Am liebsten bin ich Little One - Henrike Zimmermann - E-Book

Am liebsten bin ich Little One E-Book

Henrike Zimmermann

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Beschreibung

Henrike bekam ihre Diagnose mit zweiundzwanzig - und es war eine Erleichterung, sowohl für sie als auch für ihre Familie: Endlich wusste sie, was mit ihr los war. Warum sie immer wieder auffiel, in der Schule gemobbt wurde, sich so unverstanden fühlte. Nur bei ihrem Lieblingsmusical fand sie Trost, denn in dieser Traumwelt gab es einen Retter, der sie akzeptierte, den sie liebte - und mit dem sie schließlich tatsächlich in Kontakt kam. Endlich gab es jemanden, der sie vorbehaltlos so akzeptierte, wie sie war. Für ihn war sie "Little One", ein Name, der ihr größtes Geschenk wurde - und ein Glück, das sie durchs Leben trägt.

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Seitenzahl: 345

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungVorwortKapitel 1: Ich bin eine SanduhrKapitel 2: Im KindergartenWas ist Autismus eigentlich?Kapitel 3: Mama, bin ich anders?Kapitel 4: Ich beiße mich durchKapitel 5: Gebrochene SeelenKapitel 6: HeranwachsenKapitel 7: Ein RitterschlagKapitel 8: Dr. GoogleKapitel 9: GewissheitKapitel 10: Die BegegnungKapitel 11: Dir gehört mein HerzKapitel 12: Etwas zurückgebenKapitel 13: Das Geschenk der FreundschaftKapitel 14: Ein Märchen spinnt sich fortKapitel 15: HindernisseKapitel 16: Little OneKapitel 17: AnkommenKapitel 18: LiebeKapitel 19: Ein NeuanfangNachwortDanksagung

Über dieses Buch

Henrike bekam ihre Diagnose mit zweiundzwanzig – und es war eine Erleichterung, sowohl für sie als auch für ihre Familie: Endlich wusste sie, was mit ihr los war. Warum sie immer wieder auffiel, in der Schule gemobbt wurde, sich so unverstanden fühlte. Nur bei ihrem Lieblingsmusical fand sie Trost, denn in dieser Traumwelt gab es einen Retter, der sie akzeptierte, den sie liebte – und mit dem sie schließlich tatsächlich in Kontakt kam. Endlich gab es jemanden, der sie vorbehaltlos so akzeptierte, wie sie war. Für ihn war sie »Little One«, ein Name, der ihr größtes Geschenk wurde – und ein Glück, das sie durchs Leben trägt.

Über die Autorin

Henrike Zimmermann wurde 1985 geboren. Nach schwieriger Kindheit und Jugend mit unerkannter Diagnose machte sie eine Ausbildung zur Heil- und Erziehungspflegerin. Heute lebt sie in Hamburg und übt ihren Beruf aus, mit ihrem Handicap geht sie offen um. Außerdem hält sie Vorträge, um über das Leben mit Autismus aufzuklären und Vorurteile abzubauen.

Henrike Zimmermann

Mein Leben mit Autismus

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Kuepper, München

Titelillustration: © Ilka Kramer/Plainpicture

Umschlaggestaltung: plainpicture GmbH & Co. KG

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2891-1

luebbe.de

lesejury.de

Jeder einzelne Buchstabe dieses Buches soll dir gewidmet sein, Mufasa, meinem Befreier,jedes einzelne Wort meiner geliebten Mutter und jeder einzelne Satz meiner besten Freundin.Und die Geschichte selbst soll jenen Menschen gewidmet sein, die wohlmeinend waren, sowie denen, die mein Buch lesen.

Vorwort

Man sagt, dass Legenden, wenn sie einen Funken Wahrheit in sich tragen, immer wiederzufinden sind. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichten jener Menschen, die sie erzählen. Egal, ob fiktiv oder auf wahren Begebenheiten beruhend.

Das Mercury Puzzle

Ein kleiner Junge ist so in sich gefangen, dass er niemanden an sich heranlassen kann. Er will es, doch keiner kann es sehen. Nicht einmal seine Eltern bekommen einen Einblick in seine geheimnisvolle Welt. Sein selbst errichtetes Universum aus Zahlencodes hilft ihm dabei, den geheimsten Code der Welt mit Leichtigkeit zu knacken. Er tut es nicht aus Langeweile. Er tut es, um nicht untätig in seinem autistischen Kerker zu sitzen. Zahlen sind die Boten. In ihrer Ziffernart wandern sie zwischen der Welt der Menschen und der des Jungen hin und her und errichten eine Brücke zwischen beiden.

Sein Wissen um die Logik der Zahlen bringt ihn in große Gefahr und kostet seine Eltern das Leben. Kriminelle, die sich für das Geheimnis des geknackten Zahlencodes interessieren, beginnen den Jungen zu jagen. Einen kleinen autistischen Jungen, der die Gefahren der Welt, in der wir leben, nicht einschätzen kann.

Durch Zufall oder Fügung begegnet er in seiner misslichen Lage einem FBI-Agenten. Dieser kennt den Jungen nicht persönlich, und doch stellt er sich verlässlich auf seine Seite und beschützt ihn vor jenen, die ihm nach dem Leben trachten. Trotz der vermeintlichen Ablehnung wendet sich der Agent nicht von dem Kind ab, im Gegenteil: Wie durch unausgesprochene Worte erlangt er dessen Vertrauen. Zum ersten Mal kann der in sich gekehrte Junge einem anderen Menschen zeigen, dass er ihn mag.

Eine Umarmung vonseiten des Jungen bezeugt den Ausbruch aus der Gefangenschaft in Einzelhaft.

Das Kartenhaus

Ein kleines Mädchen, vermutlich autistisch, verbringt seine Tage damit, komplizierte Kartenhäuser zu bauen. Mit filigran-ruhiger Hand scheint es die Gesetze der Physik außer Kraft zu setzen. In Spiralen legt es die Karten aneinander und mauert sich mit ihrer Hilfe ein. Das Kind weiß nicht, wie es anders mit seiner Einsamkeit umgehen könnte. Und während es niemals ein Wort spricht und in die Unendlichkeit starrt, fristet es seine Tage.

Die Mutter wünscht sich indessen nur eines für ihr Kind: Freiheit. Sie würde alles dafür tun, um es aus seinem autistischen Panzer herauszuholen. Unzählige Versuche schlagen fehl, Besuche bei Ärzten und Spezialisten bringen keinen Erfolg. Bis sie auf die Idee kommt, ihre Tochter in ihrer Kartenwelt zu besuchen.

Einer Eingebung folgend, baut sie das Kartenhaus in Lebensgröße in ihrem Garten nach. Indem sie gemeinsam mit ihrer Tochter den spiralförmigen Turm betritt, zeigt sie ihr, dass sie bereit ist, mit ihr in die Dunkelheit der Einsamkeit zu gehen. Wie durch ein Wunder beginnt das Kind zu sprechen. Ein Ausbruch aus der Gefangenschaft in Einzelhaft.

Birger Sellin

Erst als er das Schreiben über die gestützte Kommunikation erlernt hat, erfährt die Welt, dass Birger sich sein gesamtes Leben danach gesehnt hat, gehört zu werden. Durch seine Gedichte bekommen Außenstehende einen Einblick in die Gefühlswelt eines Autisten.

Birger widerlegt eindeutig die Behauptung, dass Menschen mit Autismus gefühlsarm seien. Die Wahl seiner Worte bewegt Massen und hat eine neue Art des Seins auch für Nicht-Autisten eröffnet. Der Erfinder der gestützten Kommunikation befreite Birger Sellin aus seiner Gefangenschaft in Einzelhaft.

***

Es gibt nicht viele, doch es gibt sie: Menschen, die selbst von Autismus betroffen sind und sich entschlossen haben, von ihrem Leben zu erzählen. Immer wenn ich Filme schaue oder Bücher lese, die von jemandem aus dem autistischen Spektrum handeln, einem Menschen, der in sich versunken ist und keinen Draht zu seiner Außenwelt findet, fällt mir etwas auf. So unterschiedlich die Lebenswege auch sind, eine Konstante ist fast in jeder Geschichte zu finden: der Befreier.

Der Befreier ist eine Person, die sich mit dem betroffenen Kind oder Erwachsenen anfreundet und in ihm etwas bewirkt, was keinem Psychologen bis dahin gelungen ist. Es scheint, dass der Befreier als Einziger den Schlüssel zum Herzen und der Seele des Betroffenen besitzt. Egal ob er um den Autismus seines Gegenübers weiß oder nicht, dieser Mensch tritt mit einem Auftrag in dessen Leben – den in sich Gefangenen zu befreien.

Befreier tauchen meist dann auf, wenn du alle Hoffnung aufgegeben hast, wenn der Strudel der Dunkelheit einen unaufhörlichen Sog errichtet, in den du hineingerätst und der dich immer weiter nach unten zieht, auf den Grund deiner Seele.

Sie erscheinen, wenn dein Leben keinen Sinn mehr zu haben scheint und deine Zukunft völlig aussichtslos wirkt. Wenn du erfährst, wer und was du bist, und es nicht sein willst. Weil die Worte, die dir entgegenschlagen, Bestätigung finden: »Die ist komisch«, »Keine Ahnung, wie ich mit der reden soll …« Übersetzt bedeutet es: »Die ist anders« – drei Worte, die das diffuse Gefühl bestätigen, das andere Menschen in deiner Gegenwart hatten und haben. Drei Worte, die dir zeigen, dass du nicht dazugehörst und wegen deiner Diagnose vielleicht auch nie dazugehören wirst. Dass deine Kerkerhaft lebenslänglich ist.

Doch mit einem Blick, einer Geste kann ein Befreier all den Nebel durchdringen, der dich umgibt. Mit einem einzigen Wort kann er das Eis um dein Herz zum Schmelzen bringen. Und all das, was dir einst so sicher und unveränderlich schien, verändert sich. Ein Raum, der so dunkel ist, dass du die Tür nicht sehen kannst – dieser Raum, der dein Inneres darstellt –, wird unverhofft geöffnet, und Licht fällt herein. Düstere Wände bekommen Farbe, und die Finsternis zieht sich zurück. Mit einem Mal scheint alles möglich: der Austausch mit anderen. Gefühle. Beziehungen. Liebe.

Der eine spricht angesichts dieses Phänomens von seinem Schutzengel, der andere von Gott selbst. Wieder andere behaupten, jene Menschen seien Schicksalsboten, Gesandte des Universums.

Ich glaubte nie daran. Ich dachte, Befreier seien nur ein Mythos, Teil einer Geschichte, von klugen Köpfen erdacht, um das Leben hinter den unsichtbaren Mauern leichter zu machen. Ich war mir sicher, sie wären ein Produkt der Fantasie eines Menschen, der sich in seiner Einsamkeit unendlich nach Wärme und Zuneigung sehnte.

Heute weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Befreier existieren mitten unter uns, Menschen mit dem Schlüssel zum autistischen Kerker. Bedingungslos geleiten sie dich in die Freiheit, in die Welt hinaus. Ich habe es selbst erfahren dürfen. Von einem Moment auf den anderen änderte sich mein Leben. Ich erkannte, dass die Welt der anderen und die meine nicht getrennt voneinander existieren. Ich erfuhr, dass ich um meiner selbst willen angenommen werde, so wie ich bin: nicht krank, sondern eben anders.

Der Befreier kann jeder sein. Es kann der beste Freund sein, der kleine Bruder, der Polizist aus dem Nachbarort, der Hund oder eben Mufasa aus dem Musical Der König der Löwen im Hamburger Hafen.

Er ist jemand, dem man nichts erklären muss.

Er schaut dich an, und du weißt es.

Dank meiner Begegnung mit Mufasa fand ich hinaus aus meinem Gefängnis. Ich fand auch die Worte, die es mir ermöglichten, dieses Buch über mein Leben mit Autismus zu schreiben. Ich berichte darin von Licht und Finsternis und davon, wie nah sie beieinander liegen.

Und ich erzähle von Gefühlen, die in einem autistischen Herzen sehr wohl vorhanden sind: von Sehnsucht, Vermissen, Spaß, Freude. Und von Liebe.

Kapitel 1: Ich bin eine Sanduhr

Januar 2008

Alles begann mit einem Augenblick. Mit einem Atemzug in einer Zeit, die für mich sehr schwierig war.

Fast dreiundzwanzig Jahre hatte es gedauert, bis meine Diagnose gestellt wurde. Jetzt wusste ich endlich, wer ich schon immer gewesen war: eine Autistin. Und doch wollte ich nicht die sein, die man mir attestierte zu sein.

Einerseits wurde mir bestätigt, dass ich nie Schuld an meinem Verhalten getragen hatte und auch nicht an dem, was mir deshalb widerfahren war. Andererseits wurden all die Aussagen bejaht, die in meinem vernarbten Herzen widerhallten: Du bist komisch, ich will nicht mit dir spielen.Mit der Komischen würde ich niemals gehen …

Ich freute mich darüber, endlich zu wissen, welchen Namen dieses Andere in mir trug, und doch zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich wurde auseinandergerissen und wusste nicht mehr, wo ich hingehörte. Ich wurde heimatlos.

Tief im Innern wusste ich, dass ich es schon immer gewesen war …

***

Als ich im Mai 1985 zur Welt kam, mag meine Mutter sich gewundert haben, denn ich war nicht wie andere Babys und auch nicht so, wie meine vier Jahre ältere Schwester Mia gewesen war. Nie schrie ich nach der Flasche. Wenn ich früher wach wurde als meine Mutter, wartete ich schweigend ab, bis sie irgendwann kam. Dann trank ich, und wenn sie mich wieder hinlegte, protestierte ich nicht. Ich schlang nicht die Arme um sie, um mir ein paar weitere Minuten Wärme und Körperkontakt zu stehlen, sondern ließ es einfach geschehen.

Ich war knapp zwei Monate zu früh zur Welt gekommen und musste einige Wochen in der Kinderklinik bleiben. Damals war es noch üblich, die Frühchen weitgehend zu isolieren, um sie keinem Infektionsrisiko auszusetzen. Daher musste meine Schwester lange warten, bis sie mich zu sehen bekam. Sie erzählte mir, ich hätte ausgesehen wie eine Babypuppe: riesengroße blaue Augen mit dichten, langen schwarzen Wimpern, der kleine Mund eine Schnute. Was den puppenhaften Eindruck noch verstärkte, war, dass mein Gesicht kaum Mimik zeigte. Sie legte mich in den Puppenwagen und schob mich selig durch die Wohnung.

Wenig später musste ich wegen einer Lungenentzündung erneut ins Krankenhaus. Dort verbrachte ich vier lange Wochen, in denen selbst meine Mutter mich nur selten besuchen durfte. Von Anfang an war es schwer, eine Bindung aufzubauen, zumal ich wohl selbst keine Kontaktaufnahmeversuche startete.

In den ersten Lebensmonaten beschäftigte ich mich abwechselnd mit Schlafen oder dem Beobachten der bunten Fische zu Hause im Aquarium. An Menschen interessierten mich eher die Knöpfe an ihren Hemden als die Gesichter, und ich schaute sie nicht an. Vielmehr schien ich durch sie hindurchzusehen. Wenn meine Mutter mich auf die Spieldecke im Zimmer legte, machte ich Spuckebläschen und sah ihnen fasziniert zu. An Spielzeug zeigte ich kein Interesse. Ab und an griff ich nach der Rassel, die sie mir hinhielt, doch ich drehte sie nur, statt sie zu schütteln und Geräusche zu erzeugen. Ich war ansonsten ganz mit mir selbst beschäftigt und recht pflegeleicht. Hin und wieder gab ich ein Glucksen von mir. Und da ich nicht weinte oder schrie, erweckte ich den Eindruck, ein rundum zufriedenes Baby zu sein.

Nur ein einziges Mal brüllte ich wie am Spieß, und das war ausgerechnet an dem Tag, als wir beim Fotografen waren, um das typische Familienfoto machen zu lassen. Nichts und niemand konnte mich beruhigen. Es gibt kein einziges Bild, auf dem ich nicht das Gesicht zum Weinen verziehe.

Meine Mutter bedrängte mich nie, sie nahm mich so, wie ich war, und das war eines ihrer größten Geschenke an mich. Ich hatte immer das Gefühl, so, wie ich war, von ihr angenommen zu werden.

Meinen ersten Geburtstag musste ich ohne sie feiern, sie war für einige Tage in Tschechien, und ich war noch zu klein, um mitzufahren. Also blieb ich bei ihrer besten Freundin, Judith. Als meine Mutter mich abholen kam, strahlte sie mich an, glücklich, mich wiederzuhaben. Doch ich verzog keine Miene. Mein Gesichtsausdruck war völlig neutral und spiegelte keinerlei Wiedersehensfreude. Sie gestand mir später, dass sie verletzt gewesen war und das Gefühl gehabt hatte, ihrem Kind egal zu sein.

Als wir einige Tage darauf gemeinsam Judith besuchten, wollte meine Mutter mich zum Mittagsschlaf in das Bettchen legen, in dem ich in der Woche zuvor geschlafen hatte. Aber da wollte ich partout nicht hinein und fing heftig an zu weinen. Erst als sie mich in den Kinderwagen legte, gab ich Ruhe – gerade so, als hätte ich Angst gehabt, wieder bei Judith bleiben zu müssen. Im Nachhinein glaubte sie, dass ich sie sehr wohl vermisst hatte und dies meine Art gewesen war, ihr zu zeigen, dass ich nach Hause wollte, mit ihr.

Meine Mutter und meine Schwester ermunterten mich immer wieder, Mimik und Gesten nachzuahmen. Sie lächelten mich an, verzogen das Gesicht zu lustigen Grimassen, winkten, doch ich reagierte nicht darauf. Ich lebte ganz in meiner eigenen Welt. Meine Erinnerungen reichen nicht so weit zurück, als dass ich sagen könnte, wie diese Welt sich gestaltete und wie ich mich darin fühlte.

Meine Mutter erzählte mir einmal, dass ich als Kleinkind Angst vor lauten Geräuschen hatte. Ich rannte panisch ins Haus, wenn ein Flugzeug über den Himmel donnerte, oder lief hinaus, wenn drinnen die Bohrmaschine angeworfen wurde. Erinnern kann ich mich daran nicht, und doch ist es ein Zeichen für meine Art »zu sein«: ein typisches Diagnosekriterium für das autistische Spektrum.

Sie erzählte mir auch, dass ich es geliebt hätte, durch die wehenden Bettlaken zu laufen, wenn sie draußen über der Wäscheleine zum Trocknen hingen, wieder und immer wieder.

***

März 2008

Es gehört zu der beschriebenen Symptomatik, dass Menschen aus dem autistischen Spektrum so gut wie gar nicht vor einer Gruppe sprechen können. Angst, Schüchternheit und Unfähigkeit in gewissen Dingen, wie zum Beispiel, andere zu motivieren und mitzureißen, halten sie davon ab. Entsprechend nervös war ich, als ich vor der Klasse meiner Berufsschule stand. Doch mein Vorhaben stand fest. Zwei Monate zuvor hatte ich meine Diagnose bekommen; nun war es an der Zeit, für Klarheit zu sorgen. Dies war mein Outing als Autistin. Also sprach ich, mit wenigen Notizen in der Hand. Und zum ersten Mal kamen die Worte frei und fließend.

Ich berichtete von einem kleinen Mädchen mit Autismus, das uns durch den Vortrag führen sollte. Ein Mädchen, das stundenlang mit Püppchen spielte, die in einem großen Wassertopf dahintrieben, verzaubert von dem Anblick. Ich erzählte vom Licht, das sich an der Wasseroberfläche brach und schwebende Muster auf den silbernen Boden des Topfes zeichnete. Dem Mädchen, das Wasser über einen Löffel rinnen ließ und sich dabei vorstellte, selbst unter einem riesigen Dach aus fließendem Wasser zu stehen. Ich sprach von Problemen und Behinderungen und davon, dass Autismus keine Behinderung ist. Ich erzählte von einem Leben, in dem alles wortwörtlich verstanden wird, und erklärte, wie es ist, keine Gefühle verständlich zeigen oder nur schwer entgegenbringen zu können.

Erst am Ende verkündete ich, dass ich dieses Mädchen war. Dann las ich mein Diagnoseschreiben vor: »Wir berichten über oben genannte Patientin, dass sich der Verdacht auf das Asperger-Syndrom bestätigt hat. In der frühkindlichen Entwicklung fanden sich zahlreiche für Autismus typische Besonderheiten wieder.

1. bis 6. Lebensmonat:

–extrem ruhiger Säugling

–schmiegt sich beim Hochnehmen nicht an

–lallt nicht, schreit nicht vor der Mahlzeit

7. bis 12. Lebensmonat:

–sieht lange auf gleiche Gegenstände/Muster

–reagiert nicht, wenn Kindesmutter in das Zimmer kommt

–imitiert nicht

–zeigt nicht auf Gegenstände

–fremdelt nicht

–lernt nicht, den Löffel zu gebrauchen und aus der Tasse zu trinken

2. Lebensjahr:

–bewegt Gegenstände vor den Augen

–zeigt kein Interesse für das eigene Spiegelbild

–lehnt Hautkontakt/Zärtlichkeit ab

–spielt nicht, bewegt Dinge nur stereotyp

–wehrt Sozialkontakte ab

–sieht an Personen vorbei oder scheint durch sie hindurchzusehen

–orientiert sich nicht im Raum, beschäftigt sich mit Teilelement der Umgebung

–abnorme Bewegungen mit dem Kopf

–zeigt kaum Mimik

–entwickelt keine Gestensprache

All das war ich. So war meine Kindheit.

Während meines Vortrags ließ ich den Song »Ich will raus hier« von Pur im Hintergrund laufen, darin geht es um ein autistisches Kind, das nicht spricht. Auch ich sprach nicht, bis ich drei Jahre alt war. Aber ich konnte jedes Wort verstehen, kannte die Bedeutung und auch den Sinn. Zu sprechen aber hätte bedeutet, eine Brücke in die Welt draußen zu errichten, außerhalb meiner eigenen, und mir kam es nicht in den Sinn, eine solche Brücke zu betreten. Und so blieben meine Lippen versiegelt.

In meiner allerersten eigenen Erinnerung saß ich in einem riesigen Wohnwagen und konnte nicht schlafen. Vor dem Bett leuchtete ein rotes Lämpchen von der Musikanlage vor sich hin. In der Dunkelheit um mich herum setzte ich mich auf und betrachtete das Licht. Irgendwann fiel mir auf, dass, wenn ich die Augen leicht zusammenkniff, ich den Strahl des Lichtes mit winzigen Leuchtpartikeln darin sah. Sie bewegten sich von dem Ursprung der Lichtquelle langsam an mir vorbei. Das zog mich völlig in den Bann.

Und dann war da dieser Storch. Er sah wundervoll aus. Am meisten gefiel er mir, wenn er die Flügel ausbreitete. Wie weite Arme wirkten sie, die näher kamen, um einen aufzufangen. All das dachte ich mir, während ich mir das Bilderbuch über das Leben der Störche anschaute. Ich sah, wo die Tiere ihre Nester bauten und wie sie sich um ihre Jungen kümmerten. Dass dieses Buch mir gefiel, konnte ich nicht sagen, denn der Sprache war ich noch nicht mächtig. Während ich mir den schönen Storch anschaute, saß ich bei jemandem auf dem Schoß, ich weiß nicht mehr, bei wem. Hin und wieder hörte ich die Stimme hinter mir etwas zu diesem Storch sagen. Es war seltsam für mich, das, was ich sah, kommentiert zu bekommen. Hätte ich es gekonnt, hätte ich gesagt, dass ich alleine gucken möchte. Ich kam aber auch nicht auf die Idee, mich von diesem Schoß hinunterzubewegen und wegzugehen. So weit dachte ich nicht. Dabei war es mir peinlich, wenn die Stimme die Bilder für mich kommentierte.

Und noch ein anderes Gefühl war in mir. Ich schämte mich dafür, dass dieser Storch mit den großen schwarz-weißen Flügeln mir gefiel.

Wenn meine Mutter mit mir auf den Spielplatz ging, zeigte ich weder Interesse an meiner Umgebung noch an anderen Kindern. Sie setzte mich in die Sandkiste, und dort blieb ich, bis es wieder nach Hause ging. Wie ich wohl auf Außenstehende gewirkt haben musste? Befremdlich? Selbstvergessen?

Körnchen für Körnchen rieselte der feine Sand durch meine Hand und bedeckte mein nacktes Bein sacht mit einer stetig wachsenden, kühlen Decke. Körnchen für Körnchen legte sich auf meine Haut. Es kribbelte und kitzelte etwas, und die sandigen Stellen auf meinem Bein veränderten sich immer weiter, je mehr Sand ich durch die Hände rieseln ließ.

Die Sandkiste war riesig, und ich war sehr klein. Ich war still. Innerlich und äußerlich war ich vollkommen still. Ob ich lang oder kurz hier im Sandkasten saß und Sand rieseln ließ, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass hier die Zeit stehen blieb.

Um mich herum tobten Kinder, lachten, stritten, turnten, rutschten. Doch ich nahm sie nicht wahr, ich war nicht wie sie. Ich war eine Sanduhr. Oder war der Sand die Uhr?

Autismus ist keine Krankheit.

Es ist eine andere Art zu sein.

Kapitel 2: Im Kindergarten

Es gibt unterschiedliche Formen des Autismus, doch eines fällt immer besonders auf: die Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen Menschen. Dies ist das Kernsymptom des Autismus, daher rührt die Aussage, »in sich selbst gefangen zu sein«.

Alle Lebensbereiche sind davon betroffen: die Familie, der Freundes- und Bekanntenkreis, jegliche Begegnungen vom Kindergarten über die Schule bis hin zum Berufsleben sowie im Alltag. Im Umgang mit anderen Menschen wird der Betroffene als anders oder gar komisch wahrgenommen und schnell ausgegrenzt, ausgelacht, gemobbt. Durch das Nichtverstehen von sozialen Regeln leben Menschen aus dem autistischen Spektrum häufig sehr zurückgezogen und werden als extrem schüchtern eingeschätzt.

***

Zu Hause bei meiner Mutter und meiner Schwester fühlte ich mich sicher, hier stellte mich niemand infrage. Ich kannte mich aus, konnte meine Umgebung einschätzen, doch völlig anders verhielt sich das in der Krippe. Dort war ich überfordert, zu viele Reize, zu viel Ungewohntes stürmten auf mich ein, und mir fehlte jeglicher Schutz. Die meiste Zeit schrie ich, und wenn meine Stimme irgendwann verstummte, dann saß ich in der Ecke und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Schaukeln ist eine Form von Stimming, einer selbststimulierenden Verhaltensweise, die dazu dient, sich in unangenehmen Situationen zu beruhigen. Heute weiß man, dass sich insbesondere Kinder aus dem autistischen Spektrum auf diese Weise zu regulieren versuchen. Damals konnten die Erzieherinnen die Zeichen nicht lesen und hielten meine Reaktion abwechselnd für Trotz oder Heimweh. Doch weder gutes Zureden noch strengere Erziehungsmaßnahmen halfen dabei, mich einzugewöhnen. Meine Mama nahm mich daraufhin wieder aus der Krippe und blieb mit mir zu Hause.

Mit drei Jahren sprach ich immer noch kein Wort, weder Mama noch Papa, Mia, Ball, Auto – kein einziges. Alle Bemühungen, mich zum Sprechen zu bewegen, scheiterten. Meine Mutter ging mit mir zum Logopäden, aber all die klugen Ratschläge brachten nicht das Geringste. Dabei hatte ich kaum Probleme, mich verständlich zu machen. Wenn ich etwas wollte, nahm ich Mama an der Hand und führte sie dorthin, um es ihr zu zeigen. Der Logopäde hielt meine Mutter dazu an, diese Art der Kommunikation zu ignorieren. Mit der Folge, dass ich eben verzichtete.

Dabei wusste ich ganz genau, was die einzelnen Wörter bedeuteten. Wenn wir uns Bilderbücher anschauten und meine Mama mich fragte: »Wo ist der Ball?« oder »Wo ist die Ente?«, dann zeigte ich, ohne lange zu überlegen, auf das entsprechende Bild. Aber es aussprechen – nö!

Als ich drei ein Viertel war, trennte sich meine Mutter von meinem Vater, und um etwas Abstand zu gewinnen, fuhr sie mit Mia und mir nach Thüringen zu ihren Eltern. An den Wänden des Hausflurs waren einige Tierfiguren abgebildet, und immer, wenn wir daran vorbeigingen, sagte meine Mutter die entsprechenden Namen. Unter anderem war da ein Ziegenbock mit kräftigen Hörnern. Nach einigen Tagen, als wir wieder an ihm vorbeikamen, öffnete ich den Mund, und über meine Lippen drang das Wort: »Idebock.« Dabei zeigte ich auf das Tier an der Wand. Meine Mama erzählte mir Jahre später, sie hätte gedacht, sie würde träumen.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie mich aufgeregt.

Und ich deutete wieder auf die Wand und sagte: »Idebock!« Sie war so glücklich, dass ich zu sprechen begonnen hatte. Dann ging alles ganz schnell. Jeden Tag kamen neue Wörter hinzu, und innerhalb kürzester Zeit hatte ich den Wortschatz einer Dreijährigen und sprach kleine Sätze. Gerade so, als hätten all die Wörter schon in den Startlöchern gelauert und wären mit einem Mal hinausgesprudelt. Meine Mutter fragte sich lange, wie es dazu kam, dass ich doch noch zu sprechen begann. Heute vermutet sie, dass es etwas mit der Trennung von meinem Vater zu tun gehabt hatte. Dass ich einfach nicht hatte sprechen wollen, weil ich wohl gefühlt hatte, dass ich meinem Vater mehr oder weniger gleichgültig gewesen war. Ich war halt da, aber mehr hatte er nie für mich empfunden.

In Thüringen klappte auch die Eingewöhnung in den Kindergarten. Dabei half mir die Zeit in der Sonderkrippe, welche ich genießen durfte. Kleine Gruppen taten mir gut, und unter den jüngsten Kindern fühlte ich mich sicher. Das änderte sich erst, als ich vier wurde und in die Elementargruppe zu den großen Kindern kam.

Halt gab mir meine Oma, die in der Kindergartenküche das Mittagessen kochte. Doch der Wechsel verwirrte mich völlig.

Ich ging wie jeden Morgen mit meiner Mama denselben Weg entlang. Alles war wie immer – bis wir in die Garderobe traten. Ich wollte zu meinem Haken gehen und dort meine Jacke aufhängen, so wie sonst auch. Doch dann hörte ich meine Mutter sagen: »Rike, halt. Du musst deine Sachen jetzt hierhin hängen.« Sie zeigte auf einen mir fremden Haken an einem mir fremden Platz und auf ein mir fremdes Bildchen auf der anderen Seite der Kindergarderobe. Ob ich sie nach dem Grund dafür fragte, weiß ich nicht mehr. Ich war mir jedoch sicher, dass dort etwas nicht stimmte. Sobald ich die Jacke und Straßenschuhe ausgezogen hatte, machte ich mich auf den Weg zu meinem Gruppenraum. Wieder hörte ich, wie meine Mama einwandte: »Rike, nee. Du musst hier reingehen!« Mama zeigte auf eine mir fremde Tür, welche zu einem mir fremden Raum führte. Was war hier los? Als die Tür sich öffnete, schaute eine fremde Erzieherin mich an. Sie lächelte und begrüßte mich mit sanfter Stimme. Es war nicht die Frau, die sonst für mich da war. Es waren nicht die Kinder, die ich sonst um mich herum hatte. »Herzlich willkommen in unserer Gruppe. Ich bin Tante Jane«, sagte die freundliche Fremde. Mama verabschiedete sich von mir und wünschte mir viel Spaß. Wie sollte ich hier Spaß haben? Ohne Vorwarnung hatte man mich einfach woanders hingebracht. Man hatte meinen Platz verändert. Man hatte die Menschen verändert. Alles. Ein Gefühl, als würde die Welt zusammenbrechen, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich wollte das nicht! Ich wollte zurück in meine Welt, die mir nicht fremd war. Ich weinte. Ob laut oder leise, war egal. Ich wollte einfach nur weinen.

Die Krippe und auch der Kindergarten waren im Vergleich zu meiner Schulzeit geschützte Bereiche. Doch da niemand wusste, dass ich von Natur aus anders war und wie man das andere benennen konnte, stieß ich mit meinen Verhaltensweisen zuweilen an Grenzen. Die Erzieherinnen und auch die Kinder verstanden mich nicht, dieses Mädchen, das stundenlang ruhig und zufrieden dasitzen und Dinge ordnen konnte und dann plötzlich wegen kleinster Abweichungen von der Norm außer sich geriet. Doch so war ich nun mal: Alles, was außerhalb der gewohnten Ordnung war, verwirrte mich, versetzte mich in Angst.

Da war diese schräge Wand. Als ich sie das erste Mal bemerkte, stemmte ich mich mit beiden Händen dagegen und rief laut: »Hilfe, Hilfe! Die Wand fällt um!« Die Erzieher erklärten mir, dass die Wand mit Absicht so gebaut sei, aber für mich blieb sie suspekt. Wände waren sonst gerade; wenn ich Bauklötze schief aufeinandersetzte, stürzten sie ebenfalls in sich zusammen. Wieso sollte ich dieser Wand trauen?

Und es gab noch mehr Dinge, die mich durcheinander und meine Welt zum Wanken brachten. Eine der Erzieherinnen hatte einen Pullover, dessen Knöpfe auf dem Rücken angenäht waren. Wenn sie ihn trug, bekam ich diese Wut und schrie wie am Spieß. Ich konnte nicht damit umgehen, wenn etwas die gewohnte Ordnung durchkreuzte. In dem Bedürfnis, das zu korrigieren, was ich als falsch empfand, sagte ich ihr, sie solle ihre Sachen richtig herum tragen. Was ich nicht wusste: Die Modebranche hatte sich etwas Neues ausgedacht.

Richtig schwierig war auch die Freispielzeit. Dann hatte ich keine Ahnung, womit und mit wem ich mich beschäftigen sollte.

Zu Hause war das anders. Schon früh war ich fasziniert von Mustern und fand insbesondere Schuhsohlen total spannend. Stundenlang saß ich da und pauste Schuhsohlen ab. Waren Besucher da, mussten oft auch deren Schuhe dafür herhalten. Anschließend schnitt ich die Muster aus und klebte sie zu Girlanden zusammen. Die hingen dann in meinem Zimmer über dem Bett.

Aber im Kindergarten fehlte mir die Anleitung. Ich langweilte mich sehr und sah zu, wie die anderen Kinder mit Puppen oder Figuren spielten. Diese Art der Beschäftigung war mir fremd, zu Rollenspielen fehlte mir der Zugang.

Fast zwanzig Jahre später stand auf meinem Diagnosebogen:

3. bis 4. Lebensjahr:

–kein oder nur kurzer Blickkontakt

–behandelt Personen wie Werkzeuge

–spielt keine Handlungen und Rollen.

In jener Zeit aber, als ich mich im Kindergarten mit dem freien Spiel quälte, war das niemandem bewusst.

Hin und wieder fand ich im Regal etwas zum Ordnen, Puzzles oder Bausteine. Das beruhigte mich, und ich war völlig auf mein Tun fokussiert. Wenn dann endlich wieder die sogenannte Beschäftigung mit Anleitung anstand, war das für mich wie eine Erlösung. Ich bekam gesagt, was ich wie tun sollte, wie zum Beispiel einen Igel kneten, und spürte wieder Boden unter den Füßen.

Manchmal aber fiel das Angebot zur Beschäftigung aus mir unerklärlichen Gründen aus, und das brachte mich völlig durcheinander. Für mich war es nicht nur so, dass ein geplanter Zeitvertreib wegfiel. Vielmehr wurden Vereinbarungen nicht eingehalten, Regeln scheinbar willkürlich umgestoßen. Das fühlte sich an wie die schiefen Wände: Meine kleine Welt drohte um mich herum einzustürzen, und ich hatte kaum Mechanismen, sie zusammenzuhalten.

Zu den weniger schönen Erlebnissen im Kindergarten gehörten auch die Spaziergänge. Wir gingen bei Wind und Wetter raus. Besonders im Herbst und Winter hasste ich es. Es war so kalt und manchmal auch nass. Und ich fragte mich nach dem Sinn dahinter, irgendwo durch den Wald zu laufen.

Ein einziges Mal war es anders; damals war ich fünf Jahre alt. Unsere Erzieherin hielt uns dazu an, uns für den Spaziergang anzuziehen. Nicht schon wieder, dachte ich. Diese langen Strecken durch den Wald oder die Straßen des Dorfes fühlten sich jedes Mal an wie ein Marathon. Nachdem ich das laute Gewusel und Geschrei der anderen Kinder beim Anziehen überstanden hatte, machten wir uns auf den Weg in den Park. Die Wiesen dort waren riesig und zeigten ein sattes Hellgrün. Die Sonne schien, und es wurde ein wenig wärmer. Ich mochte den Frühling, das Sonnenlicht weckte mich innerlich auf. Und doch hätte ich mich viel lieber allein auf die Schaukel gesetzt und wäre dort stundenlang in der Sonne vor und zurück, vor und zurück geschwungen. »Haltet eure Augen auf«, hörte ich unsere Erzieherin sagen. Ihre sanfte, liebe Stimme verhieß Gutes. »Vielleicht ist der Osterhase auch hier entlanggekommen«, fügte sie lächelnd hinzu. Ich sah mich um und bemerkte, wie die anderen Kinder den Blick auf den Boden richteten. Sie stupsten die Büsche an und schoben die Blätter zur Seite. Sie schienen etwas zu suchen. Aber was? Plötzlich entdeckte ich etwas Kleines, leuchtend Rotes auf dem grünen Rasen. Ich hob es auf und erkannte ein kleines Osterei. Es war ein wenig nass vom Morgentau, aber es schmeckte süß. Mit meinen gelben Gummistiefeln stapfte ich weiter und fand noch mehr solcher Eier. Wie eine Spur führten sie über die Wiese … einer Spur, der ich folgen konnte, die Sinn für mich machte und meine Welt strukturierte. Wir alle sammelten so einige Ostereier ein. Dieser Spaziergang war wirklich spannend!

Mit den anderen Kindern in meiner Gruppe hatte ich wenig zu tun, sie interessierten mich nicht. Ich wusste ganz einfach nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Es war nicht so, als hätte ich keinerlei Bedürfnisse nach menschlicher Nähe gehabt. Aber die Kinder waren so anders als ich. Also interagierte ich mit den Erzieherinnen. Sie waren manchmal schon etwas genervt und sagten, ich sollte nicht ständig an ihrem Rockzipfel hängen. Natürlich nahm ich das wörtlich und begriff nicht, was sie meinten. Sie trugen doch gar keine Röcke, und wenn doch, hatte ich noch nie daran gehangen. Als ich nachfragte, was sie denn meinten, erklärten sie es und forderten mich auf, spielen zu gehen und sie in Ruhe zu lassen. »Am Rockzipfel hängen« war jedenfalls die erste Redewendung, die ich begreifen lernte.

Der schönste Moment im Kindergarten war nachmittags, wenn ich endlich abgeholt wurde. Dann freute ich mich, es war jedes Mal etwas ganz Besonderes für mich. Wenn ich etwas gebastelt hatte, zeigte ich es meiner Mutter oder Mia. Ob ich sie angestrahlt habe? Das weiß ich nicht. Aber Freude spürte ich ganz tief in mir drinnen.

***

Meine Mutter hatte ich immer als fröhlichen und aufgeschlossenen Menschen erlebt, der mir Abertausende Male erklärte, auf welche Art ich mich gegen die anderen Kinder durchsetzen sollte. Ob ich es realisierte? Nein, ich konnte es nicht. Doch das wusste ja noch niemand. Wenn ich weinend nach Hause kam, weil ein Kind gemein zu mir gewesen war, bewahrte sie die Ruhe und redete so lange mit mir, bis ich wieder lächelte. Sie verlor niemals die Geduld, und vor allem akzeptierte sie meine Eigenheiten. Sie sagte nie, dass ich verrückt sei. Sie lachte mich niemals aus und nahm alles an, was ich dachte oder tat.

Natürlich machte sie sich Gedanken, was meine Entwicklung betraf, und das schon von dem Tag an, an dem ich viel zu früh auf die Welt kam und viel Zeit allein im Krankenhaus verbrachte. Während sie mit meiner großen Schwester Mia schwanger gewesen war, hatte sie das Buch Kinder, die anders sind von Gerda Jun gelesen. Darin wurde auch der Fall einer Autistin erwähnt. Zur damaligen Zeit kursierte jedoch das Bild, dass Autisten nicht sprechen, schaukelnd dasitzen und Murmeln sortieren oder dergleichen. Wie erleichtert meine Mutter gewesen sein musste, als ich zu sprechen begann!

Es wussten damals auch nur wenige, dass Autismus ein Spektrum mit vielen verschiedenen Abstufungen ist. Mama fand dieses Thema auf jeden Fall sehr faszinierend, doch nicht einmal die Kinderärztin, die mich mehrmals eingehend untersuchte, kam darauf.

Als ich sechs Jahre alt war, verbrachte ich viel Zeit mit meiner großen Schwester, denn meine Mutter war krank geworden und litt unter Depressionen. Mia war inzwischen zehn Jahre alt. Sie sorgte für mich, machte mir Essen, spielte mit mir und holte mich vom Kindergarten ab. Unsere Mutter war bei uns zu Hause, doch sie war nicht in der Lage, sich um uns zu kümmern. Sie saß schweigend da und hörte traurige Musik. Wahrscheinlich entwickelte auch ich dadurch einen Hang zur Melancholie.

Wir lebten zu der Zeit in einer großen Wohnung in einem alten Haus, das wir »Bruchbude« nannten. Dort wurde noch altmodisch mit einem Ofen geheizt, der nicht immer so funktionierte, wie er sollte. Besonders im Winter war es meist sehr kalt. Mia war anfällig für Erkältungen und hatte regelmäßig eine schwere Angina.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem wir auf den großen grünen Stubenofen kletterten und es uns dort gemütlich machten. Wir saßen gern dort oben und spürten die sanfte Wärme unter uns. »Guck mal«, sagte Mia zu mir. Sie hatte ein Zeichenblatt in der Hand und begann mit der Schere im Kreis zu schneiden. Heraus kam eine Spirale aus Papier, die sich hin und her bewegte, wenn man sie an einem Ende hielt und nach unten hängen ließ. Das faszinierte mich so sehr, dass ich an jenem Tag Spiralengirlanden quasi im Akkord herstellte. Ich bemalte zuerst das Papier in fröhlichen Farben und schnitt dann die Spirale. Anschließend ließ ich sie in eine kleine Plastikwanne fallen, die am Boden vor dem Ofen stand. Für mich war es eine Wonne, zu sehen, wie diese sich nach einiger Zeit mit Hunderten von Spiralen füllte. Sie segelten sacht hinunter und landeten auf dem Papierhaufen in der Wanne. Andere Kinder hätten keinen Sinn in dieser Art zu spielen gefunden. Nach außen hin war nur die Arbeit des Ausschneidens ersichtlich. Für mich aber war es ein Spaß zu beobachten, wie sich viereckige Papierbögen in wahre Schmuckstücke verwandelten und diese sich häuften.

Mia half mir eine Weile, doch dann verlor sie die Lust und malte ein Bild. Erst nach Stunden kletterte auch ich von dem Ofen hinunter und setzte mich vor meine Mutter, die in ihrem Fernsehsessel saß und in die Leere starrte. Ich sah, dass ihr Tränen von den Wangen tropften.

»Warum weinst du?«, fragte ich sie neugierig. Das hatte ich sie schon länger fragen wollen, denn Mama weinte in letzter Zeit ständig, aber ich hatte mich nicht getraut. Es verging kaum eine Minute, in der sie keine Tränen in den Augen hatte.

Als sie mich bemerkte, kehrte sie aus der Leere zurück und sah mich an. Sie lächelte matt und lud mich auf ihren Schoß ein. Ich hatte eher angenommen, dass sie mir nur vermitteln würde, es ginge mich nichts an, und lauschte ihr interessiert.

»Mir tut das Herz ganz doll weh«, sagte sie.

»Bist du krank?«, wollte ich wissen, denn ich nahm wie immer alles wortwörtlich. »Schlägt dein Herz nicht mehr richtig?«

»Doch, es schlägt noch richtig. Aber es tut weh«, erwiderte sie leise.

Ich sah sie an. Sie beugte sich vor in Richtung Tisch und kramte ein Buch aus dem Stapel von Papieren hervor. »Schau her«, sagte sie und lächelte. Die Tränen hatte sie sich aus dem Gesicht gewischt. Behutsam schlug sie das Buch auf, und es kam eine Parabel zum Vorschein, die auf dem Kopf stand. Die Seite bestand aus Millimeterpapier, das wohl ihr Arzt so bemalt hatte. Auf der feinen schwarzen Linie der Parabel waren kleine Kreuze zu sehen. Das eine war rot, das andere grün, und das letzte kleine Kreuz war blau. Es lag genau an der tiefsten Stelle der Parabel.

»Das hier ist ein ganz tiefes Loch, in das ich gefallen bin. Ich bin gerade ganz da unten«, sagte meine Mutter und zeigte auf das blaue Kreuz. »Jetzt muss ich aus dem Loch wieder herausklettern, und das ist ganz schlimm anstrengend und dauert sehr lange.«

»Wie lange?«

»Das weiß niemand. Es kann Wochen dauern, Monate oder Jahre.«

»So lange?«, fragte ich voller Unbehagen.

Ich wollte meine Mutter zurückhaben. Die lachende Mutter, den fröhlichen Paradiesvogel, der jeden Spaß mitmachte. Nun war sie eine graue Maus, die immer im selben Jogginganzug herumlief. Ich betrachtete das Emblem auf ihrer Brust, während sie mit mir sprach.

Zu dieser Zeit schaute ich die Menschen während eines Dialogs kaum an. Ich wandte mich in ihre Richtung, um ihnen zu signalisieren, dass ich mitbekam, wenn man mit mir redete, doch ich schaute nur auf die Brust. Ich versuchte, immer etwas höher zu schauen. Ein kleines Stück und noch ein Stück. Doch je näher ich ihren Gesichtern kam, umso unwohler und ängstlicher fühlte ich mich. Erst Jahre später, als ich sechzehn war, sollte der Knoten platzen, und auch damals schaute ich noch niemandem in die Augen, sondern ließ den Blick nur rasch darüber schweifen. Doch an jenem Tag sah ich sogar meine Mutter noch nicht an. Meine Mutter, die wieder in ihrer Bewegungslosigkeit versank.

Ich kletterte von ihrem Schoß und ging in die Küche, um mit meinem riesigen Topf und den kleinen Püppchen zu spielen. Den Topf füllte ich bis zum Rand mit Wasser. Dann setzte ich die Püppchen hinein. Kleine Plastikpuppen, in deren Köpfen eine Luftblase war. Auf diese Weise schwammen sie im Wasser, als würden sie stehen. In meiner Vorstellung ergaben sie ein Bild von fliegenden Menschen. Seit ich denken konnte, war es mein größter Wunsch, fliegen zu können. Da ich das niemals ohne Hilfsmittel schaffen könnte, sollten es meine schwimmenden Puppen tun.

Ich stupste sie an, sodass sie kurz untertauchten und wieder an die Oberfläche kamen und dann leicht auf und nieder wippten oder sich zur Seite bewegten. Ihnen dabei zuzusehen, war mein Spiel. Es ließ die Zeit verschwimmen und die Stimmen um mich herum verschwinden. Es zog mich komplett in den Bann und hüllte mich in eine unsichtbare Blase. Außenstehende hätten sich vielleicht gefragt, warum ich meine Mutter nicht tröstete oder in irgendeiner anderen Form auf ihre Traurigkeit, ihre Depression einging. Dies aber war meine Art, meine Gefühle, meine Aufgewühltheit zu zeigen. Hier existierten nur ich und meine Vorstellung davon, wie es wäre zu fliegen. Und vielleicht war es ja auch so, dass es mich beruhigte, wenn die Püppchen immer wieder auftauchten. So wie ich es mir von meiner Mutter wünschte.

***

Meine erste Begegnung mit dem Thema Autismus fand statt, als ich sechs Jahre alt war. Ich war wie so oft in meinem Zimmer mit Bastelarbeiten beschäftigt. Als ich merkte, dass mir die Schere fehlte, ging ich ins Wohnzimmer, um sie zu holen. Mama saß auf ihrem Sessel und schaute einen Film. Ein Schreien aus dem Fernseher lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Bild, zu dem dieser Ton gehörte. Ein kleiner Junge saß unter einem Tisch auf dem Boden und spielte mit Murmeln. Er spielte nicht wirklich damit, wie es die anderen Kinder im Kindergarten oder auf dem Spielplatz taten. Stattdessen sortierte er sie exakt nach Größe und Farbe. Es bildeten sich Reihen aus Murmeln vor seinen Füßen, beginnend von der größten und dunkelsten bis zur kleinsten und hellsten. Ich verspürte großes Interesse an dem Jungen, wie er da unter dem Tisch saß und die Murmeln in eine Ordnung brachte. Dass ich genauso spielte, war mir damals nicht bewusst. Ich fühlte jedoch Neugier und vielleicht auch eine Art von Verbundenheit mit dem Jungen.