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Seelische Verwahrlosung, familiäre Suizide, massives Mobbing, Kriminalität, Jugendheim, Gefängnis, Hochschule und schliesslich Therapie. Der Autor beschreibt seinen aussergewöhnlichen Lebensweg und die komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen, die, trotz unvorstellbaren Bemühungen im Leben und in der Gesellschaft Halt zu finden, ihren Tribut im Alltag fordern. "Amok möglich" ist ein seltenes Zeugnis darüber, wie sich ein hochsensibler Mensch im Laufe im Laufe der Jahrzehnte zum potentiellen Amokläufer verwandelt und zu einer Gefahr für sich selbst. Die Auseinandersetzung mit der lesenswerten Biografie geschieht auf humorvolle und selbstkritische Art, sie ist sprachlich authentisch und mit gesellschaftlichen und theologischen Fragenstellungen versetzt. Ein absolutes Muss für Leser, die schonungslos unter die Haut eines psychisch erkrankten Menschen werfen und dabei auch noch gut unterhalten werden wollen.
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2024
AMOK MÖGLICH von S. A. Schwartz
Über den Autor
S. A. Schwartz (* 1977) ist in der Schweiz geboren. Der Autor wurde seit frühester Kindheit mit Ausgrenzung, Mobbing, Gewalt, Kriminalität, mit Pflegefamilien, einem Jugendheim und dem Gefängnis konfrontiert. Als Folge auf jahrelange Misshandlungen wurden bei ihm eine chronische Insomnie, eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung und eine dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert. Schreiben gehört seit der Grundschulzeit zu seiner Kernkompetenz und Bewältigungsstrategie.
AMOK MÖGLICH
Chronik einer Posttraumatischen Belastungsstörung
S. A. Schwartz
© 2024 S. A. Schwartz
Covergrafik von: Lorado, Den Haag, Netherlands
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Kontakt: [email protected]
Widmung
Den guten Mächten, die mich treu und still umgeben
(i. A. a. Dietrich Bonhoeffer)
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Vorwort
ERSTER AKT: Invasionsphase „Trauma“
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
ZWEITER AKT: Inkubationsphase „Renitenz“
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
DRITTER AKT: Krankheitsphase „Blackout“
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
VIERTER AKT: Überwindungsphase „Coping“
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
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Vorwort
VIERTER AKT: Überwindungsphase „Coping“
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Keine Mauer bestimmt mein Leben, sondern das Überwinden von Mauern.
S. A. Schwartz
Vorwort
Wer kennt das nicht? Das gehemmte, unsichere und hölzerne Gefühl, wenn man mit unbekannten Menschen in einen Dialog treten möchte. Die ersten Worte, die einen aus der Mundhöhle und über die Lippen hinaus verlassen, sind verantwortlich für den ersten Eindruck beim Gegenüber. Sie sind quasi eine Visitenkarte, die an einem haften bleibt, da man leider keine zweite Chance erhält, um einen Primäreffekt zu erzeugen. Gerade weil man deswegen nichts Unpassendes, Taktloses oder Peinliches sagen und dabei zum Running Gag werden möchte, wird manch einer steif und blockiert, künstlich und förmlich, unnatürlich und schließlich unsicher. Was also tun? In der Schule wurde mir erklärt, dass sich Witze prima eignen würden, um festgefahrene Situationen aufzulösen, um thematische Spannung aufzubauen und um volle Aufmerksamkeit zu erhalten. Also wage ich es mit diesem hier: „Warum meidet Jesus den Baumarkt?“ Antwort: „Wegen posttraumatischen Belastungsstörungen.“
Das Problem mit solchen Witzen ist nur, dass man sich über Humor streiten kann. Jemand, der nichts von der Kreuzigung Jesu oder von einem Baumarkt weiß, kann mit dem obigen Witz erst mal nichts anstellen. Der schaut mich nur verdutzt an und fragt sich, wo denn die Pointe bleibt, während ein Atheist bereits grölend, bauchklopfend und luftringend in die Grube gefallen ist. Ein praktizierender Christ empfindet meinen Witz unangebracht, geschmacklos und taktlos. Er wird mir eine Ein-Sterne-Bewertung und eine miserable Rezension für mein Buch verpassen. Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen nicken mir zustimmend zu, während Baumarkt-Mitarbeiter gerade ihr Balken- und Nägel Sortiment kontrollieren. Dann gibt auch noch Verfechter der „Netiquette“ und des „Political Correctness“, die sich eine Woche lang damit beschäftigen, ob sie diesen Witz nun komisch finden sollten oder nicht, und die dann vielleicht zum Schluss kommen, dass Scherze nicht zum Nachdenken bestimmt sind, sondern von der Überraschung leben. Weil Humor subjektiv ist, kann ich jede einzelne dieser Empfindungen nachvollziehen und weiß, dass jede davon angebracht und berechtigt ist. Genau das gestaltet unsere Sprache so unglaublich kompliziert. Das Gleiche bedeutet noch längst nicht für jeden das Gleiche.
Weil Humor als „Gemütszustand“ den Weg in die Deutsche Sprache fand, kann dieser so vielseitig und reichhaltig, wie das menschliche Wesen selbst sein; mal gelassen, mal überlegen, mal köstlich, mal tiefgründig, mal gütig, aber auch mal trocken, mal bitter, mal beißend oder mal abgrundtief derb. Der größte soziale Fehler der Welt stellt der Versuch dar, selbst beim Humor allen alles recht zu machen. Wenn man den Humor entkeimt, ihm den lebendigen Mikroorganismus entzieht, um ihn hygienisch und virenfrei zu bekommen, damit sich keiner benachteiligt fühlt, stirbt er. Rhetorische Kapitulation bedeutet für mich, wenn ich eine gemäßigte Sprache wählen muss, nur um kompatibel, mehrheitsfähig und marketinggerecht zu sein. Wer sich so sehr darum kümmert nicht anstößig zu wirken, wird sich selbst irgendwann zum Stein des Anstoßes werden. Meine Rhetorik unternimmt in diesem Buch nicht den Versuch, allen alles recht zu machen. Meine Sprache kapituliert nicht aus Angst etwas Falsches zu sagen. Mein Vokabular ist vielseitig, wie mein Leben es ist. Es ist mal heiter, mal traurig und mal gereizt.
Dass Begriffe wie „Netiquette“ und „Political Correctness“ menschliche Gemütszustände zu unterdrücken versuchen, ist für mein Verständnis Ausdruck davon, dass Authentizität in unserer Gesellschaft vor allem dann erwünscht ist, solange sie nicht aneckt und sie geschmacksneutral bleibt. Seit meiner Geburt lebe ich meist außerhalb oder am Rande der Gesellschaft und bin mit den zwischenmenschlichen Gepflogenheiten nicht nur vertraut. Menschen haben an meinem Körper und an meiner Seele sämtliche Regeln gebrochen. „Netiquette“ und „Political Correctness“ ist deshalb nichts, was mir per se egal wäre, sondern etwas, was ich in entscheidenden Momenten meines Lebens von Menschen nicht erfahren und ich nicht von ihnen gelernt habe.
Der zeitweilige Versuch, anderen meine Geschichte und meine psychische Krankheit greifbar zu machen, hat mir nur selten Verständnis oder Lorbeeren eingebracht. Meistens wurde ich stigmatisiert, psychologisiert, oder mir wurde der Job gekündigt. Wie heißt es im Film „Joker“: „Das Schlimmste an einer psychischen Erkrankung ist, dass die Leute erwarten, dass du dich so verhältst, als hättest du keine.“ Der anatomische Krankheitsbereich umfasst mehr als sechsundzwanzigtausend Krankheiten aus allen Bereichen des Körpers, für welche die „Leute“ Verständnis finden. Dagegen existieren mehr als zweihundert klassifizierte Formen von psychischen Erkrankungen, bei denen die Umwelt von einem erwartet, dass man sich so verhält, als hätte man sie eben nicht. Eine psychische Krankheit zu haben heißt für mich, dass ich in Trigger-Situationen nicht multilateral denken, dass ich mich nicht präventiv verhalten, und dass ich unter Druck „Netiquette“ oder „Political Correctness“ nicht bieten kann.
Dass ich dieses Buch geschrieben habe und veröffentliche, ist einerseits Ausdruck davon, dass ich es leid geworden bin, die Ursachen meiner psychischen Krankheit stillschweigend unter den Teppich zu kehren und zu verschweigen, dass mich Menschen krank gemacht haben. Andererseits ist es auch ein Zeugnis meiner tiefen Auseinandersetzung mit dem Geschehen, in der Hoffnung durch den Schreibprozess neue Erkenntnisse über mein Leben zu gewinnen. Letztlich möchte ich aber auch die Möglichkeit wahrnehmen, meine Geschichte der Öffentlichkeit so zu Verfügung zu stellen, wie sie für mich ist – mit mannigfaltigen Gemütszustanden versetzt.
ERSTER AKT
Invasionsphase „Trauma“
I.
Die Liebesgeschichte meiner Eltern könnte rasch erzählt werden. Da gibt es nicht viel, was ich über Romanze weiß. Meinen Vater habe ich kaum kennengelernt. Meine Mutter nur für eine kurze Zeit. Um ein Traumpaar kann es sich nicht gehandelt haben. Denn nur wenige Monate nach meiner Geburt haben es die Scheidungspapiere unterschrieben. Fünfzehn Jahre später würden sich beide umgebracht haben. Das ist wahrscheinlich das Einzige, was meine Eltern mit Romeo und Julia gemeinsam hatten.
Das Meiste, was mir über sie bekannt ist, ist hypothetisch und unbelegt. Schauergeschichten über sie wurden mir meist im Superlativ erzählt. Aber das ist wohl eine Eigenschaft von Gerüchten. Sie sind immer fantastischer als die Realität. Ich habe schlüpfrige Geschichten über meine Mutter gehört und dass mein Vater ein Schlappschwanz gewesen sei. Boulevardniveau, dem ich Glauben schenken kann oder nicht. Aber wie munkelt man hinter vorgehaltener Hand: Hinter jedem Gerücht steckt ein Körnchen Wahrheit. Trotz aller Skepsis im Umgang mit Gerüchten haben solche meine Wahrnehmung auf meine Eltern zusätzlich gestört. De facto fehlt mir ein wesentlicher Teil meines Lebens. Wo sind meine Wurzeln? Die Frage nach meinem Ursprung kann ich nicht beantworten. Ich kann nichts Hieb- und Stichfestes über meine frühe Kindheit und über meine Eltern sagen. Das fühlt sich an, als würde mir etwas Essenzielles fehlen. Ein innerer Kompass, eine innere Waage, eine innere Erdung. Da herrscht eine klaffende Lücke in meinem Lebenslauf, von dem ich nichts Schönes berichten kann, weil die Lücken füllenden Gerüchte allesamt bloß schlecht sind.
Gerademal ein einziges Bild besitze ich von meinen Eltern. Es wurde beim fröhlichen und unbeschwerten Kochen am Herd eingefangen. Man stelle sich eine Achtzigerjahre-Broschüre für Eheberatung aus der Druckerei der Zeugen Jehovas vor. Wenn einem diese Vorstellung sämtliche Gesichtszüge verzieht, dann kommt man diesem Sujet recht nahe. Es wirkt in seiner pessimistisch anmutenden Umgebung süßlich, weich, romantisch, sentimental und irgendwie sogar gefühlvoll. Mein Vater trägt dunkel und eine übergroße, quadratische Hornbrille, für welche Hipster heute ein Vermögen zahlen. Meine Mutter, die mit ihrer Kombination aus einer roten Bluse und einer weißen Schürze aussieht, wie eine Fleischtheken-Mitarbeiterin der Migros, hält in ihrer Linken ein mit Pommes Frites gefülltes Frittiersieb. Es wäre mit Sicherheit einfacher für meine Erlebnisverarbeitung, wenn ich nur dieses eine Bild von meinen Eltern besäße. Nur diese eine Momentaufnahme und nicht all die hässlichen Geschichten mit dazu. Man hätte mir im Nachhinein auch lieber nichts über die Beziehung von ihnen erzählt als fiese Gerüchte, die Jahrzehnte danach weder bejaht noch verneint werden können. Wenn ich dem Gerede glauben soll, dann war die Bindung meiner Eltern etwa so stabil, wie lasche Pommes Frites.
Wenn ich dieses Foto meiner Eltern betrachte, habe ich keinen Schimmer davon, wer dieser Typ mit der Hornbrille eigentlich ist. Gefühlte dreimal in meinem Leben habe ich ihn gesehen. Tatsächlich waren es vielleicht zehnmal. Mein Vater war inexistent für mich. Ein Geist, der nicht nur sprichwörtlich an der Flasche hing. Ich wusste, dass er da war und dass es ihn gab, obwohl er nicht da war und es ihn nie für mich gegeben hat. Nein, ich habe nicht verstanden, weshalb sich mein Vater nicht bei mir blicken ließ, weshalb ich von ihm ignoriert worden bin und weshalb er mich nicht haben wollte. Fadenscheinige Deskriptionen habe ich erst als junger Erwachsener von meiner Tante erhalten. Diese waren zwar so gefärbt, wie der Inhalt einer kunterbunten Frauenzeitschrift, dennoch schufen sie mir ein vages Verständnis für die damalige Situation.
Meinem Vater wurde nach der Scheidung das Besuchsrecht für seine Kinder zugesprochen. Besuchen wollte er allerdings nur meine drei Jahre ältere Schwester und meinen zwei Jahre älteren Bruder. Mich nicht! Mich hat er auf ein Missgeschick einer frivolen Ehefrau reduziert, die von Monogamie nichts gehalten haben muss. Wegen eines folgenreichen Seitensprungs hätte er Alimente locker machen müssen, was er aber nicht konnte, weil er notorisch pleite war. Heute ist es für mich durchaus dechiffrierbar, weshalb der Hornbrillenmann mich nie als seinen Sohn anerkennen konnte. Dennoch, keine noch so stringente Argumentation und keine noch so faktische Begründung ändert etwas an der emotionalen Leere, die eine elterliche Zurückweisung bei einem Kind fabriziert. Diese emotionale Leere und das Gefühl verstoßen worden zu sein, ist zu einer Grundausstattung in meinem Leben geworden. Dieses Gefühl nicht dazuzugehören, Außenseiter und Einzelgänger zu sein, zieht sich durch mein ganzes Leben hindurch. Bis zum heutigen Tag.
Ob es mich beschäftigt, ob an den Verschwörungstheorien meines Vaters etwas dran ist? Ja, das tut es immer wieder. Obschon ich diesem Grübeln hier und heute ein Ende setzen könnte. Die freie Liebe der Siebziger hat manch vaterloses Kind produziert. Aber im Vergleich zu den Siebzigern lassen sich heute Vaterfragen im Reagenzglas klären. In jeder True-Crime-Folge wird der Zuschauer darüber belehrt, dass während den Siebzigern und Achtzigern die DNA-Analysen noch nicht verlässlich genug waren, um Täter oder Opfer einwandfrei identifizieren zu können. Weil auch mein Leben so etwas wie eine True-Crime-Story ist, soll das an dieser Stelle auch nicht anders sein. Als ich geboren wurde, gab es tatsächlich noch keine DNA-Analyse, um etwaige Vaterschaften aufzuklären. Sie kam etwa fünfzehn Jahre später auf den Markt. Anfangs der Neunziger würde sich mein Vater jedoch bereits umgebracht haben.
Viele Jahre lang habe ich mir überlegt einen DNA-Abgleich erstellen zu lassen, und habe mich dabei gefragt, was es wohl verändern würde, falls sich die Verschwörungstheorien meines Vaters bewahrheiten würden. Während ich mich als Kind noch nach einem Vater gesehnt habe, habe ich mich als Teenager gegen die Vorstellung gewehrt, dass dieser langgezogene format- und charakterlose Lulatsch mit mir verwandt sein sollte. Wenn ich an diesen Typen gedacht habe, habe ich einen schwächlichen, einen dürren, einen zu groß geratenen Hanswurst vor mir gesehen, der nichts draufhat; einen Feigling, einen Versager, einen Verlierer. Niemand an dem ich mich orientieren wollte. Ich habe diesen Menschen schließlich genauso aus meinem Leben geklammert, wie er mich aus seinem. Mein Vater ist und bleibt für mich der Unbekannte mit der Hornbrille, von dem ich bloß weiß, dass er einmal etwas mit meiner Mutter hatte.
Weil dieses therapeutische Schreiben nicht nur ein Rückblick auf meine Biografie sein soll, sondern auch eine investigative Chance zur Überwindung von familiären Missständen, habe ich mich dazu ermutigt, die leidige Vaterschaftsfrage endlich aus der Welt zu schaffen. Um dies umzusetzen, musste ich mir bloß Speichelproben eines Verwandten väterlicherseits besorgen. „Bloß“ sagt sich so einfach. Denn der Beziehungsstatus zu meiner Verwandtschaft ist kompliziert. Die Familie mütterlicherseits schweigt mich tot und mit der Familie väterlicherseits habe ich weniger Berührungspunkte als kontaktloses Bezahlen. Meine Wahl fiel schließlich auf eine Tante von mir. Ich verwende den Begriff „sehr“ nicht besonders gerne, da er eindeutige Aussagen in relative und somit in unklare Verhältnisse bringt. Aber die Überwindung mit meiner Tante, mit der ich seit einer halben Ewigkeit kein Wort mehr gewechselt habe, in einen Dialog zu treten, war wirklich „sehr“ groß. Glücklicherweise hatte ein Herr namens Ray Tomlinson einst einen Geistesblitz und hat dabei die E-Mail erfunden.
Also habe ich die Kollegen von Google beauftragt, mir die E-Mail-Adresse von meiner Tante, der Schwester meines Vaters zu besorgen. Ich hoffte, sie würde sich noch im Reich der Lebendigen tummeln, sie wäre noch ansprechbar und zurechnungsfähig. Da jeder fünfte Mensch das Rentenalter nicht erreicht und jeder zwölfte Rentner von Demenz betroffen ist, durfte ich nicht selbstverständlich davon ausgehen. Aber weder der Tod noch die Demenz fand indessen Interesse an meiner Tante. Dafür ich. Die Nachricht an sie war kurz und distanziert. Ich wollte weder heucheln noch speichellecken, obwohl Speichel im Fokus meines Interesses lag. Ein Gemisch aus Wasser, Schleim- und Mineralstoffen, Salzen und Eiweißen, von dem der Körper eineinhalb Liter pro Tag produzieren kann. Da konnte mir meine Tante ruhig etwas davon abgeben. Denn bereits eine geringste Menge davon war in der Lage, den Hornbrillenmann als meinen Vater zu bestätigen oder eben nicht. So nebenbei, gerade meine Tante war einst die treuste Jüngerin der Nichtvaterschaftsthese. Drei Jahrzehnte später schien sie überrascht zu sein, nochmals damit konfrontiert zu werden. Die Antwort auf die DNA-Analyse würde mir keinen Frieden bescheren, schrieb sie mir. Nein, würde sie nicht. Aber sie würde mir vielleicht helfen, diesen Mann und dessen Handeln besser zu verstehen.
Überraschenderweise zeigte sich meine Tante nach einigem Zögern und nach einiger Bedenkzeit hilfsbereit. Ihr Speichel konnte beweisen, ob eine Verwandtschaft zwischen uns besteht oder nicht. Der DNA-Test war also kein Vaterschaftstest in Bezug auf einen konkreten Vater. Das ist so nicht möglich. Aber die Probe von seiner Schwester konnte den ungefähren Verwandtschaftsgrad zwischen dieser und mir aufzeigen. Je mehr genetische Positionen zwischen zwei Menschen übereinstimmen, desto enger ist ihre Verwandtschaft. Das heißt, wenn schließlich keine Position übereinstimmt, ist man auch nicht miteinander verwandt. Das bedeutet wiederum, dass, wenn meine Tante nicht mit mir verwandt ist, ist sie entweder nicht die Schwester meines Vaters, oder mein Vater ist tatsächlich nicht mein Vater. Nun bekommt gerade die hartnäckige These meiner Tante ein ungeheures Gewicht. Diese lautet, dass mein Vater deswegen nicht mein Erzeuger sein kann, da er zum Zeitpunkt meiner Produktion bereits zwei Monate von meiner Mutter getrennt war. Weil ich im siebten Monat als Frühgeburt zur Welt gekommen bin, sei ich ihm einfach noch angehängt worden.
Es würde einige Wochen in Anspruch nehmen, bis das Resultat vom Labor meinen Briefkasten finden würde. Die Zeit des Wartens ist relativ emotionslos und gefasst verstrichen. Zwischendurch habe ich den Test völlig vergessen. Einerseits, weil ich das Ergebnis längst schon geahnt habe, und andererseits, weil ich wusste, dass ein genetischer Nachweis nichts an meiner gegenwärtigen Situation korrigieren würde. Meine innere Distanz zur Sache überrascht mich im Nachhinein jedoch selbst. Da habe ich im Vorfeld mehr Gemütsbewegungen erwartet. Für mich ändert indes keine DNAAnalyse etwas daran, dass ich der Bastard einer konservativen Familie bin. Wobei Bastard für „überflüssig“, „unerwünscht“ und „verpiss Dich“ steht. Keine DNA-Analyse der Welt verbessert nachträglich die Erfahrung als Kind verlassen und abgeschoben worden zu sein. Keine Speichelstudie kann diesem Kind seinen Vater oder seine Familie zurückgeben. Solche Gedanken haben jegliche Hysterie im Keim erstickt.
Meine emotionale Distanz war wahrscheinlich auch Ausdruck meiner Bemühungen, der Wahrheit möglichst rational entgegenzutreten. Gefühle verändern Wahrheit oft zur subjektiven, anstatt zur objektiven Richtigkeit. Ich wollte beim Blick auf meine eigene Geschichte kein Aquarium vor den Augen haben. Ich wollte endlich Klarheit und keine milchig schummrigen Gefühlslandschaften. Ein wenig aufgeregt war ich dann jedoch schon, als mir der Postbote das Dokument des Labors überreicht hat. Allerdings habe ich mich auch nicht lange geziemt, sondern habe das Couvert nach kurzem Innehalten aufgeschlitzt und habe es weggeworfen. Das Schicksal von Couverts halt. Als ich schließlich nur noch ein Briefpapier in den Händen gehalten habe, habe ich dieses entschlossen und im Zickzack nach dem einen Satz abgesucht, der mir eben keinen Frieden, aber Ruhe bescheren würde. Nach einigen Sekunden des Stöberns habe ich diesen ganz unten, am Ende des Textes, entdeckt: „Die Wahrscheinlichkeit einer Verwandtschaft mit Ihrer Tante liegt bei unter einem Prozent“. Ich war weder überrascht noch entsetzt.
Dank des Speichels meiner Tante kann die Vaterschaftsfrage wenigstens ein bisschen ad acta gelegt werden. „Ein bisschen“, weil ich meinen richtigen Vater wohl nie kennenlernen werde. An meine vaterlose Existenz habe ich mich längstens schon gewöhnt. Der Befund ist lediglich eine Bestätigung, dass mich mein Gefühl nie getäuscht hat. Ich war nie Mitglied einer Familie, zu der ich weder eine innere Verbindung spüren, noch eine äußere Ähnlichkeit erkennen konnte. Der DNA-Test hat vieles berichtigt. Das macht zwar nichts besser, aber die Wahrheit hilft mir nun dabei, ein realistischeres Bild über meine Mutter und über den Hornbrillenmann nachzuzeichnen. Von diesem Horizont her erscheint es mir logisch und konsequent, weshalb mich mein „Vater“ kategorisch aus seinem Leben herausgehalten hat. Die DNA-Analyse hat vor allem ihm recht gegeben. Er kann nun in Frieden ruhen. Was mich zu meiner Mutter bringt.
II.
Meine Mutter und ich sind uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir könnten Klone sein. Unsere frappierende Ähnlichkeit ist erstaunlich. Vor langer Zeit habe ich einmal ein Bild besessen, das meine Mutter mit zusammengebundenen Haaren auf einem Pferd zeigt. Das Foto hing in meiner Wohnung, wo ich von Besuchern hin und wieder gefragt worden bin, ob ich denn reiten würde. Leider habe ich meine Lebensspenderin nicht näher kennengelernt. Wahrscheinlich hätte ich mehr über mich selbst, über meine Eigenschaften und über meine Eigenheiten erfahren. Wenn in der Menschheitsgeschichte jedoch ein Mann seiner Mutter mehr ähnelte als ich, muss das an Photoshop liegen. Das alleine verbindet schon auf eine recht eigenartige Weise, wenn der eineiige Zwilling die eigene Mutter ist. Besonders, wenn sich dieser Zwilling umbringt.
Mum stammte aus einer Familie mit fünf Kindern. Wobei ich mir bei der Anzahl ihrer Geschwister nicht so sicher bin. Die Familie meiner Mutter kenne ich noch schlechter als diejenige meines „Vaters“. Ich erinnere mich gar nicht mehr an meine Tanten und Onkel und nur noch sehr vage an meine Großeltern. Sie waren offenbar Cousin und Cousine. Als Elfjähriger habe ich letztmals die Sommerferien bei ihnen verbracht. In ihrem Garten wuchs ein mit Früchten beseelter Kirschbaum, auf dem ich wie ein hungriges Äffchen herumgeklettert bin. Mein Großvater besaß einen Stall mit verspielten, weichen und kuscheligen Hasen. Hinter dem Haus tötete er diese dann mit einem Bolzenschussgerät. Das war nicht schön für mich mitanzusehen. Diese knuddeligen Langohren dann im Keller kopfüber an einem Draht hängend zu entdecken, so ganz ohne Fell, ist ein Kindheitserlebnis, an das ich mich nicht gerne erinnere. Das ist nicht mein Stil, das ist nicht gerade mein Umgang mit Hasen. Seit damals habe ich nur noch Osterhasen aus Schokolade vertilgt. Mein Großvater war nicht nur ein Tiermörder in meinen Augen, sondern auch ein Naturschänder. Er hatte eine Unart, beim Spazieren stets frische Zweige zu zerbrechen, um diese dann völlig sinnbefreit auf dem Boden zu verstreuen. Es ärgerte mich, wenn er wie Hänsel und Gretel Wegmarkierungen legte und er dafür Bäume und Sträucher verletzen musste. An meine Großmutter habe ich, außer dass sie Hasen gekocht hat, nur noch eine Erinnerung. Nämlich, dass sie mich stets herumkommandiert hat. Sie wäre eine stolze Preußin gewesen.
Meine Mutter hat mich während den Ferien manchmal eine ganze Woche lang zu meinen Großeltern verbannt, die weder Gehör noch Gespür für die Anliegen eines Knaben hatten. Als sie mir dann an einem heißen Sommertag untersagt hatten, mich im Flussbad abzukühlen, habe ich schließlich mein Recht auf Selbstbestimmung untermauert. In der Hitze des Gefechts habe ich meine Siebensachen gepackt und bin vom Sommercamp „Toter Hase“ getürmt. Per Zug bin ich durch die halbe Schweiz nach Hause geflüchtet. Dort gabs dann einen ziemlichen Affentanz. Meine Mutter sprach gerade am Telefon mit ihrer Mutter, während ich die Türschwelle überquert habe. Seit damals habe ich meine Großeltern nur noch an Beerdigungen getroffen und vom Rest ihrer Familie habe ich auch nichts mehr gehört.
Meine Mutter hat ihre Lebenswelt mit runden, glitzernden und glänzenden Selbstlügen bestückt. Wie einen Weihnachtsbaum, dessen Glanz darüber hinwegtäuscht, dass er innerlich längst schon tot ist. Dass meine Mutter jemandem ein Kind untergeschoben hat, hat wohl zu ihrem Misserfolgskonzept gehört. Obwohl Lügen kurze Beine haben, war meine Mutter gar nicht so klein im Verhältnis zu dem, was sie gelogen hat. Es war ihre Art, andere für ihren eigenen Vorteil zu blenden und ihnen Dinge vorzugaukeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nikolaus meine verzweifelten Briefe las, war höher für mich, als dass meine Mutter je eines ihrer Versprechungen eingehalten hätte. Ein Teil meines Misstrauens gegenüber Menschen stammt wohl daher, dass ich noch nicht einmal meiner eigenen Mutter vertrauen konnte und ich immer wieder von ihr enttäuscht worden bin. Die Erfahrung, dass Versprechungen nur inhaltslose Floskeln mit Melodie sind, würde ich im Verlauf meines Lebens vermehrt machen. Was meine Mutter betrifft, sie starb schließlich zu früh. Vielleicht, weil ihre funkelnde Paillettenwelt nicht kompatibel mit der hölzernen Realität gewesen ist. Die Spannung zwischen süßen Lebenslügen und bitterer Wahrheit hat sie wie eine Weihnachtskugel zu Fall gebracht und hat sie in Stücke zerbrochen.
Meine Mutter war mit ihrem Leben überfordert. Wenn ich in mich selbst hineinschaue, fällt es mir nicht schwer, eine Vorstellung von der Gestalt ihrer Dämonen zu erhalten. Es wird seine Gründe haben, weshalb ihr Leben von der Vormundschaftsbehörde gelenkt wurde. Nach der Scheidung von meinem „Vater“ hat meine Mutter sowohl ihr eigenes und auch das Leben ihrer drei Kinder nicht mehr auf die Reihe gekriegt. Sie soll verwahrlost sein. Zudem hatte sie sich, die Forderungen der Banken habe ich später im Rahmen der Erbgutsregelung selbst gesehen, mit Kleinkrediten diverser Kreditinstitute verschuldet. Trotz solcher Belege habe ich keinen Schimmer davon, was meine Mutter in ihrem Leben wirklich bewegt hat. Keine Ahnung, welchen Lebenszweck sie verfolgt hat, welche Ambitionen sie hatte und was sie nach zwei missglückten Selbstmordversuchen doch noch eine Weile am Leben erhalten hat. Hilflosigkeit, Perspektivlosigkeit und Depressionen müssen ihre Biografie jedoch mit Sicherheit beherrscht haben. Darüber hinaus waren Medikamente, Alkohol und Konsumgüter wohl die grünen, blauen und roten Weihnachtskugeln an ihrem Lebensbaum. Der zwanghafte Impuls Unnötiges zu kaufen, um ihre persönlichen Weihnachten aufrechtzuerhalten, erklärt die hohen Bankforderungen. Aber auch dieses Konstrukt von meiner Mutter ist leider bloß hypothetisch. Ich wüsste gerne mehr über sie.
Mir wurde erzählt, dass wir in einer verwahrlosten Assiwohnung, umgeben von Abfall und Hundekot gelebt hätten. Meine Mutter hätte sich Schlangen im Haus gehalten. Mal habe ich von einer entgifteten Königskobra gehört. Mal seien es Riesenschlangen gewesen, die ihre Körper durch die Zimmer gezogen hätten. Erwähnte ich eingangs nicht den Begriff „Superlative“? Alles was ich weiß, ist Wahrheitsgehalt ohne Gewähr. Ich glaube jedoch wirklich einmal eine Fotografie von mir mit Schlangen in meinen Händen gesehen zu haben. Irgendwas scheint an der Geschichte also dran zu sein. Selbst wenn es am Ende vielleicht auch nur Blindschleichen gewesen sind. Wie dem auch sei, die inneren Umstände meiner Mutter und die äußeren Zustände für die Kinder waren Grund genug, dass Helvetia ihre Hebel in Bewegung gesetzt hatte und sich die staatliche Fürsorge unsereiner angenommen hat. Drei verwilderte Bälger, die in einer zugemüllten und verkackten Bude mit Schlangen und mit einer chronisch verschuldeten, manisch-depressiven und suizidgefährdeten Frau vor sich hingammelten, sind nicht am wachsamen Auge der Kindesschutzbehörden vorübergegangen. Wenn es zudem wahr ist, dass mein Bruder und ich mit Streichhölzern und Zeitungen ein Feuerchen in der Stube gelegt haben sollen, und nur die Feuerwehr einen totalen Hausbrand hätte verhindern können, erscheint es logisch, dass meine Familie nicht unsichtbar für die Behörden geblieben ist. Wenn es zudem stimmt, dass ich Tabletten meiner Mutter für Bonbons gehalten und haufenweise Antidepressiva verdrückt haben soll, auf dass Notfallärzte mein Leben hätten retten müssen, dann sowieso.
Ich war noch nicht mal die Windeln von meinem Popo los, als die Kacke in meinem Leben schon richtig am Dampfen war. Um ein Haar verbrannt, beinahe vergiftet, völlig heruntergekommen und ziemlich asozial. Schon klar, hatte es die Vormundschaftsbehörde einer gelangweilten und bedeutungslosen Kleinstadt auf einmal ziemlich eilig. Ich würde sie, ganz im Gegensatz zu den Windeln, bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr nicht mehr wieder loswerden. Zu meinem Bedauern habe ich die Gesprächsinhalte zwischen der Vormundschaftsbehörde und meiner Mutter nie in Erfahrung bringen können. Es sind Verhandlungen von immenser Tragweite gewesen. Besprechungen, die schließlich Weichen für Katastrophen gelegt haben. Dramatische Tage müssen es gewesen sein, an deren Ende eine Frau entmündigt worden ist und sie ihre drei Kinder hergeben musste. Zu allem Unheil sind auch wir Geschwister voneinander getrennt worden. Was damals von der Behörde auseinandergerissen worden ist, hat es später nicht wieder geschafft zusammenwachsen.
Mein Bruder ist Adoptiveltern übergeben worden, meine Schwester und ich einer Pflegefamilie. Eigentlich sollte auch ich zur Adoption freigegeben werden. Doch ich war nominell derart vernachlässigt und zurückgestellt in meiner psychischen Entwicklung, dass mich keiner haben wollte. Bei meinem Bruder wurde eine Intelligenzminderung festgestellt. Sein Intelligenzquotient dümpelte bei unter siebzig, was beutet, dass er als Erwachsener bloß ein Intelligenzalter eines Zwölfjährigen hätte erreichen können. Unsere Mutter ist mit unseren Verhaltensauffälligkeiten offenkundig überfordert gewesen. Deswegen lautete ihr Plan, ihre Söhne abzugeben und ihre Tochter so zu platzieren, dass sie diese irgendwann hätte zurückholen können.
Solche Dinge zu hören hauen voll rein. Dinge wie, dass einen der Vater nicht kennen und dass einen die Mutter loshaben wollte. Bei diesen Gedanken knicke ich innerlich ein. Dennoch versuche ich meiner Mutter gegenüber fair zu bleiben und versuche mich in eine niedergeschlagene, gebrochene und nervenkranke Mittzwanziger hineinzuversetzen. Welche Gefühle haben sie wohl in jenen Tagen begleitet, in denen sie über das Schicksal ihrer Kinder verhandelt hatte? Wie ist es ihr dabei ergangen? Es gelingt mir nicht annähernd ihre Misere nachzuzeichnen. Erinnerungen an die Situation habe ich nicht. Ich war ja erst drei Jahre jung. Drei Jahre von denen ich zwar nichts weiß, die jedoch mein Unterbewusstsein mehr geprägt haben als mir recht sein kann.
III.
Im Alter von drei Jahren setzen meine ersten bewussten Wahrnehmungen ein. Zu diesem Zeitpunkt haben meine Schwester und ich bereits getrennt von unserer Mutter und von unserem Bruder in einer Pflegefamilie gelebt. Die Memoiren an diese Pflegefamilie sind lebendig und überraschend gut in meinem Gedächtnis konserviert geblieben. Ich erinnere mich an eine naturbelassene, filigrane Landfrau mit dunklem, kurzem Haar; an einen klugen, bodenständigen, bärtigen Mann; und ich erinnere mich auch an ihre drei Mädchen, die nur wenig jünger oder wenig älter waren als ich. Diese einfache Familie wohnte in einem abseits gelegenen Landhaus, an einem steilen Hang, irgendwo in einer kamelhügeligen und waldbedeckten Region der Schweiz. Nachbarhäuser gab es dort keine. Ich konnte meinen Augen freien Lauf über die grüne Landschaft und über die farbigen Bäume lassen, und ich konnte die Berge am Horizont emporsteigen sehen. Manchmal entdeckte ich Mäusebussarde, die über dem Hühnergehege ihre Kreise gedreht haben. Die miauenden Pfiffe dieser Himmelsjäger sind die allerersten Töne in meinem Leben, an die ich mich entsinnen kann. Mit dem langen und abfallenden „hiäääh, hiäääh“ kam nämlich stets große Hektik auf. Denn wenn die braunweiß gefiederten Bussarde scharf auf Chicken-Wings waren, mussten die hysterisch gackernden Eierspender so rasch wie möglich in ihren sicheren Stall getrieben werden. Jeder rannte dann wie verrückt los und sammelte das außer sich geratene Federvieh ein. Das amüsierte mich. Heute lebe ich an einem ländlichen Ort, wo Greifvögel immer wieder majestätisch anmutende Runden über mir drehen. Ihre Laute lösen etwas Beruhigendes in mir aus. Nicht selten ertappe ich mich dann mit Blick nach oben, beim Gedanken an damals.
Im Sommer sind wir gemeinsam in die Berge gefahren und haben in einer rustikalen, kleinen Berghütte aus dunklem Holz Ferien gemacht. Im Bergland zu sein war ein besonders aufregendes Abenteuer für mich. Die Abgeschiedenheit in der rauen und unberührten Felsenwildnis war mein Himmel auf Erden. Im steinigen Gelände gab es so manches zu entdecken. Da waren zahllose freche, flinke und zirpende Murmeltiere, die in der felsigen Umgebung ihr Unwesen trieben. Der wohltuende Geruch der tausendfarbigen, blühenden Alpenwiesen ist mir in der Nase hängen geblieben. Schwärme von tanzenden Bienen, springenden Heuschrecken und flatternden Schmetterlingen schwirrten um die Wette, während wir Kinder mit verzerrten Gesichtern an sauren Wiesensauerampfern kauten und wie Honigsammler an Rotklee saugten. Was waren das für Zeiten! Wir haben draußen wie Piraten in kleinen Wasserwannen gebadet, haben im hohen Gras Verstecken gespielt, haben an den steilen Hängen herumgetollt und sind wagemutig über schmale Bergbäche gesprungen. Zum Wandern trug ich ein himmelblaues Edelweißhemd, einen winzigen Rucksack und eine Mütze, auf der mein Name stand. Ich habe dieses Leben, die Natur, die Tiere und diese Menschen geliebt. Ob ich meine Mutter vermisst habe? Wahrscheinlich ja nicht. Denn ich wurde in ein vitales Leben eingeladen, von dem Jungen nur träumen konnten. Erinnerungen im Postkartenformat an die schönste Zeit in meiner Biografie. Meine Liebe zur Natur und zu den Tieren, aber auch mein Flair fürs Rustikale und Rudimentäre, habe ich wohl damals mit auf meinen Weg bekommen.
Manchmal spiele ich „was wäre, wenn“ und stelle mir dabei vor, was aus mir geworden wäre, wenn ich bei meinen Pflegeeltern hätte bleiben dürfen. Wie hätte sich mein Leben wohl entfaltet, wenn ich normal aufgewachsen wäre? Na ja, um ehrlich zu sein, ich mag dieses Spiel nicht. Egal wie ich es drehe und wende, wenn das Spiel endet, bin ich immer der Verlierer. Ein unüberlegter und hirnrissiger Beschluss der Kindesbehörden hat mir die Möglichkeit gestohlen, mich vernünftig entwickeln zu können. Wie kann man nur so fulminant bescheuert sein, ein Kind seinem sicheren Hafen zu entreißen, wenn man ahnen muss, dass sich dieser Entscheid negativ auf dessen seelische und psychische Gesundheit auswirken würde? Ein paar Unterschriften und ein förmlicher Stempel auf einer Urkunde würden mich nicht nur meiner Kindheit berauben, sondern würden alles zerstören, worauf ich gebaut und worauf ich vertraut habe. Obwohl ich noch keine sechs Jahre jung war, habe ich erneut erfahren, dass es sich nicht auszahlt menschliche Verflechtungen einzugehen, weil diese stets abrupt enden.
Bis zum allerletzten Moment, als ich aus meinem Traumleben herausgerissen worden bin, habe ich nicht geschnallt, dass ich mich von meiner Pflegefamilie und von meinem Märchenland verabschieden und das Paradies für die Hölle eintauschen musste. Vielleicht ist es bezeichnend, dass ich nicht weiß, welche Person mich aus meinem Garten Eden herausgeholt und mich zum Ort der Verdammnis deportiert hat. Aber ich sehe es noch wie einen schwarzweißen Stummfilm vor meinem inneren Auge flimmern, wie meine Pflegeeltern und die drei Mädchen beim Ausgang an der schmalen Haustreppe Spalier gestanden sind, wartend, um mich ein allerletztes Mal zu drücken. Verschleiert durch den Nebel der Zeit erfasse ich mich von meinem kleinen Dachstockzimmer die Stufen herabkommend, einer ungewissen Zukunft entgegentretend. Diese Szene ist wie ein Brandzeichen auf meinem Herzen vernarbt. Der Tag, an dem ich meine Idylle, mein Utopia aufgeben musste, gehört zum traurigsten in meinem ganzen Leben. Von da an nämlich erlosch das helle Licht der Freude, von da an zogen dunkle Wolken des Leidens über mich.
Mittlerweile sind viele Jahre an mir vorübergegangen. Als Junglenker eines Motorrades bin ich immer mal wieder durch diese bewaldete und buckelige Gegend gefahren. Dabei habe ich dieses Haus am Hang und damit einen Teil meiner Kindheitsgeschichte an mir vorbeiziehen gesehen. Natürlich habe ich mich jedes Mal gefragt, ob meine Pflegefamilie noch immer dort wohnen würde. Nie jedoch bin ich in den steilen und schmalen Kiesweg eingebogen, um einfach mal nachzusehen. So viele Welten lagen zwischen uns, nicht bloß Jahrzehnte. Verschiedenste Gefühle haben mich daran gehindert, diese unsichtbare Mauer mit meinem Motorrad zu durchbrechen und einen Spontanbesuch zu wagen. Eine Mischung zwischen der Angst abgelehnt zu werden und dem Versuch die Vergangenheit ruhen zu lassen, ließen mich stets wehmütig an meiner einstigen Arche vorbeifahren.
Etwas habe ich im Zuge dieses therapeutischen Schreibens aber nicht erwartet. Nämlich, dass ich eben solche Ängste überwinden würde. Ich wollte endlich die Version meiner Pflegefamilie hören; ich wollte mich endlich bedanken können; ich wollte endlich mal „hallo“ sagen, bevor sie sterben würden. Habe ich den Herrn namens Ray Tomlinson eigentlich schon erwähnt? Der Erfinder des E-Mails? Dieser Typ und Google halfen mir nämlich erneut, meine Hemmschwelle zu überwinden und meine imaginäre Mauer auf elektronische Weise zu umgehen. Was konnte ich schon verlieren dabei? Also schrieb ich einige wenige Zeilen und hoffte, dass meine Pflegeeltern noch wissen würden, wer ich bin und sie meine Botschaft nicht für einen Enkeltrick halten würden. Aber genau für einen solchen hielten sie meine Nachricht. Nach einigem Zögern und Prüfen haben sie mir jedoch nach wenigen Tagen geantwortet. So ist es dann nach einigen E-Mails und nach vier Jahrzehnten endlich zu einem Wiedersehen mit diesen Menschen gekommen, die mir so viel bedeutet haben.
Da waren so viele Dinge, die ich in Erfahrung bringen wollte. Doch nach den meisten habe ich letztlich gar nicht gefragt. Meine Pflegeeltern nach all der Zeit zu treffen hat mich ergriffen. Trotz aller Freude ließ ich Konfetti, Partyhütchen und Luftrüssel zuhause und ließ mir meine Aufregung nicht anmerken. Um nicht gleich loszuheulen und um nicht in eine Gefühlsduselei zu geraten, blieb ich emotional distanziert. Nach außen dickfellig, um der inneren Erregung Herr zu werden. Sowieso, um etwas nachzuholen war es viel zu spät. Einen Neuanfang wollte ich nicht. Vielmehr wollte ich nochmals die Geschichte Revue passieren lassen und mich als Erwachsener von meinen Pflegeeltern verabschieden können. Nochmals einen Blick zurückwerfen auf die Wohnstube, auf den Treppenflur, auf mein altes Zimmer im Dachstock, auf den Ausgang, wo sich mein letztes Bild eingebrannt hatte. Frieden schließen.
Inzwischen sind ist einige Zeit seit dem Sprung in meine Vergangenheit verflossen. Zurück in der Zukunft bin ich in sporadischem, schriftlichem Kontakt mit meinem Pflegevater verblieben. Gerade eben wurde mir zuteil, dass der Körper meiner Pflegemutter dem Krebs im Endstadium nichts mehr entgegenzusetzen hat. Er hat bereits bei meinem Besuch farblos und erschöpft gewirkt, sodass ich geahnt habe, dass der Zahn der Zeit an ihm nagen würde. Seit Kurzem steht nun ein Pflegebett in der Stube dieser Familie. Regungslos liegt die alte Frau dort auf einer Matratze. Lange wird es wohl nicht mehr dauern. Sie isst seit einiger Zeit praktisch nichts mehr und trinkt nur noch etwas Wasser. Ihre wachen Momente werden immer weniger. Ihr Ehemann, mit dem sie seit fünfzig Jahren verheiratet ist, und ihre drei Töchter sitzen oft an ihrem Bett und halten ihre Hand. Bald wird die Krankheit keine Macht mehr über den müden Korpus haben und die Seele wird in die Ewigkeit überführt werden. Wahrscheinlich werde ich meiner Pflegemutter nicht mehr im Diesseits begegnen. Je mehr ich diesen Gedanken in mir ruhen lasse, desto erleichterter bin ich, dass ich noch rechtzeitig über meinen Schatten gesprungen bin. Hoffentlich hat mein Sprung etwas dazu beigetragen, dass auch meine Pflegeeltern mit diesem Teil ihres Lebens haben abschließen können. Denn auch für sie ist der undurchsichtige Beschluss der Vormundschaftsbehörde ein ohnmächtiges Erlebnis gewesen, an dem sie zu zehren hatten.
IV.
Während ich mein Glück bei der Pflegefamilie noch kaum zu fassen vermocht habe, hat auch meine Mutter ihr Glück versucht und hat ein zweites Mal geheiratet. Ein gutes Händchen in Sachen Herrenwahl hat sie allerdings auch bei ihrem zweiten Jawort nicht bewiesen. Ihre Rose ist an einen mehrfach geschiedenen, cholerischen und gewalttätigen Alkoholiker mit Hang zu Feuerwaffen gegangen. Bedauerlich, dass es damals noch kein Tinder gegeben hat. Sie hätte bestimmt einen Besseren gefunden. Dieser Typ war definitiv zum Wegwischen. Trotz all ihren Fehlgriffen hatte meine Mutter wahrscheinlich nicht gleich den Teufel selbst erwartet. Das Leben meiner Mutter war eine Kette unglücklicher Ereignisse.
König Heinrich, oder besser bekannt als Heinrich der Achte, ist uns vor allem aufgrund seiner sechs Eheschließungen im Gedächtnis geblieben. Davon wurden zwei Verbindungen annulliert, zwei Frauen wurden aufgrund seines Befehls hin exekutiert, eine starb kurz nach der Geburt seines Sohnes, und nur die Letzte überlebte ihn. Mein Stiefvater dürfte die böse Reinkarnation von Heinrich gewesen sein, deshalb nenne ich ihn hier auch so. Die Wahl meiner Mutter mit dem Teufel eine Liebesbeziehung einzugehen, hat nicht nur mein Leben dramatisch verändert, sondern es hat sie ihr eigenes gekostet.
Heinrich hat gemäß eigenem Aussagen als Fremdenlegionär und als Hochseemaschinist auf Öltankern gedient. Er war ein wandelndes Comicheft, übersät mit ausgebleichten Indianer- und Frauentattoos. Nicht zu übersehen war auch der etwa fünf Zentimeter lange Goldanker, der an Heinrichs Ohr baumelte. Das Gewicht dieses Schmuckstücks riss ein riesiges Loch in das Ohrläppchen hinein. Heinrich war in Sachen Körperschmuck seiner Zeit sichtlich voraus. Mein neuer Stiefvater war ein Mittfünfziger, ein eitler, bierbauchiger Mistkerl, der sich parfümierte, sich seinen Schnauzer schwarz färbte und damit aussah, wie ein Hafenzuhälter aus den Vierzigern. Er mochte John Wayne und Freddy Quinn. Das Lied „Schön war die Zeit“ klingt heute wie eine brutale Häme auf meine Kindheit. Gar nichts davon war schön! Vielleicht hätte sich Heinrich einfach bei einer Rockergang bewerben sollen, anstatt wiederholt zu heiraten, seine Familien zu verprügeln und sie zu terrorisieren. Aber ich glaube, er besaß weder ein Motorrad, noch hatte er Freunde, fand aber dafür devote Frauen.
Die Vormundschaftsbehörde hätte es wirklich besser wissen sollen, als sie meine Schwester und mich der Pflegefamilie entrissen und uns dieser keineswegs erfolgversprechenden Ehekonstellation übergeben haben. Einer Frau, die sich nicht selbst versorgen konnte und einem Charles-Bronson-Verschnitt. Aber was verändern schon Vorwürfe? Genauso, wie meine Mutter alle belogen hat, verstand sie auch die Behörden zu täuschen. Ich weiß, dass sie ihre Vormundin wiederholt hinters Licht geführt hat. Die weinerlichen und an den Haaren herbeigezogenen Briefe habe ich selbst gelesen. Darin stand etwa, dass ich mich nach Mutters Besuchstagen panisch auf den Boden geworfen und verzweifelt „Mama“ geschrien hätte, bevor ich wieder der Pflegefamilie übergeben worden bin. Völliger Unsinn natürlich! Weder kann ich mich daran erinnern, noch hat mir das jemand bestätigen können. In Wahrheit hat uns unsere Mutter nur selten besucht. Irgendwann müssen solche Tintenlügen jedoch ihre Wirkung entfaltet haben. Zumindest genügend, um bei den entscheidungsfähigen Instanzen den Eindruck zu erwecken, dass eine Rückkehr zur Mutter und zu Heinrich das Beste für eine umfängliche Entwicklung der Kinder sei.
Vielleicht ist es nicht angebracht zu glauben, dass sich meine schlitzohrige Mutter einfach den erstbesten, heiratswilligen Idioten geangelt hat, um den Behörden ein Schnippchen zu schlagen. Aber ich kann gerade nicht anders. Um sich der amtlichen Vormundschaft zu entledigen, musste meine Mutter lediglich einen Vollspast heiraten, der auf dem Papier für sie bürgen würde. Diesem Rezept waren einige sentimentale, wehleidige und rührselige Briefe beizufügen und schon konnten meine Schwester und ich der Pflegefamilie entnommen werden. Man sagt, dass man nur Gutes über die Toten sprechen soll. Bezüglich Heinrich und meiner Mutter kann ich nicht anders als Pharisäer zu sein. Ohne mit den Wimpern zu zucken traue ich den beiden nämlich zu, dass ihr eigentliches Interesse nicht uns Kindern galt, sondern dem Kindergeld und den Alimenten. Gut möglich, dass wir bloß Profit in ihren Augen waren. Dieser Gedanke macht alles nur noch schlimmer.
Während sich meine Mutter von den staatlichen Fesseln zu entledigen versuchte, geriet sie immer mehr in Heinrichs Fänge. Diese würde sie am Ende nicht überleben. Denn im Verlaufe der nächsten Jahre würde ihr Vollspast alles und jeden drangsalieren, demütigen und terrorisieren. Er würde Frau und Kinder verbal aber auch körperlich bedrohen und sie gebetsmühlenartig verprügeln. Gewalt war seine Religion. Dieser selbsternannte G.I.-Joe war kein Fremdenlegionär, zu dem ich hätte aufsehen können, sondern bloß ein verdammter Feigling, der eine Therapie benötigt hätte.
Angst war mein permanenter Zustand. Keine Woche verging, die nicht gezeichnet gewesen wäre von lautem Streit und von roher Gewalt. Heinrich und meine Mutter haben sich dabei über alles Denkbare, über alles Undenkbare und nicht selten über Geld gestritten. Kohle schien immer knapp gewesen zu sein. Kein Wunder! Der Haudegen hat den größten Teil seiner Lebenszeit ja saufend in der Kneipe verbracht und hat sich regenbogenfarbenen Schlager aus der Jukebox angehört, bis er grün geworden ist. Wenn er dann richtig aufgeheizt war, dann war die Lilalaune gerade gut genug, um dunklen Terror zu verbreiten. Sollten übersteigerte Aggressionen und abgestumpfte Gefühle je auf eine Persönlichkeitsstörung hingedeutet haben, dann bei diesem jähzornigen Typen. Heinrich war wie eine Giftschlange, er musste beißen, um des Beißens willen. Das machte ihn unberechenbar. Frauen und Kinder waren seine vorgezogene Beute. Es waren leichte und verfügbare Opfer. Wir konnten uns ja nicht wehren. Was dieser Soziopath für ein Problem hatte? Vielleicht hatte er ja einen an der Klatsche, weil er jeden Tag einem sang- und klanglosen Job als Rinderdarmvertreter nachgehen musste; vielleicht war er ja neben der Spur, weil er ohne die Strukturen einer Diensthierarchie seinen Alltag nicht meistern konnte; vielleicht war er ja nicht ganz richtig im Oberstübchen und war deswegen mit Menschen überfordert. Aber eigentlich ist es mir völlig egal, weshalb Heinrich war, wie er war, denn seine Gewalt ist durch gar nichts zu rechtfertigen.
Einmal hatte dieser Psychopath ein Bajonett nach meiner Mutter geworfen, was eine tiefe Scharte und eine bleibende Erinnerung auf der hölzernen Eckbank hinterlassen hat. Ein anderes Mal ist Heinrich komplett ausgerastet, weil es meine Mutter nicht geschafft hatte, das Mittagessen pünktlich zu kochen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieser Beelzebub eine angeborene bipolare Störung oder eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund seines Militärdienstes hatte. Denn wer sonst gerät derart aus der Fassung und schmettert eine Flasche Holunderbeerensirup nach seiner Frau? Aber auch dieses Mal traf der besoffene Popeye nur die Wand. Ich sehe noch immer diese grünen, kochenden Bohnen auf dem Herd, bevor ich in mein rettendes Zimmer geflüchtet bin. Und ich erinnere mich noch immer an den dickflüssigen, klebrigen und dunkelroten Sirup, der an die Wände und an die Decke hoch spritzte, nachdem die Flasche an der Wand aufgeschlagen ist. Die Flecken ließen sich nicht wieder entfernen. Auch wenn meine Mutter mit allen Mitteln versucht hat diese wegzuschrubben. Wie ein schreckliches Mahnmal haben die Schmutzstellen an das Geschehene erinnert. Manchmal überkommen mich noch immer Flashbacks, wenn grüne Bohnen auf dem Teller liegen, oder wenn roter Sirup auf dem Tisch steht.
In einem Hunderudel ist es nicht selten das schwächste Tier, das als Ventil für Frustration herhalten muss. Was für Hunde gilt, ist auch beim Menschen nicht anders. Dass ich das schwächste Glied der Familie war, hat meine persönliche Situation nur noch weiter verschärft. Dass ich einen halben Kopf kleiner und eine halbe Schulter schmaler war als gleichaltrige Jungen; dass ich unterernährt, kränklich und zerbrechlich war, hat mir nicht gerade in die Karten gespielt. Sieben Jahre lang musste ich meinen Kopf für die Irritationen meiner Familie herhalten. Für alles Mögliche war ich der Sündenbock! Wenn irgendetwas Unplanmäßiges passierte oder nicht passierte, wenn irgendetwas fehlte oder irgendetwas hinzugefügt worden ist – schuldig war meist der kleine Bastard, der sich nicht wehren konnte.
Permanent mit falschen Anschuldigungen konfrontiert zu werden, hat mich nachhaltig beeinträchtigt. Aber auch, dass ich wahlweise von Heinrich und von meiner Mutter geschlagen und getreten wurde. Meistens ohne erkennbaren oder triftigen Grund und ohne Vorwarnung. Sie haben mich mit Händen und Fäusten traktiert, mit dem Gürtel, mit dem Besen, mit dem Teppichklopfer oder mit dem Kochlöffel. Für Traumapatienten ist es nicht unüblich, dass sie sich an traumatische Ereignisse nicht mehr erinnern können. Das wird wohl tatsächlich so sein. Denn vieles aus dieser schrecklichen Zeit habe ich verdrängt. Aber einige Narben im Gesicht und am Kopf helfen mir nicht zu vergessen, wozu Eltern fähig sind, wenn sie entweder zu viel Alkohol getrunken haben, sie manisch-depressiv oder sie einfach nur Arschlöcher sind.
Man will es sich nicht vorstellen, was es für ein Kind bedeutet, wenn es sich angsterfüllt in seinem Kinderzimmer verkriechen muss, weil es im Treppenhaus die bedrohlichen Schritte seines Stiefvaters hört. Man will es sich auch nicht vorstellen, was es für ein Kind bedeutet, sich aus dem Fenster stürzen zu müssen, weil es vor einem außer Kontrolle geratenen und sturzbesoffenen Gewalttäter fliehen muss. Man will es sich genauso wenig vorstellen, was es für ein Kind bedeutet, wenn es sich nicht mehr heimzukehren getraut, weil es dort keine Sicherheit findet. Pure Panik hat mich jeweils überkommen, wenn der Teufel mit gefärbtem Schnauzbart von seiner Arbeit nachhause zurückgekehrt ist. Seine Gangart im Treppenflur gab mir Auskunft darüber, ob er nüchtern, angeheitert oder ob er sternhagelvoll und aggressiv war. Es kam auf die Leichtigkeit seiner Schritte an. Waren diese gemächlich, hatte er einen normalen Tag. Waren sie zügig, so würde er demnächst wieder weggehen. Waren die Schritte jedoch langsam, angestrengt und schwer, dann standen die Zeichen auf Rot. Dann lag ein bevorstehendes Attentat in der Luft.
Am Folgetag einer Gewalteskalation hat sich Heinrich dann jeweils so verhalten, als wäre nichts geschehen. Als wären seine Raserei und Prügel nicht der Rede wert gewesen. Als wäre es völlig okay gewesen, Holunderbeerensirup-Flaschen oder Bajonette nach der Ehefrau zu werfen und den Stiefsohn zu verprügeln. Er lebte ganz nach dem Motto seines Lieblings-Western-Helden John Wayne: „Entschuldigen Sie sich nie – es ist ein Zeichen von Schwäche“. Vom selben Mann stammt übrigens das Sprichwort: „Traue keinem Mann, der keinen Alkohol trinkt.“ Ja, Heinrich und John Wayne hatten wahrlich so manches gemeinsam. Dazu gehörte auch das Faible für Waffen.
Zwei Faustfeuerwaffen lagen geladen und einsatzbereit in Heinrichs Nachttisch. Wahrscheinlich hat es sich um eine Armeepistole Kaliber Neunmillimeter und um eine Selbstladepistole Kaliber Zweiundzwanzig gehandelt. Letztere hat Heinrich dazu benutzt, um die Schädel unserer fünf Katzenwelpen unten in der Garage wegzupusten. Was für ein blöder Motherfucker! Man kann Katzenwelpen auch verschenken oder verkaufen! Katzen können Menschen Freude bereiten! Sie generieren heute Millionen von Klicks in den sozialen Medien. Aber das war Heinrich wurst. Er erschoss unsere Katzenbabys, weil er das Geld nicht haben wollte, weil er keinem eine Freude bescheren wollte und weil er der Katzen überdrüssig war. Im Anschluss an sein blutiges Massaker ist er zum Bierblöken in die Kneipe gefahren. Als er gegangen war, um seine Ruhmestat mit Alkohol zu begießen, sind wir runter zur Garage gestürmt. Dort schauderte mich ein verstörendes Bild, das ich noch immer nicht ausblenden kann. Da lagen in verschmierten Blutlachen winzige Katzenleichen auf dem grauen Betonboden. Ein aufgewühltes Kätzchen torkelte noch blutüberströmt umher und kämpfte um sein junges Leben. Auch wenn es diese Bluttat überlebt hat – wie bringt man so etwas aus dem Gedächtnis? Von diesem Moment an war ich mir gewiss, Heinrich konnte töten und er benutzte seine Waffen. Die Angst, die mich schließlich überkam, als er mich eines Tages zum Schießen in eine Kiesgrube mitgenommen hat, findet keine Worte. Während der ganzen Fahrt dorthin und während des ganzen Aufenthaltes dort war ich mir sicher, er würde mich genauso wie die Katzenbabys hinrichten.
Nicht erst seit den brutalen Katzenmorden hatte ich allen Grund zu glauben, dass uns Heinrich alle umbringen würde. Während eines heftigen Wortgefechts zwischen Mum und ihm ist einmal alles außer Kontrolle geraten. Aus irgendeinem Grund hatte dieser hirnverbrannte Wüstensöldner plötzlich eine Pistole in der Hand. Warum? Vielleicht war meine Mutter wieder einmal fremdgegangen, oder sie hatte wieder einmal irgendeinen Mist von irgendwem abgekauft, mit Geld, das niemand besessen hat. Ich weiß es nicht. Dass meine Mutter an diesem Tag aber den Pistolenlauf an sich gerissen und Heinrich aufgefordert hatte, er möge doch endlich abdrücken, ging definitiv zu weit. Hilflos bin ich daneben gesessen, ohne dass ich irgendwie hätte eingreifen können. Wie eingefroren bin ich auf der braunen Ledercouch vor dem flimmernden Fernseher gehockt und habe mich nicht einmal mehr zu atmen getraut. Ich war überzeugt, dass der Teufel meine Mutter direkt vor meinen Augen abknallen würde. Aber er tat es nicht. Ob die Vormundschaftsbehörde von solchen Vorgängen wusste? Sie hätte es wissen müssen, denn die Polizei wurde nicht nur einmal wegen häuslicher Gewalt zu uns gerufen. Jedes Mal gingen sie unverrichteter Dinge wieder fort, ohne das schießwütige Scheusal je zu entwaffnen oder es einzusperren. Aufgrund dessen würde ich Polizisten noch für eine lange, lange Zeit verachten.