einholen.

Wer bin ich? Wer war ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Wo will ich hin?

Lange Zeit war mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal, wer ich bin. Und vor allem, warum ich so bin, wie ich bin. Ich wollte es gar nicht so genau wissen, sah keinen Grund, mich auf die Suche nach den verlorenen 5000 Puzzleteilen zu begeben, meine Eltern zu hinterfragen und damit auch mich selbst.

Ich bin Daniel Aminati. Meine Mutter heißt Erika Aminatey, geborene Edelmann, und kommt aus Bonn-Bad Godesberg, mein Vater, Joseph Aminatey, stammt aus Ghana in Westafrika, seine Heimatstadt Ada liegt rund 100 Kilometer östlich der Hauptstadt Accra.

Den Namen Aminatey, so steht es auch in meinem Pass, habe ich zu Beginn meiner Karriere leicht abgeändert in Aminati – mit einem »i« statt einem »ey« am Ende. Ich ließ diese Änderung vornehmen, weil der Name immer falsch ausgesprochen wurde. Keiner verstand – woher auch –, dass das »e« ein stummes war. Und weil es immer mitgesprochen wurde, habe ich meinen Nachnamen so angepasst, dass er für alle einfacher auszusprechen ist.

Bin ich also ein Mischling, ein Farbiger, ein Schwarzer? Die politisch korrekte Bezeichnung wäre PoC – Person of Color. Ich habe mit Politik allerdings nicht so viel am Hut. Ich achte vielmehr darauf, was Menschen zwischen den Zeilen sagen, und vor allem, wie. Der Respekt zeigt sich nicht in einem »Sie«. Ein respektvolles »Du« ist mir persönlich immer lieber.

Ich schweife ab.

Ich wurde 1973 in Aachen geboren. Ich habe drei Schwestern, eine Zwillingsschwester Keturah (ich bin zehn Minuten älter), eine mittlere Schwester namens Deborah (sie ist am gleichen Tag geboren wie wir Zwillinge, nur zwei Jahre später) und eine kleine Schwester, Rebecca, die vier Jahre nach uns »Großen« zur Welt kam.

In den 1990er-Jahren war ich Mitglied der ersten und einer der erfolgreichsten deutschen Boygroups, Bed & Breakfast. Seit mehr als 16 Jahren bin ich eines der prominentesten Gesichter des TV-Senders ProSieben. Ich habe in dieser Zeit mehr als 400 Sendungen des Wissensmagazins Galileo moderiert, bis man mich 2009 mit einer Packung »Merci« und einem von allen Redaktionsmitgliedern unterschriebenen T-Shirt verabschiedete. Mir kommen jetzt noch die Tränen beim Gedanken an diese liebevolle Verabschiedung.

Anschließend habe ich mehr als 2500 Sendungen des Lifestyle-Magazins taff meinen Stempel aus Leichtigkeit und Selbstironie aufgedrückt. Ich habe beim TV-total-Turmspringen und beim Promiboxen gewonnen und bei Schlag den Star mehr Siege als Niederlagen eingeheimst. Ich war der Synchronsprecher von Ferdinand dem Stier in dem gleichnamigen Kinofilm. Und ich habe mit »Mach dich krass« eines der erfolgreichsten Online-Fitnessprogramme im deutschsprachigen Raum in die Welt gesetzt.

Ich war lange Zeit ein Getriebener. Immer auf der Jagd nach Anerkennung und Geld. Nur dass mir diese permanente Unruhe überhaupt nicht so bewusst war. Funktioniert habe ich, habe alles gemacht, es war doch alles gut. Oder doch nicht?

Der Tag, an dem ich begann, mich wirklich mit mir und meiner Vergangenheit zu beschäftigen, war ein Mittwochnachmittag im Herbst 2017.

Es ist 14 Uhr und damit Arbeitsbeginn. Genug Zeit also bis zum Start der Livesendung um fünf. Eigentlich ein ganz normaler taff-Tag …

Ich sitze diesmal mit Viviane, genannt Vivi, im gemeinsamen Büro. Wir gehen die Moderationsvorschläge der Redakteure für unsere Beiträge durch, stimmen unsere Einsätze ab, nehmen Änderungen vor und passen den Text unserem Sprachduktus an, damit es authentisch klingt. Die Passagen, in denen ich spreche, markiere ich mit »D«, und die, in denen die Kollegin zum Einsatz kommt, mit »V«. Alles ist wie immer. Auch dass die Damen, ob Rebecca Mir oder Viviane Geppert, um 15.15 Uhr zuerst in die Maske gehen.

Ich sitze allein im Büro, schaue auf die Uhr, alles klar, ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich runtergehe, um mich für die Show in Schale zu werfen, Zeit genug, um ein paar Mails zu beantworten. Ich fange an, in die Tasten zu hauen, aber plötzlich, aus dem Nichts heraus, beginne ich nach Luft zu pumpen, das Atmen fällt mir schwer, wie nach einem langen Sprint bergauf. Mein Herz rast, pocht so laut, dass ich es dröhnen höre wie Glockenschläge. Dabei sitze ich ganz ruhig auf meinem Drehstuhl. What the fuck, was ist los?! Mein Körper scheint mir zu entgleiten, ich verliere die Kontrolle über ihn, Panik erfasst mich, die mit jedem Ringen nach Luft größer wird. Ich reiße den Mund ganz weit auf, weil ich das Gefühl habe, ich bekomme sonst nicht genug Sauerstoff.

Vor der Glastür meines Büros schlendert ein Redakteur vorbei, auf dem Weg aus dem Großraumbüro zum Kopierraum, er nickt mir freundlich zu, bemerkt meinen Zustand offenbar nicht. Ich zwinge mich, sein Lächeln zu erwidern, ich will nicht, dass irgendjemand mitbekommt, was hier gerade mit mir passiert.

Ich, der »Mach dich krass«-Typ, der Rebell, der sich nichts sagen lässt, der immer strotzt vor Kraft, bin kurz davor, im Büro umzukippen? Ausgeschlossen. Das darf nicht passieren. Ein völliges No-Go.

»Alter, du kippst jetzt hier nicht um«, schreit es in mir, während ich mich an die Lehne meines Stuhls klammere. Und dann schießt mir der Gedanke an meinen Vater durch den Kopf. Schlaganfall mit 59. Auch mein Großvater wurde so aus dem Leben gerissen. Die Festplatte gelöscht. Gelernte Bewegungsabläufe zerstört. Arme und Beine gehorchen nicht mehr. Zwar konnte mein Vater ein paar Dinge langsam wieder erlernen. Aber er blieb an den Rollstuhl und ans Bett gefesselt, ausgestattet mit einem Schwerbehindertenausweis, bis er 2013, mit 79 Jahren, in Düren an einer Lungenembolie starb.

Fühlt sich so ein Schlaganfall an? Kippe ich jetzt gleich vom Stuhl? Werde ich nie mehr richtig sprechen können? Meine linke Gesichtshälfte kommt mir irgendwie pelzig, taub vor. Ich schlage mir panisch mit der rechten offenen Hand auf die linke Wange. Fordere selber von mir: »Komm schon, bleib wach! Ganz ruhig atmen, gaaanz ruhig.« Ich drehe mich mit meinem Stuhl in Richtung Wand, an der ein Poster von Muhammad Ali hängt. »I hated every minute of training, but I said: Don’t quit. Suffer now and live the rest of your life as a champion«, steht dort unter der Schwarz-Weiß-Fotografie vom Sportler des Jahrhunderts. »Ich habe jede Trainingsminute gehasst. Aber ich habe mir gesagt: Gib nicht auf. Leide jetzt und lebe den Rest deines Lebens wie ein Champion.«

Das, was mich sonst motiviert, hilft mir gerade nicht weiter. Ich fühle mich eher wie jemand, der den »anchor punch«, den berühmt-berüchtigten harten, kurzen rechten Haken von Ali kassiert hat. Es ist ein etwa fünfminütiger Kampf gegen den Kontrollverlust, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt.

Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt gedacht, ich sei nicht gläubig. Vermutlich geht es vielen so, bis sie in Situationen geraten, wo Säcke voller Gold, exklusive Sportflitzer und Limousinen, Applaus, Rampenlicht oder irgendein anderer Firlefanz, der einem im Jenseits auch nicht den Hintern retten oder verschönern wird, gerne gegen ernsthaften Beistand eingetauscht werden.

Nein, der Moment, in dem du dich aufs Wesentliche besinnst und dir eine ungewohnte Klarheit in deinen Geist, in deine Glieder fährt, dich Demut überkommt, ist der Moment, in dem du Todesängste hast. Ich halte mich für spirituell, das klingt nicht so verstaubt, nicht so endgültig. Ich bin eher der Abenteurer unter den Religiösen.

Da »draußen« gibt es weit mehr als das, was wir hier auf Erden sehen, das sagte ich mir und anderen immer wieder. Da »draußen« existiert eine Kraft, die Welten erschafft.

Hör auf zu labern, verdammt noch mal, mach, dass ich hier wieder heil rauskomme. Bitte, bitte, lieber Gott, liebes Universum, bitte lieber wer auch immer.

Ich versprech’s, wenn ich jetzt hier nicht umkippe und diese Livesendung heute schaffe, werde ich etwas ändern.

Okay, Gott, guter Punkt, es ist nicht Wetten, dass ..?, es ist nur taff, aber trotzdem – come on, God, make a move.

Ich versuche, wieder ruhig zu atmen, horche in mich hinein, schaue mit glasigen Augen an die Zimmerdecke und schließe einen Pakt mit allen Engeln, die mir danach zur Seite stehen würden. Wallah, ich s c h w ö r e!

Dann ist der Spuk vorbei. Mein Atem normalisiert sich, das beklemmende Gefühl weicht, Angst und Panik verstecken sich wieder in den dunklen Höhlen, aus denen sie hervorgesprungen kamen. Ich bin erleichtert, aber auch erschöpft. Was zum Teufel war das? Holy shit! (Nicht fluchen!) Ich gehe unauffällig zur Toilette und kühle meine Handgelenke mit Wasser. Dann begebe ich mich schnurstracks in die Maske und hoffe, dass niemand irgendwas mitbekommt. Ich tue so, als sei nie etwas gewesen. Die Visagistin trägt wie immer ein leichtes Make-up auf, bemerkt nichts.

Heute schüttele ich den Kopf über mein damaliges Verhalten. Warum bin ich nicht gleich zum Arzt gegangen? Warum habe ich mich nicht durchchecken lassen?

Ich folgte meinem Instinkt, meiner inneren Stimme. Wer mich wirklich kennt, der hätte bemerkt, dass an diesem Abend mit mir etwas nicht stimmte. Mir fehlten jegliche Lockerheit und jeder Witz. Ich konnte mich aber auf mein Handwerk, das ich in all den Jahren erlernt hatte, verlassen. Ich spulte routiniert meinen Job ab. Und war froh, als das rote Licht der Kamera wieder aus war.

Ich nahm dieses für mich erschreckende Erlebnis zum Anlass, mein Leben und mein aktuelles Ich zu reflektieren. Von diesem Tag an reichte es mir nicht mehr, einfach nur Daniel Aminati zu sein. Ich fühlte, dass ich dringend etwas ändern musste. Ich wollte die Warnsignale meines Körpers nicht einfach zur Seite schieben.

Also packte ich meinen Koffer, flog übers Wochenende nicht nach Ibiza oder nach Dubai, sondern fuhr an die Ostsee. Ich fand ein kleines familienbetriebenes und herzlich geführtes Gasthaus, das Ostseehotel Wustrow. Eigentlich war ich auf dem Weg nach Zingst, wo ich vor Jahren ein Liebeswochenende mit einer Leichtathletin, einer 100- und 200-Meter-Sprinterin aus Berlin, verbringen durfte. Es war schön, sie war schön, vital, kraft- und schwungvoll, aber uns ging trotzdem schnell die Puste aus, und so blieb das Ganze eine kurze Episode.

Ich machte in Wustrow halt, weil links auf meinem Navigationsgerät die blaue See zu sehen war, und nach Zingst wären es noch 30 Minuten gewesen. Warum warten? Ich hatte nirgendwo eine Reservierung, also runter vom Gas und schnell ans Meer, die Decke ausbreiten, alle viere von sich strecken, dem Rauschen der Wellen lauschen und mit allen Sinnen diese irdischen Geschenke genießen. Du bist so wunderbar, Natur!

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, denn eigentlich hatte ich mich verfahren. Derart gedankenversunken saß ich am Steuer, dass ich links und rechts alles ausblendete. Einfach der Nase nach, das Navi wird sich schon melden, wenn’s nicht auf lautlos gestellt ist. Nun sitze ich hier in Eintracht und denke mir: Umwege führen einen manchmal doch schneller ans Ziel, als man denkt.

In dem gemütlichen früheren Fischer- und Seefahrerdorf, zwischen reetgedeckten Häusern und Strandkörben, entschleunigte ich komplett. Ich suchte und fand hier die Einfachheit, das Echte, das Normale, zwar Sand unter den Füßen, aber trotzdem Bodenhaftung. Das Handy ließ ich im Zimmer. Ich wollte keine Ablenkung. Ich wollte nach innen gehen, und damit ich nicht leer ausging, hatte ich zusätzlich zu dem Spektakel vor meinen Augen auch noch wahre Schätze dabei – Bücher! Bücher, von denen ich mir eine Anleitung erhoffte, wie ein gutes Leben funktioniert. Wie man den Weg aus der Mühle heraus und zu innerem Gleichgewicht schafft. Eines dieser Bücher war Stefanie Stahls Das Kind in dir muss Heimat finden. Ich habe dieses Buch ein paarmal gelesen und noch viel häufiger verschenkt. Dort heißt es:

»Nicht wenige Menschen verbinden mit ihrer Kindheit vorwiegend unschöne Erinnerungen, manche sogar traumatische. Andere Menschen hatten eine unglückliche Kindheit, aber haben diese Erfahrungen verdrängt. Sie können sich kaum noch erinnern. […] Doch auch wenn man die Erfahrung von Unsicherheit oder Ablehnung in der Kindheit verdrängt hat oder als Erwachsener vor sich selbst herunterspielt, so zeigt sich doch im Alltagsleben, dass das Urvertrauen dieser Menschen nicht sehr ausgeprägt ist. Sie haben Probleme mit dem Selbstwertgefühl, sie zweifeln immer wieder, ob ihr Gegenüber, ihr Partner, die Chefin oder die neue Bekanntschaft sie wirklich mag oder ob sie willkommen sind. […] Vor allem die negativen Prägungen machen uns als Erwachsene oft Schwierigkeiten. […] Wenn man diese Struktur der Persönlichkeit kennt, kann man damit bewusst arbeiten und wird viele seiner Probleme lösen, die vorher unlösbar schienen.«2

Ein anderes Buch, das ich in diesen Tagen verschlang und das mir inzwischen so »heilig« ist wie die Bibel, war Anthony Robbins’ Das Robbins Power Prinzip.3 Darin beschreibt er, wie wichtig es ist, immer wieder Entscheidungen zu treffen, und dass unsere Entscheidungen wie ein Muskel sind, den wir trainieren können. Wenn wir Entscheidungen treffen, geht es uns primär darum, Schmerz zu vermeiden oder Freude zu empfinden. Wenn wir in unserer Gefühlswelt Traurigkeit in Freude verwandeln wollen, begreifen wir bald, dass das nur mit einer »Glückskette«, mit Achtsamkeit sich selbst gegenüber geht.

Denke, sprich und handle gut.

Was, so einfach?

So einfach!

Gewusst, wie. Glück und tiefe Zufriedenheit sind erlernbar und kein Hokuspokus, aber es gibt eine wichtige Voraussetzung für den Seelenfrieden: Hör auf zu jammern und beweg deinen Arsch!

An jenem Wochenende in Wustrow hat es klick gemacht. Es war, als hätte sich eine Tür der Erkenntnis geöffnet, die, sobald ich sie durchschritt, neue Kräfte freisetzte. Diese Energie werde ich brauchen, um mich meinen Dramen, Dämonen und Träumen zu stellen. Jede Sekunde meines Lebens ist in jeder Pore gespeichert. Jede noch so verblasste Erinnerung wird irgendwann wieder an Land geschwemmt, ob du die Augen dabei geschlossen hältst oder ob du sie durch ein Fadenkreuz anvisierst. Was war, ist da; was wird, ist deine Entscheidung.

Es ist unumgänglich, das Bild meiner Kindheit irgendwann vollständig zusammenzusetzen. Die fehlenden 5000 Teile zu suchen, zu sortieren und ins Gesamtbild einzubauen. Das Verdrängte hervorzuholen, auch wenn es noch so schwer ist.

Andere Kinder bekommen irgendwann von ihren Eltern ein Erinnerungsalbum geschenkt. Hübsch gebundene Bücher, mit Titeln wie »Mama & Papa erzählen von dir«, in denen dann Sachen stehen wie: »Ende Juni hast du angefangen, dich überall hochzuziehen. Ständig bist du hingeplumpst und hattest überall Beulen. Trotzdem hast du es weiter und weiter probiert.« Oder: »Aufräumen mochtest du nicht. Schlafen auch nicht. Regeln mochtest du insgesamt nicht sooo gerne.« Wunderbare Alben für fröhliche Erinnerungen. Bei uns gab es so etwas nicht.

Mein Erinnerungsalbum ist dieser alte Leitz-Ordner, den ich vom Anwalt meiner Mutter habe und in dem sehr ordentlich der gesamte Scheidungsprozess meiner Eltern archiviert ist. Viel mehr steht mir für die Suche nach mir selbst nicht zur Verfügung. Meinen Schwestern geht es ähnlich wie mir – auch sie haben ihre Kindheitserinnerungen verdrängt, sie in der hintersten Kammer ihres Gedächtnisses verschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Sie sind genauso wie ich schutzlos umhergeirrt auf der Suche nach einem freudvollen, liebenswerten Leben, da es das Einzige ist, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Kapitel 1

Bittere Erkenntnisse

»Der schnellste Weg zu einem Engel kann der des Teufels sein.«

Unbekannt

Ich brauche noch mindestens 20 weitere Anläufe, ehe ich tatsächlich den Ordner öffne und darin zu lesen beginne. Bis mein Mut groß genug ist. Bis die Neugier die Angst überwiegt. Die Blätter darin sind allesamt stark vergilbt. Kein Wunder, sind sie doch mindestens 30 Jahre alt. Die meisten Seiten haben Eselsohren, manche sind eingerissen. Gleich die zweite, ein Schrieb vom Amtsgericht Aachen, scheint auf Butterbrotpapier gedruckt worden zu sein. Jedenfalls ist das Papier hauchdünn und die Schrift nach all den Jahren so undeutlich, dass man Ewigkeiten braucht, sie zu entziffern. Nun tauche ich also ein in die juristische Trennungsgeschichte meiner einst verliebten Eltern, die auf mehr als 300 Blättern darlegt, wie lieblos und furchtbar sie und er miteinander und mit ihren Kindern umgegangen sind. Grausam, wie oft in einer verheißungsvollen Liebesbeziehung das Ego das Zepter übernimmt. Denn natürlich stand auch bei meinen Eltern am Anfang die Liebe. LOVE – vier kleine Buchstaben, aber HATE hat genauso viele. Vater und Mutter rutschten ab auf den zweiten Weg und besiegelten damit nicht nur das eigene Unglück. Ein juristisches Hickhack, das sich über Jahre hinzog. Jahre der gegenseitigen Anschuldigung, jahrelang Terror, jahrelang HATE – not LOVE.

Es gab eidesstattliche Versicherungen, bei denen so schamlos gelogen wurde, als wäre man in einer schlechten Soap. Mit psychologischen Gutachten über uns Kinder, also mich, meine Zwillingsschwester Keturah – Ketti – sowie meine beiden jüngeren Schwestern Deborah und Rebecca. Eine Schlammschlacht, die mir wieder bewusst macht, was ich lange verdrängt habe. Nämlich unter welchen Bedingungen meine Schwestern und ich aufgewachsen sind. Welche Werte wir vorgelebt bekamen – oder besser gesagt: welche nicht. Dass bei uns Lügen zum Alltag gehörten. Und Gewalt.

Es sind die wörtlichen Aussagen aus all den Akten und Aufzeichnungen. So wie sie von den Gerichtsschreibern, den Anwälten meiner Mutter und denen meines Vaters niedergeschrieben wurden. Meist in hölzernem Amtsdeutsch verfasst, nicht schön zu lesen und ganz hässlich zu leben. Meine Mutter wird darin meist als Antragstellerin bezeichnet, mein Vater als Antragsgegner. Es sind die echten und authentischen Texte, anhand derer ich einen schwierigen Teil meiner Kindheit rekapituliere. Und die dafür sorgen, dass die Erinnerungen langsam zurückkommen, dass sich der Nebel auflöst, der all das Unschöne verdeckt hat. Teilweise kommen aber auch Dinge ans Licht, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte.

Dass mich mein Vater gar nicht wollte, habe ich nicht gewusst. Statt voll stolzer Vorfreude, versuchte er, meine Mutter zu einer Abtreibung zu überreden. Er bot keine Hilfe an. Es müsse weg, forderte er von ihr. Es sei so nicht geplant gewesen. Es mache alles kaputt. Und das »es« war ich. Auch sein Cousin knüpfte sich, so steht es in den Akten, meine Mutter vor und machte ihr schwere Vorwürfe, wie sie es wagen könne, einfach schwanger zu werden. Er bedrängte unsere Mutter so sehr, bis sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als ihn zu ohrfeigen.

Ich bin – merkwürdigerweise – gar nicht so entsetzt darüber zu lesen, dass mich mein Vater nicht wollte. Es macht mich weder wütend noch traurig. Es erklärt, warum mein Vater sich nie wirklich für mich oder für uns interessiert hat.

Er hockte am liebsten in seinem Arbeitszimmer, stundenlang. Dieser Raum war nicht groß und doch anscheinend alles für ihn. Es war, als läge hinter dieser Tür ein Ort oder eine andere Welt, in die er gesogen wurde. Und dort fühlte er sich offenbar wohler als bei uns. Wenn die Tür ihn wieder ausspuckte, war er oft ein anderer. Beim Eintreten war er meist normal leger gekleidet, die Haare verstrubbelt. Auf Socken. Unparfümiert. Wenn er dann gegen Abend herauskam, hatte er sich in Jolly Joe verwandelt, den stadtbekannten DJ. Mit perfektem Afro. Glänzendem Hemd, großem Kragen. In einen attraktiven Mann, der Blicke auf sich zog. Es war wie in einer Vorher/Nachher-Show. »Meine Damen und Herren, eben noch im Arbeitszimmer und jeeetzt auf unserer Showbüüüühneeeee …!« Er hatte sogar eine Visitenkarte, auf der stand »Jolly Joe, the No 1 of Discosound«. Er hätte in seinem Aufzug ohne Weiteres Werbung machen können für »Soul Glow«, das Afro-Haar-Produkt aus dem Eddie-Murphy-Film Film Der Prinz aus Zamunda.

Für uns Kinder war sein Arbeitszimmer absolut tabu. Manchmal, wenn er nicht da war, erhaschte ich einen Blick ins Innere, aber ich wagte es nicht, auch nur einen Schritt hinein zu tun. Zu groß war der Respekt davor, sein Reich zu betreten. Zu groß war die Angst, entdeckt zu werden. Und so stand ich mit meiner kindlichen Neugierde vor dieser Tür, die auf mich so groß und geheimnisvoll wirkte wie ein mittelalterliches Schlosstor.

Einmal aber siegte die Neugier über die Furcht …

… Ich drücke die Klinke langsam herunter und öffne die quietschende Tür einen Spaltbreit. Ich sehe eine Fototapete mit Strand und Palmen. Und afrikanische Masken aus dunklem Holz hängen da. Ich bin fasziniert, es ist eine andere Welt. Ich schiebe meinen Kopf weiter ins Zimmer, um noch mehr zu sehen. Da sind ein mächtiger Holzschrank voller Vinylplatten und ein Plattenspieler, eingerahmt von riesigen Boxen. Das also sind seine Heiligtümer!

Plötzlich reißt mein Vater die Tür auf, steht groß wie ein Riese vor mir. »Was willst du?«, schreit er. Ich bringe keinen Ton heraus, erschrocken starre ich ihn an. Er sollte doch jetzt auf der Arbeit sein? Ohne den Schlag auch nur gesehen zu haben, spüre ich ihn aber umso brennender auf meiner Wange. »Stör mich nie wieder!«, faucht er mich an und fuchtelt mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase herum. Dann schlägt er die Tür zu und schließt von innen ab.

Ich laufe in meinem Haus in Potsdam auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Ich muss Dampf ablassen. Ich werfe mich in meine Sportklamotten, bandagiere mir die Hände und gehe in die Garage, wo ein Boxsack von der Decke hängt. Ich streife mir ein paar Zwölf-Unzen-Handschuhe über. Stelle den Timer auf acht mal drei Minuten, nach jeder Runde 60 Sekunden Pause. Eine gute halbe Stunde gebe ich Vollgas – schlage gerade linke Hände, schließe mit der rechten harten Hand ab, schlage Haken, oben, unten, 2er-, 3er-, 4er- und 5er-Kombinationen. Ich bin so wütend, so angepisst. Ich lasse meine Hände fliegen, bis der letzte Gong ertönt. Erschöpft sacke ich zusammen und muss mich erst mal setzen. Mein Herz schlägt wie wild.

Ich weiß es jetzt wieder genau: Von dem Moment an hatte ich nie wieder gewagt, die Türklinke auch nur zu berühren. Egal, wie laut ich auch spielte, je näher ich diesem Zimmer kam, desto leiser wurde ich, um meinen Vater ja nie wieder zu stören.

Was mir die Lektüre der Akten natürlich nicht beschert, sind schöne Erinnerungen, Bilder, wie ich mit meinem Vater, meinem so sehr gewünschten Helden, spiele. Es kommen keine Bilder. Oder nur wenige, vielleicht eine Handvoll, die nebulös aufploppen, und diese Raritäten sollen auch nicht unerwähnt bleiben.

Einmal, als meine Eltern schon getrennt waren und mein Vater nicht mehr bei uns wohnte, hat er mich mit seinem Auto vom Fußballtraining abgeholt. Er fuhr einen roten Opel Rekord, viertürig, mit schwarzem Vinyldach. Ich bin neun oder zehn Jahre alt. Ich setze mich auf den Beifahrersitz und will mich gerade anschnallen, als er mich zu sich auf den Fahrersitz hebt. Ich darf tatsächlich lenken, während er Gas, Kupplung und Bremse bedient. Wir fahren gemeinsam, Vater und Sohn, das ist unglaublich schön.

Vater & Sohn! Jede Firma, die diesen Namen trägt, habe ich insgeheim immer beneidet, egal, ob ich diesen Titel in Werbeanzeigen oder in Filmen sah. Sollte es nicht normal sein, dass es mindestens 100 solcher Geschichten in einem Vater-und-Sohn-Leben gibt? Weil es so schön war, hier noch ein Moment der Glückseligkeit, der mir einfällt. Samstagmittags gingen mein Vater und meine Mutter hin und wieder in der Aachener Adalbertstraße in eine Kneipe, ein Guinness trinken, und wir Kinder durften ab und zu mit. Die Kneipe lag direkt in der Fußgängerzone, am Kugelbrunnen, wir konnten dort spielen und bekamen auch noch ein Eis. Und immer wenn es zu Hause losging und wir abmarschbereit im Flur standen, sagte unser Vater: »Okay. Let’s go.« Und wir Kids riefen zurück: »Let’s go.« Klingt doch irgendwie schön, nicht wahr? So, als würden wir alle an einem Strang ziehen: Let’s go.

Leider war’s das dann auch schon an »herzzerreißenden« Anekdoten, die ich mit meinem Dad verbinde.

Und meine Mutter? Meine Mum? Hier gibt es neben den bitteren Momenten, als sie mich ins Heim gab, ein paar schöne Erinnerungen mehr.

Wenn sie etwa für uns kochte, dann tat sie das mit viel Hingabe, um für uns trotz unserer schwierigen finanziellen Situation etwas Besonderes zu zaubern. Und sie verpackte unsere Geburtstagsgeschenke in Geschenkpapier, das wir uns eigentlich nicht leisten konnten. Ich weiß noch, dass sie einmal eine Carrera-Bahn, die andere Kindergarteneltern uns gespendet hatten, damit wir überhaupt etwas bekamen, aufwendig in goldglänzendes Papier einschlug. Und dann schrieb sie uns Geburtstagskarten, in ihrer schwungvollen Schrift, die etwas Künstlerisches hatte. Karten mit lieben Worten. Sie versuchte wirklich viel, um uns dann einen Tag zu schenken, an den wir schöne Erinnerungen haben würden. Auch wenn ihr Organisation und Ordnung selbst wahnsinnig schwerfielen, erschuf sie an besonderen Tagen wie Weihnachten eine Scheinwelt. Vielleicht hat sie es mit ihrem Leben genauso gemacht.

Essen war bei uns in der Familie ein großes Thema. Das Geld war immer knapp, die Mahlzeiten fielen entsprechend mager aus. Oft gab es Nudeln oder Tütensuppen. Wir haben auch häufig Brotstullen mit Margarine bestrichen und mit Zucker bestreut, weil das ebenfalls kaum etwas kostete. Fleisch gab es nur selten und wenn, dann Schweinefleisch, das war günstig, oder wenn die Nachbarn mal zu viel davon gekocht hatten und uns ihre Reste überließen. Man mag es kaum glauben: Ich rede hier von den 1970er- und 1980er-Jahren, nicht vom Nachkriegsdeutschland.

Beim Kaufmann Jacobi konnte meine Mutter anschreiben lassen. Vollständig sind die Rechnungen, die zustande kamen, bestimmt nie beglichen worden. Trotzdem schenkte uns die Familie aus Mitleid über die erlassenen Schulden hinaus sogar noch Waren, die sie nicht mehr verkauft bekam. Wir waren Profiteure der Wegwerfgesellschaft, die damals zwar noch nicht so ausgeprägt war wie heute, aber trotzdem schon ziemliche Ausmaße hatte. Was nicht ästhetisch genug war für den Verkauf, landete bei uns. Bananen mit schwarzen Stellen. Ungünstig proportioniertes Obst und Gemüse, zum Beispiel eine zu krumme Gurke. Manchmal gab es auch Erdbeeren, die nicht mehr ansehnlich genug für die zahlende Kundschaft waren. Für uns war das purer Luxus. Aus den überreifen Erdbeeren kochte meine Mutter dann Marmelade. Das war ein Fest für uns.

Es ist Abend geworden in Potsdam. Ich habe es gar nicht bemerkt, so versunken bin ich in den Aktenordner, in meiner Vergangenheit. Ich zögere, überlege jetzt doch, Ketti anzurufen, unentschlossen halte ich mein Handy in der Hand, will es gerade wieder zur Seite legen, da klingelt es – Ketti! Es gibt sie tatsächlich, da bin ich sicher, diese unerklärliche Verbindung zwischen Zwillingen. Ketti lebt im Rheinland, sie hat es geschafft, alles hinter sich zu lassen und sich eine Existenz aufzubauen. Sie hat einen tollen Mann und zwei großartige Kinder. Ich fange an, draufloszuplaudern, versuche, mich mit ein wenig Small Talk abzulenken, mich in eine bessere Stimmung zu versetzen. Aber meine Twin-Sis merkt sofort, dass mich etwas umtreibt. Als ich mit der Sprache rausrücke, ist sie auf einmal ganz still. Nach ein paar Sekunden fragt sie: »Bist du sicher, dass du das machen willst?« Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich weitergehen will, dass es mich nicht loslassen wird. Erst recht nicht jetzt, wo ich damit angefangen habe, die Dämonen unserer Kindheit aufzuspüren. Wir kommen ins Quatschen, und es tut mir richtig gut. Gemeinsames Erinnern hilft. Irgendwann habe ich Hunger und bitte Ketti, kurz zu warten, ich habe noch einen Rest Imbiss-Hähnchen von gestern, den will ich mir schnell in der Mikrowelle warm machen. Weil wir schon beim Thema sind, sagt Ketti: »Kannst du dich noch an die Hähnchen-Story erinnern?« Konnte ich nicht, aber nach ein paar Stichworten ist das verdrängte Erlebnis wieder da – und mein Hähnchen wandert nicht mehr in die Mikrowelle und auch nicht in meinen Magen, mir ist der Appetit vergangen.

Ketti und ich sind etwa sechs Jahre alt. Meine Mutter sitzt in der Küche und kümmert sich um Debbie und Rebecca, die süße vier und zwei Jahre alt sind. Ketti und ich spielen im Kinderzimmer, als wir die Wohnungstür schlagen hören. Wir stürzen in den Flur, unser Vater spaziert herein. Ich sehe eine weiße Plastiktüte in seiner Hand und stutze, ein köstlicher Duft entströmt der Tüte und macht sich in unserer Wohnung breit: Pommes! Und Grillhähnchen! Und dazu noch vom Imbiss! Wir gehen eigentlich nie essen, und selbst etwas von der Frittenbude ist aus Kostengründen selten auf dem Tisch. Es ist also ein ganz besonderes Geschenk, das Vater uns da macht. Ich strahle mit meinen Geschwistern um die Wette: super, Papa. Unser Vater sagt kein Wort, geht in die Küche, und wir tapsen vorfreudig hinterher. Er setzt sich an den Tisch, ich drängle mich rechts neben ihn, meine Schwestern streiten auf der anderen Seite. Uns allen läuft das Wasser im Mund zusammen, und ich starre auf die weiße Plastiktüte, in der sich wegen der Hitze schon Kondenswasser sammelt. Jetzt, endlich, nimmt er das in Alufolie gewickelte Hähnchen aus der Tüte. Ich freue mich einfach nur total; nicht nur auf Hähnchen und Pommes, sondern vor allem auch darüber, dass unser Vater eben doch an uns denkt. Jetzt wird er es aufteilen und sicher mir einen Schenkel geben, die Schenkel sind das Beste und bestimmt für uns Männer. Aber erst mal führt Vater das Hähnchen in der geöffneten Alufolie vor sein Gesicht und atmet tief ein. Hmmmh, lecker. Er sagt kein Wort, zelebriert die Vorbereitung auf das Festessen. Ketti hat in der Zwischenzeit für alle Teller auf den Tisch gebracht. Erwartungsvoll halten wir vier sie unserem Vater hin. Und nun bricht er endlich den ersten Schenkel ab – ich bin sicher, den kriege ich. Vater führt den krossen, goldgelben Hähnchenschenkel jedoch an seinen Mund. Alles klar, ist voll okay, soll er den ersten haben. Aber was macht er da? Anstatt abzubeißen, leckt unser Vater den Schenkel genüsslich ab. Dann legt er ihn zurück in die Alufolie. Ich starre ihn an, das verstehe ich nicht. Ich suche Kettis Blick, aber die ist schockgefroren. Vater zieht jetzt Rotze hoch, so richtig tief von unten, wie wir es nie dürfen. Dann spuckt er die ganze Ladung auf das Hähnchen, er rotzt wie ein Fußballer auf dem Platz auf das Essen. Und sagt: »Das ist meins!« Und fängt genüsslich an zu essen.

Ich sitze noch lange auf der Couch, bin hellwach, blicke durch das Terrassenfenster in meinen heimelig beleuchteten Garten und schüttele ungläubig den Kopf. Das gleiche Gefühl der Wut, des Fremdschämens und des Ekels, das mich, das uns, damals von Kopf bis Fuß ergriff, ist mit den Erinnerungen an diese unfassbare Episode wieder präsent. Was muss in einem Mann alles kaputt sein, dass er sich so vor seinen Kindern präsentiert? So gefühllos, so egoistisch, so niederträchtig, so ekelhaft. Ob er irgendwann mal vor seinem Spiegelbild gestanden und sich selbst verabscheut hat?

Am nächsten Morgen bin ich entschlossen, den Aktenordner im Altpapier zu entsorgen. Ich jogge mit dem Ordner im Rucksack zum Container, habe ihn schon in der Hand und will die Seiten zerreißen. Rede mir ein, dass es Schwachsinn ist, all das Vergangene wieder aufzurütteln. Aber dann hält mich etwas in mir davon ab. Ich denke an die Tage in Wustrow, denke an das, was ich bei Stefanie Stahl gelesen habe: »Das Kind in dir muss Heimat finden.« – »Das Kind in dir muss Heimat finden.« – »Das Kind in MIR muss Heimat finden.«Die abgewandelte Form wird eine Art Mantra für mich. Ich stopfe den Aktenordner wieder in meinen Rucksack und laufe los. Das Kind in mir muss Heimat finden. Ich sage es mir während meiner Joggingrunde immer wieder, bei jedem Ausatmen.

Zurück in meinen vier Wänden, bin ich wieder so weit, dass ich weitermachen kann. Ich mache mir einen Tee und beginne erneut zu lesen.

Selbst Außenstehenden fiel auf, wie egal wir Kinder unserem Vater waren. Er versuchte nicht einmal, vor ihnen den Schein zu wahren, ein verständnisvoller, liebender Mann zu sein, sondern leistete sich stattdessen verstörende Auftritte. Ich stoße auf die Aussage einer Erzieherin aus meinem Kindergarten, die sie in dem Scheidungsprozess vor Gericht machte:

»Einmal saßen wir zusammen im Wohnzimmer und ich forderte die Antragstellerin auf, mich zu einer Veranstaltung meines Kegelklubs zu begleiten. Sie wollte auch mitkommen. Das war nachmittags um 17 Uhr. Die Veranstaltung sollte bis 20 Uhr dauern. Bei diesem Gespräch kam der Antragsgegner hinzu und wollte der Antragstellerin das nicht erlauben. Er hat sie angeschrien und gesagt, dass das nicht infrage käme. Er hat mich ebenfalls angeschrien und uns gesagt, dass wir dort nur Männer treffen würden. So etwas würden nur Prostituierte tun. Daraufhin bin ich allein zum Kegelklub gegangen und ab 20 Uhr sofort zur Wohnung zurückgekehrt, um zu zeigen, dass die Veranstaltung auch wirklich nicht länger gedauert hat. Dort traf ich den Antragsgegner schon in einem angetrunkenen Zustand. Er hatte sich über das Ansinnen seiner Frau noch immer nicht beruhigt. Er hat sich so richtig da hineingesteigert und sie saß total aufgelöst dabei. Er sagte immer wieder, dass das nur Prostituierte täten. Seine Frau sei eine Mutter von vier Kindern und es sei unmöglich, dass sie so etwas täte. Das schrie er in einem ganz unmöglichen Ton. Er ging dabei vor uns im Wohnzimmer auf und ab und hat dabei getrunken. Es war eine furchtbare Situation. Frau Aminatey hat dazu nichts gesagt. Sie saß ängstlich im Sessel und bat mich, bei ihr zu bleiben, weil sie vor dem Antragsgegner Angst hatte. Sie wusste nicht mehr ein noch aus. Ich bin dann bestimmt eine Stunde lang bei ihr geblieben.«

Ich erinnere mich wieder an die Lautstärke, die Aggressivität und diese Bedrohlichkeit, mit der er meine Mutter immer wieder angeschrien hat, wenn ich abends schon in meinem Bett lag. An die Ohnmacht, mit der ich wie erstarrt unter der Decke lag und nur hoffte, dass Mutter nichts passiert. So viele Nächte habe ich zusammengekauert in meinem Zimmer gelegen, mit der Decke überm Kopf, die aber Vaters Zorn nicht erstickte. Ich habe meine Mutter weinen hören. Was mir half, denn dann wusste ich, dass sie am Leben war.

Einmal kam ich vom Spielen nach Hause und überraschte meine Mutter, die irgendwie versuchte, etwas vor mir zu verheimlichen. Ihre rechte Hand blutete. Selbst als sie probierte, mit ihrer linken Hand die Wunden an der rechten zu verbergen, gelang das nicht, so heftig tropfte das Blut zu Boden. Mein Vater hatte ihr die Kuppen des Zeige-, Ring- und Mittelfingers in der Tür eingeklemmt und diese mit Schwung zugedrückt. Selbst als Mutter aufschrie, ließ er nicht nach, erzählte sie mir viele Jahre später.

In den Akten häufen sich die Einträge über Gewalt in unserem Haus. Mal stand da:

»So hatte er am Sonntag mit einem Schuh auf mich eingeschlagen. Am darauffolgenden Montag stellte er sich in drohender Haltung vor mich und schlug mir rechts und links ins Gesicht. Am Mittwoch hat mich mein Mann wieder geschlagen, riss mich sogar am Arm und warf mich auf den Boden. Als ich aufstand, schlug er weiter auf mich ein, dass ich um Hilfe rief und durch einen Hausbewohner die Polizei gerufen wurde.«

Und an anderer Stelle kann ich nachlesen: »Mein Mann ist mit einer Schere auf mich losgegangen und erklärte mir, mir die Nase abschneiden zu wollen. Außerdem sagte er mir, er würde mich umbringen. Auch fragte er mich, ob ich wüsste, wie ein Friedhof aussehe.«