Am Ende bin ich - ich selbst - Patricia Hemberger - E-Book

Am Ende bin ich - ich selbst E-Book

Patricia Hemberger

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Beschreibung

Sie ist tatkräftig. Sie ist kreativ. Sie ist fleißig. Patricia Hemberger, geboren als Patricia Holländer in Speyer am Rhein, blickt voller Energie auf ihr Leben zurück. Viele Abschnitte kommen ihr vor wie ein Schleudergang zwischen Freundschaft und Gegnerschaft, Unterstützung und Betrug. Früh litt sie unter der Scheidung ihrer Eltern, wuchs unter dem strengen Regiment der Großmutter auf. Sie durchlebte familiäre Konflikte und kämpfte sich über berufliche Hürden. Mit der Ausbildung zur Verwaltungsangestellten zeichnete sich ein solides, ruhiges Berufsleben ab, doch das reichte ihr nicht. Nebenbei führte ein kleines Handarbeitsgeschäft, machte eine Ausbildung zur Gästeführerin, fing an für Designer zu arbeiten, entwarf eigene Kreationen für Tanzsportvereine. Eine Krankheit gebot ihr innezuhalten – sie stellte die Weichen neu. Jetzt ist sie ihr eigener Chef und will sich nur noch dort einsetzen, wo ihr Respekt und Achtung begegnen.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Dezember 2020

Autorin: Patricia Hemberger

Titelmotiv „Speyer am Morgen“: Dirk – stock.adobe.com

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Heike Funke

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-339-4

ISBN E-Book: 978-3-95716-358-5

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Patricia Hemberger

Am Ende bin ich – ich selbst

Für meinen Sohn T.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1 Kinder haben keine Wahl

Kapitel 2 Großmutter war schon immer eine starke Frau

Kapitel 3 Wir waren glückliche Straßenkinder

Kapitel 4 Abschied von meiner Kindheit

Kapitel 5 Ich denke sehr oft an ihn

Kapitel 6 Lehrjahre sind keine Meisterjahre

Kapitel 7 Meine schönsten Jahre in der Verwaltung

Kapitel 8 Das zweite Mal verliebt

Kapitel 9 Drei Jahrzehnte

Kapitel 10 Aus dem Traum wurde ein Alptraum

Kapitel 11 Fast ein Christkind

Kapitel 12 Die ersten Monate als Mutter

Kapitel 13 Mein Kind und sein „Stiefopa“

Kapitel 14 Es begann eine Zeit, in der ich vor mir selbst weglief

Kapitel 15 Gewissen

Kapitel 16 Ich hatte neue Ziele

Kapitel 17 Ich arbeitete, bis ich nicht mehr konnte

Kapitel 18 Von nun an ging es bergauf

Kapitel 19 Wolken verziehen sich auch wieder

Kapitel 20 Mein Leben geriet erneut aus der Bahn

Kapitel 21 Meine neue Aufgabe

Kapitel 22 Meine Beziehung ging vollends in die Brüche

Kapitel 23 Vom Regen in die Traufe

Kapitel 24 Vom Liebestraum zum Familienalptraum

Kapitel 25 Achtsamkeit will geübt sein

Kapitel 26 Ich spürte mich wieder

Kapitel 27 Mobbing vom Feinsten

Kapitel 28 Mein Hamsterrad drehte sich weiter

Kapitel 29 Jedes Ende ist ein neuer Anfang

Kapitel 1

Kinder haben keine Wahl

Wir kommen ungefragt auf diese Welt. Die Frage ist nur: Was erwartet uns auf unserem Lebensweg? Jeder Mensch ist geprägt von seiner Kindheit und jede Familiengeschichte wiederholt sich irgendwann im Laufe der Jahre in einer der folgenden Generationen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mir schon in frühen Kindheitstagen die Frage gestellt habe, warum in meiner Familie so viel gestritten wurde.

Jeder Feiertag, jedes Fest, jede gut vorbereitete Einladung von Gästen – ich weiß nur, dass ich irgendwann damit aufgehört habe, mich auf besondere Anlässe zu freuen, aus Angst, ich könnte ja doch enttäuscht werden, und vorher oder danach gäbe es „dicke Luft“. Ein Streit, der oft tagelang seine Schatten über unser Leben legte. Grauenvoll, wenn ich heute daran denke.

Meine Kindheit war bis zu meinem achten Lebensjahr sehr schön – zumindest das, was mir davon noch in Erinnerung geblieben ist. Dennoch bereitet es mir immer ein unbehagliches Gefühl, an diese Zeit zu denken. Trotzdem möchte ich davon erzählen.

Im August 1966, das Jahr, als Ludwig Erhard Bundespräsident war, einen Tag nach dem letzten Auftritt der Beatles in San Francisco, kam ich im Sternzeichen der Jungfrau zur Welt. Jungfrauen sagt man nach, dass sie mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stehen. Leider neige ich oftmals dazu, vom Boden abzuheben, besonders wenn ich von einer Idee total begeistert bin.

Meine Mutter hat meinen Vater sehr jung geheiratet, und sie hat nach kurzer Zeit entschieden, dass sie ein Kind wollte. Ich war wohl ein Wunschkind, zumindest seitens meiner Mutter. Mein Vater war damals noch beim Bund, und beide hatten noch keine eigene Wohnung. In dieser Zeit muss es für meine Eltern nicht einfach gewesen sein. Meine Mutter lebte noch bei meinen Großeltern in einer Dreizimmerwohnung und mein Vater wohnte während seines Urlaubs auch dort, oder bei seinen Eltern, die ein eigenes Haus besaßen. Dann gab es noch die Schwester meiner Mutter, die etwas jünger war. Sie wurde in das Wohnzimmer ausquartiert und musste sich fortan damit abfinden, dass das Wohnzimmer oft bis spätabends belegt war und sie ihr Klappbett erst dann herunterlassen konnte, wenn alle anderen im Bett waren.

Heute kaum vorstellbar, dass es trotzdem genug Platz für alle gab.

Meine Großeltern waren dabei sehr anspruchslos. Sie haben uns allen ein Nest gegeben – und mir ganz besonders. Ich weiß auch, dass Großmutter und Großvater dabei auf vieles verzichtet haben. Ich muss dabei erwähnen, dass ich eigentlich noch eine Tante hätte, die nur wenige Jahre älter gewesen wäre als ich. Meine Großmutter verlor ein paar Jahre vor meiner Geburt ihr drittes Kind. Heute weiß ich, dass ich für sie der Ersatz für dieses Kind war. Ich war ihr Kind. Ihre „Trizi“, ihre „Trizel“, wie sie mich oft rief. Nur wenn sie auf mich zornig war, wurde ich mit meinem Namen „Patricia“ gerufen.

Nun, ich war ganz schnell ein Oma-Opa-Kind. Wie das Leben so spielt, wurden meine Eltern bereits kurze Zeit nach meiner Geburt geschieden. Mein Vater wollte unbedingt in das Haus seiner Eltern ziehen, was meiner Mutter nicht passte. Das soll angeblich zur Trennung geführt haben. Später habe ich noch gehört, dass mein Vater sich eine andere Frau angelacht hatte. Ich muss sagen, ich habe die meisten Informationen von meiner Großmutter über diese Geschehnisse. Leider hat meine Mutter bis heute nie so richtig über diese Zeit gesprochen. Ich suche immer noch nach Antworten.

Nachdem die Ehe schließlich geschieden war, verschwand mein Vater schon wieder aus meinem Leben. Genauer gesagt: Ich habe zwar ein Bild von ihm, kenne seine Adresse, aber er ist für mich ein fremder Mann geblieben. Bis zum heutigen Tag habe ich die Hoffnung nie aufgegeben und immer wieder Versuche gestartet, diese Situation zu ändern. Leider ohne Erfolg!

Dennoch fehlte es mir nicht an Essen, Trinken, Spielsachen, schöner Kleidung. Nein, ich kann sogar sagen, dass ich immer wie aus dem Ei gepellt ausgestattet war. Da meine Mutter ganztags berufstätig war, hatte meine Großmutter die volle Verantwortung für mich. Zu dieser Zeit hatte sie noch eine Putzstelle inne und gab diese auf, da sie mich zu hüten hatte und dadurch meine Mutter weiter zur Arbeit gehen konnte. Alles was mich daran erinnert, sind immer ihre Worte in den Jahren meiner Kindheit bis hin zum Erwachsenendasein: „Wegen dir habe ich so wenig Rente. Hätte ich dich nicht großziehen müssen, dann hätte ich meine Arbeit nicht aufgegeben.“

Oft taten mir diese Worte weh. Ich habe dazu immer geschwiegen, bis zu dem Tag, an dem ich sagte: „Du hättest das doch nicht tun müssen, das war doch nicht meine Schuld.“ Obwohl ich immer wieder gegen diese Worte kämpfte – innerlich hatte ich Schuldgefühle und natürlich ein schlechtes Gewissen. Sie war sich bestimmt nicht bewusst, wie tief sich diese Worte in meine Seele eingebrannt hatten.

Auch konnte sie mir bei vielen anderen Gelegenheiten ein schlechtes Gewissen machen. Leider hat sich das wie ein roter Faden durch mein Leben gezogen. Um sie besser zu verstehen, brauchte es für mich Jahrzehnte.

Ja, das liebe, schlechte Gewissen, das habe ich noch heute in vielen Situationen meines Lebens. Was sich als Kind einprägt, das kann man als Erwachsene schwer ablegen, es sei denn, man lernt, es auszuhalten. Es ist ein langer, steiniger Weg, bis man es gelernt hat. In all den folgenden Jahren haben mich die damit verbundenen Ereignisse immer wieder verfolgt, aber später mehr dazu.

Heute weiß ich, dass meine Großmutter aus ihrem Verhaltensmuster nicht heraus konnte. Ganz besonders dann nicht, wenn sie sich in Rage geredet hatte. An Sturheit konnte ihr keiner was vormachen. Außer ich, vielleicht ein wenig. Mir wurde immerzu gesagt, dass ich so stur wie mein Vater sei. Wenn ich etwas nicht wollte, dann habe ich das nicht gemacht. Alles Aussagen von meiner Familie. Irgendwann habe ich das auch über mich gedacht. Ich bin stur und daran ist mein Vater schuld. Wer mich heute kennt, weiß, dass ich so stur gar nicht bin. Ich versuche immer, schnell einzulenken, wenn es einen Konflikt gibt. Allerdings kann ich auch stur sein, wenn ich merke, dass mein Gegenüber nur mir die Schuld zuweist und nicht merkt, dass immer zwei dazu gehören.

Auf jeden Fall habe ich eine ausgeglichene sture Seite, wie wohl jeder normale Mensch. Das braucht man auch in manchen Lebenslagen.

Meine Großmutter hat auf jeden Fall viele Dinge erlebt. Sie hat oftmals ihre Verbitterung zum Ausdruck gebracht. Ich habe das nicht immer verstanden. Mittlerweile ist sie 97 Jahre alt und trotz vieler Schlaganfälle und ihrer Demenz immer noch eine stattliche Frau. Man sieht ihr das hohe Alter und die Strapazen ihres Lebens nicht an. Niemals hätte ich gedacht, dass ich über alles schreiben kann, was sich in unserer Familie zugetragen hat. Heute kann ich es, weil ich mein Leben geordnet habe. Nicht alleine, wie ich noch berichten werde, sondern über viele Umwege und mit großer Unterstützung von Menschen, die mir nie gesagt haben, was ich ändern soll, sondern die mir klargemacht haben, dass ich das Recht dazu habe, etwas zu ändern.

Dabei musste ich lernen, wieder jenes schlechte Gewissen auszuhalten. Und gar nicht selten, eigentlich fast täglich. Heute bin ich weitgehend frei von solchen Zwängen. Ich habe das Schönste auf Erden gefunden – meine Zufriedenheit. Ich war ein ruheloser Mensch, der an vielen Strängen gezogen hat. Manchmal habe ich noch Träume, die von meiner Kindheit handeln. Ich bin sowieso ein Mensch, der ganz viel träumt. Viele Träume sind dabei so real, als wäre ich erst gestern in der entsprechenden Situation gewesen. Wie man so schön sagen kann: „Ich ackere da richtig in der Nacht“. Am Tag bin ich oftmals erschöpft von diesen Erinnerungen. Gerade jetzt, wo ich mich mit all dem nochmals beschäftige, habe ich das Gefühl, dass ich alles noch einmal im Traum durchlebe. Dabei gibt es natürlich auch schöne Träume. Einer zum Beispiel hat mich zum Lachen gebracht; allerdings weiß ich nicht, ob ich es selbst erlebt habe oder ob mir nur durch die Erzählung meiner Familie dieser Traum kam.

Ich sah meine Großeltern, meine Mutter und mich in unserer Küche. Meine Großmutter hatte eine Küchenschürze an, die sie immer im Haus trug, wenn sie daheim war. Es gab Knödel und Schweinebraten. Irgendwie war ein Streit ausgebrochen, und meine Großmutter schimpfte gewaltig, bis Großvater wohl der Kragen platzte. Er hatte gerade einen Knödel mit der Gabel aufgespießt und wollte etwas entgegensetzen. In seiner Wut berücksichtigte er wohl nicht die Flugkraft eines Knödels. Der Knödel flog samt sämiger Soße mit voller Wucht durch die Küche und blieb für kurze Zeit an der neu tapezierten Küchenwand hängen, bis er schließlich ganz langsam an der Wand nach unten rutschte. Was für ein Ärger sich da anbahnte, kann man sich vorstellen. Großmutter benutzte Worte, die ich besser nicht wiederhole, und ich weiß, dass alle anderen Anwesenden, die lachten, auch nicht verschont blieben.

Nun, das war zwar mein Traum, aber passiert ist es wirklich, und lustig war es schon. Nach Jahren konnte sie auch darüber lachen.

Ein anderer Traum war für mich ganz schrecklich, zumindest als Kind. Ich wurde schon mit knapp sechs Jahren ins Ballett geschickt. Da ich daheim immer zur Musik herumgetanzt bin, war es naheliegend, dass das Kind professionell tanzen gehen muss. Das kostete zu der damaligen Zeit nicht wenig Geld, und meine Großmutter hat Jahre danach immer wieder erwähnt, wie teuer meine Ballettstunden gewesen seien. Nun, auf jeden Fall war ich am Anfang nie so richtig begeistert, denn ich musste immer dann von der Straße geholt werden, wenn wir Kinder so schön herumstreunen konnten. Ich habe mich oft mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und es erst einmal mit einer Heulattacke probiert. Das half alles nichts. Wer meine Großmutter zu der Zeit kannte, der weiß, dass sie der lieben Pflicht nichts entgegensetzte. Großmutter ging jede Woche mit mir in die Stadt zur Ballettschule und wartete während der Stunde in einem Raum in der zweiten Etage.

Eines Tages passierte das Peinlichste, was einem auch nur passieren kann: Ich hatte schon immer Angst vor Turngeräten, auch heute noch. Im Ballettsaal wurden Ringe von der Decke herabgelassen. Wozu das gut sein sollte, weiß ich bis heute nicht. Das hatte für mich wenig mit Tanzen zu tun – ich wollte ja schließlich keine Trapezkünstlerin werden. Mehrfach rief mich meine Ballettlehrerin auf, dass ich die Übung, die ein anderes Kind vormachte, nachmachen sollte. Alleine beim Zuschauen wurde mir schlecht. Nachdem ich nicht reagiert hatte, wollte mich diese Frau am Arm packen. Sie hatte nicht verstanden, dass ich einfach nicht wollte. Da mein Kopfschütteln nicht reichte, ließ ich „es“ schließlich laufen. Mir rann das „Pippi“ die Beine entlang, und ich stand da, wie zur Salzsäule erstarrt. Meine Großmutter bekam erst etwas davon mit, als eine Frau in den Aufenthaltsraum der Angehörigen stürmte und in Pfälzisch sagte: „Do hot äni in de Ballettsaal gepinkelt.“ Dabei ging sie einen Putzeimer und einen Wischmopp holen. Großmutter sagte nur: „Des werd doch net unseri gewese soi?“ Natürlich war es ihre. Auf jeden Fall habe ich Wochen danach noch den Spott der anderen aushalten müssen.

Wenn ich aufwache, denke ich oft: „Gott sei Dank, nur ein Traum.“ Ich kontrolliere dann meist gleich mein Bett – man kann nie wissen.

Kapitel 2

Großmutter war schon immer eine starke Frau

In Mutterstadt, in der Pfalz, kam meine Großmutter 1922 zur Welt. Ihr Vater war Bahnassistent, während der Eintrag ihrer Mutter im Melderegister als „gewerblos“ benannt ist. Das bedeutete, dass sie Hausfrau war. Die Familie wohnte und arbeitete im Bahnhofsgebäude. Meine Großmutter war das fünfte Kind und somit das „Nesthäkchen“. Sie wuchs in einem kleinen pfälzischen Dorf auf, in „Goise“ (Geinsheim), wie die Pfälzer sagen. Geinsheim hat seinen Namen von der Bezeichnung „Gäu“, nichts weiter als eine flache Gegend, die sich zwischen der pfälzischen Weinstraße und dem Rhein erstreckt. Hilda, meine Großmutter, die später immer Hilde gerufen wurde, wuchs zu einem gesunden Kind heran. Sie hatte langes Haar und trug immer zwei Zöpfe. Schnell hatte sie den Namen „Hildchen mit Zöpfen“ inne. Bis ins hohe Alter haben wir sie manchmal so gerufen. Sie konnte darüber immer schmunzeln.

Manchmal hat sie mir Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Ich höre ihr heute noch gerne zu, auch wenn ich mehr Fragen stellen muss, damit sie überhaupt in ihrer Demenz an diese Zeiten Erinnerungen abrufen kann. So hat sie mir zum Beispiel von Arras erzählt, einem Hund, den einer ihrer Brüder aus Frankreich mit nach Hause gebracht hatte. Arras war nicht gerade ein einfacher Hausgenosse. Er hatte wohl Schlimmes erlebt und ließ nicht jeden an sich heran. Meiner Großmutter fraß er aus der Hand. Eines Tages gab es eine große Aufregung im Haus: Der Hund hatte sich am Fahrkartenschalter des Bahnhofs zu schaffen gemacht und einen Großteil der Fahrkarten zerbissen. Tagelang saßen meine Urgroßeltern da, um die Fahrkarten zu kleben. Die Fahrkarten hatten einen hohen Wert und Urgroßvaters Stellung stand dabei auch auf dem Spiel. Von da an durfte der Hund nicht mehr ins Haus und wurde draußen angebunden. Außerdem hatte er sich öfters aus dem Staub gemacht, um die Kaninchen des Nachbarn zu jagen.

Eines Tages riss er sich los und rannte meiner Großmutter nach. Sie durfte ab und zu mit dem Zug zur Schule nach Neustadt fahren. Die Leute im Zug lachten, als sie sahen, dass ein schwarz-weißer Mischling neben dem Zug herrannte. Das war damals noch möglich, angesichts des Tempos dieser Züge. Auf jeden Fall hatte meine Großmutter keine andere Wahl – sie stieg in Neustadt aus, nahm den Hund auf den Arm und band ihn mit einem Gürtel ihrer Jacke vor der Schule an einem Geländer an. Als die Schule zu Ende war, machte sie sich auf den Heimweg. Wie sich herausstellte, war das nicht ganz unproblematisch. Sie musste Arras nahezu den ganzen Weg tragen und es waren nicht gerade wenige Kilometer. So ein Hund kann von Minute zu Minute schwerer werden. Nachdem ich meine Großmutter gefragt hatte: „Oma, was ist dann später aus dem Hund geworden?“, antwortete sie mir: „Wir haben ihn irgendwann in einem Graben gefunden. Er wurde erschossen. Wir vermuten, dass es der Nachbar war, der war Jäger.“

„Wie war es bei euch in der Familie im Krieg?“, fragte ich sie oft. „Es war furchtbar; oft musste ich mich auf dem Heimweg von der Schule mitsamt dem Fahrrad in den Graben werfen. Ich wusste nie, ob ich lebend daheim ankomme. Ich hab’ dann immer gehofft, dass die Bomben nicht in meiner Nähe einschlagen.“

„Was war mit deinen Brüdern? Du hast mir gesagt, dass zwei davon im Krieg gefallen sind.“ „Ja“, erzählte sie mir. Dabei hielt sie eine Minute inne. „Das war entsetzlich. Erst kam die eine Nachricht Anfang August, dass Karl, und im Oktober 1944 die zweite Nachricht, dass Heinrich gefallen war. Meine Mutter hat das nicht mehr verkraftet und wir mussten sie beinahe in die Klapsmühle einliefern lassen.“ Damit meinte meine Großmutter die Psychiatrie Klingenmünster/Landeck.

„Wie ist das dann weitergegangen bei euch, wenn deine Mutter so krank war?“ Großmutter fuhr mit ihren Erzählungen fort:

„Ich habe halt viel mitgeholfen. Nachdem ich an der Fahrkartenausgabe am Neustadter Bahnhof gearbeitet hatte, habe ich nach Feierabend immer daheim im Haus weitergearbeitet. Meine Mutter konnte teilweise nichts mehr machen. Sie hat sich aus dem Leben herausgezogen und das hat sich auch nicht mehr gebessert. Der Verlust meiner Brüder hat sie kaputtgemacht. Meine beiden anderen Geschwister haben dabei besser abgeschnitten. Meine Schwester war immer schon die Diva in unserer Familie und hat sich bei allem die Rosinen gepickt. Sie hat sich eher selbst noch von allen bedienen lassen und uns weniger unterstützt. Meine Schwägerin und mein Bruder haben sich da eher gekümmert, hatten aber selbst ihr Leben zu bewältigen.

Ich war verlobt in dieser Zeit. Mit einem tollen Burschen im Ort. Irgendwann habe ich ein Mädchen getroffen, die behauptet hat, schwanger von ihm zu sein. Ich habe sofort die Verlobung gelöst, als sich herausstellte, dass es die Wahrheit war. Das habe ich ihm nicht verzeihen können. Ich habe dann halt deinen Opa geheiratet.“

Ich wurde stutzig und hakte nach: „Wieso ,halt‘?“ „Ja, eigentlich wollte ich ihn nicht richtig, so einen schwarzen Kerl.“ Damit wollte sie sagen, dass mein Großvater rabenschwarze Haare und dunkle Augen hatte. Außerdem war er behindert. Er hatte die Kinderlähmung gehabt und davon eine Gehbehinderung.

Ich entnahm den Worten meiner Großmutter, dass mein Großvater nicht gerade die erste Wahl war. „Du hast ihn aber dann doch geheiratet. Musstest du heiraten?“

Anstatt meine Frage zu beantworten, sagte sie: „Ich bin dann in die Stadt gezogen und habe mit ihm nach der Hochzeit den Lebensmittelladen seiner Eltern geführt.“ Ich merkte, dass sie auf meine klare Frage keine Antwort geben wollte – warum, erfuhr ich erst viele Jahre später. Stattdessen redete sie weiter von ihrer Zeit mit Großvater:

„Du kannst dir vorstellen, dass ich da viel geschuftet habe. Außerdem bin ich auch zu meinen Eltern nach Hause und habe bei ihnen geputzt. Als später deine Mutter und deine Tante zur Welt kamen, bin ich manchmal mit dem Kinderwagen von Speyer nach Geinsheim gelaufen. Die eine lag im Kinderwagen und die andere hatte ich auf der Querstange des Wagens stehen, wenn sie nicht mehr laufen konnte.“ Damit war meine Mutter gemeint, denn sie war die Ältere von beiden. „Und manchmal bin ich auch einfach daheim weggelaufen, wenn mich dein Großvater geärgert hat. Glaub mir, ich wollte ihn öfters verlassen. Wir hatten es nicht leicht in seiner Familie. Über uns haben sein Bruder und seine Schwägerin gewohnt und dann waren auch noch die Schwiegereltern beide im Haus. Ich habe meine Schwiegermutter sehr gemocht und sie gepflegt, bis sie gestorben ist.“

„Wie lief das mit dem Laden in dieser Zeit?“, fragte ich sie. „Nun, wir hatten natürlich Schwierigkeiten, den Laden für die Kundschaft zu füllen. Die Waren wurden weniger und uns haben die wichtigsten Sachen gefehlt. Mehl und Butter zum Beispiel. Dein Großvater ist dann immer zu den Bauern im Umland und hat versucht zu tauschen. Wir haben Buttermarken von den Freunden und Bekannten gesammelt und die natürlich dann für Butter eingelöst. Ich habe dann nebenbei für die Leute gestrickt. Am Anfang mit der Hand, und später habe ich mir eine Strickmaschine zugelegt. Ich habe oft bis weit über Mitternacht an den Röcken und Jacken gesessen. Die Kostüme habe ich mit ganz dünnen Stricknadeln gestrickt, größtenteils mit der Hand, und sie dann gegen Mehl oder andere Lebensmittel getauscht. Das war eine harte Zeit für uns. Ich weiß nicht, wie ich das alles geschafft habe.

Das Schlimmste hat uns aber die Familie deines Großvaters angetan. Wir hatten kein schlechtes Geschäft. Opa hat nebenher noch Musik gemacht. Das heißt, er hat Orgel und Trompete gespielt. Damit konnte er nebenher noch ein bisschen Geld verdienen. Er hat zum Beispiel im Dom und in anderen Kirchen gespielt, oder auf Beerdigungen in der Trauerhalle. Anfangs konnte er auf dem Klavier von seinen Eltern spielen, das in der Wohnung seines Bruders stand. Irgendwann haben sie ihm das Klavierspielen nicht mehr gestattet. Wir hatten kein Geld für ein neues Klavier. Dein Großvater hat dann ein Klavier gesehen und mir davon immer vorgeschwärmt, und dann hab ich gehandelt und das erste Mal in meinem Leben quergeschrieben.“ Ich fragte sie: „Querschreiben, was heißt das?“ Sie antwortete mir: „Ich habe einen Wechsel unterschrieben, damit er wieder üben konnte. Es hat lange gedauert, bis ich das Klavier abbezahlt habe.“

Wie ich später noch gehört habe, war der Familientwist auch auf der Seite meines Großvaters nicht mehr zu ändern. Beide Fronten hatten sich verhärtet und keiner war zunächst gesprächsbereit. Meine Großeltern wurden sozusagen von der eigenen Familie aus ihrem Geschäft hinausgewiesen. Abgesehen davon hat sich jeder an der Geschäftskasse bedient, zum Beispiel die Schwester meines Großvaters. Ihr Studium wurde zum Teil von den Einnahmen aus dem Geschäft finanziert. Auch die Lebensmittel wurden großzügig in Anspruch genommen.

Die Geschwister meines Großvaters haben meinen Urgroßvater lange bearbeitet, damit er dem Verkauf des Hauses zustimmt. Meine Großeltern erfuhren erst etwas davon, als der Verkauf schon längst besiegelt war. Sie wurden einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Großvater hatte sich darüber sehr aufgeregt und bekam dadurch wohl seinen ersten Herzinfarkt. Sie verloren ihre ganze Existenz, denn meine Großeltern waren kurz nach dem Verkauf arbeitslos und mussten auch noch aus dem Haus ausziehen.

Nachdem sie den Laden geschlossen hatten, zogen sie mit ihren Kindern in die Wohnung einer Wohnungsbaugesellschaft. Mein Großvater kannte einige Leute im Stadtrat und hatte dadurch die Chance, durch deren Beziehung als Bademeister im städtischen Freibad zu arbeiten, und meine Großmutter hatte von nun an die besagte Putzstelle in einer Schule. Einige Jahre später konnte mein Großvater als Buchhalter in einem anderen Betrieb arbeiten.

Großmutter sagte mir einmal: „Ich kann das heute noch nicht vergessen, was die uns angetan haben.“ Damit meinte sie nicht nur die Familie ihres Mannes, sondern auch ihre eigene Familie. Als meine Urgroßeltern in Geinsheim gestorben waren, wollte meine Großmutter das ihr versprochene Vertiko haben. Ihre Mutter hatte ihr extra einen handschriftlichen Zettel auf die Rückseite des Möbelstücks geklebt. Was das Erbe betraf, ging meine Großmutter leer aus. Selbst die letzte Erinnerung an ihre Mutter wurde ihr genommen, während ihre beiden Geschwister sich heiter bedienten. All diese Vorkommnisse haben meine Großmutter verbittert. Sie hat sich immer in der Opferrolle gesehen und sie wahrscheinlich auch immer eingenommen.

Ich weiß noch, wie oft sie mir erzählt hat, dass sie so gern Floristin geworden wäre. Sie liebte alles, was mit Blumen und Gartenarbeit zu tun hatte, und konnte nur privat auf dem Balkon und später im eigenen Garten ihren Traum ausleben.

Kapitel 3

Wir waren glückliche Straßenkinder

Ich wuchs in unserer Straße mit vielen Kindern auf. Wir freuten uns immer, wenn wir das Klingeln des Eiswagens hörten. Weil er schon einige Straßen vor meinem Zuhause ankam, wurden wir von den Kindern, die dort wohnten, informiert, dass er bald auch auf dem Weg zu uns sei. Ich kann mich daran erinnern, dass ich immer Angst hatte, nicht schnell genug zu sein. Außerdem haben sich die großen Kinder meist vorgedrängt und uns Kleinen zurückgestoßen. So stand ich dann oft zappelnd auf der Wiese vor unserem Haus und schrie nach oben: „Oma, der Eismann kommt. Schnell, schnell … wirf das Geld herunter.“ Großmutter hatte schon eine kleine Tüte mit 20 Pfennig hergerichtet. Da der Eismann uns gut kannte, bekamen wir Kinder manchmal eine Extraportion Eis. Besonders toll war es, wenn wir ein Eis in einer Muschel bekamen. Obwohl das bestimmt von der Herstellung gleich war, schmeckte das Eis darin für mich immer besser als in einer Tüte.

Wir waren schon eine wilde Bande! Wir bauten im Gebüsch Lager, stibitzten Obst von den Bäumen und zum Leid der Kleingärtner auch manchmal aus deren Gärten. Wir nahmen allerdings nie viel davon, da wir dachten, das wäre dann kein Diebstahl, sondern die Leute könnten sowieso nicht so viel davon essen. Einer aus unserer Bande erzählte uns, dass ein Mann aus der Kleingartenanlage eine Kolik bekommen habe. Wir waren uns sicher, dass wir dazu beitrugen, dass die Leute keine Kolik bekommen, wenn wir einen Teil des Obstes essen würden.

Mit in unserer Reihe war Sabine. Sie wurde immer von allen „Blutsabine“ genannt. Sie hatte feuerrote Haare und ihr Gesicht war voller Sommersprossen. Dann gab es noch meine Freundin Sylvia und meinen Sandkastenfreund Bernd. In Bernd war ich ein wenig verliebt. Er war etwas älter und half, wenn wir Probleme hatten. Als er größer wurde, fand ich ihn blöd, denn er wollte mit uns nicht mehr spielen, und ich sah, dass er mit einer Freundin herumlief. Von da an fand ich alle Jungs blöd.

Auf der Straße lernte ich das Rollschuhfahren. Lange Jahre hatte ich noch Narben an den Knien, denn wenn ich nicht schnell genug von der Fahrbahn auf den Gehweg ausweichen konnte, fiel ich hin. In dieser Zeit verbrauchte ich Unmengen von Heftpflastern. Ab und zu kochten wir im Sandkasten. Wer kocht, muss natürlich auch von seinem Essen probieren. Meine Freundin Sylvia war etwas älter und hielt sich leider auch oft für die „Bestimmerin“ unter uns. Wer sich ihren Anweisungen widersetzte, der bekam Ärger mit ihr, und den wollte man ja nicht. So kam der Tag, an dem ich einen „gebackenen“ Kuchen aus Sand, Blättern, Würmern und sonstigen Zutaten probieren musste. Ich weiß nur noch, dass ich kaum noch atmen konnte. Die Sandkörner steckten mir in allen Ritzen meiner Zähne, und da ich mir nicht zu helfen wusste, rannte ich nach Hause. Was für ein Ärger! Großmutter tobte: „Dir gebe ich was, den Dreck zu essen. Da pinkeln Hunde rein, und du hast nichts Besseres zu tun, als das zu essen. Wer hat das wieder angezettelt?“ Sie wusste, wer das Kommando gegeben hatte. Nachdem sie mir den Mund mit Wasser und Kernseife ausgewaschen hatte, ging sie ans Telefon und ergoss ihren Ärger erst einmal über die Mutter meiner Freundin. Folge dieses Dramas war, dass meine Freundin auch Ärger bekam und mich tagelang nicht anschaute, weil ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich konnte einfach nicht lügen. Wenn ich meiner Großmutter etwas verheimlichen wollte, dann sagte sie immer: „Du bekommst rote Ohren … Stimmt das, was du eben gesagt hast?“ Ich fing an zu grinsen und erzählte ihr die Wahrheit.

Auch das Radfahren lernte ich von den anderen. Der Vater meiner Freundin setzte mich eines Tages auf ein Fahrrad und rannte nebenher. Nachdem er fast eine Stunde das Rad von hinten festgehalten hatte, war er mit den Nerven am Ende. Er ließ mich einfach los, und ich radelte alleine, was das Zeug hielt. Von nun an waren wir endlich alle in unserer Bande schnell genug unterwegs. Vorher musste mich oft jemand auf dem Gepäckträger mitnehmen. Das war nicht so toll, denn mir tat das Hinterteil immer weh, wenn wir um die Häuser radelten.

Wir haben alles Mögliche gesammelt, so auch Weinbergschnecken. Eine von uns hatte gehört, dass man mit Weinbergschnecken viel Geld verdienen kann. Wir hatten schon lange den Plan: Wenn wir groß sind, wollten wir gemeinsam ein Geschäft eröffnen. Nachdem wir zwei riesige Tüten Schnecken gesammelt hatten, wollten wir uns erst einmal in unserer Nachbarschaft Kunden suchen. Also liefen wir die Häuser ab und klingelten an fast jeder Haustür. Leider ohne Erfolg. Wenn wir geglaubt hatten, wir würden die Erwachsenen erfreuen, dann wurde unsere Hoffnung schnell zunichtegemacht. Auch ich musste natürlich daheim nachfragen. Also klingelten wir bei meiner Großmutter und ich hielt ihr ganz stolz eine Tüte entgegen. Zunächst war sie sprachlos, dann sagte sie angeekelt: „Pfui Teufel, was schleppt ihr hier an? Bringt die Viecher sofort dorthin zurück, woher ihr sie habt.“ Ich war enttäuscht von ihr. Wenigstens sie hätte unser Geschäft unterstützen können. Selbst durch mein wehleidiges Betteln ließ sie sich nicht erweichen. Wir zogen davon und überlegten, wo wir die Schnecken hinbringen könnten. Da wir schon einige Stunden an der frischen Luft waren und unsere Füße wehtaten, wurden wir faul. Also beschlossen wir, die Schnecken auf die Mülleimer unserer Straße zu verteilen. Am übernächsten Tag sollte die Leerung sein, und wir wussten, dass Fressen für die Schnecken in den Abfällen war. So sahen wir das als gute Idee an. Wir ließen die Deckel offen, damit sie Luft bekamen. Glücklich sind wir dann alle nach Hause gegangen.

Am nächsten Tag war in der Straße eine große Aufregung. Die Schnecken klebten überall um die Mülleimer verteilt, und alles war mit schleimigen Spuren der Schnecken versehen. Die Nachbarn waren empört, und sie wussten natürlich, dass wir Kinder an diesem Umstand beteiligt waren. Alle wurden daheim befragt. Die anderen logen „was das Zeug hielt“ und behaupteten, dass sie die Schnecken nicht in die Eimer getan hätten. Ich dagegen hatte wieder einmal die Wahrheit gesagt – denn ich konnte ja nicht lügen.

Es gab auch eine tolle Geschichte aus meiner Grundschulzeit. Ich bekam schon recht früh sehr schöne Bilder als Belohnung für meine schöne Schrift und meinen Fleiß. Als wir eines Tages von unserer Klassenlehrerin gefragt wurden, wer von uns regelmäßig in die Kirche geht, haben sich alle gemeldet, außer mir.

Unsere Lehrerin fragte mich dann erstaunt: „Warum geht ihr nicht regelmäßig? Du gehst schließlich nächstes Jahr zur Kommunion“. Ich antwortete ihr: „Meine Mama arbeitet die ganze Woche und am Wochenende machen wir dann immer Familienausflüge. Außerdem gehe ich manchmal mit meinem Großvater unter der Woche in eine Kirche.“ Als ich das mittags zu Hause erzählte, sagte Großmutter zu mir: „Warum hast du nicht auch den Finger gestreckt, jetzt wird sie dir bestimmt Ärger machen.“ „Aber ihr habt immer gesagt, man soll nicht lügen.“ Ich wusste in dem Moment nicht mehr so wirklich, was nun richtig oder falsch ist. Großmutter erklärte mir, dass man manchmal eine Notlüge gebrauchen darf. Sie vermutete, dass meine Lehrerin sich das gut gemerkt hatte. Sie galt als sehr bigott. Großmutter sollte recht behalten. Einige Wochen später hatten wir Handarbeitsunterricht. Da ich lange vor der Schulzeit häkeln und stricken konnte, hatte ich schon meine eigene Technik, die Nadeln zu halten. Meine Klassenlehrerin versuchte, mir beizubringen, wie man die Häkelnadel anders hält. Ich sagte ihr, dass ich das so nicht kann und auch nicht machen werde. An dem Tag bekam ich kein Bildchen mehr und an einem anderen Tag schickte sie mich sogar aus dem Flötenunterricht, weil ich nicht gut genug geübt hatte. Als ich daheim heulend ankam, wollte Großmutter mit mir am nächsten Tag zur Schule gehen. Gesagt, getan. Sie stellte meine Lehrerin zur Rede und machte dadurch meine Situation noch schlimmer. Sie sagte wortwörtlich: „Hören Sie zu, dieses Kind kann schon häkeln, und es ist egal, ob sie die Nadel gerade oder krumm hält, schließlich ist das Ergebnis wichtig. Außerdem vermute ich, dass Sie selbst nicht mehr als drei Muster beherrschen, denn ich sehe an Ihnen nie was Selbstgestricktes oder was Genähtes. Ich möchte wissen, wie Sie Handarbeitslehrerin geworden sind.“ Meine Lehrerin konnte gar nicht erst antworten, denn Großmutter machte weiter: „Und was den Flötenunterricht betrifft, bin ich froh, dass die Kleine nicht mehr zu Ihnen muss, denn mein Mann kann ihr mehr beibringen als Sie.“

Von da an gab es für mich nie wieder ein Schönschreib- oder Fleißbild, und ich war froh, als die Grundschulzeit zu Ende war.

In der Zwischenzeit hatte meine Mutter wieder geheiratet und trug einen anderen Namen. Mutter und ihr Ehemann nahmen sich eine Wohnung in der Nähe meiner Schule und etliche Straßen von meinen Großeltern entfernt. Meine Mutter war mit meiner Schwester schwanger, und ich freute mich einerseits auf ein Geschwisterchen, andererseits stand ich aber auch zwischen zwei Stühlen: Bisher hatte ich meine Mutter immer mit ihrem Vornamen angesprochen. Das Wort Mama wollte ich irgendwie nie sagen, denn ich hatte eher bei meiner Großmutter das Gefühl, sie sei meine richtige Mama. Als schließlich meine Schwester zur Welt kam, da änderte sich das schlagartig. Ich nannte meine Mutter von nun an auch Mama und wollte einfach nicht, dass das Baby mir meinen Platz wegnahm. Immer wenn es eine Flasche gab, wollte ich auch eine Flasche trinken. Ich benahm mich wie ein Baby und schämte mich einige Jahre später dafür.

Abends nahm meine Mutter meine kleine Schwester mit in die gemeinsame Wohnung, ich blieb bei meinen Großeltern. Ich höre die Worte noch heute, wenn meine Großmutter darauf bestand, dass ich bei den Großeltern bleiben sollte. Ich fühlte mich oft schlecht, denn ich stand wieder zwischen zwei Stühlen: Auf der einen Seite wäre ich für mein Leben gerne