Amorphis - Markus Laakso - E-Book

Amorphis E-Book

Markus Laakso

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Beschreibung

Amorphis sind eine der international erfolgreichsten Bands Finnlands. Mit ihrem aktuellen Album „Under the Red Cloud“ landeten sie gleich in den Top Ten der deutschen Albumcharts. In dieser autorisierten Biographie erzählen die Jungs umfassend, informativ und amüsant ihre abwechslungsreiche 25-jährige Geschichte und geben Einblick in ihr Privat- wie auch Bandleben. Dieses Buch ist, mit über 130 s/w und 40 Farbbildern versehen, ein Schmaus für jeden Fan!

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Die Originalausgabe erschien © 2015 LIKE, Helsinki

unter dem Titel ‚Amorphis.‘

Die Übersetzung in die deutsche Sprache wurde gefördert von

1. Auflage März 2016

Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabe by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

eMail: [email protected]; www.roterdrache.org

Buch- und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel

Übersetzung aus dem Finnischen von Tina Solda

Lektorat: Sarah Bräunlich

Das Vignett an jedem Kapitelanfang stammt von Jean-Emmanuel „Valnoir“ Simoul und wurde für „Under the Red Cloud“ entworfen. Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Nuclear Blast Records, Donzdorf.

© Die Fotos entstammen den privaten Sammlungen von Niclas Etelävuori, Esa Holopainen, Tomi Joutsen, Santeri Kallio, Tomi Koivusaari, Olli-Pekka Laine und Jan Rechberger, sofern nicht anderweitig vermerkt.

Gesamtherstellung: Jelgavas typografia

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 978-3-944180-82-3

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: Kann so etwas aus Finnland kommen?

TEIL 1 DER BEGINN DER ZEITEN

1. „Sie hatte sogar einen Namen: Isolohko“

2. „Wir sind trotzdem The Animals, nur viel besser

3. Violent Solution – „Ich wollte nichts anderes tun als in einer Band spielen“

4. Abhorrence – „Endlich hatten wir das Gefühl, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein“

TEIL 2 GESCHICHTEN VON DEN TAUSEND SEEN

5. Die Geburt von Amorphis

6. Der Vertrag mit Relapse

7. Die Aufnahme von The Karelian Isthmus

8. Das Wichtigste war eine gute Melodie

9. Tales from the Thousand Lakes

10. Mystische Videoaufnahmen in Deutschland

11. Die erste Europatour

12. Die Tales-Tour in Nordamerika

13. Die Nuclear Blast-Festival-Tour 1995

14. Auf progressiverem Kurs

15. Die schwierige Geburt von Elegy

16. Unterwegs mit Paradise Lost

17. Mit Elegy auf Tour

TEIL 3 FERN DER SONNE

18. Tuonela

19. Oppus Ausstieg und die Nordamerika-Tour

20. Am Universum

21. Far from the Sun

TEIL 4 HIMMELSCHMIED

22. Schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen

23. Eclipse

24. Silent Waters

25. Skyforger

26. The Beginning of Times

27. Circle

28. Nachwort: Ein neuer Morgen

ANHANG

I. Amorphis, gegr. 1990

II. Diskographie

III. Quellen

IV. Danksagung

V. Der Autor

BILDTEIL

VORWORT

KANN SO ETWAS AUS FINNLAND KOMMEN?

AMORPHIS SCHLUGEN BEI mir auf Anhieb voll ein. Wie Tausende meiner Gesinnungsgenossen fand ich neue Bands in den frühen neunziger Jahren hauptsächlich über die wöchentliche Radiosendung Metalliliitto, Finnlands einziges Radioprogramm, das auch extremeren Metal präsentierte. Ich liebte Moderator Klaus „Klasu“ Flaming für seinen betont sachlichen Stil. Der Kontrast zwischen seiner makellosen Hochsprache und dem musikalischen Inhalt der Sendung war oft zum Brüllen komisch und die gewählte Ausdrucksweise widerlegte elegant das damals gängige Klischee, demzufolge nur zurückgebliebene Dumpfbacken Metal hörten. Death Metal, diese animalische Unmusik, war noch eine Kaste tiefer. Diese Typen sangen ja noch nicht einmal, sondern knurrten wie in die Enge getriebene Rottweiler, sodass man kein Wort verstand. Wie konnte bloß irgendwer sowas gut finden?

Auch ich dachte zuerst ähnlich, bis mich SLAYER und SEPULTURA eines Besseren belehrten. Ich erlag dem Reiz brutalerer Gesangsstile und dürstete nach mehr, doch in der Zeit vor dem Internet gab es nur wenig Möglichkeiten, Neues kennenzulernen.

Wenn Metalliliitto lief, hatte ich stets den Finger auf der Aufnahmetaste des Kassettenrekorders, um nur ja keine Perle zu verpassen. Am 6.1.1993 geschah etwas Unerwartetes. Eine unheilschwangere, primitive Death-Metal-Nummer mit einer stilsicheren Gitarrenmelodie bohrte sich nicht nur in meine Gehörgänge, sondern strömte gleich direkt in den Blutkreislauf. Vom Sound her klang das Stück schwedisch, doch die Melodie kam von ganz woanders her. Sie hatte etwas Bekanntes und gleichzeitig einen exotisch-orientalischen Touch. Die Komposition als solche war nicht besonders ungewöhnlich, aber die Mischung war etwas Neues, Einzigartiges. Verstärkt wurde der Effekt durch grabestiefe Growls, die sich klar von der Masse abhoben.

Klasu spielte das Stück nicht ganz zu Ende, erzählte jedoch nach dem Fadeout, dass es sich um Warriors Trial von The Karelian Isthmus handelte, dem soeben erschienenen Debütalbum von AMORPHIS, und begrüßte im gleichen Atemzug die Bandmitglieder Tomi Koivusaari und Esa Holopainen zu einem Interview. „Was zum Teufel, sind das Finnen? Kann sowas aus Finnland kommen?! Da muss ich mehr von hören!“, fuhr es mir durch den Kopf. Am nächsten Tag marschierte ich in den Plattenladen.

Als anderthalb Jahre später Tales From The Thousand Lakes erschien, war meine Verblüffung noch weit größer. Nach diesem grenzüberscheitenden, experimentellen Meilenstein schien bei dieser Band alles möglich zu sein. Und es gelang ihr tatsächlich immer wieder, zu überraschen. Ob mit kühnen Stilwechseln, unkonventionellen Instrumenten, Mitgliederwechseln oder was auch immer – das Schicksal hatte AMORPHIS zu Pionieren bestimmt. Dies führte sowohl zu Preisen und Goldenen Schallplatten als auch zu Tiefschlägen und finanziellen Durststrecken.

Die erste Inspiration zu diesem Buch verspürte ich 2006, als ich Holopainen und Tomi Joutsen im Helsinkier Restaurant Ateljé für das finnische Metalmagazin Inferno interviewte. Als ich ihren spannenden Tatsachenberichten lauschte, wunderte ich mich, warum diese eigentlich noch nie irgendwer in Buchform festgehalten hatte. Meiner Erinnerung nach äußerte ich die Idee erstmals drei Jahre später gegenüber Joutsen, als ich ihn erneut für dieselbe Zeitschrift interviewte. Nach weiteren drei Jahren war sie so weit herangereift, dass ich sie einem Verlag unterbreitete. Noch einmal drei Jahre dauerte es, bis die unglaublichen Abenteuer dieser wohl einflussreichsten Musikantenvereinigung Finnlands nun endlich zwischen zwei Buchdeckeln zu finden sind.

Im Nachhinein betrachtet, erinnert der Entstehungsprozess dieses Buchs an die Entwicklung der Band selbst: voller Höhen, Tiefen und unvergesslicher Erlebnisse. Das Projekt wurde durch einen Wasserschaden bei mir zuhause und mehrere Festplattendefekte gebremst. Das Manuskript entstand unter vier verschiedenen Adressen auf fünf verschiedenen Computern, von denen einer gleich dreimal kaputtging. Das Opus führte mich an den Frühstückstisch von Holopainens Eltern, in die Gesellschaft von Metallica-Sänger James Hetfield backstage beim Sonisphere und in Jens Bogrens weltbekanntes Studio Fascination Street, wo ich der Entstehung des jüngsten Amorphis-Albums beiwohnen durfte. Nichts davon hätte ich mir vorstellen können, als ich vor 22 Jahren auf Rec drückte, um Warriors Trial auf eine TDK-Kassette zu bannen.

Mein Ziel war eine möglichst vielseitige und umfassende Schilderung der Bandgeschichte, die nicht nur informativ sein soll, sondern gleichzeitig so amüsant und unterhaltsam wie die Anekdoten der Bandmitglieder. Neben allen heutigen und früheren Mitgliedern von AMORPHIS kommen in diesem Buch auch viele Mitwirkende aus dem Umfeld der Band zu Wort. Um die Zeitreise im DeLorean von AMORPHIS noch anschaulicher zu gestalten, ist sie mit zahlreichen Fotos aus den Privatarchiven der Bandmitglieder illustriert.

Diese Geschichte erzählt von Freundschaft, Unbeugsamkeit, Durchhaltewillen, Talent, Ehrgeiz und bedingungsloser Liebe zur Musik. Ich wünsche dir beim Lesen ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben hatte!

Kuopio, den 18.05.2015

Markus Laakso

1. „SIE HATTE SOGAR EINEN NAMEN: ISOLOHKO“

SIE NANNTEN IHN den Heavy-Kiosk. Niemand wusste, wer ihn eigentlich betrieb, und geöffnet war er anscheinend auch nie. Trotzdem hatte sich der alte Holzkiosk am Rande des Esplanadi-Parks zu einem Szenetreff entwickelt, an dem Langhaarige und Lederjackenträger am Wochenende abhingen und ihr mitgebrachtes Dosenbier konsumierten. Die wenigsten kannten sich gegenseitig näher, aber man hatte sich zumindest schon einmal bei einem der Metalgigs in den Jugendzentren oder im Rockclub Lepakko gesehen. Viele kamen aus der Nachbarstadt Vantaa oder sogar von noch weiter her, um alte Freunde zu treffen und neue kennenzulernen. Am Heavy-Kiosk traf sich die gesamte Death-Metal-Szene der Hauptstadtregion, sofern damals von einer Szene überhaupt die Rede sein konnte.

Helsinki war in den achtziger Jahren wesentlich engstirniger und konservativer als in der von kultureller Vielfalt geprägten Gegenwart. Abweichungen von der Norm wurden nicht gerne gesehen. Manchmal setzte es schon ein blaues Auge, nur weil die Haare etwas zu lang waren. Auch am Heavy-Kiosk gab es öfters Ärger. Mit unschöner Regelmäßigkeit kam die Roma-Bande von Klein-Henkka vorbei, um die Teenager zu terrorisieren. Gegen die Konfrontation half nur eins: Fersengeld. Diejenigen, die den Angreifern in die Hände fielen, wurden um Bares, Zigaretten, Alkohol und sonstigen Kleinkram erleichtert. Wer sich wehrte, bekam eins aufs Maul. Langhaarige fanden schon gar keine Gnade. Wenn die Gefahr vorüber war, kehrten die Davongekommenen zurück und das nächste Bier wurde aufgemacht.

Eines Freitagabends starteten die Roma wieder einmal einen lautstarken Überraschungsangriff auf den Heavy-Kiosk. Einer von ihnen fing an, Tränengas auf die Metaller und Punks zu sprühen. In Panik zerstreuten sich die Anwesenden in alle Himmelsrichtungen und niemand kapierte, was genau eigentlich los war. Die Augen brannten, der Hals war wie zugeschnürt, aber die Füße funktionierten. Ein Fünfzehnjähriger aus Haaga und ein Dreizehnjähriger aus Martinlaakso wählten inmitten des Chaos dieselbe Fluchtrichtung. Sie verstanden sich auf Anhieb, doch es sollten zwei Jahre vergehen, bis sich ihre Wege das nächste Mal kreuzten. Dies war die erste Begegnung zwischen Esa Holopainen und Jan Rechberger, den Gründungsmitgliedern von AMORPHIS.

ESA SEPPO ANTERO HOLOPAINEN wurde als einziges Kind von Marja und Seppo Holopainen am 1. Oktober 1972 in der Helsinkier Frauenklinik geboren. An jenem Tag wurde in Turku der Straßenbahnbetrieb eingestellt und in Finnland fanden Kommunalwahlen statt, bei denen SPD und Sammlungspartei die meisten Stimmen erhielten. Die internationalen Nachrichten wurden von Watergate und Vietnamkrieg beherrscht, dem Terroranschlag auf die olympischen Spiele in München, dem Bloody Sunday in Nordirland und einem versuchten Attentat auf Chinas großen Vorsitzenden Mao Tse Tung.

Die Krise in der Frauenklinik war harmloser: Esa brach sich im Geburtsgang das Schlüsselbein. Nachdem die Verletzung verheilt war, strahlte ein fröhliches Baby in die Welt, das laut seiner Mutter zu einem braven, verantwortungsbewussten und ausgeglichenen Kind heranwuchs, das stets sein Wort hielt. Die im Elternhaus gelernten Werte prägen Esas Charakter bis heute.

Als der Sohn zur Welt kam, leitete Marja einen Kindergarten und Seppo arbeitete als Optiker. Später gründete Seppo sein eigenes Brillengeschäft, Haagan Optikkoliike, in dem auch Esa zu Berufsschulzeiten als Praktikant an der Kasse stand. Das Geschäft, das auch „Seelentrost für Omas“ bot, befand sich am Palokaivo-Platz im Süden des Stadtteils Haaga, wo die Familie auch wohnte. Da die Wohnung nur zwei Zimmer hatte, erhielt Esa seine eigene Ecke im Schlafzimmer der Eltern. Sie war während seinen ersten acht Lebensjahren das Zentrum seines Mikrokosmos.

„Meine Eltern konnten notfalls auch streng sein, aber meine Kindheit war eigentlich ziemlich locker“, beschreibt Holopainen. „Mir wurde praktisch nichts verboten, und ich hatte nie das Bedürfnis, aufsässig zu werden, weil ich mich irgendwie eingeengt gefühlt hätte. Ich wurde meiner Meinung nach gut erzogen und hatte eine glückliche Kindheit in einem sicheren Zuhause. Ein bisschen verwöhnt wurde ich wahrscheinlich auch. Ich hab’s zwar nicht so empfunden, aber Einzelkinder haben halt ihre Privilegien.“

Seine Eltern bemühten sich um ein Zuhause, das auf Vertrauen, Offenheit und gegenseitiger Wertschätzung basierte und in dem Vater und Mutter jederzeit ansprechbar waren. Wenn Esa doch einmal Mist baute, setzte es keine Strafen, sondern die Angelegenheit wurde in Ruhe ausdiskutiert. Der Junge konnte sich gut alleine beschäftigen. Als Kind reichte ihm die Nähe der Familie, und er forderte keine besondere Aufmerksamkeit. Ein Grund dafür war seine Schüchternheit. Esa klingelte nicht gerne bei anderen. Seine Freunde holten ihn entweder zum Spielen ab oder besuchten ihn zuhause. Der schmale, schnell in die Höhe geschossene Junge fühlte sich in größeren Gruppen eher unwohl und hatte wenig Lust auf gemeinsame Spiele. Vermutlich gerade deswegen hatte er für Einzeldisziplinen wie Taekwondo, Schwimmen und Tennis mehr übrig als für Mannschaftssportarten.

„Ich hab’ alleine Tennisbälle gegen die Wand vom alten Kino Arita in Haaga geschlagen, weil ich keinen Spielpartner hatte. Mit Fußball und Eishockey konnte ich absolut nichts anfangen. Ich schau’ mir heute noch lieber Boxen oder Billard an als Fußball. Obwohl ich für Mannschaftssport nicht viel übrig hab’, ist das Spielen in einer Band irgendwo damit vergleichbar: Alle ziehen an einem Strang, die Leistung des Einzelnen ist nicht so wichtig, sondern das ganze Paket muss funktionieren. Am meisten bewundere ich Ausdauersportler und ihre Mentalität, das ist absolute Spitzenklasse. Kampfsportarten bieten im Prinzip denselben Reiz wie Gigs: Adrenalin. Wenn du mit einem Sparringpartner trainierst, kannst du eins auf die Nase kriegen. Das gibt dem Ganzen mehr Spannung und eben diesen zusätzlichen Adrenalinkick.“

Esa lernte mit fünf Jahren lesen und brachte aus der Stadtteilbücherei zunächst Lucky Luke, Asterix und Tim und Struppi mit nach Hause. Später folgten Abenteuer und Fantasy, unter anderem Die 3??? von Robert Arthur, J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe und Unten am Fluss von Richard Adams. Alte Volkssagen faszinierten ihn schon als Kind. Dass AMORPHIS sich später lyrisch vom Kalevala-Epos inspirieren ließen, erscheint ihm gewissermaßen als logische Fortsetzung.

Der Junge interessierte sich für Spiele, die Köpfchen erforderten, und zeigte schon früh eine künstlerische Ader. Zeichnen und Malen machten ihm so viel Spaß, dass er in der Schule Kunst statt Musik wählte und von einer Karriere als Werbegrafiker träumte. Er fand es inspirierend, mit eigenen Händen Kreatives zu schaffen, und hatte obendrein Talent. Noch heute zeichnet er oft Karikaturen seiner Bandkollegen, wenn ihn im Tourbus die Langeweile überkommt.

Der Mittelpunkt seines Lebens war sein zuhause, aber sein Lieblingsort war das Sommerhaus in Sahalahti bei Kangasala, wo die Familie seit den fünfziger Jahren ein Grundstück besaß. Das Strandidyll war weit weg vom Stadtleben und somit eine ganz andere Welt. Die Natur faszinierte die „Künstlerseele“ des Jungen schon früh, wie sich Mutter Marja erinnert. Er erforschte Umgebung und Pflanzenwelt mit allen Sinnen. Das Sommerhaus ist heute noch sein liebster Zufluchtsort – nicht zum Komponieren, sondern zum Entspannen.

Bei den Holopainens lief oft Musik, vor allem Jazz. Marja und Seppo verfolgten im Fernsehen die Festivalübertragungen von Pori Jazz und alles, was mit dieser in den zwanziger Jahren in New Orleans aus dem Blues geborenen Mischung europäischer und afrikanischer Musiktraditionen zu tun hatte. Esa begann schon als Dreijähriger, seinen eigenen Geschmack zu entwickeln. Auf Kinderlieder folgten Michael Jackson und der finnische Schlagersänger Fredi. Mit sechs fand er Elvis toll und zwei Jahre später ABBA. Jazz konnte er nicht ausstehen.

Holopainen mit vier Jahren im Sommerhaus in Sahalahti

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern je etwas anderes gehört hätten als Jazz“, überlegt Esa. „Ein paar Klassikscheiben hatten wir wohl, aber hauptsächlich lief Miles Davis und so was. Meine frühesten musikalischen Erinnerungen hängen mit unserem Klavier zusammen. Meine Mutter versuchte, mir ein bisschen darauf beizubringen. Bei der Gitarre ist eine gewisse Synchronisation erforderlich, damit überhaupt was zu hören ist, aber das Klavier liefert dir auf Anhieb Feedback.“

Laut seiner Mutter konnte Esa gut singen und seine Stimme war „so klar und schön, wie sie bei einem kleinen Jungen nur sein kann.“ Oft spielte Marja auf dem Klavier Kinderlieder, die Esa mit heller Stimme mitsang. Als es ihn später ernsthaft zur Musik zog, wunderte sich seine Mutter oft, warum er nicht mit dem Singen weitermachte.

Bevor die Musik für ihn zur Hauptsache wurde, erhielten Bücher und Pinsel eine andere Konkurrenz: den Commodore 64. Der 1982 lancierte und bald äußerst populäre Heimcomputer bot mit seinen primitiven, aber süchtig machenden Spielen eine Art interaktive Fortsetzung der Abenteuerromane. Die Holopainens waren um 1980 herum aus ihrer Zwei- in eine Dreizimmerwohnung etwa einen Kilometer weiter nördlich umgezogen. Der Sohnemann bekam ein eigenes Zimmer, in dem er sich ungestört in seine virtuelle Erlebniswelt vertiefen konnte. Je spannender das Spiel, desto besser. Sein Favorit war Forbidden Forest (Cosmi Corporation, 1983), in dem sich die Spielfigur mit einer Armbrust bewaffnet durch einen Wald voller Monster kämpfen musste.

„Die frühen Commodore-Spiele hatten unheimlich spannende Soundtracks, so simpel sie ansonsten waren. Manchmal jagte einem schon die Musik Angst ein. Sie sorgte für das richtige Feeling“, erinnert sich Esa. „Forbidden Forest hatte mit seiner Horrorszenerie aus Pixelfiguren eine Atmosphäre, die dich einfach packte.“

Zwar hatte Holopainen schon als Kind viel Musik gehört, doch als er 13 war, schlug das unverbindliche Interesse unversehens in Leidenschaft um. Im Jahr 1985 waren die Softrocker DINGO aus der Kleinstadt Pori die beliebteste Band in Finnland, während sich ihre Landsleute von HANOI ROCKS international einen Namen machten. Gleichzeitig rückte Heavy Metal ins weltweite Rampenlicht, dank Megasellern aus England, Deutschland und den USA. Das Internet war noch weit entfernt, aber bei der Suche nach neuen Lieblingsbands halfen Zeitschriften, die Musikabteilung der Bücherei, die Plattenregale von Freunden und die wöchentliche Hitparade im Staatsfernsehen. Dort wurden ohne Vorurteile „Jugendmusikvideos“ gezeigt, darunter manchmal sogar Metal.

Holopainen mit zwölf Jahren im Sommerhaus.

Ein Jahr später geriet die Musik in sein Visier.

In der Gesamtschule Haaga war es nichts Ungewöhnliches, dass die Kids eigene Schallplatten in die Musikstunde mitbringen und der Klasse vorstellen durften. Eines Tages im Jahr 1984 hatte Holopainens Klassenkamerad Miika Savi das neue DEEP PURPLE-Album Perfect Strangers dabei. Die Nadel senkte sich, das Vinyl knisterte und Knocking At Your Back Door begann mit einem düster verzerrten Riff aus John Lords Hammond. Hinzu kam Roger Glovers Bass, dessen Dramatik einem Actionfilm Ehre gemacht hätte. Das hypnotisch pulsierende G glich einem angsterfüllten Herzschlag. Ian Paice setzte mitten im Takt ein und leitete auf das Hauptriff über, das von Lord und Richie Blackmore im Duett gespielt wurde. Als Ian Gillan die ersten Zeilen schmetterte, wusste der Siebtklässler, wo seine Bestimmung lag.

„Knocking At Your Back Door war der Startschuss. DEEP PURPLE war die erste Band, für die ich mich richtig begeistern konnte. Davor hatte ich schon IRON MAIDEN und so weiter gehört, aber eher deswegen, weil meine Kumpels die auch hörten. MAIDENs Powerslave (1984) kam etwa zur gleichen Zeit raus, aber Perfect Strangers hinterließ einen bleibenden Eindruck“, erinnert sich Holopainen.

Das musikalische Erwachen führte dazu, dass sein Plattenregal sich mit Klassikern füllte: PINK FLOYDs The Wall (1979), Ozzy Osbournes Bark At The Moon (1983) sowie IRON MAIDEN und JUDAS PRIEST. Auch Musik im weiteren Sinne begann ihn zu interessieren. In der Helsinkier Eishalle gaben sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zahlreiche angesagte Metalbands die Ehre. Sein erstes Konzert in dieser Halle sah Esa mit 14, als IRON MAIDEN auf ihrer Somewhere in Time-Tour-Runde am 12.11.1986 in Helsinki Station machten. Die Show mit ihrer Weltraumthematik war ein so überwältigendes Erlebnis, dass er sich danach alle in der Eishalle gastierenden Bands ansah, sofern sie ihn auch nur ansatzweise interessierten.

„Was mir von dem MAIDEN-Gig am meisten im Gedächtnis blieb, war die geballte Energie: die ganze Zeit volles Rohr, die Band hatte das Publikum total im Griff, alle reckten die Fäuste in die Luft wie im Rausch. So ähnlich funktionieren wohl auch Massenveranstaltungen von religiösen Sekten: Es ist leicht, sich von der Begeisterung anstecken zu lassen. Zum Glück war’s bei mir IRON MAIDEN und nicht irgend so’n Prediger. Die Bühnenshow war der absolute Hammer, sowohl bei der Somewhere- als auch bei der Seventh Son Of A Seventh Son-Tour. Vor allem, als Eddie auf die Bühne kam. Das war ganz großes Kino. Faszinierend ohne Ende.“

Aufmerksamkeit weckte neben Bühnenbild und Dramaturgie auch das nahtlose Zusammenspiel von Adrian Smith und Dave Murray. Die Gitarristen waren auf der Bühne gleichberechtigt: Beide spielten sowohl Rhythmus- als auch Leadgitarre und ergänzten sich gegenseitig, anstatt einander Konkurrenz zu machen. Vor allem jedoch verliehen die reichlich vorhandenen Gitarrenharmonien den Melodien mehr Saft und den Arrangements mehr Kraft. Dem war zwar auch auf Platte so, aber von den Sitzrängen aus zu sehen, wie genau diese Harmonie entstand, war ein Schlüsselerlebnis. Ähnlich beeindruckend waren etwas später die Konzerte von DEEP PURPLE und METALLICA am selben Ort. Die eigenen Helden auf der Bühne zu erleben, weckte den Traum, selbst Musiker – vielleicht sogar Rockstar – zu werden, und motivierte zu Taten.

„Mein Interesse an der Gitarre begann mit der Power, die von der Bühne in der Eishalle ausging. Dazu kam, dass Gitarristen etwas Heldenhaftes an sich hatten. Die Achtziger waren ja das goldene Zeitalter des Gitarrensolos. Und die langen Solos vor großer Kulisse machten natürlich Eindruck. Das hatte einfach was. Ich hätte mir für mich gar kein anderes Instrument vorstellen können“, so Holopainen.

Beflügelt von diesen Erlebnissen lag Esa seinen Altvorderen alsbald mit dem Wunsch nach einer E-Gitarre in den Ohren. Die Eltern wollten jedoch erst einmal testen, ob das Interesse ernsthaft oder vielleicht doch nur eine vorübergehende Laune war. Sie besorgten dem Sohn eine klassische Gitarre und versprachen, ihm eine elektrische zu kaufen, wenn er gut genug spielen könne. Der Gitarrist in spe verbarrikadierte sich mit der akustischen in seinem Zimmer. Zuerst klimperte er Songs nach Gehör, doch bald nahm er auch Unterricht. Sein Onkel Tuure Holopainen, von Beruf Schlagzeuger und Sänger, empfahl als Lehrer seinen alten Bandkollegen Kauko Piipponen.

„Kauko war Hausmeister, so richtig vom alten Schlag. Weil die Gitarre Nylonsaiten hatte, sollte ich im klassischen Stil mit Fußstütze spielen. Er hatte selbstgeschriebene Übungshefte, für die er natürlich Geld haben wollte. Nach den handgekritzelten Noten sollte ich dann spielen lernen. Wurde natürlich nichts draus, zumal er pädagogisch eine glatte Null war. Ich war ein paarmal da, bis ich meinem Vater sagte, dass ich da nicht mehr hinwollte, weil es einfach keinen Sinn hatte. Danach hab ich erstmal ’ne Zeitlang gar nicht gespielt.“

Im Sommer 1987 bekam Esa jedoch von seiner Großmutter eine schwarze Ibanez Roadstar II zur Konfirmation, dazu einen kleinen Verstärker ohne Effekte. Es dauerte lange, bis ihm klar wurde, dass er Pedale brauchen würde, um verzerrte Sounds zu produzieren. Die Gitarre war ein Basismodell mit verschraubtem Hals, Tremolo und einem Humbucker. Holopainens Interesse währte eine Weile und ließ dann wieder nach. Es erwachte erst nach ein oder zwei Jahren wieder, als Freunde von ihm ebenfalls anfingen, Musik zu machen. Gemeinsam herumzuschraddeln machte Spaß und half beim Überwinden sozialer Hemmungen. Der in der Schule befindliche Proberaum wurde zum Zentrum der gemeinsamen musikalischen Aktivitäten.

„Wir hatten in Haaga sowas wie – wie soll ich’s nennen – die Vorstufe einer Band. Sie hatte sogar einen Namen: ISOLOHKO. Gesungen hat Aba, ein gnadenloser NAPALM DEATH-Fan, am Bass stand ein gewisser Pera, und wer war doch gleich am Schlagzeug? Immer wenn wir Zeit hatten, trafen wir uns und ließen es krachen. Das war im Grunde meine erste Banderfahrung.“

ISOLOHKO spielte nur eigene Stücke, so man sie denn als solche bezeichnen konnte. Das Zusammenspiel war nicht im Geringsten koordiniert: Esa feuerte Riffs in die Gegend, Pera hämmerte auf dem Bass herum, der Drummer versuchte, im Takt zu bleiben, und Aba grölte nach dem Zufallsprinzip ins Mikro. Dem Feeling tat das keinen Abbruch: Energie und Lautstärke der Bandproben machten süchtig, und das Gemeinschaftsgefühl war unglaublich. Hinterher gab es nur einen Gedanken: Wann proben wir das nächste Mal?

Der erste und einzige Gig von ISOLOHKO fand in der Mittelstufendisko statt. Es war Esas erster öffentlicher Auftritt als Gitarrist. In der Turnhalle waren Bänke für die Zuhörer aufgestellt. Die Musiker bauten fiebernd vor Aufregung ihre Ausrüstung auf und legten los. Auf der Bühne herrschte Bombenstimmung, im Publikum eher Verwirrung. Außer den Bandmitgliedern hatte niemand im Saal jemals Grindcore gehört, woran die Kakophonie von ISOLOHKO noch am ehesten erinnerte. Ein komplettes Fiasko war die Show trotzdem nicht, eher eine wertvolle Lektion in den Grundlagen des Rock’n’Roll.

„Vor Publikum zu spielen ist etwas völlig anderes, als im Proberaum zu lärmen. Du hast aufnahmebereite Leute vor dir, und es herrscht eine ganz andere Spannung und Energie. Das hat sich in all den Jahren nicht geändert. Ich hab erst später gelernt, dass Gigs eine interaktive Angelegenheit sind. Das Publikum gibt viel von dem zurück, was du ihm gibst. Als Musiker fühlst du dich wohl, wenn’s den Leuten gefällt. Damals in der Turnhalle war eine Austauschklasse aus Norwegen da. Die norwegischen Mädels quatschten uns direkt nach dem Gig an. In dem Moment merkte ich, dass Musizieren positiv auf das andere Geschlecht wirkt. Kein Wunder, dass sich Jungs im Teenageralter dafür interessieren“, scherzt Holopainen.

Die Geschichte von ISOLOHKO war kurz, machte jedoch Lust auf mehr. Der junge Gitarrist wollte mehr aus seinem Instrument herausholen und sich musikalisch weiterentwickeln. Er beschloss, wieder Unterricht zu nehmen. Diesmal war keine Fußstütze gefordert. Der neue Lehrer war Petteri Hirvanen aus der Nachbarstadt Espoo, der tagsüber im Musikgeschäft Musamaailma arbeitete.

„Hirvanen war der Gitarrensuperheld von Helsinki. Er hatte immer Fans um sich rum, wenn er bei Musamaailma seine Show abzog. Ich nahm ein Jahr lang bei Petteri Stunden. Hatte sicher auch einiges davon, wobei es freilich meistens so war, dass Petteri tierisch verkatert war und Schwänke aus seinem Leben erzählte. Hirvanen war ein Shredder vom klassischen Typ, sodass wir vor allem Arpeggiotechniken durchgingen. Die Theorie blieb außen vor. Wir versuchten quasi, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen. Weder Piipponen noch Hirvanen taugten viel als Pädagogen, aber mit Petteri war es zumindest lustig.“

Letztendlich war jedoch der Weg zu den Gitarrenstunden zu lang und umständlich. Der Fünfzehnjährige musste mit dem Bus zuerst von Haaga in die Helsinkier Innenstadt und von dort aus weiter nach Haukilahti in Espoo fahren. Manchmal war Hirvanen dann nicht einmal zuhause, weil er den Termin vergessen hatte. Die schlechten Erfahrungen mit Privatstunden führten Esa schließlich dazu, lieber im Selbststudium und gemeinsam mit Freunden weiterzumachen. Daheim in seinem Zimmer verbrachte er täglich Stunden damit, sich Riffs von METALLICA, DEEP PURPLE und IRON MAIDEN herauszuhören. Manchmal übte er auch nach Noten und Tabulaturen, die er im Musikladen Fazer kaufte.

„Zuhause war ich eigentlich nur noch am Gitarre spielen. Ist manchmal heute noch so. Ab und zu gibt es Phasen, in denen ich die Gitarre nicht anrühre, aber normalerweise spiele ich fast jeden Tag. Nach Gehör zu spielen ist eine der besten Lernmethoden überhaupt. Coversongs übe ich immer noch so. Der Gitarrist, der mich am stärksten beeinflusst hat, ist David Gilmour. Im Lauf der Zeit hab ich oft PINK FLOYD-Songs nachgespielt oder dazu gejammt. Gilmours Stil und Ansatz sind nahe an dem, was ich selber als Gitarrist anstrebe: Gefühl in jeder Note. Der andere ist Blackmore. Er hat einen ganz eigenen Stil mit hohem Wiedererkennungswert“, resümiert Holopainen.

Mit der Übung und Entwicklung wuchs das Selbstvertrauen. Als Esa hörte, dass Jan Rechbergers Band VIOLENT SOLUTION einen Gitarristen suchte, griff er ohne Zögern zum Telefon, obwohl er seinen alten Bekannten nicht mehr gesehen hatte, seit Klein-Henkka und seine Bande mit Tränengas auf den Heavy-Kiosk losgegangen waren.

2. „WIR SIND TROTZDEM THE ANIMALS, NUR VIEL BESSER!“

JAN-MARKUS „SNOOPY“ RECHBERGER (geb. 13.06.1974) und Tomi Samuel „Koippari“ Koivusaari (geb. 11.04.1973) wuchsen als Nachbarn in Martinlaakso auf. Der umgangssprachlich „Martsari“ genannte Stadtteil von Vantaa wurde später als Heimat der Formel-1-Stars Mika Häkkinen und Mika Salo bekannt. Es war jedoch beileibe keine reiche Nachbarschaft, sondern eine asketische Hochhauslandschaft, die in den Jahren 1968-1975 neben den Einfamilienhäusern der Alteingesessenen hochgezogen worden war. Die Rechbergers wohnten im „grünen“ Block, die Koivusaaris im „roten“. Es handelte sich um die typischen Plattenbauten ihrer Zeit: ein Haus wie das andere, entworfen unter funktionellen Gesichtspunkten ohne Rücksicht auf Ästhetik.

„Martsari wurde im Prinzip ein paar Jahre vor mir geboren“, erzählt Koivusaari. „Unser Haus wurde im gleichen Jahr fertig, als wir einzogen. Ich verbrachte da die ersten 18 Jahre meines Lebens. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich drei war. Ein Jahr später oder so brach mein Vater den Kontakt ab, sodass ich ihn eigentlich gar nicht kannte. Er ist 2005 gestorben. Ich habe seit meinem vierten Lebensjahr einen Stiefvater, das war für mich immer mein Papa. Mama arbeitete in einer Boutique und in einem Lebensmittelgeschäft. Wir waren nicht reich, aber meine Kindheit war völlig in Ordnung. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir irgendetwas fehlte.“

Koivusaari im Hof seines Elternhauses in Vantaa-Martinlaakso.

Auch Tomi wuchs als Einzelkind auf, doch in dem großen Häuserblock war es ein Leichtes, Freunde zu finden. Wie viele seiner Altersgenossen schwärmte er für Serien wie Kampfstern Galactica und Knight Rider und las Mad-Hefte sowie das finnische Satiremagazin Pahkasika. Ob elektrische Eisenbahn, Schlittenfahren oder das ungeschickte Zeichnen von Comics: Wenn Tomi sich für etwas begeisterte, war – und ist – sein Einsatz total. Er war kein besonders wildes Kind, aber auch kein Drückeberger. Wenn im Hof etwas los war, war er immer dabei.

„Bei der Schneeballschlacht mit dem Nachbarblock kamen gelegentlich Steinschleudern zum Einsatz. Die Jungs von nebenan nahmen Gefangene und folterten sie. Da ging es heftig zur Sache. Wenn die Großen sich einen geschnappt hatten, schleppten sie ihn in den Keller und verdroschen ihn mit ’ner Rute. Wenn die Mütter zum Essen riefen, gingen trotzdem alle friedlich nach Hause. Hinterher ging die Schlacht dann weiter.“

Koivusaari erinnert sich gerne an das wilde Treiben, auch wenn es nicht ohne Blessuren abging. So mancher Stein traf sein Ziel, wenn auch mehr aus Versehen. Auch Koivusaari erwischte einmal mit seiner Steinschleuder die Stirn seines Gegners. Vor Schreck flitschte er gleich noch einen zweiten Stein hinterher. Und patsch! Wieder voll auf die Stirn.

„Der Kerl fing an zu schreien und ich ergriff die Flucht“, erinnert sich Koivusaari. „Er warf mit Steinen nach mir und traf mich an der Schläfe. Es blutete so stark, dass ich zum Arzt musste. Ich drohte natürlich, dass er mir Arzt und Reinigung bezahlen müsste!“

Koivusaari in der vierten Klasse

Als Koivusaari aus dem Krankenhaus zurückkam, suchte er den Kampfesgegner. Der Junge war über das Geschehene so erschüttert, dass er sich versteckt hatte, und niemand wusste, wo er war. Als die Lage sich nach vier oder fünf Stunden entspannt hatte, kam er aus seinem Versteck hinter dem Haus hervor und das Spiel ging weiter, als ob nichts geschehen wäre. „Ich glaub’, ich hab’ später mal ein Auto von dem gekauft“, überlegt Koivusaari. „Ich hatte ihn zwar jahrelang nicht mehr gesehen, aber der Typ hatte zumindest denselben Namen und sah auch in etwa so aus.“ Koivusaaris erste Liebe war Fußball. Er fing mit sieben Jahren an und es gab nichts, was ihm annähernd so viel Spaß machte. Er kickte fast täglich beim Club Vantaan Jalkapalloseura und träumte davon, Profi zu werden. Gedämpft wurde die Begeisterung schließlich durch die in der Jugendmannschaft üblichen Gepflogenheiten: Spieler, deren Eltern die Mannschaft nicht aktiv unterstützten, mussten regelmäßig die Ersatzbank warmhalten. Auch aus einem anderen Grund verschwand das Training bald aus dem Kalender. „Meine Fußballkarriere endete damit, dass das Lokalblatt über unsere Band THE ANIMALS berichtete und mein Trainer die Story las. Darin fand sich das Zitat: ‚Wir haben sonst keine Hobbys mehr.‘ Der Trainer rief bei uns zuhause an und fragte: ‚Solltest du vielleicht mit dem Fußball aufhören? Ich hab’ gehört, du hast jetzt andere Interessen.‘ Dabei spielte sicher eine Rolle, dass das Team ohnehin gerade ausgedünnt wurde. Trotzdem war es ziemlich dramatisch für mich. Was sollte ich schon sagen? ‚Naja, wär vielleicht besser.‘ Da war ich zwölf“, seufzt Koippari.

Jan Rechberger wurde in Vantaa-Ylästö geboren, lebte aber vom ersten bis zum neunzehnten Lebensjahr in Martinlaakso. Auch er hörte mit dem Fußballspielen auf, als der Metal die Oberhand gewann. Als mittleres Kind einer Musikerfamilie wuchs er in einer musikalischen Umgebung auf. Sein Vater, der 1970 von Österreich nach Finnland gezogene Herman Rechberger, ist Komponist und Multi-Instrumentalist, seine Mutter Soile Rechberger Musikpädagogin und Klavierlehrerin. Jan, seine jüngere Schwester Nina und seine ältere Schwester Jaana wurden zum Musikmachen ermuntert, aber nicht gezwungen.

„Als ich anfing, Rock und Heavy zu hören, wollte ich auch selber spielen. Meine erste Rockscheibe war das Debütalbum von KISS. Ich hatte Geburtstag und mein Dad schlug vor, dass ich mir im Plattenladen von Myyrmäki eine LP aussuchen sollte. Als wir den Laden betraten, fiel mein Blick sofort auf das KISS-Album. Ich sagte, die will ich. Papa fragte, ob ich mich nicht wenigstens zuerst umgucken wolle. Nein, ich wollte genau die. Die Masken und das Image fand ich toll. Zuhause legte ich die Platte sofort auf. Schon beim ersten Fill von Strutter war ich hin und weg. Danach kaufte Papa mir öfters spontan Platten, von denen er glaubte, sie könnten mir gefallen, zum Beispiel IRON MAIDENs Live After Death (1985) und WHITESNAKES1987 (1987). Als er merkte, dass ich Gitarre lernen wollte, war er sofort dafür, kaufte mir eine Gitarre und zeigte mir ein paar Griffe.“

Die einzige Stereoanlage der Rechbergers stand im Wohnzimmer, wo Herman komponierte und Soile Klavierstunden gab. Der Vater ließ den Sohn und dessen Freunde Platten hören, während er daneben an seinem großen Schreibtisch saß und auf Notenblättern mit dem Stift neue Musik schuf. Die Konzentrationsgabe des vielfach national und international prämierten Musikers war phänomenal.

Snoopy als Kind

„Mein Vater machte sich als Modernist einen Namen und komponierte äußerst experimentelle Musik. Er baute selber Instrumente und konstruierte in Auftragsarbeit mechanische und elektronische Musikinstallationen im In- und Ausland. Später spielte er unter anderem in Folkgruppen mit und schrieb Kammermusik, romantische Klassik, Opern und alles, was dazwischen lag. Bei uns lief auch Ethno aus aller Welt. Wir gingen regelmäßig ins Konzert und meine Eltern gaben oft selber welche. Zuhause lief eigentlich ständig Musik. Irgendwer spielte immer irgendwas. Als Kind war ich auch oft im Studio, denn mein Dad arbeitete bei der Rundfunkgesellschaft im Experimentierstudio für elektronische Musik.“ Snoopy war von ruhigem Naturell, aber experimentierfreudig. Wie Koivusaari war auch er für jeden Unfug zu haben.

„Mein erster Kumpel war der Jussi, der im selben Hochhaus wohnte. Zusammen haben wir allen möglichen Scheiß gebaut, zum Beispiel mit dem Hammer die Flurwände demoliert, von wegen ‚hey guck mal, das geht ja kaputt!‘ Da gingen dann zwei Ferientage drauf, als wir ganz klein mit Hut die Löcher zuspachteln und übermalen durften.“

Rechberger ging in die finnisch-russische Schule in Helsinki-Kannelmäki, wohin er von Martinlaakso aus mit dem Bus fahren musste. Ihm gefiel es dort, auch wenn keine Freunde aus der Nachbarschaft da waren. Die Klassen waren klein, die Atmosphäre locker und der Unterricht exzellent.

„Unsere Familie und unser ganzer Bekanntenkreis waren ausgesprochen links und multikulturell. Wir hatten Freunde aus praktisch jedem Erdteil. Ich denke, dass das der Hauptgrund dafür war, dass meine Eltern mich und meine Schwestern auf eine Spezialschule schickten und es war eine gute Entscheidung. Später hab’ ich bedauert, dass ich nicht bis zum Schluss dageblieben bin. Dort ging’s wesentlich entspannter und toleranter zu als hinterher in Martsari, wo gegenseitiges Verkloppen und Fertigmachen an der Tagesordnung waren“, berichtet Snoopy.

Rechberger gründete seine erste Band schon im Grundschulalter. Sie hieß XEROX. Mit dabei waren zwei Freunde, die ebenfalls auf die Ohrwürmer und die dramatische Optik von KISS abfuhren. Den Namen fanden sie auf einem Kopiergerät. Die Qualität der Instrumente spielte keine Rolle, Feeling und Action dafür umso mehr. Das Equipment von XEROX bestand aus einem Bass, einer Landola-Westerngitarre und ein paar Blechtonnen, die als Schlagzeug dienten. Proberaum war der Katastrophenschutzraum des grünen Blocks im Nachbarhaus der Rechbergers.

„Keine Ahnung, wofür die Tonnen gedacht waren, vielleicht als Wasserbehälter, aber der Bunker war voll von den Dingern. Wir haben sie als Trommeln verwendet, weil wir nichts anderes hatten. Noch nicht mal richtige Drumsticks. Einer schrammelte auf der Landola herum, ein anderer prügelte auf die Fässerbatterie ein. Aber wir waren mit vollem Ernst bei der Sache. Einmal gaben wir ein Konzert für unsere Eltern und Nachbarn. Wir hatten keinen Bassverstärker, also schlossen wir den Bass an einen Kassettenrekorder an, damit es wenigstens so aussah, als hätten wir einen. Mama deutete hinterher an, dass vom Bass nichts zu hören war“, grinst Snoopy.

Mit XEROX war es jedoch vorbei, sobald Rechberger Koivusaari kennenlernte. Der elfjährige Koippari hatte damals schon eine eigene Band. Am Schlagzeug saß Tomi Rautiainen, der im selben Block wohnte. Für den Bass war ein neunjähriger Steppke namens Janne Rättö zuständig, der kaum länger war als sein geliehenes Instrument. Bei den Proben verwendete Rättö noch nicht einmal einen Verstärker, sondern zupfte die Saiten nur der Form halber. Der Sänger war ein Klassenkamerad von Koippari. Die Gruppe hatte sogar ein VHS-Musikvideo aufgenommen, was sich bald im ganzen Block herumsprach. Der Clip endete damit, dass Koivusaari, inspiriert von MÖTLEY CRÜE, eine alte Akustikgitarre zerdepperte.

Im September 1985 besuchte die Truppe – bis auf den Drummer, der mit seinen Eltern im Urlaub war – eine Kinderdisko im Mehrzweckraum des Nachbarblocks. Koivusaari wusste, dass der dort wohnende Rechberger Schlagzeug spielte und eine Band hatte. Persönlich kannten sich die beiden jedoch nicht. Bereits die erste Begegnung trug Früchte: „Als ich Koippari zum ersten Mal bei uns in der Disko traf, stellte sich raus, dass er Gitarre spielte. Wir waren sofort dran, hey, lass uns ’nen Song schreiben! Bei ihm im Keller gab es einen richtigen Proberaum, wo ein paar ältere Jungs ihre Ausrüstung aufgestellt hatten. Ein Schlagzeug und Gitarrenverstärker – der pure Luxus! Wir ließen das Mikrofon von einem Lüftungsrohr baumeln und nahmen das Stück direkt auf Kassette auf. Koippari spielte Gitarre, ich Drums“, berichtet Rechberger.

Als die schmalzige Ballade im Kasten war, nahmen die beiden das Tape frohen Mutes mit hinüber in den Partykeller und steckten es in die Anlage. Das eigene Stück in der Disko zu hören, war Balsam für das Selbstbewusstsein. Auch beim Publikum kam die Nummer gut an. Obwohl die Nachwuchsrocker vor Stolz fast platzten, verlangte die Aktion Stillschweigen: Der Schlagzeuger von Koivusaaris Band sollte nichts von dessen musikalischen Abwegen erfahren. Das Stück hieß Sleeping Boys.

„Als ich mit dem Musikmachen anfing, war Rambo angesagt und für mich gab’s nur Metal. An irgendwelche Nebeneffekte dachte ich noch gar nicht. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie unser frisch aufgenommener Song da in der Disko lief und die Mädels anfingen, Blues zu tanzen. Viele sagen, dass sie mit der Musik angefangen hätten, um Frauen zu beeindrucken. Das lag uns zwar fern, aber in dem Moment wurde mir der Zusammenhang klar“, grinst Koippari. Nach diesem denkwürdigen Tag war das Duo jahrelang unzertrennlich. Da Koivusaaris Band bereits einen Schlagzeuger hatte, wurde Rechberger als Sänger engagiert. Die Band nannte sich THE ANIMALS.

„Die Musik von THE ANIMALS ist schwer einzuordnen“, so Koivusaari. „Wir schrieben von Anfang an eigene Songs, die Heavy Metal darstellen sollten. Ich hörte ACCEPT und W.A.S.P., Snoopy BON JOVI und EUROPE. Unsere Mucke war irgendwo dazwischen. Eine Band von kleinen Jungs, die sich wie wilde Rocker fühlten, mit Texten à la ‚I miss you‘. Ziemlich grauenhafter Müll. Keiner konnte richtig spielen, alle hatten es sich selbst beigebracht.“

Die Motivation war jedoch gewaltig. Die Truppe probte fleißig im Bombenkeller von Koipparis Block. Die Nachbarn beschwerten sich regelmäßig über den Krach, aber die Band hatte einen einflussreichen Verbündeten: Ein älteres Mitglied des Hausverwaltungsbeirats stellte sein altes Schlagzeug zur freien Verfügung. Als THE ANIMALS besser wurden und mehr Stücke beieinander hatten, fingen sie an, in den umliegenden Kellern Konzerte zu geben. Der Eintritt kostete meist 50 Penni (knapp 10 Cent) und hinterher gab es Bonbons für die Band. „Zu den Kellergigs kamen sogar ein paar ältere Kids, die uns unterstützten. Das gab uns Selbstvertrauen. Wir legten damals einfach los, ohne Hemmungen oder Selbstkritik. Ein bisschen nervös waren wir zwar, aber es war ziemlich geil“, schildert Koippari. Als es mit der Musik ernster wurde, änderte sich der Freundeskreis allmählich: die Mitmusiker blieben, der Rest verschwand aus dem Blickfeld. Koivusaari und Rechberger probten voller Eifer täglich nach der Schule. Jeweils einer von beiden kam mit seinem Gitarrencombo zum anderen, und es ging voller Kreativität ans Songschreiben. Oft schauten sich die beiden zur Inspiration Konzertvideos diverser Metalbands an.

„Klar waren wir damals schon davon überzeugt, dass das unsere Mission ist. Erst kürzlich traf ich übrigens eine alte Schulkameradin von mir. Sie hatte noch ihr altes Freundealbum, in das ich in der fünften Klasse geschrieben hab, dass ich später Rockmusiker werde. Ich wollte nie Feuerwehrmann oder Polizist werden. Entweder Fußballer oder Musiker“, konstatiert Koippari. Die Band lernte allmählich neue Tricks, zum Beispiel wie man einen Verzerrer simuliert: Die älteren Jungs rieten dazu, ein Stück Plastikrohr auf den 10W-Kombiverstärker zu stellen, sodass es beim Spielen vibrierte.

„Wir waren begeistert: ‚Boa, das klingt ja richtig echt!‘“, erinnert sich Koippari. „So war das damals. Lustige Zeit.“ Als nach diversen Kellergigs das Repertoire und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten groß genug waren, fasste die Band die umliegenden Schulen ins Auge. Um ihren Kalender zu füllen, marschierten die Musiker persönlich zu den jeweiligen Musiklehrerinnen oder -lehrern und fragten, ob sie auftreten dürften. Meist war die Antwort positiv. THE ANIMALS spielten in diversen Schulen rund um Martinlaakso, Myyrmäki, Vaskivuori und Kivimäki. Das Publikum war verhältnismäßig groß, denn die Auftritte fanden tagsüber statt und waren für die Schulklassen Pflichtprogramm. „Im Lehrerzimmer kriegten wir immer grünes Licht und die Kids hatten sicher auch nichts dagegen, an ’nem Dienstagmorgen was anderes geboten zu kriegen als Unterricht. Wir hatten uns von VAN HALEN die Luftsprünge abgeguckt. Bei den Älteren und den Lehrern mag das gewisses Amüsement ausgelöst haben. Unsere Gigs weckten zwar keine Hysterie, aber einige fanden’s bestimmt ganz gut“, erinnert sich Snoopy. „Natürlich gab’s auch immer welche, die es absolut scheiße fanden oder einfach nur buhten, um cool zu wirken.“

Rock und Metal galten von jeher als Teufelszeug: dekadent, hedonistisch und zu Drogen, Verderben sowie Unzucht verleitend. Das Gefühl von Gefahr und Rebellion war ein wesentliches Element. Auch bei den Gigs von THE ANIMALS, obwohl die Bandmitglieder ihre eigene Botschaft noch nicht so ganz verstanden. Ihnen kam es nur auf das Feeling an. „Wir spielten als Zugabe On mulla unelma von SIELUN VELJET. Die Lehrer drehten die Lautstärke runter und sagten, dass es Zeit wäre, aufzuhören“, erzählt Koivusaari und fügt lächelnd hinzu: „In dem Song ist die Rede davon, sich mit der finnischen Flagge den Arsch abzuwischen und unseren Wappenlöwen mit LSD zu füttern.“

Koippari an der Gitarre und Snoopy am Mikrofon -

THE ANIMALS live in der Mårtendal-Schule, 1986.

Die Bühnenshow erregte die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts: THE ANIMALS „I like you“-Briefe von Mädchen, die ihre Gefühle für die Musiker bekundeten und auf Gegeninteresse hofften. Für eine Kinderband erhielten THE ANIMALS überraschend viel Aufmerksamkeit. Die wohl größte Ehre war ein Artikel in der Lokalzeitung Etelä-Vantaa. Verfasserin des am 12.3.1986 erschienenen Interviews war Anna Pérez, die große Schwester eines Kumpels von Rechberger.

„Danach fühlten wir uns auf den Straßen von Martinlaakso wie Stars“, lacht Koippari. Die Einleitung des Artikels schildert den Eifer, das Selbstvertrauen und die hohe Arbeitsmoral der 10- bis 13-jährigen Nachwuchsmusiker: „Viele bekannte Teeniebands haben ähnlich angefangen wie THE ANIMALS aus Martinlaakso. Manche schaffen es mit Glück an die Spitze, andere mit Talent, aber bei dieser Band merkt man, dass sie außerdem an harte Arbeit glaubt.“ Zum Zeitpunkt des Interviews hatte die Band sieben Liveauftritte hinter sich. Einige Bandmitglieder gaben zu, auf der Bühne Make-up zu verwenden, und alle wünschten sich zum Geburtstag oder zu Weihnachten eigene Instrumente, um nicht mehr von den größeren Jungs leihen zu müssen. Als Einflüsse nannten sie die SCORPIONS, W.A.S.P., KISS und AC/DC, als größte Live-Hits Koivusaaris Ballade I Gonna Love You, S.I.X. und das gute alte Sleeping Boys. Schon in diesem sympathischen Artikel wurde Koivusaari Koippari genannt und Rechberger Snoopy.

THE ANIMALS in der Lokalzeitung.

„Der Spitzname Snoopy stammt in etwa aus der Zeit. Er entwickelte sich daraus, dass jemand meinen Nachnamen zu Ressu abkürzte – das ist der finnische Name von Snoopy aus den Peanuts“, erklärt Rechberger. Eines Tages kam ein älterer Nachbarsjunge an, der THE ANIMALS lobte, aber hinzufügte, dass es schon eine Band dieses Namens gäbe. Die anderen ANIMALS aus England und hätten wohl schon ziemlich viele Platten verkauft. „Die älteren Typen aus unserem Hof waren schwer in Ordnung. Die haben uns nie runtergemacht, sondern immer unterstützt“, berichtet Snoopy. „Als wir hörten, dass es die ANIMALS schon gab, war uns das wurscht: ‚Wir sind trotzdem THE ANIMALS, nur viel besser!‘ Wir hatten noch nie von denen gehört und keine Ahnung, dass das ’ne Klassikerband von alten Knackern war.“

Letzten Endes beschloss die Gruppe jedoch, ihren Namen in ACCELERATE zu ändern. Gleichzeitig wurde der Musikstil härter, seien und Sänger Snoopy griff zusätzlich zur Gitarre. Der Name war an ACCEPT angelehnt, eines der wichtigsten Vorbilder der Band. ACCELERATE kamen jedoch nicht weit, weil Snoopy und Koippari sich verkrachten. Der Streit hatte auch musikalische Gründe: die Geschmäcker hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt.

„Ein Klassenkamerad spielte uns METALLICAs Ride The Lightning (1984) vor“, erinnert sich Koivusaari. „Ich fuhr drauf ab, Snoopy nicht. Ich fing an, härteren Metal zu spielen, als ich METALLICA, ANTHRAX und so weiter entdeckte. Damals kam’s nicht in Frage, in mehreren Bands gleichzeitig zu spielen, also stieg ich bei ACCELERATE aus und fing an, zu zweit mit meinem Klassenkameraden Juha Rytkönen zu spielen.“

„Natürlich war das ’ne Riesentragödie und Krise“, gibt Rechberger zu. Koivusaari und Schlagzeuger Rytkönen probten einige Male und versuchten, weitere Mitglieder zu finden. Das Projekt schlief jedoch schnell ein. In der Zwischenzeit hatten ACCELERATE Koivusaari durch den späteren ABHORRENCE-Gitarristen Kalle Mattsson ersetzt, einen Klassenkameraden von Snoopy, aber es dauerte nicht lange, bis Koippari und Snoopy sich wieder vertrugen und eine neue Band gründeten.

„Wir stritten zwischendurch wie ein altes Ehepaar und gingen auf Abstand zueinander. Danach stellten wir wieder eine Band auf die Beine. Wir haben ja nichts anderes gemacht als Musik: hören, spielen, uns gegenseitig Platten überspielen“, sagt Koivusaari.

Die neue Band wurde ENVIOUS getauft. Drummer war weiterhin Tomi Rautiainen, Koippari und Snoopy spielten Gitarre und letzterer sang. Auch Snoopy hatte inzwischen härteren Metal für sich entdeckt.

„Als Kind hörte ich Rockabilly wie MATCHBOX, CRAZY CARAVAN und Elvis, aber mit Heavy fing alles an. Koippari liebte W.A.S.P. über alles und ich KISS. Danach gaben wir uns alle Metalbands, die wir auftreiben konnten: ACCEPT, DIO, AC/DC, WHITESNAKE, DEEP PURPLE … you name it. Wenn jemand zuhause eine Satellitenschüssel hatte, gingen wir mit der Videokassette in der Hand hin und nahmen Metalvideos von Sky Channel auf. Von da aus wurde es immer härter“, erinnert sich Snoopy.

Auch für ihn stellte Ride The Lightning von METALLICA den Wendepunkt dar. Seiner eigenen Erinnerung nach gefiel Rechberger das Album jedoch auf Anhieb.

„Ich stand damals auf SCORPIONS und sowas. Sampsa „Hepa“ Henni, der mit mir auf die russische Schule ging, fuhr auf METALLICA ab. Als er das erste Mal Ride The Lightning auflegte, dachte ich: ‚Das ist ja wohl nicht wahr! Wo zum Teufel kommt so ’ne Musik her?!‘ Koippari fing als erster an, Speed und Thrash zu hören – ANTHRAX, METALLICA, MEGADETH und SLAYER – und bald fanden wir es beide verdammt geil und wollten selber schnelleren Kram spielen. So fing’s dann an.“

Die neue Band ging von Anfang an in Richtung Speedmetal. ENVIOUS spielten zwei Gigs in Schulen und feilten soweit an den Stücken, dass beschlossen wurde, ein Demo in einem richtigen Studio aufzunehmen. Die Jungs packten ihr Equipment und marschierten zu Tonal Productions in Lauttasaari. Das Studio war klein und technisch bescheiden, aber der asketische Rahmen war dem Eifer nicht abträglich. Innerhalb eines Tages sollten alle sechs Songs der Band auf das 16-Spur-Gerät von Fostex gebannt werden.

„Wir hatten nur einen Tag gebucht, also mussten wir alle Stücke innerhalb von ein paar Stunden einspielen und mixen. Es war supercool, zum ersten Mal in einem richtigen Studio zu sein. Wir hatten null Ahnung von nix, und der Studiobesitzer war auch nicht viel schlauer. Die Songs nahmen wir live auf. Dabei merkten wir, wie übel sich unsere Fehler anhörten. Trotzdem klang das Demo zigmal besser als die Kassetten, die wir im Proberaum aufgenommen hatten. Natürlich waren wir Feuer und Flamme. Die Songs hatten furchtbar kitschige Namen, zum Beispiel TTM (Trust To Mosh). Ich betone, dass ich zu dem Zeitpunkt vielleicht 14 war und Snoopy 13!“ Das Demo wurde nie offiziell veröffentlicht. Kopien gingen ausschließlich an Freunde sowie an mögliche Auftrittsorte. Das Demotape brachte ENVIOUS schon sehr bald einen Gig ein, und zwar im Jugendzentrum Kauniainen bei der Speed Metal Party am 18.3.1989. Hauptact der Veranstaltung waren PRESTIGE aus Tampere, deren Karriere im Aufwind war. Der gemeinsame Gig mit PRESTIGE war eine so große Sache, dass die Band beschloss, sich einen besseren Namen zuzulegen: VIOLENT SOLUTION, frei nach einem Stück von SACRED REICH, deren Album Ignorance (1987) auch die Optik des neuen Logos inspirierte. Die Band probte fleißig für ihren ersten Auftritt. Die Erwartungen waren hoch und die Spannung nahezu greifbar, als plötzlich das ganze Kartenhaus krachend in sich zusammenstürzte.

3. VIOLENT SOLUTION  – „ICH WOLLTE NICHTS ANDERES TUN ALS IN EINER BAND SPIELEN“

EINE WOCHE VOR dem ersten Gig von VIOLENT SOLUTION verstarb Tomi Rautiainen. Der plötzliche Tod des Freundes traf die Bandkollegen hart. Koivusaari hatte Rautiainen von klein auf gekannt. Sie hatten lange im selben Block gewohnt, bevor die Rautiainens nach Klaukkala zogen.

„Ich hab’ bis heute keine Ahnung, was da eigentlich passiert ist. Tomi war allein zuhause, weil seine Eltern verreist waren. Sein Vater war Jäger, und zuhause lagen Waffen rum. Es kam völlig überraschend. Auch Rautiainen hatte sich voll auf den Auftritt gefreut. Die Sache hat uns ziemlich erschüttert“, sagt Koippari mit leiser Stimme.

Für die mitten im sensiblen Teenageralter steckenden Jungen war es schwierig, den Tod ihres Freundes zu verkraften. Das Geschehene erschien ihnen unfassbar. Rautiainen hatte weder unter Depressionen gelitten noch jemals selbstzerstörerische Gedanken geäußert. Er wurde einfach eines Tages tot zuhause aufgefunden. Leider sollte sein Tod kein Einzelfall bleiben.

„Um die Zeit rum brachten sich fünf Typen aus Martsari vor ihrem 18. Geburtstag um: sprangen vom Dach, erschossen sich, warfen sich vor den Zug oder schluckten Tabletten“, seufzt Koippari. „Das war so eine kranke Mode, völlig sinnlos. Unbegreiflich.“

Auch die Eltern von Rautiainen und Koivusaari kannten sich und sprachen tagelang miteinander über den Tod des einzigen Kindes. Der Auftritt als Vorgruppe von PRESTIGE in Kauniainen wurde abgesagt, und VIOLENT SOLUTIONs Zukunft stand auf Messers Schneide. Die Band beschloss jedoch, auf der Gedenkveranstaltung für Rautiainen im Jugendzentrum von Klaukkala zu spielen. Die Drums übernahm Pete Eklund, der später in einer Plattenfirma und als Videoregisseur Karriere machte. Seine vielseitigen Fills und das phänomenale Tempo, mit dem er das Doppelbasspedal bediente, beeindruckten die anderen, und er wurde auf der Stelle fest engagiert. Gleichzeitig zogen VIOLENT SOLUTION vom Schulproberaum in Martinlaakso in die Garage von Eklunds Eltern nach Klaukkala um.

„Wir blieben oft übers Wochenende in Klaukkala, um Scheren, Tritten und Fäusten zu entgehen. Damals hattest du’s als Langhaariger nicht leicht. Wir probten tagsüber und suchten uns abends draußen ein ungestörtes Plätzchen zum Biertrinken. Eklunds Vater nahm unsere Proben oft auf Video auf. Er konzentrierte sich immer auf Petes megaschnelle Bassdrums“, lacht Koippari.

Der Musikgeschmack der Bandmitglieder wurde schrittweise härter, auch wenn die Entwicklung nicht bei allen gleich schnell verlief. Schon bald buchte man eine eintägige Session im Studio Syke Oy in Nurmijärvi. Das Line-up bestand aus Sänger und Gitarrist Rechberger, Gitarrist und Backgroundsänger Koivusaari, Schlagzeuger Eklund und Bassist Miika Kulinock. Die Band hatte im Voraus beschlossen, welche Songs sie aufnehmen wollte, weswegen sämtliche Killerriffs, die ihnen vor dem Studiotermin noch einfielen, in Spreads Of Insanity integriert wurden. Das Stück wurde schließlich zwölfeinhalb Minuten lang. Das am 03.09.1989 aufgenommene und gemischte Demo erhielt den Namen Disorder Of Composure. Das Artwork stammte von Koivusaaris und Rechbergers Nachbarn Mikael „Arkki“ Arnkil, später Drummer von ANTIDOTE und Bassist von IMPALED NAZARENE. Die Kassette wurde vom Rockmagazin Rumba mit Lob bedacht und enthielt vier Songs: Spreads Of Insanity, Disorder Of Composure, Eternal Misantropy und das 8 Sekunden lange Ballad To Ballad.

„Ich hab mal gezählt: das erste Stück hat 28 verschiedene Riffs und keine Passage wiederholt sich“, kommentiert Koivusaari. „Stone kamen gerade groß raus und es herrschte das Gefühl, dass auch aus Finnland coole Sachen kommen können. Wir verfolgten aufmerksam die Demosendung von Klaus Flaming. Er spielte sogar ein Stück von uns. Unsere Klassenkameraden hörten es auch. War schon sehr geil, ins Radio zu kommen. Snoopy war noch nicht mal im Stimmbruch, oder so klingt sein Gesang zumindest.“

VIOLENT SOLUTION mit Freunden backstage vor einem Auftritt, 1989.

Rechberger verstand sich nie als Sänger, obwohl er den Ton halten konnte und einen Sinn für Melodien hatte. Der Job war ihm eher versehentlich zugefallen, weil er seinerzeit unbedingt zusammen mit Koivusaari spielen wollte und bei THE ANIMALS nur der Platz am Mikro frei war. Er beschreibt seinen Vokalstil bei VIOLENT SOLUTION mit Worten wie „Kreisch-Growl-Versuche“ und „Thrash-Gegröle“. Akzentuiert wurden die brutalen Lautäußerungen durch unfreiwillige Kiekser – Begleiterscheinung des Stimmbruchs.

„Unsere Mucke war ziemlich krasser Prog, wenn ich das so sagen darf“, schildert Snoopy. „Wiederholungen gingen gar nicht. Disorder Of Composure hatte noch mehr Riffs als Spreads Of Insanity, über 30. Obwohl wir selber Musik hörten, in der Wiederholungen die Regel waren, kapierten wir nicht, dass ein Songbestandteil ruhig mehrmals vorkommen darf.“

Koivusaaris früheste musikalische Erinnerung besteht darin, wie er zuhause „mit riesigen Kopfhörern“ dem 1976 erschienenen Solodebüt von Freeman lauschte. Der schnauzbärtige Popsänger hatte damals einen Megahit namens Ajetaan tandemilla, der zu Tomis erstem Lieblingslied wurde. 1982 folgte Nuku pommiin von Kojo, das von den finnischen Rocklegenden Jim Pembroke, Juice Leskinen und Otto Donner als Eurovisionsbeitrag geschrieben worden war, allerdings keine Punkte erzielte. Koivusaari nahm das Stück vom Fernseher auf, indem er den Kassettenrekorder vor den Lautsprecher hielt. „Timo Kolli, ein Nachbarsjunge, der später bei TWILIGHT OPHERA Schlagzeug spielte, war damals drei Jahre alt. Er kreischte rum, als ich am Aufnehmen war. Ich fuhr ihn an: ‚Sei still, ich versuch’ aufzunehmen!‘ Das alles war natürlich auf der Kassette zu hören.“

In Tomis Verwandtschaft gab es zahlreiche Musiker, sowohl mütterlicherseits als auch in der Familie seines Vaters Pekka, zu der er allerdings praktisch keinen Kontakt hatte. Seine Mutter Helena hatte eine schöne Stimme und sang gerne. Sie spielte auch Theater und nahm den Sohn oft zu Proben und Aufführungen mit. Tomi konnte die Dialoge der Stücke oft auswendig, da er seiner Mutter beim Üben half.

„Ich kam schon als kleines Kind mit Bühnen und Musik in Kontakt. ABBA, BACCARA, Katri Helena und finnische Schlager liefen bei uns fast pausenlos. Mein biologischer Vater, so hab ich mir sagen lassen, drehte immer seine Lieblingsband URIAH HEEP voll auf, wenn er mit meiner Mutter stritt, als ich im Krabbelalter war. Mein Stiefvater Jukka dagegen hörte hauptsächlich finnische Evergreens wie Olavi Virta und RAUTAVAARA. Später verdiente ich mir ein bisschen Taschengeld damit, ihm die alten Klassiker auf der Gitarre beizubringen. Manchmal jammten wir zusammen, er auf der Ziehharmonika und ich auf der Gitarre. Meine musikalischen Grundlagen erhielt ich zuhause, auch wenn unsere Geschmäcker sehr verschieden waren. Sogar mein Name war vom Musical Tommy inspiriert“, berichtet Koivusaari.

Eine E-Gitarre hielt er erstmals bei seinem Grundschulkameraden Olli-Pekka Ollikainen in der Hand. „Olkka“ war schon damals ein talentierter Gitarrist, und einen Gleichaltrigen Heavy-Klassiker wie Stairway To Heaven spielen zu hören, weckte in Tomi den Wunsch, es selbst zu lernen. Einen zusätzlichen Ansporn lieferten die amerikanischen Schockrocker W.A.S.P. mit ihrem Video I Wanna Be Somebody.

Bei Koivusaaris zeigte der Fernseher nur die drei finnischen Kanäle Yle TV, Yle TV2 und MTV3, die wenig Musik boten. Die Familie war jedoch öfter bei Freunden zu Besuch, die Sky Channel empfingen, einen britischen Kanal, dessen Schwerpunkt auf Musikvideos einschließlich Metal lag. Als Sänger Blackie Lawless mit seinem wilden Outfit aus Spandexhosen, bis zum Gürtel aufgerissenen Hemd, Kreissägengürtel und schwarzgrau gefärbtem Haarschopf auf dem Bildschirm erschien, war es um den Elfjährigen geschehen. Neben dem dramatischen Image packte ihn auch die rotzige, aber eingängige Musik.

„I Wanna Be Somebody haute mich um. Tomi Rautiainen stand auf TWISTED SISTER und hatte eine Snaredrum. Ich wollte eine E-Gitarre, weil’s so cool aussah. Bei meinen Großeltern in Kainuu schrammelte ich I Wanna Be Somebody auf der Mandoline. Daraufhin kriegte ich von Oma und Opa 400 Finnmark für eine Gitarre. Fast hätte ich einen Bass gekauft, denn ein älterer Nachbarsjunge wollte seinen loswerden. Blackie spielte ja auf dem ersten Album Bass. Der Typ hat seinen Bass dann aber doch nicht verkauft, also wollte ich wieder eine Gitarre.“

Mit der großelterlichen Spende, etwa 65Euro in heutiger Währung, betrat Koivusaari den Musikladen Myyrmäen Soitin. Dort arbeitete Jukka Tolonen, einer der Väter des finnischen Progrocks. „Die hier ist voll gut!“, beschwor der international bekannte Gitarrist und drückte dem halbwüchsigen Kunden eine Shiro Sprinter-Stratkopie in die Hand. „Ja, die kann was“, stimmte Koivusaari nach kurzem Testklimpern zu.

Er bezahlte das Instrument und nahm es mit nach Hause. Seine Meinung bezüglich der Qualität der Gitarre schlug schnell ins Gegenteil um, auch wenn die Shiro allemal besser war als die alte Akustikklampfe, auf der er sich bisher versucht hatte. Er brachte sich das Spielen bei, indem er Songs aus dem Gedächtnis nachspielte oder zu Platten jammte. Manchmal schrammelte er einfach, was ihm gerade einfiel. Erst Jahre später lernte Koivusaari die Namen der Akkorde. Nachdem er einigen Jahren in Eigenregie gelernt hatte, beschloss er, Unterricht zu nehmen. Direkt in der ersten Stunde beanstandete der Lehrer die Art, wie Koivusaari das Plektrum hielt. Dieser war jedoch der Meinung, seine Gewohnheit nicht mehr ändern zu können, und mit dem Unterricht war es schnell vorbei.

„Ich halte das Plec wahrscheinlich heute noch völlig verkehrt“, gibt Koivusaari zu. „Mittlerweile merk ich’s selber: Mir tut schnell die Hand weh. Auch meine Spielhaltung ist ziemlich unorthodox.“ Er hatte auch kein Interesse am Üben von Technik, Geschwindigkeit oder Solos und sieht sich nach wie vor nicht als besonders technisch versierten Gitarristen. Stattdessen konzentrierte er sich auf Dinge, die ihm natürlich erschienen und wie von selbst kamen. „Um 1990 rum fing ich an, PINK FLOYD und anderen Siebzigerkram zu hören. Damals machte ich mir zum ersten Mal bewusst, dass die Gitarre auch höhere Saiten hat.“

Im Metalbereich nahm Koivusaaris Geschmack dagegen weiter an Härte zu: er begeisterte sich nunmehr für Death Metal. Gleichzeitig fand er neue Freunde, die ebenfalls auf die neue Richtung abfuhren, obwohl die Szene in Finnland noch mikroskopisch klein war. Die übrigen Mitglieder von VIOLENT SOLUTION konnten mit der bleischweren Gruftmucke nichts anfangen, sondern hielten weiterhin Speed und Trash für die Spitze der Nahrungskette. Koivusaari sagte sich von allen „softeren“ Metalgenres los, wobei auch diese Lichtjahre vom Mainstream entfernt waren.

VIOLENT SOLUTION rocken beim Koivupää Massacre, 1989.

„Damals skateten alle. Auf der Ramp lernte ich ein paar Typen aus Myyrmäki kennen, unter anderem Jussi Ahlroth. Die einzigen Langhaarigen, die in Martinlaakso zu finden waren, waren aus unserer Altersgruppe. Wir hingen zusammen ab und alle standen auf Death Metal. Zuerst entdeckten wir MORBID ANGEL, SEPULTURA und so weiter, aber über Kimmo Heikkinen tat sich ’ne ganz neue Welt auf. Er war ein fanatischer Tapetrader. Kimmo beschaffte Demos, die wir abends zusammen ancheckten. Wir tranken Johannisbeersaft und hörten ASPHYX und sowas. Eines Freitagabends beschlossen wir, eine Band zu gründen. Daraufhin stieg ich dramatisch bei VIOLENT SOLUTION aus.“

Als die Entscheidung getroffen war, griff Koivusaari zum mit zitternden Händen zum Telefonhörer und wählte Rechbergers Nummer. Die Stimme am anderen Ende quittierte die Ankündigung mit kühler Höflichkeit, und die Kameraden sahen sich erst einmal eine Weile nicht. Nach Koivusaaris Ausstieg fehlte VIOLENT SOLUTION ein Gitarrist und Songschreiber. Die Band suchte mit einer Anzeige im Rumba-Magazin Ersatz. Kurz nach Erscheinen des Blattes klingelte bei Rechbergers erneut das Telefon. Die freundliche Stimme gehörte Esa Holopainen aus Haaga – demselben Typen, mit dem zusammen Rechberger zwei Jahre zuvor am Heavy-Kiosk vor Klein-Henkkas Bande geflohen war – und bekundete Interesse an dem Gitarristenjob. Sie verabredeten ein Treffen in Martinlaakso am Wendehammer vor Rechbergers Haus.

„Ich hatte Esa in der Szene gesehen, bevor wir uns kennenlernten. Gleichgesinnte Typen kamen an den gleichen Orten zusammen, am Kiosk im Esplanadi-Park oder bei Metalgigs, und ich kannte ein paar von den Jungs, mit denen er abhing. Als Esa mich besuchen kam, hatte er eine Jackson-Flying V dabei, die er in einem Riesenkoffer mit sich rumschleppte. Ich erinner’ mich heute noch diesen Koffer, so verdammt groß war das Teil. Von Esa ging direkt ein positives Feeling aus. Er war eindeutig happy über die Gelegenheit, wieder in einer Band zu spielen. Ich fand’s auch gut, dass er sich selbst und die ganze Metalgeschichte nicht allzu ernst nahm und einen sehr bodenständigen Humor hatte. Den hat er heute noch. Das war das erste Mal, dass wir bandmäßig miteinander zu tun hatten“, erinnert sich Rechberger.

Die jungen Musiker passten auf Anhieb zusammen: Sie ähnelten sich im Naturell, begeisterten sich für dieselbe Musik und hatten eine gemeinsame Vision für VIOLENT SOLUTION. Holopainens alte Combo ISOLOHKO