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Anshalyn - Die Rückkehr der Dämonen E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Seit mehreren Jahren lebt Königin Anshalyn fern vom Glanz des Thrones, verborgen in dem friedlichen Dorf Rosenheim im fernen Sudland. Gemeinsam mit ihrem Gefährten Askandar hat sie die Schlachten der Vergangenheit hinter sich gelassen – bis zu dem Tag, an dem der geheimnisvolle Fremde Ydecto auftaucht. Mit unheimlicher Macht entreißt er dem Dorf die Freiheit, stürzt das Land ins Chaos und zwingt Anshalyn ins Exil. Auf der Flucht durch uralte Wälder und zerfallene Reiche begegnen Anshalyn und Askandar magischen Göttern, die ihnen Waffen von unvorstellbarer Kraft schenken. Doch die Zeit läuft davon. Ydectos Machthunger entfesselt Dämonen, die Anshalyn einst unter größten Opfern besiegte, die nun aber zurückkehren, grausamer und stärker als je zuvor. Nur ein einziger Ausweg bleibt – der sagenumwobene Kopf der Medusa, dessen Blick alles Leben zu Stein erstarren lässt. Um ihn zu erlangen, müssen Anshalyn und Askandar die Grotte der Gorgonen betreten, die jedoch noch niemals jemand lebend wieder verlassen hat... Dies ist der zweite Band der Fantasy-Reihe ANSHALYN. Ein Epos voller Magie, Verrat und unvergesslicher Figuren – für alle, die High Fantasy lieben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Elias J. Connor

Anshalyn - Die Rückkehr der Dämonen

Dies ist der zweite Band der Fantasy-Reihe ANSHALYN. Ein Epos voller Magie, Verrat und unvergesslicher Figuren – für alle, die High Fantasy lieben.

Widmung

Für meine Freundin.

Meine Muse, meine Verbündete.

Deine Träume hauchen meinen Büchern Leben ein.

Danke, dass du mich in deine Welt mitnimmst.

Kapitel 1 - Das Orakel

Der Morgen bricht golden über Sudland herein. Nebel liegt schwer auf den Terrassenfeldern, die sich wie grüne Schuppen an die Hügel schmiegen. Aus der Ferne klingt das Grollen eines Wasserfalls, dumpf und gleichmäßig, wie der Pulsschlag des Landes selbst. Affen turnen in den Baumkronen, schreien in den Tag hinein, während die Sonne langsam den Horizont hinaufklettert und das Dickicht in Dunst und Glanz taucht.

Am Flussufer steht ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, barfuß im feuchten Sand. Neben ihm wartet ein Wasserbüffel, geduldig, als wäre er Teil des Morgens. Der Junge blickt hinüber zur gegenüberliegenden Seite, wo Rauch aus einer Strohhütte aufsteigt. Seine Großmutter kocht dort jeden Tag den ersten Tee mit Blättern, die nur bei Sonnenaufgang geerntet werden dürfen – so verlangt es die alte Regel der Kima-Leute.

Sudland kennt keine Eile. Die Zeit fließt hier wie der große Fluss Tuar – breit, ruhig, undurchschaubar. Die Menschen sprechen leise, als könnte das Land jedes Wort aufnehmen und behalten. In den Märkten riecht es nach reifen Drachenfrüchten, Tamarinde und den scharfen Pasten der Straßenküchen. Händler bieten handgewebte Stoffe an, mit Farben so lebendig wie das Licht zwischen den Palmen.

Im Süden türmen sich rote Felsen wie gefaltete Geschichten. Dort leben die Yarra-Nomaden, die nur kommen, wenn der Wind aus dem Westen weht. Ihre Lieder hallen durch die Schluchten und erzählen von einem Himmel, der einst zu Boden fiel und das erste Salz ins Meer spuckte. Niemand weiß, ob die Geschichten wahr sind, aber in Sudland zählt Wahrheit weniger als Tiefe, und Legenden sind das, aus denen das Land seine Wahrheit zehrt.

In der Hauptstadt Lamera streichen die Menschen die Wände ihrer Häuser mit goldener Tonerde. An Festtagen tanzen sie auf den Dächern, bemalen ihre Gesichter mit Symbolen, die sie aus Träumen holen. In der Mitte der Stadt ragt der alte Sonnenbaum empor – ein knorriger Riese, dessen Blätter nie fallen. Die Alten sagen, sein Wurzelwerk reiche bis zu den Knochen der Erde.

Sudland lebt. Nicht wie ein Land, sondern wie ein Wesen – wach, atmend, voller Erinnerung. Jeder Schritt über seinen Boden ist eine Begegnung. Und wer lange genug bleibt, beginnt zu verstehen: Sudland verändert niemanden mit Gewalt. Es wartet. Und während es wartet, formt es still die Seele.

Blendor sitzt auf seinem Thron aus poliertem Ebenholz, die Hände fest um die hölzernen Armlehnen gekrallt. Sein Blick schweift über die Hallen von Sudland, in denen flackernde Fackeln gespenstische Schatten an die Wände werfen. Jeder Stein, jede Säule scheint ihm die Frage entgegen zu werfen, die ihm keine Ruhe lässt: Wer wird sein Erbe antreten? Er hat keinen Sohn. Nur Lluva, seine einzige Tochter, deren sanfte Stimme ihn oft zum Lächeln bringt, doch die ihn heute dennoch mit Furcht erfüllt.

Er erhebt sich mühsam, sein purpurnes Gewand raschelt wie versteinerte Seide. Hofbeamte weichen ehrfürchtig zurück, während sein Hornschlucker ihm einen Krug kühlen Wein reicht. Er nippt, doch der Wein hinterlässt nur einen bitteren Nachgeschmack. Blendor träufelt die letzte Traube in den Mund, ehe er die Halle verlässt und sich über den steinernen Balkon an der Ostseite des Palastes neigt. Die Dächer der Stadt breiten sich wie Schuppen eines riesigen Drachen aus; im Norden glitzert der Fluss Sudara, als wolle er ihn trösten. Doch sein Herz bleibt schwer.

„Majestät“, flüstert Graf Elmar, sein treuer Kanzler, aus den Schatten hervor. „Du erscheinst besorgt.“

Blendor senkt den Blick.

„Es ist mein Erbe, Elmar. Ohne männlichen Nachkommen schwindet die Zukunft meines Reiches.“

Elmar nickt verstehend.

„Das Orakel in den Grotten am Fuße des Drachenbergs kann Gewissheit bringen.“ Ein Funke Hoffnung flackert in Blendors Augen auf.

„Dann werde ich heute noch dorthin reiten.“

Die Sonne sinkt langsam hinter dem Drachenberg, als Blendor in einer kleinen Karawane das Heiligtum erreicht. Die Grotten von Sudland sind in Smaragdgrün gehüllt, das Licht des Abends. Moosbewachsene Säulen und verwitterte Steinreliefs zeugen von ehrwürdiger Vergangenheit. Entlang des schmalen Pfades flüstern Wächter Gebete, während Blendor an der Spitze seiner Männer läuft. Die Luft ist kühl, und ein leichter Nebel schmiegt sich an die Erde.

Sie halten vor einem steinernen Tor, über dem in uralten Runen geschrieben steht: „Betritt, wer Weisung sucht, doch wisse: Die Götter hüten finstere Wahrheiten.“

Blendor nickt stumm, und die schweren steinernen Türen öffnen sich lautlos. Im Inneren tropft Wasser von der Decke, und der Geruch von Weihrauch erfüllt den Raum.

Am Ende der Grotte steht das Orakel: eine alte Frau, deren Haut faltig ist wie Pergament, und deren Augen in klarem Blau lodern. Kerzen schwanken in windstillen Nischen. Blendor verneigt sich tief. Kaum traut er sich, dem Orakel in die Augen zu blicken, aber sein Begehr ist stärker als seine Angst.

„Hohepriesterin“, beginnt er, „König Blendor von Sudland bittet dich um Rat. Mein Feuer droht zu verlöschen, denn ich habe keinen Erben männlichen Blutes. Sag mir: Wie kann ich mein Erbe sichern?“

Die Hohepriesterin erhebt sich langsam, die Stimme klingt hohl.

„Blendor, du rufst nach Wissen – so höre die Antwort der Götter.“ Eine Stille senkt sich, als schiene die Zeit selbst den Atem anzuhalten. Dann, in hellem, hallendem Ton, spricht sie: „Dein Erbe endet durch die Hand deines Enkels.“

Blendors Herz setzt aus.

„Die Hand meines Enkels?“, stammelt er, taumelt einen Schritt zurück. „Ich habe doch keinen Sohn!“

Die Priesterin neigt den Kopf.

„Nicht dein Sohn, sondern der Sohn deiner Tochter wird das Schicksal vollenden, das hier prophezeit ist.“

Blendor fühlt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Er ringt nach Worten.

„Aber das kann nicht sein!“

Ein Flackern leuchtet in den Kerzen auf, als ob die Götter selbst das Wort unterstreichen.

„Doch es ist das Wort, das gefallen ist: Dein Verderben ist in seinem Atem gebannt“, spricht das Orakel.

Blendor nimmt alle Kraft zusammen. „Gibt es keinen Weg, diese Vorsehung abzuwenden?“

Die Priesterin legt eine knorrige Hand auf den steinernen Altar. Ihr langes Haar rieselt wie ein Wasserfall auf den Boden.

„Es gibt nur einen Pfad, und er führt dich an den Rand der Verzweiflung“, sagt sie, während sie ihm streng in die Augen blickt. „Hüte deine Tochter Lluva, dass kein Mann sie berühre. So mag das Schicksal abgewendet werden.“

Ein kalter Schauer jagt über Blendors Rücken. Er ringt um Fassung, dankt wortlos – und eilt aus der Grotte, als verabscheue er jeden Augenblick der Stille.

Zurück in seinem Palast fällt Blendor kaum ins Bett. Die Worte des Orakels nagen an seiner Seele. Am Morgen sucht er Lluva im Innengarten. Silbergrüne Weiden umrahmen einen kleinen Teich, dessen klares Wasser Seerosen trägt. Lluva sammelt Blütenblätter, die sie sanft in das Wasser gleiten lässt.

„Vater?“ Sie blickt auf, ihre Augen leuchten wie Tau auf Rosenblättern. „Du siehst aus, als hättest du den Schlaf nicht gefunden.“

Blendor atmet tief durch. Er setzt sich auf einen steinernen Sitz neben ihr.

„Lluva, meine geliebte Tochter…“ Seine Stimme bebt. „Eine dunkle Prophezeiung erreicht mich.“

Ihr Gesicht verfinstert sich.

„Was ist geschehen?“

Er fährt sich durch das silberne Haar.

„Das Orakel hat gesagt, dein Sohn werde mein Schicksal besiegeln.“

Lluva blinzelt, dann beugt sie sich vor.

„Doch ich habe noch keinen Sohn“, haucht sie verwirrt.

„Genau das ist die Gefahr.“ Blendor steht auf, seine Gestalt wirkt größer, strenger. „Du wirst den Palast nicht mehr verlassen.“

Lluva steht auf, die Blütenblätter entgleiten ihren Fingern.

„Vater, das kannst du nicht machen.“

„Ich kann – und ich muss.“ Seine Stimme ist nun hart wie geschmiedetes Eisen. „Ich lasse dich in den bronzenen Turm sperren. Dort bist du sicher, und niemand kann zu dir gelangen.“

Verzweiflung blitzt in Lluvas Augen.

„Ein Turm? Ein bronzener Turm?“

Er nickt.

„Ab morgen bringe ich dich dorthin.“

Am nächsten Tag erhebt sich die Sonne über den Dächern von Sudland, während Lluva von zwei Wachen in Samtgewändern zum bronzenen Turm geführt wird. Der Turm ragt hinter dem Palast empor, sein Metallschimmer blendet in der Morgensonne. Ein einziges schmiedeeisernes Tor verschließt den Zugang, und darüber sind keine Fenster zu sehen – nur schmale, nach oben führende Schlitze, die wie Augen aus einer glatten Metallhaut schauen.

Lluva legt die Hand an das Tor.

„Vater…“ Sie wendet sich um, und für einen Augenblick trifft sie seinen Blick. Doch Blendor bleibt unbewegt. Mit einem dumpfen Knarren schließt sich das Tor, und Lluvas Welt schrumpft auf diesen bronzenen Raum zusammen.

Der Turm ist spärlich möbliert: ein Bett aus Holz, eine Truhe, ein kleiner, runder Tisch. Mehr braucht man nicht, sagt Blendor, als er die Tür verriegelt. Lluva sinkt aufs Bett, die Ketten ihrer Panik klirren, während die Wachen fortgehen.

Im Inneren bleibt sie allein mit ihren Gedanken. Tage vergehen, die Mauern der Einsamkeit dichten ihr Herz ab. Sie malt sich aus, wie die Vögel im Garten unter den Weiden fliegen, wie der Wind an den Vorhängen ihres Schlafgemachs spielt – und all das hört sie nicht mehr. Ihr einziger Trost ist das Blättern in alten Büchern, die sie heimlich hat mitbringen lassen. Doch Geschichten von Freiheit helfen ihr kaum, wenn sie selbst eingesperrt ist.

Hoch oben, im Reich der Lüfte, beobachtet Zhys, der Herrscher des Himmels, aus seinem goldenen Palast das Schicksal der Sterblichen. Er sieht Blendor, den König, der seine Tochter einsperrt, und er sieht Lluva, die in Einsamkeit vergehende Blume. Mit jeder Stunde wächst in Zhys’ Herz ein warmer Strom der Zuneigung.

Eines Nachts steigt er auf, unsichtbar für alle Augen. Der Himmel öffnet sich, und ein Goldregen fällt herab, funkelnd wie tausend Sonnen. Der Regen tanzt durch die Lüfte und sammelt sich vor dem bronzenen Turm. Jeder Tropfen singt ein leises Lied von Freiheit und Liebe.

Drinnen liegt Lluva wach. Ein geheimnisvolles Licht glitzert auf den Wänden. Vorsichtig steht sie auf und tritt an das enge Fenster. Der goldene Regen fällt durch den Spalt und bedeckt ihre Handgelenke. Ein warmes Knistern fährt durch ihre Finger. Staunend berührt sie das Schimmern, und eine unsichtbare Hand legt sich sanft um ihr Herz.

„Lluva“, haucht eine Stimme, weich wie Morgendämmerung. „Fürchte dich nicht.“

Lluva zögert.

„Wer bist du?“, hallen ihre Worte durch den Raum.

„Ich bin Zhys“, flüstert die Stimme. „Herrscher des Himmels. Ich habe deine Einsamkeit gesehen und mich in dich verliebt.“

Ihr Herz schlägt schneller.

„Wie…? Du bist Licht und Wind und doch vertraut wie meine eigene Seele.“

Ein Schauer goldener Tropfen umhüllt sie, als Zhys sich in jedem Tropfen manifestiert. Zwar bleibt sein Wesen verborgen, doch sein Hauch streichelt ihr Gesicht, und sie fühlt Zärtlichkeit, die größer ist als alles, was sie je gekannt hat.

„Ich werde dich befreien“, verspricht er.

Und so geschieht es: Der Goldregen formt sich zu einem feinen Schleier, der das Tor von außen berührt. Mit leisen Tönen öffnet sich das Schloss, und die bronzene Tür gleitet lautlos zurück. Lluva tritt hindurch in den kühlen Nachthauch, wo der Regen sie sanft umspielt. Doch statt zu fliehen, bleibt sie stehen und lässt den Regen auf sich wirken.

„Bleib bei mir“, raunt Zhys, und in jenem Augenblick verschmilzt Lluva mit dem Goldregen. Ihre Gestalt leuchtet, als wäre sie selbst aus flüssigem Licht. Die Mauern lösen sich auf, und das Herz des Turms schweigt endgültig.

Monate ziehen ins Land, während Lluva und Zhys sich heimlich in einer kleinen Lichtung verbergen, die nur bei Nacht in goldene Finsternis getaucht ist. Dort, geschützt von Bäumen, die silbrige Blätter tragen, entspringt ein Quell, dessen Wasser wie flüssiges Mondlicht wirkt. Lluva trägt ein schlichtes Gewand aus feinem Leinen; ihr Baby formt sich bereits in ihrem Leib – ein Versprechen neuen Lebens.

Eines Morgens, als die ersten Sonnenstrahlen die Welt erwärmen, setzt Lluva sich an den Quellrand. Zhys senkt sich über sie, sanft wie das Atmen der Welt.

„Bald wirst du Mutter sein“, flüstert er. „Unser Sohn wird Askandar heißen.“

Lluva legt die Hand auf ihren Bauch, fühlt das zarte Pochen neuen Lebens. Tränen der Rührung füllen ihre Augen.

„Er wird die Liebe zwischen Göttern und Sterblichen verkörpern“, sagt sie leise.

Zhys nickt und hebt sie in seine Arme.

„Er wird stark sein und gütig. Und er wird dich lieben, so wie ich dich liebe.“

Das Licht um sie flirrt, Vögel stimmen leise Melodien an, und für einen kurzen Augenblick ist die Welt vollkommen, trotz dass die Liebe zwischen einer Gottheit und einer Sterblichen nach den Regeln des Landes streng verboten ist.

In Sudland hat man Blendors Zorn bereits vergessen. Der König sitzt erneut auf seinem Thron, müde und verraten von Sorgen, doch eine Leere in seinem Herzen bleibt unausgefüllt. Er sendet Kundschafter aus, doch nie kehren sie zurück mit Nachricht von Lluva. Nur der goldene Regen bleibt Legende.

Jahre vergehen. Blendor altert, seine Haare ergrauen. Die Prophezeiung verfolgt ihn wie ein Schatten, doch er trägt sie in seiner Brust wie eine letzte, bittere Last. Dann erreicht ihn Kunde: Ein Duft von Blumen, die nur im Licht reiner Glückseligkeit blühen, erreicht sein Ohr. Ein Wanderer bringt Kunde von einem Kind, geboren aus dem Goldregen, dessen Augen die Farbe des Morgens tragen – Askandar, Sohn der Lluva und des Herrn des Himmels.

Blendor spürt eine seltsame Kühle in seiner Brust, als hörte er das Ticken einer unsichtbaren Uhr. Er weiß, dass das Schicksal sich endlich erfüllen wird. Und so geht seine Geschichte weiter, während Askandar heranwächst – stark, gütig, unwissend um die Macht, die in ihm ruht, und um die Vorsehung, die noch immer die letzte silberne Masche des Schicksals webt.

Kapitel 2 - Mit der Hilfe der Götter

Blendor sitzt in seinem Audienzsaal, während die Dämmerung langsam in die Hallen kriecht. Fackeln flackern an den Wänden und werfen lange, hüpfende Schatten auf das polierte Ebenholz seines Thrones. Jeder Atemzug hallt laut in der Stille. Sein Herz pocht so heftig, dass es ihm bis in die Schläfen dröhnt. Die Kunde von Askandars Geburt hat sich in ihm festgebissen wie ein dunkles Tier im Fleisch: Ein Halbgott, geboren aus einer Sterblichen und einer Gottheit des Himmels. Die Vorstellung schillert vor seinem inneren Auge, und er spürt, wie sich kalte Furcht in seinem Brustkorb ausbreitet.

Sein Kanzler Elmar tritt ehrerbietig an den Thron heran, verneigt sich tief und wirft einen Blick auf die bebende Hand des Königs.

„Mein König“, haucht Elmar, „Botschafter aus den Grenzlanden berichten, dass in allen vier Ecken des Reiches von Askandars Geburt gesprochen wird. Sie sagen, seine Augen leuchten im ersten Licht des Morgens wie flüssiger Bernstein.“

Blendor verzieht schmerzverzerrt das Gesicht, als habe man ihm eine Wunde aufgerissen. Er fährt sich durch die Silberschleier seines Haares und presst die Lippen zusammen.

„Ein Halbgott,“ keucht er schließlich, seine Stimme dünn vor Entsetzen. „Ein Wesen, das nicht in meine Welt gehört!“

Er ballt die Faust, sodass die Knöchel weiß werden. Für einen Moment scheint er sich zu verlieren, die Augen starr auf einen imaginären Punkt gerichtet. Dann senkt er den Blick auf Elmar und spürt die Wut in sich hochsteigen.

„Ich könnte einen unserer tapfersten Krieger heimlich beauftragen, Askandar ausfindig zu machen…“

Elmar senkt den Kopf. Er spürt, wie sich Blendors Verzweiflung mit dunkler Entschlossenheit vermengt.

„Majestät“, flüstert er leise, „ein solches Attentat würde den Zorn der Götter heraufbeschwören. Das Orakel hat deutlich gesprochen.“

Bei diesen Worten zuckt Blendor zusammen, als stünde er unter einer unsichtbaren Peitsche. Er hat die Hohepriesterin gesehen, ihre brennenden Augen im Halbdunkel der Grotte, ihr leises, unheilvolles Flüstern, das in seinem Geist nachhallt. Und doch… Er macht sich heimlich auf den Weg.

In der nächsten Nacht schleicht Blendor sich in einer einfachen Reisekutte durch die dunklen Gänge des Palastes. Niemand wagt es, ihn aufzuhalten. Er verlässt das Gemäuer und reitet durch den silbernen Mondschein gen Drachenberg. Die Luft ist kühl, und Tau glitzert wie Diamanten auf den Blättern der Fichten. Jeder Hufschlag des Rosses klingt wie ein Herzschlag in der Stille.

Vor dem steinernen Portal der Grotten legt er das Haupt in Demut, während die Wachen ehrfürchtig zur Seite treten. Im Inneren tropft Wasser unaufhörlich von der Decke, und der Geruch von altem Weihrauch hängt schwer in der Luft. Er bahnt sich den Weg durch den Korridor, bis er vor der Hohepriesterin steht, die inmitten von flackernden Kerzen hockt. Ihre Hände ruhen auf einem Steinaltar, auf dem uralte Runen eingeritzt sind.

Blendors Stimme klingt rau und brüchig.

„Hohepriesterin, ich kann nicht schlafen vor Furcht. Mein Enkel lebt, und sein Atem ist mein Todesurteil.“

Die Priesterin erhebt sich gemächlich, eine knochige Hand gleitet sanft über das raue Steinrelief an der Wand. Ihre Augen glühen tief und unergründlich. „Blendor“. antwortet sie in einem Ton, der weise und unbarmherzig zugleich ist, „du suchst den Weg des Opfers. Die Götter haben dir dein Schicksal gezeigt.“

Blendor beugt beschwörend das Knie, als liege sein Leben in ihrer Hand.

„Sag mir, was ich tun muss.“

Die Hohepriesterin legt ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme wird weicher, aber in ihr klingt ein eisiges Echo mit.

„Verbannung ist deine einzige Rettung. Lluva und Askandar müssen fort von diesen Landen, ins Ende aller Karten, wo kein Sterblicher und kein Gott sie finden kann.“

Er ringt nach Atem, seine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig.

„Aber wohin? Es gibt keinen Ort, wo ein halb göttliches Kind und seine Mutter überleben könnten.“

Die Priesterin lächelt fast geheimnisvoll, verweigert jedem Wort eine weitere Antwort – sie deutet nur stumm auf den gewundenen Ausgangspfad der Grotte. Ein stummes Zeichen, dass er den Weg selbst finden müsse.

Zurück im Palast schleichen die Nächte schwer über Blendor hinweg. Er sitzt unablässig an einem kupfernen Kessel, in dem er jede Nacht eine bittere Mixtur anrührt, vergiftet von seiner eigenen Verzweiflung. Er prüft die Flüssigkeit mit zitternden Fingern, kostet eine Spur auf der Zunge – doch er kann es nicht. Die Ahnung, das erdrosselte Lachen seines Enkels auf dem Gewissen zu haben, lässt ihn zurückschrecken.

Verzweiflung nagt an seinem Verstand, bis eine grausame Idee keimt: Wenn er die Mutter und das Kind nicht töten kann, so kann er sie doch der Welt entreißen. Er befiehlt heimlich den Schmieden, eine schwere Truhe anzufertigen – außen lackiert mit schwarzem Ebenholz, verstärkt mit bronzenen Beschlägen, innen samtig weich ausgekleidet, dass niemand annehme, sie sei eine Kiste des Schreckens.

In dem Moment, als die Kiste fertig ist, geschieht das Unerwartete: Lluva und Askandar kehren nach mehreren Jahren im Exil nach Hause zurück, unter der Hoffnung, sich mit ihrem Vater und Großvater auszusöhnen.

„Ich habe einen Sohn geboren“, sagt Lluva selbstbewusst. „Sieh ihn dir an, Vater. Du musst keine Angst vor ihm haben. Nie könnte er dir etwas antun. Nie wird sich die Prophezeiung erfüllen, die das Orakel dir machte.“

Mit weit offenen Augen sieht Blendor seine Tochter und seinen Enkel an.

„Ich weiß, mein Kind“, sagt er mit fast tonloser Stimme. „Ich weiß.“

Eines Abends, als die Sonne blutrot hinter den Palasttürmen versinkt und lange Schatten durch die Korridore kriechen, lässt Blendor die Truhe in den Innenhof bringen. Der Karren steht unter dem silbernen Schimmer des Mondes, und Lluva tritt hervor, Askandar in ihren Armen – sein kleines Gesicht entspannt im Schlaf, ein sanftes Lächeln auf den Lippen.

Lluva zögert, als sie die Kiste sieht. Ihre Stimme klingt tonlos und fremd in der Nacht.

„Was geschieht hier?“

Blendors Züge sind zu Stein erstarrt. Er spricht leise, als fürchte er, das Geräusch könnte alles zerstören.

„Du und Askandar reist weit fort,“ sagt er ohne Zögern. „In dieser Kiste werdet ihr sicher sein vor allen, die euch suchen. Dann lasse ich euch aufs Meer setzen, wo euch die Wellen tragen – und die Tiefen euch schützen und richten.“

„Nein, Vater...“

Lluvas Augen weiten sich vor Entsetzen, ihr Herz scheint in tausend Splitter zu zerbersten. Sie sinkt auf die Knie und streichelt zärtlich das Haupt ihres Sohnes, der im Schlaf leise gurgelt und ein kleines, fröhliches Geräusch von sich gibt. Askandar weiß noch nichts von Tod und Verrat – sein Lachen klingt wie ein Versprechen der Unschuld.

„Vater“, flüstert Lluva, die Stimme kaum mehr als ein Hauchen, „du schickst uns in den Tod.“

Blendor richtet sich auf, sein Blick verhärtet sich. Im fahlen Licht glühen die bronzenen Beschläge der Truhe wie Zeugen seines Entschlusses. „Ich rette mein Leben. Ich rette Sudland.“

Als die erste Blässe des Morgens am Horizont aufsteigt, wird die Truhe behutsam auf einen Karren verladen und durch das mächtige Tor des Palastes zum Hafen gezogen. Lluva hüllt Askandar in eine Decke, streicht ihm zärtlich über den dunklen Lockenkopf. Er blickt sie mit großen, neugierigen Augen an, als spüre er, dass etwas Ungewöhnliches geschieht.

„Wohin, Kind?“, fragt Lluva bebend, doch nur das leise Klappern des verschlossenen Deckels antwortet. Ein kalter Schmerz schnürt ihr die Kehle zu.

Blendor schaut auf, sein Purpurgewand im Wind flatternd, und in seinen Augen liegt keine Milde mehr, sondern nur eisernes, entschlossenes Licht.

Kräftige Matrosen heben die Truhe auf ein kleines Boot. Lluva spürt die Kühle des Holzes gegen ihr Gesicht gedrückt. Es ist dunkel in der Kiste, und Lluva weiß nicht, wie ihr geschieht. Nur die verzerrten Stimmen der Menschen draußen sind zu hören.

Dann rufen die Matrosen, und das Boot löst sich vom Steg. Die Anlegerwachen senken ehrfürchtig ihre Köpfe, während das Boot in die aufbrechende See gleitet.

Blendor bleibt am Kai zurück, die Hand zum stummen Gruß erhoben. Er sieht, wie das Boot auf dem dunklen Wasser tanzt, bis es kleiner wird, zu einem Punkt am endlosen Horizont, bis das Blau des Meeres und des Himmels verschmilzt. Ein kalter Windhauch streift seine Wangen, und für einen Moment glaubt er, der Abschied könne nie stattgefunden haben.

Doch tief in seiner Brust pocht die Gewissheit, dass er sein Leben gerettet hat. Die Furcht, die ihn so lange gequält hat, weicht einer düsteren Ruhe: Er glaubt, die Kette der Prophezeiung wäre zerschnitten. Und während er sich umdreht und in den Schatten zurückkehrt, hallt in seinem Geist das Klappern des Deckels nach – das einsame Pochen eines Herzens, das er selbst eingesperrt hat, und das ihn fortan verfolgt.

Die Truhe schaukelt auf der endlosen Wasserfläche, während Lluva und Askandar im Inneren erschöpft und benommen verharren. Tagelang dauert die Fahrt: Sturm peitscht die Wellen hoch, die Gischt dringt durch jede Ritze, Salz brennt in ihren Augen. Doch jedes Mal, wenn die See droht, sie zu verschlingen, gleitet ein magisches Leuchten wie ein unsichtbarer Schild um die Kiste, und Lluva spürt, wie eine sanfte Wärme ihr Herz beruhigt. Zhys achtet jede ihrer Bewegungen, lauscht seinem Sohn, dem kleinen Halbgott – und sein Herz zerfließt vor Liebe und Sorge zugleich.

Als die Sonne am Horizont bricht, wirft Zhys erneut Magie über die endlose See. Winzige Funken flirren wie Goldregen nieder, weben einen schützenden Mantel um Truhe und Insassen. Plötzlich weicht das Wasser unter ihnen zurück, als räumten unsichtbare Hände einen schmalen Pfad frei. Die Truhe gleitet lautlos in Richtung der Küste, bis sie in einer hohen Brandung zerschellt und auf weichem Sandstrand liegenbleibt.

Lluva wacht auf, als Sandkörner durch die Spalte rieseln. Sie kämpft sich aus der Truhe, drückt den Brustkorb ihres Sohnes sanft, der noch schläft. Askandar gähnt, reibt sich die Augen und schaut zu den schützenden Kiefernwäldern hinauf, die sich hoch über ihnen ausbreiten.

„Mutter…“ flüstert er, „ich glaube, wir sind angekommen.“

Lluva nickt stumm, die Knie weich vor Erleichterung. Tränen laufen ihr übers Gesicht, während sie Askandar fest an sich zieht.

„Wir leben, mein Sohn. Wir sind am Leben.“

Langsam erhebt sich eine Gestalt zwischen den Bäumen. Ein Mann mittleren Alters in wettergegerbtem Leinenhemd und Stiefeln aus bearbeitetem Leder tritt an den Strand. Er trägt ein Netz über der Schulter und stutzt erst, als er die aufgerissene Truhe sieht – und zwei bleiche Gestalten, die sich daraus befreien.

„Bei den Göttern…“ murmelt er, überrascht und zugleich mitleidig. „Bist du verletzt, meine Liebe?“

Lluva richtet sich auf, hält Askandar schützend vor sich.

„Wer… bist du? Und wo… sind wir?“

Der Fremde lächelt sanft und kniet nieder, damit er nicht einschüchternd wirkt. Er streckt ihr eine Hand entgegen.

„Mein Name ist Desmond. Ich bin Fischer in dieser Gegend. Du bist in den Mauies-Wäldern gestrandet – weit fern von jedem belebten Pfad.“

Askandar rührt sich unruhig in Lluvas Armen.

„Ich habe solche Angst, Mutter.“

Desmond beugt sich zu ihnen. Er hilft ihnen auf und führt sie zu einer flachen Mauer, auf der er und Lluva mit Askandar auf ihrem Arm Platz nehmen.

„Fürchtet euch nicht. Ich habe euch gesehen, als ihr an Land gespült wurdet. Niemand sonst ist hier in der Nähe. Kommt mit mir ins Dorf, und ich werde euch heilen und speisen.“

Lluva blickt erst zu Askandar, der neugierig zu Desmond herüber späht, dann nickt sie.

„In Ordnung. Wir vertrauen dir.“

Desmond führt sie durch dichten Kiefernwald, nur das Rascheln der Nadeln und das Poltern ihrer Schritte begleiten sie. Nach einer Weile erreichen sie eine kleine Lichtung, auf der ein Dorf aus Holzschindeln und strohgedeckten Hütten liegt. Rauchkringel steigen aus einfachen Kaminen auf, und vereinzeltes Kinderlachen hallt leise durch die Bäume.

In der Hütte, die Desmond ihnen weist, entzündet er eine Lampe und reicht Lluva ein Schälchen mit heißem Gemüseeintopf.

„Iss, damit du Kraft schöpfst. Dein Sohn braucht eine starke Mutter.“ Er wendet sich an Askandar: „Und du, junger Mann, willst sicher das beste Fischbrot hier probieren.“

Askandar strahlt, als Desmond ihm ein Stück warmes Brot reicht. Lluva kostet den Eintopf und spürt, wie die Wärme jede ihrer Erschöpfungsfasern durchdringt.

Nachdem Desmond ihnen eine Strohmatratze bereitet hat, sitzen sie um den flackernden Herd. Askandar kaut zufrieden, Lluva wischt sich Tränen fort und betrachtet den Fischer mit Dankbarkeit.

Desmond nimmt einen Schluck Wasser aus einem hölzernen Becher.

„Ihr könnt hier bleiben, so lange ihr wollt. Niemand im Königreich sah jemals eine Frau mit einem solchen Kind, und hier in den Wäldern von Mauies hält man Fremde nicht lange fest.“

Lluva nickt, ihre Stimme klingt fest. „Wir danken dir, Desmond. Es ist hoffentlich für immer.“

Askandar legt die kleine Hand in Desmonds große.

„Ich heiße Askandar.“

Desmond lächelt und drückt die Hand des Jungen.

„Ich weiß. Aber hier bist du einfach… Askandar, Sohn einer Mutter, die ich meine Freundin nenne. Und niemand außer uns drei erfährt je etwas anderes.“

Lluva und Askandar blicken sich an und nicken. Gemeinsam erheben sie die rechte Hand – ein stilles Gelöbnis.

„Wir schwören, das Geheimnis in unseren Herzen zu bewahren,“ sagt Lluva leise. „Askandar, du bist mein Sohn und mein Schatz. Aber niemand erfährt von Zhys oder dem König.“

Askandar drückt ihre Hand zum Schwur zusammen.

„Ich schwöre es.“

Desmond fügt hinzu: „Euer Geheimnis ist bei mir sicher. Solange Blut in meinen Adern fließt, schützt ihr dieses Dorf. Niemand wird euch stören.“

Und so endet die Nacht des Schiffbruchs mit einem Schwur der Stille, während die Mauies-Wälder ihre behütende Decke über Mutter, Sohn und Retter legen. Eine neue, verborgene Geschichte beginnt – fernab von Thron, Orakeln und göttlichem Zorn, gebettet in die unerschütterliche Treue dreier Herzen.

Kapitel 3 - Ydecto

Sudland liegt jenseits der bekannten Routen, verborgen zwischen zwei Meeren und drei Zeiten. Die Landkarte zeigt nur eine Silhouette – ein halb vergessenes Blatt im Wind der Weltgeschichte. Doch das Land selbst schweigt nicht. Es summt, atmet, wächst.

Die Luft trägt den Geschmack von Kupfer und Vanille. Ein dichter Urwald bedeckt den Norden, so tief und alt, dass selbst das Licht zögert, sich hineinzuwagen. Wurzelwerk windet sich wie schlafende Schlangen um die Reste vergangener Reiche: verfallene Steinbögen, halb überwuchert von Moos, erzählen von einem Volk, das mit Vögeln sprach und in den Winden las wie in offenen Büchern.

Weiter südlich dehnt sich eine trockene Savanne, golden unter dem Blick der Sonne. Herden aus Antilopen ziehen dort, langsam, gemächlich, und folgen alten Routen, die nicht auf Karten verzeichnet sind. Ihre Hufe schreiben Geschichten in den Staub. Am Horizont flirrt die Hitze, formt Trugbilder von Städten aus Bernstein.

In den Dörfern am Rand des Sees erwachen die Tage mit Gesang. Frauen tragen Krüge auf den Köpfen, bemalt mit Symbolen, die nur die Ältesten deuten können. Kinder rennen durch das flache Wasser, jagen Libellen mit den Farben schillernder Edelsteine. Ein alter Mann schnitzt Masken aus hellem Holz. Seine Hände sind langsam, aber sicher – wie das Land selbst.

Sudland kennt keine Hektik. Es verweigert sich dem Takt der Außenwelt. Kein Glockenschlag bestimmt den Lauf des Tages, nur das Schreien der Regenvögel und das Flackern des Windes in den Gräsern. In der Hauptstadt Kevala, wo Häuser aus schwarzem Glas und rotem Lehm ineinander fließen, wachsen Bäume durch die Dächer.

Die Menschen feiern dort jedes Mal, wenn es regnet – nicht aus Not, sondern aus Dank.

In den Nächten schimmert der Himmel über Sudland wie aufgeschlagenes Erz. Die Sterne scheinen näher zu rücken, als lauschten sie. Erzähler sitzen um Feuerstellen, sprechen von der Zeit vor der Zeit, als die Berge laufen konnten und die Flüsse sprachen. Niemand unterbricht sie.

Sudland ist kein Ort, den man besucht. Es ist ein Ort, der einen empfängt – wenn man bereit ist zu schweigen, zu staunen, zu bleiben.

Anshalyn öffnet die alte Eichentür ihres Fachwerkhauses, und ein kühler Morgenhauch empfängt sie. Ihr langes, blondes Haar fällt in sanften Wellen über die Schultern, leicht vom Tau beschwert, und fängt das erste Licht des Tages ein. Der Himmel über Rosenheim ist blau, durchzogen von zarten Wolkenfäden. Sie atmet tief den Duft von feuchter Erde und blühenden Rosen ein, die am Rand ihres kleinen Gemüsegartens wuchern.

Hinter ihr klingt das sanfte Krächzen eines Raben und einer alten Eule im Geäst, die sie schon kennt, seit sie hier eingezogen sind. Dann hört sie das ferne Pfeifen: Askandar ist schon bei der Feldarbeit. Die bernsteinfarbenen Augen ihres Gefährten leuchten, selbst wenn die Morgensonne noch kaum über die Hügel geklettert ist. Er winkt ihr zu, während er den Pflug zurück zum Geräteschuppen führt.

Anshalyn schließt die Tür und macht sich an die Arbeit im Garten. Zwischen Reih um Reih – saftige Karotten, knackige Erbsen und schwarze Johannisbeeren – hält sie Ausschau nach unerwünschtem Unkraut. Ihre flinken Hände trennen Brennnesseln aus den Beeten, und gelegentlich streicht sie einem Rosenstrauch über die Dornen, flüstert ihm ein leises Dankgebet zu für seine Schönheit und seinen Duft.

Als sie sich herum dreht, kommt Askandar den schmalen Kiesweg hinab. Er trägt seine lederne Mütze im Nacken, die Ärmel hochgekrempelt. Schweißtropfen glitzern auf seiner Stirn.

„Guten Morgen, meine Lichtelfe“, ruft er, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen.

Anshalyn lacht und klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Guten Morgen, mein Feldhüter. Schon genug Erde umarmt?“

Er schüttelt den Kopf, greift nach einem Korb, den sie ihm entgegenhält, und füllt ihn mit reifen Tomaten.

„Besser hier als jeder Thron. Aber dein Frühstück wartet.“

Gemeinsam gehen sie zum Haus zurück. Im Inneren klappert bereits das Kochgeschirr: Auf dem Herd zischen Speckstreifen in Butter, und der Duft von Lauch mischt sich mit dem Rauch, den Askandar gerade durch das geöffnete Fenster abziehen lässt. Anshalyn zieht eine Schürze um, bindet Askandars lose Fransen seines Mützenbands und legt los. Sie würfelt das Gemüse, rührt Eier in eine schaumige Masse und gießt sie in die gusseiserne Pfanne.

„Erzählst du mir heute eines deiner Lieder?“, fragt Askandar, während er zwei Scheiben knuspriges Brot auf dem Feuer röstet.

Anshalyn lächelt und zieht den Deckel von der Pfanne.

„Natürlich. Heute habe ich eins geschrieben, als ich nachts den Mond über den Wäldern sah.“ Sie richtet das Rührei auf Tellern an und nimmt eine kleine Flöte aus der Küchenschublade. „Setz dich, und ich singe dir, während wir essen.“

Er setzt sich, faltet die Hände und blickt sie erwartungsvoll an. Sie erhebt die Flöte, atmet einmal durch und spielt die Einleitung – ein zartes Pfeifen wie Windspiel.

Dann beginnt sie, leise zu singen. Ihre klare Stimme ertönt im Morgengrauen.

„In friedlicher Stunde, im Hauch der Nacht, wächst Liebe wie eine Blume aus alter Pracht. Wo Schwerter verstummten, erklingt unser Lied, Und Frieden wird Wurzel, wo einst Unglück blüht.“

Askandar schließt die Augen und genießt jeden Ton, sein Lächeln weitet sich. Als das Lied verhallt, erhebt er sich und küsst Anshalyn sanft.

„Deine Stimme heilt selbst alte Wunden.“

Nach dem Frühstück ziehen sie gemeinsam los, um den Tag auf den Feldern zu beginnen. Askandar führt den Pflug, während Anshalyn neben ihm hergeht, eine Hand auf seiner starken Schulter. Sie sprechen kaum, denn die Stille hier ist kostbar – nur das Rattern des Pflugs, das Zirpen der Zikaden und das Rascheln der Gräser im leichten Wind. Ab und zu weist sie ihn auf braune Stellen im Feld hin oder hebt eine heruntergefallene Tomate auf.

Gegen Mittag legen sie eine Pause unter einer alten Eiche ein. Askandar holt Brot und Käse aus seinem Rucksack, Anshalyn kramt in ihrer Tasche nach getrockneten Pilzen und frischem Quark. Sie teilen ihre Mahlzeit, lachen über Kindheitserinnerungen und träumen leise von den nächsten Gartenerweiterungen.

Am Nachmittag besuchen sie das Dorf. Anshalyn reicht einem kleinen Mädchen, das krank im Bett liegt, eine Handvoll Heilkräuter, während Askandar mit dem Schmied ein rostiges Pflugrad repariert. Die Dorfbewohner grüßen sie mit ehrlichem Respekt, nicht aus Furcht, sondern aus reiner Dankbarkeit.

Als die Sonne sinkt, kehren sie heim. In der Schmiede nebenan knackt das Feuer, und Toran, der Schmied, reicht ihnen frisch bearbeitetes Werkzeug als Dank für ihre Hilfe.

Askandar legt eine Hand auf Anshalyns Rücken, und sie fühlt die Wärme seiner Nähe.

Abends sitzen sie auf der Veranda. Ein leichter Regen setzt ein, und das Prasseln der Tropfen auf das Dach klingt wie ein beruhigendes Lied. Anshalyn lehnt sich an Askandar, und er legt den Arm um sie. Glühwürmchen steigen empor, tanzen im flackernden Licht der Laterne.

„Ich könnte ewig so leben“, flüstert Askandar. „Vieles habe ich erlebt, doch nie war das Glück so einfach.“

Anshalyn nickt, streicht seinem Kinn eine Locke aus dem Gesicht.

„Das einfache Leben ist oft das größte Geschenk. Hier sind wir nicht Herrscher, sondern Hüter – von Land, von Frieden, von einander.“

Sie sehen zu, wie das Dorf im Regen ruhiger wird, wie die Lichter in den Fenstern eins nach dem anderen verlöschen. Und während der Wind ein letztes Lied durch die Rosenbüsche trägt, wissen sie: Dies ist ihr Reich, weit größer als jeder Königsthron.

Als die Sonne hinter den Hügeln Rosenheims versinkt und der Abend sich sachte über die Dächer legt, kehrt eine besondere Stille in das Dorf ein. Die Kinder sind längst in ihren Betten, und die Laternen werfen schummriges Licht auf die engen Gassen. Nur Anshalyn bleibt wach, wenn sie von ihren nächtlichen Gängen heimkehrt: Mit leisen Schritten öffnet sie die Verandatür, tritt auf den feuchten Kies und lauscht dem entfernten Rauschen der Wälder.

Dann erklingt es: Ein tiefes, fast melodiöses Dröhnen, das durch die kühle Luft vibriert. Wie ein fernes Echo uralter Zeiten zieht der Klang über die Dächer, und jene wenigen, die noch wach sind, ahnen, dass mehr dahinter steckt. In Rosenheim spricht man nicht davon, doch in der Stille wissen alle, die es wissen müssen: Ein Drache kreist über dem Dorf.

Anshalyn hebt den Blick zum Himmel. Dort zeichnet sich im letzten Rot des Himmels eine gewaltige Silhouette ab: Schwingen, so breit wie der Fluss Sudara, streichen lautlos durch die Luft. Ein goldgrüner Schimmer umspielt sie im Dämmerlicht. Langsam, mit der Gelassenheit eines Königs in seinem Reich, senkt das Fabelwesen die Kreise und gleitet schließlich zur Landung in Anshalyns Garten.

Kaum ein Rascheln im Gebüsch, kein Ächzen des Astes – und dann steht er da: Skilasson. Sein Körper ist mächtig, doch umarmen ihn anmutige, Elfen gleiche Linien; seine Haut schimmert in allen Grüntönen der Wälder, und funkelnde, bernsteinfarbene Augen blicken klug und vertraut. Er senkt den Kopf in ehrfurchtsvoller Geste, und Anshalyn tritt vor, als begrüße sie einen alten Freund.

„Skilasson“, flüstert sie, und ein Lächeln hebt ihre Lippen. „Du bist wieder hier.“ Mit einem tiefen Brummen gleitet Skilasson näher, riecht an ihrer Hand und stößt ein leises, schnurrendes Geräusch aus – sein Gruß.

Anshalyn setzt sich auf die niedrige Mauer, die den Garten von der Feldflur trennt. Askandar, der gerade vom nächtlichen Rundgang heimkehrt, bleibt im Tor stehen und verzieht überrascht die Augenbrauen.

„Ein Drache?“, fragt er leise, als traue er seinen Sinnen kaum.

Sie winkt ihm zu.

„Nicht irgendein Drache. Skilasson. Er bewacht uns.“

Askandar tritt dichter heran und betrachtet den mächtigen Rücken, an dem Moos und Efeu kleben wie Schmuck. Dann streckt er vorsichtig die Hand aus.

„Erinnert mich an…“ Er bleibt stehen, sucht nach Worten. „An irgendetwas, das ich kenne.“

Anshalyn nickt traurig.

„Du kennst die Legende von Skilas – meinem ersten Drachen“, sagt sie mit einer leisen Stimme.

Vor vielen Jahren, inmitten des Krieges gegen Norkamp, fand Anshalyn einen jungen Drachen, kaum größer als ein Hund. Sie nannte ihn Skilas und zog ihn auf, lehrte ihm fliegen und verstand seine leisesten Gemurmel. Doch in einer schicksalshaften Schlacht verirrte sich Skilas auf ein Schlachtfeld, wo er für eine feindliche Bestie gehalten wurde.

„In der Drachenhöhle begegneten wir uns – Mutter und Sohn auf der Suche nach der Waffe des Feindes“, beginnt sie zu erzählen. „Im Duell erschlug ich ihn, unwissend, dass er es ist, überzeugt, ein Monster vor mir zu haben. Erst als ich seine Wunde heilen wollte, erkannte ich seinen vertrauten Herzschlag. Zu spät. Aber ich fand sein Junges, das ich nur retten konnte, indem ich es mit nach Rosenheim nahm. Dieser Drache ist er: Skilasson.“

Askandar legt die Hand auf Anshalyns Schulter.

„Du tatest, was du in jenem Krieg tun musstest. Doch Skilasson weiß, dass du seine Mutter bist.“

Skilasson senkt den Kopf, und mit einem leisen Knurren berührt seine Schnauze Anshalyns Knie. In seinen Augen liegt Vergebung – und die Freude, wieder bei ihr zu sein.

Askandar und Anshalyn setzen sich im weichen Gras, während Skilasson vor ihnen ruhend seine riesigen Flügel um sich legt. Die Laternen des Dorfes blinken hinter den Bäumen, und über ihnen funkeln die ersten Sterne.

„Ich fürchte mich nie mehr vor Drachen“, sagt Askandar leise. „Niemand, der dich beschützt, kann ein Monster sein.“

Sie lächelt matt.

„Doch ich fürchtete mich damals vor mir selbst.“

Askandar nimmt ihre Hand und drückt sie tröstend und voller Verständnis.

„Du bist Ärztin der Seelen, Anshalyn. Du heilst Wunden, die kein Schwert geschlagen hat.“

Anshalyn seufzt und wendet sich dem Drachen zu.

„Skilasson…“ Er hebt den Kopf, und ihre Stimme zittert kaum hörbar: „Ich hätte dich niemals verlieren dürfen.“

Skilasson antwortet nur mit einem tiefen Brummen. Dann erhebt er sich langsam und breitet seine Schwingen aus. Im Schatten seiner Flügel glitzert Mondlicht wie tausend Diamanten.

„Komm“, sagt Anshalyn, „reich mir deine Klaue.“

Langsam legt Skilasson seine Pranke in ihre Hand. Ein Prickeln wandert durch ihre Adern – die alte Magie ihrer Kindheit erwacht, und sie fühlt die Verbindung von Elfe und Drache, stärker als je zuvor.

Askandar rührt sich zu ihnen, legt behutsam eine Hand auf Skilassons Schulter, und gemeinsam stehen sie da – Frau, Mann und Drache, vereint in einer Stille, die stärker ist als alle Worte.

„Rosenheim hat seinen Schutz gefunden“, flüstert Anshalyn. „Solange Skilasson fliegt, ist kein Unheil nah.“

Der Drache antwortet mit einem tiefen, resonanten Laut – dem Ruf, den nur wenige außerhalb des Dorfes je hören. Dann klappt er die Flügel ein, verneigt sich, und mit einem letzten Blick auf sein Heim in Rosenheim hebt er ab, um leise über die Dächer zu gleiten.

Im Morgengrauen jedoch wird kein Sterblicher den Abdruck seiner Krallen im Tau entdecken. Nur Anshalyn und Askandar wissen um das alte Bündnis: Ein Geheimnis so alt wie der Krieg, so neu wie der Frieden, und bewacht von einem Drachen, der in Freiheit lebt.

Eines Abends, als die Sonne sich über dem Dorf zur Neige legt, taucht plötzlich ein Fremder auf. Er ist ein Mann mittleren Alters, hochgewachsen und von stattlicher Statur, sein Haar schimmert weißblond im letzten Licht der Sonne, und seine Augen tragen die Kühle eines Nordwinds. Auf seinen Schultern ruht ein Mantel aus feinem, dunkelblauem Tuch, und an seinem Gürtel baumelt das Zeichen eines Drakenreiches, das hier niemand kennt.

Die Dorfbewohner versammeln sich misstrauisch um den Brunnen. Die alte Frau Bieler hebt warnend den Zeigefinger, während Toran, der Schmied, die Stirn runzelt. Doch als der Fremde schrittweise sein ehrliches Lächeln zeigt und in ruhiger, höflicher Stimme um Obdach bittet, weichen sie zurück. Man gewährt ihm eine Nacht Unterschlupf im Gasthaus „Zur rosigen Knospe“ und verspricht ihm, bei Tagesanbruch über sein weiteres Schicksal zu beraten.

Am nächsten Morgen versammeln sich Anshalyn und Askandar im Dorfgasthaus, um den Fremden kennenzulernen. Er sitzt auf einem hölzernen Stuhl, die Hände locker in den Schoß gelegt, während die Fensterläden halb geöffnet sind und Licht auf sein altes, aber gepflegtes Gesicht werfen.

Er verbeugt sich leicht.

„Mein Name ist Ydecto von Darmanor“, stellt er sich vor, seine Stimme besitzt das Timbre von Autorität. „Ich reise durch diese Länder, um Frieden zu stiften und dort zu helfen, wo Macht und Ordnung wanken.“

Die Dorfbewohner tauschen Blicke aus. Rosenheim jedoch kennt keinen größeren Unfrieden, sondern nur ländliche Ruhe. Askandar räuspert sich.

„Wir haben hier Frieden gefunden. Die Felder sind bestellt, und unsere Häuser stehen fest. Was führt dich zu uns?“, fragt er den Fremden mit einem skeptischen Blick.

Ydectos Blick wandert zu Anshalyn, die neben Askandar steht. Ein kaum merkliches Funkeln in seinen Augen weckt erste Unruhe in ihr.

„Ich habe Kunde von einer außergewöhnlichen Heilerin vernommen“, antwortet er und neigt sich zu Anshalyn hinüber. „Und ich glaube, dass gerade die Rosenheimer Magie unter Führung einer so… strahlenden Persönlichkeit erblühen könnte.“

Anshalyn fühlt, wie ihr Herz schneller schlägt. Sie erinnert sich an die Treue Askandars und die stille Sicherheit, die sie in Rosenheim gefunden haben.

„Ich danke dir für deine freundlichen Worte“, sagt sie kühl. „Doch ich diene diesem Dorf als Hüterin, nicht als Herrscherin.“

In den folgenden Tagen verweilt Ydecto im Dorf, hilft gelegentlich im Gasthaus aus, spricht mit den Bauern und gibt Ratschläge, die anfangs willkommen sind. Doch bald fällt auf, dass jedes seiner Worte zugleich eine Forderung birgt. Er bittet um Altenrat, doch nutzt ihn, um eigene Pläne auszuloten; er überreicht Kindern kleine Geschenke, nur um so Zutrauen zu gewinnen.

Eines Abends, als Anshalyn gerade die Fensterläden schließt, tritt Ydecto hinter ihr in den schwachen Lampenschein. Sein Blick haftet unentwegt auf ihr, ein merkwürdiges Lächeln umspielt seine Lippen.

„Anshalyn“, sagt er leise und legt eine Hand an ihren Arm, „deine Schönheit und deine Macht faszinieren mich. Lass mich an deiner Seite herrschen.“

Sie zieht die Hand zurück und tritt einen Schritt beiseite.

„Ydecto, ich schätze deine Gesellschaft, doch ich bin glücklich mit Askandar. Meine Treue gilt ihm.“

Ein Schatten huscht über Ydectos Gesicht. Er löst die Hand, richtet sich auf, und aus seinem Lächeln erwächst kalte Härte.

„Dann steht ihr meiner Führung im Wege.“ Seine Stimme schwillt zu einem düsteren Befehlston an. „Ich, Ydecto von Darmanor, erkläre mich hiermit zum Orts-Obersten von Rosenheim.“ Er macht eine Geste, die keinerlei Widerspruch duldet.

Ein Raunen geht durch die schmale Gasse, als Ydecto an der Dorfpforte ein neues Siegel anbringt: ein weißblonder Drache über zwei gekreuzten Schwertern. Er ruft die wenigen Wachen zusammen, die Rosenheim als Feldjäger hat, und zwingt sie, ihm nun direkte Treue zu schwören. Die alten Ratsherren werden durch seine Gefolgsleute eingeschüchtert, und im Gasthaus „Zur rosigen Knospe“ hängen bald Verkündungen: Ydecto erklimmt den Thron des Orts-Obersten und erlässt die erste Regel: Jede Versammlung über drei Personen ist fortan seiner Genehmigung unterworfen.

Anshalyn und Askandar stehen abseits, ihre Gesichter bleich. Sie haben weder Heer noch Pistolen, nur die stille Magie und die Treue des Drachen, die nun über dem Dorf kreist. Doch gegen Ydectos so rasch vollzogene Machtergreifung fühlen sie sich machtlos.

In ihrem Haus diskutieren sie flüsternd die Lage. Askandar ballt die Fäuste, während Anshalyn zitternd den Blick senkt.

„Er hat die Dorfbewohner eingeschüchtert“, flüstert sie. „Wenn wir uns ihm widersetzen, leiden die Menschen.“

Askandar legt behutsam eine Hand an ihre Wange.

„Ich weiß nicht, was zu tun ist. Aber ich werde dich beschützen.“

Sie nickt, und der Schwebezustand zwischen Widerstand und Unterwerfung legt sich über Rosenheim.

In der Stille jenes ersten Abends, während Ydecto in seinem neuen Amt residiert, ahnen beide: Der Friede, den sie mühsam errungen hatten, ist zerbrechlich – und die Dorfbewohner stehen am Rande eines Spiels, dessen Regeln Ydecto allein bestimmt. So endet der Abend in stiller Furcht, während Rosenheim den Atem anhält und ein unheilvolles Schweigen den Platz vor dem Gasthaus umhüllt, das die Vorahnung dunkler Zeiten flüstert.

Der Morgen dämmert grau, und Ydecto schreitet mit gesenktem Blick durch die schmalen Gassen. Seine Gedanken kreisen um Anshalyn – ihre strikte Ablehnung seiner Avancen hat sein stolzes Herz getroffen. Er sinnt auf Rache und wirft einen Blick hinauf auf das Fachwerkhaus, in dem die Elfe wohnt.

Der Morgennebel liegt noch wie ein feiner Schleier über Rosenheim, als Ydecto auf leisen Sohlen vor dem niedrigen Fachwerkhaus von Anshalyn und Askandar Halt macht. Das Haus ist noch im Schlummer: Aus einem schmalen Fenster quillt blass goldenes Licht, und irgendwo schlägt eine Eule ihren Flügel. Keiner sieht, wie Ydecto im Schatten einer alten Ulme verharrt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Mantelkragen hochgeschlagen.

„Anshalyn“, flüstert er leise. „Komme, was wolle, ich werde dich bekommen und dein Herr an deiner Seite werden, selbst wenn ich dafür ein Bündnis mit den düstersten Gestalten der Welt eingehen müsste.“

Er atmet die feuchte Morgenluft ein und spürt, wie sein Herz schneller schlägt. Vor wenigen Tagen erst hat Askandar ihn verspottet – einen leeren, gesichtslosen Mann habe er vor sich, so schien der Wortlaut. Askandar, der Bauer mit den bernsteinfarbenen Augen, der sich in Rosenheim beliebt gemacht hat. Und Anshalyn, die elfenhafte Heilerin, die ihm unbeirrbar die Stirn bot. Dieses Paar muss getrennt werden, und zwar bald.

Langsam streicht Ydecto über das raue Holz der Hausmauer, den Blick auf das winzige Beet gerichtet, in dem Anshalyn Abends stets ihre Heilkräuter zieht. Er kennt jeden Grashalm hier, jedes leise Knarren des Balkens. Und er kennt auch das sehnsuchtsvolle Leuchten in ihrem Blick, wenn sie Askandar ansieht. Er beißt sich auf die Lippe: Dieses Band darf nicht bleiben.

Ein Schatten huscht über sein Gesicht, während er eine Idee formt. Er löst die Hände aus dem Mantel, streicht sich das weißblonde Haar glatt und lässt die Worte in seinem Geist reifen. Malyssa. Die stille Maid, die in der Dorfschule arbeitet, die man kaum wahrnimmt – und gerade deshalb perfekt geeignet ist. Wenn er künden lässt, dass er um Malyssas Hand werben will, wird Askandar genötigt sein, sich an diesem Bündnis zu messen. Die Männer Rosenheims werden prahlen, Malyssa die Kronjuwelen des Dorfes nennen. Und Askandar, arm an materiellen Gaben, wird sich blamieren – oder fortziehen müssen.

Ydecto lächelt kalt und berührt mit dem Zeigefinger das Holz der Tür. In Gedanken schon hält er die versiegelte Urkunde in der Hand, die sein Antrag sein wird. Er dreht sich um, verschwindet lautlos im Nebel – und hinterlässt die Ahnung eines kommenden Sturms: Bald wird er als werbender Freier zu Malyssa schreiten, ein Bündnis aus Ehre und List schließen und Rosenheim neu ordnen, so wie er es für richtig hält. Und Askandar? Askandar wird zusehen müssen oder verschwinden.

Am späten Nachmittag liegt ein drückendes Schweigen über Rosenheim. Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Fensterläden, während Ydecto, in seinem dunklen Mantel und mit der Haltung eines Fürsten, die Männer des Dorfes zur großen Tafel am Brunnen ruft. Dort hat er bereits drei leere Podeste aufgestellt – eins für sich, eines für Malyssa und das dritte für die Geschenke der Dorfbewohner. Ydecto steigt auf das mittlere Podest und hebt die Hand.

„Bürger Rosenheims!“, ruft er energisch. Seine Stimme hallt laut. „Bald werde ich um die Hand dieser holden Maid anhalten.“

Er deutet auf Malyssa, die blass und zögernd neben ihm steht. Die jungen Männer nicken eifrig, die Älteren tauschen fragende Blicke.

„Was will er?“, hört man ein leises Raunen. „Wer ist er, dass er sich erdreistet?“

Aber Ydecto fährt unbeeindruckt fort. Das Geflüster der Menschen geht an ihm vorbei wie ein Echo aus dem Nichts.

„Doch bevor wir dieses Bündnis feiern“, setzt er mit spitzem Wortlaut fort, „verlange ich Zeichen eurer Treue.“ Er winkt Richtung der Podeste. „Bringt mir bis zum Morgengrauen ein Geschenk von hohem Wert – nur so weiß ich, wer es würdig ist, Zeuge meiner Verbundenheit mit Malyssa zu sein!“

Ein Murmeln geht durch die Reihen. Die alte Frau Bieler raunt ängstlich: „Er verlangt, dass wir alles wertvolle hergeben…“

Toran der Schmied knirscht mit den Zähnen.

„Und Askandar? Er hat nichts…“

Im Laufe des Abends eilen die Dorfbewohner umher. Konrad der Bäcker ruft zu seiner Frau: „Hol die Goldmünze aus der Truhe! Wir müssen Ydecto etwas zeigen!“

Frau Bieler beugt sich zu ihrem Enkel und flüstert: „Nimm mein silbernes Servierbesteck. Es gehört seit Generationen zu unserer Familie.“

Toran legt in seiner Schmiede schwerblütig sein Meisterschwert auf den Amboss und murmelt: „Wenn es Gnade gibt, möge er es ehren und nicht in Zorn wenden.“

Die Ziegler-Familie türmt kunstvoll gestapelte Ziegelsteine zu einer Blumenform – ihr letzter Vorrat für den Winter.

Askandar jedoch steht abseits, die Hände leer, das Herz schwer. Anshalyn tritt zu ihm, legt tröstend die Hand auf seine Schulter. „Mein Liebster, du wirst eine Lösung finden.“

„Ich habe kein Gold, keine Handwerkskunst“, sagt Askandar mit tiefer Stimme. „Doch wage ich, dir eine Gabe anzubieten, die selbst Götter fürchten: den Kopf der Medusa.“

Ein Raunen durchfährt die Männer; Ydecto blitzt auf wie ein Raubvogel, bewegt sich langsam auf Askandar zu und fragt mit kaltem Spott: „Die Medusa? Glaubst du, ich stünde auf Fabelwesenjagd?“

Askandar hebt das Kinn.

„Mein Wort ist mein Leben. Soll ich lügen? Oder wagst du, es zu bezweifeln?“ Ydecto lacht abrupt auf, so scharf, dass die Vögel in den Bäumen aufflattern. Seine Augen verengen sich.

„Du törichter Narr!“, zischt er. „Dein Versprechen ist nichts als eitler Hohn. Ich erkläre dir hiermit den Krieg!“

Er zieht eine in Blutrotem Wachs versiegelte Urkunde hervor und feuert sie dramatisch auf den Boden.

„Bis zum Morgengrauen verlässt du Rosenheim, oder du wirst die Klingen meiner Soldaten kennenlernen!“

Die Dorfbewohner weichen entsetzt zurück. Ein Mann stöhnt: „Er bringt uns ins Verderben!“

Anshalyn schreitet vor, das blonde Haar im Fackelschein kaum zu erkennen. Ihre Stimme erklingt klar und fordernd.

„Ydecto, du missbrauchst deine Macht!“

Ydecto wirbelt herum und faucht: „Schweig, Elfe! Dieses Dorf gehört mir!“

Askandar stellt sich schützend vor sie.

„Du kannst mich töten, doch niemals meine Liebe brechen!“

Und während der Abend dämmert, löst sich die Dorfversammlung auf. Ängstlich gehen die Bewohner in ihre Häuser, einen neuen Krieg fürchtend, der schon bald unaufhaltsam über sie hereinbrechen soll.

Kapitel 4 - Der Beginn der Suche

Die frühen Nebelschwaden kriechen zwischen den knorrigen Stämmen des Waldes, als Anshalyn und Askandar den unscheinbaren Pfad betreten, den niemand außer ihnen kennt. Blätter rascheln unter ihren Füßen, und die Luft riecht nach feuchtem Moos und altem Holz. Askandar geht voraus, die Schultern hochgezogen, während Anshalyn dicht hinter ihm folgt, die Hände fest um den Stab geklammert, den sie aus Rosenheim mitgebracht hat.

Sie sind auf der Flucht – vor Ydecto, dem neuen Herrscher Rosenheims, der Askandar verdammt hat und mit eiserner Faust über das Dorf regiert. Tapfer und voller Ressourcen schafft Askandar es, in den ersten Nächten ihr Lager zu verstecken. Sie schlagen ihr Zelt tief im Dickicht auf, jagen Wild für Vorräte und trinken Wasser aus klaren Waldquellen. Doch die ständige Anspannung lässt sie kaum Atem holen: Hinter jeder Wurzel, hinter jedem Schatten könnte ein Spion Ydectos lauern.

Am vierten Tag – nachdem sie stundenlang durch Farne waten und über vermooste Baumstämme geklettert sind – erreichen sie eine kleine Lichtung. Ein hohler Baumstumpf dient als natürliches Versteck, und dicht darüber wachsen Efeuranken, die sie zur Tarnung nutzen. Anshalyn wischt sich über die Stirn und atmet tief durch, während Askandar prüfend um den Baumstumpf kreist.

„Hier“, flüstert sie, „können wir eine Weile bleiben, ohne entdeckt zu werden.“

Askandar nickt, die Augen immer noch suchend. Er legt den Rucksack ab, zieht einen Brotlaib hervor und bricht ihn in zwei Teile.

„Brot und Wasser“, sagt er sanft.

„Wir genießen den Frieden, so kurz er auch währt“, fügt Anshalyn hinzu.

Sie setzen sich auf einen umgestürzten Ast, teilen die Mahlzeit in Schweigen, das schwer wiegt. Der Wald um sie herum ist lebendig: Vögel zwitschern, ein Reh tappt vorsichtig in der Ferne. Doch in ihren Herzen währt keine Ruhe.

Nachdem sie gegessen haben, blickt Anshalyn Askandar fragend an. Die Dämmerung färbt seine Gesichtszüge weich.

„Sag mir, Askandar“, beginnt sie vorsichtig, „meinst du wirklich, wir sollten den Kopf der Medusa suchen?“

Er legt die Hände in den Schoß und sieht sie ernst an.

„Ich habe daran gedacht, seit Ydecto mich strafte. Wenn ich den Kopf der Medusa bringe – eine der drei Gorgonen – dann beweist das allen: Ich bin stark genug, Sudland zu schützen. Vielleicht kehre ich damit den Lauf der Dinge um. Vielleicht kann ich Ydecto stürzen.“

Anshalyn schluckt schwer. „Du weißt, was Gorgonen sind – schuppige Kreaturen mit Schlangenhaaren, deren Blick jeden sofort versteinert. Es gibt sie dreimal in der Welt: Stheno, Euryale und die schreckliche Medusa selbst. Und ihr Haupt ist ein Hort von tödlichen Schlangen. Keiner, der ihr ins Auge sieht, entgeht unversehrt. Du wirst sterben, wenn du dein Schwert hebst.“

Askandar senkt den Blick. Seine Stimme klingt fest, aber auch müde.

„Ich weiß, Elfe. Aber wenn nicht ich, wer dann? Wer kann Sudland retten? Das Reich eines Königs, der in seinem Hass auf mich das Land ins Unglück stürzt? Ich kann nicht in Untätigkeit verharren, während die Städte am Horizont in Aufruhr verfallen.“

Sie legt die Hand an seinen Arm.

„Es gibt andere Wege, den Krieg zu beenden. Diplomatie, Bündnisse, vielleicht meine magischen Fähigkeiten…“

Er schüttelt den Kopf und steht auf.

„Die Jahre der Friedensgespräche sind vorüber. In Sudland droht ein neuer Krieg. Ich sehe Truppen in den Tälern, hungrig nach neuen Ländern. Wenn ich den Kopf der Medusa bringe, bezwinge ich die Fürsten Sudlands…“, er stockt, hebt die Faust, „…dann werden sie sich vor mir erbeben, und keiner wagt, gegen mich aufzustehen.“

Sie wirft ihm einen durchdringenden Blick zu, die blonden Strähnen fallen ihr ins Gesicht.

„Und wenn du nicht zurückkehrst?“

Askandar atmet tief durch, sucht ihre Augen.

„Dann hältst du meine letzte Hoffnung in deinen Händen, meine Liebe.“

Anshalyn spürt einen Schauder, richtet sich aber auf.

„So sei es. Aber du gehst nicht allein. Ich werde an deiner Seite bleiben – ob du es willst oder nicht.“

Er legt einen Arm um sie und zieht sie sanft an sich.

„Ich liebe dich, Anshalyn. Wenn wir zurückkehren, wird Frieden herrschen.“

Die Nacht senkt sich tiefer. Sie finden ein weiteres Versteck unter dichtem Blätterdach, entzünden eine kleine, verborgene Glut und kuscheln sich aneinander. Doch in Askandars Augen liegt bereits die Glut des Besessenen – der Wille, sein Schicksal herauszufordern.

Am fünften Tag nach ihrer Flucht verlassen sie das Dickicht der Lichtung und folgen einem schmalen Pfad, der in die Berge Sudlands führt. Die Felsen ragen drohend in den Himmel, und die Luft wird kalt.

Ein unheimliches Echo hallt von den Wänden, als würden die Steine selbst flüstern. Man nennt diese Schlucht den Klang der Schreie, weil ein einfacher Hauch Wind durch die steilen Ostrinnen tödliche Laute wie ein Pfeifen erzeugt.

Anshalyn zögert, als sie den Eingangsbereich erreicht.

Askandar tritt vor und drückt ihr die Hand. „Wir müssen weiter.“

Sie legt die Hände auf den Stab, atmet die albtraumhafte Stille ein und folgt ihm. Jeder Schritt hallt metallisch wider, während sie tiefer ins Gestein vordringen. Zwischendurch halten sie inne, wenn das Flüstern anschwillt und den Körper wie eine kalte Hand berührt. Dann umklammert Anshalyn Askandars Arm, neigt den Kopf zur Seite, lauscht den geisterhaften Klängen.

Sie murmelt leise: „Diese Stimmen… sie klingen nicht wie unsere Toten. Es ist, als wollten sie uns warnen.“

Askandar antwortet leise: „Oder sie zeigen uns den Weg.“

Am Ende der Schlucht erreichen sie eine steile Felswand, an der kristallklare Quellen Rinnsale bilden, die über glatte Platten laufen. Ein alter Altar aus verwittertem Stein steht halb in der Höhle verborgen. Gravuren deuten auf eine Frau mit Schlangenhaaren, deren Augen ausscheiden wie Tropfen feinstes Gold.

„Hier“, flüstert Askandar. Er taucht seine Hand ins kalte Wasser, kostet es prüfend. „Der Ort ist scharf wie ein Heiligtum.“

Anshalyn beugt sich vor und liest die Runen. „‚Wer sein Spiegelbild wagt zu sehen, wagt den Tod‘“, übersetzt sie. „Wir brauchen eine Liste von Vorkehrungen – wir dürfen nicht direkt hineinschauen.“

Askandar nickt.

„Aber wir müssen zurück.“

Sie kehren ins Versteck zurück, durchqueren den Wald erneut, und Anshalyn beginnt, Vorräte für den Weg zu sammeln: getrocknetes Fleisch, Beeren und Kräuter, die Übelkeit lindern.

Nächte vergehen, Tage verstreichen, und stillen Herzens wächst in Askandar die Überzeugung, dass nur der Kopf einer Medusa der Schlüssel zum Frieden ist. Er sitzt am Feuer, das er in einer Felsspalte entfacht hat, und schaut in die Flammen, während Anshalyn neben ihm webt: Sie stellt Schlingen für Wild, knüpft elastische Schnüre, um sich selbst und Askandar sichern zu können.

Sie reicht ihm eine Schale dampfenden Eintopfs und spricht leise: „Du glaubst wirklich, dass dieser Kopf den Krieg aufhält?“

Er lächelt matt, pustet den scharfen Dampf fort.

„Es ist ein Symbol.“ Er legt die Hand auf ihre. „Und Symbole haben Macht. Wenn die Fürsten die Medusengabe sehen, werden sie zögern. Denn wer es wagt, eine Medusa herauszufordern, wagt, sich selbst herauszufordern.“

Anshalyn legt den Kopf schief und flüstert: „Ich will nicht, dass du stirbst.“

Er küsst ihre Stirn.

„Dann bleib an meiner Seite. Wenn einer diesen Weg mit mir teilen muss, dann bist es du.“

Je länger sie in der Abgeschiedenheit des Waldes verweilen, desto klarer wird Askandar, dass sein Leben nicht in den sanften Tagen des Verstecks endet. Sein Blick schweift hinauf zum blauen Himmel und hinüber zu den fernen Bergketten, hinter denen die Welt in Flammen steht.

„Anshalyn“, sagt er und steht auf, „wir müssen weiter. Wir sind bereit.“

Sie legt den Stab beiseite und zieht den Mantel enger um sich.

„Dann gehen wir.“

Askandar nimmt einen letzten Blick auf ihr vereintes Lager, die beiden Silhouetten vor dem flackernden Feuer, und nickt.

„Für Sudland. Für den Frieden.“

Und so brechen sie zum dritten Mal auf, in der Gewissheit, dass der Weg zum Hort der Gorgone sie weiter von der Welt entfernt – und näher an das Schicksal führt, das sie mit einem kühnen Herz herausfordern.

Der Mond steht hoch über den schroffen Klippen, als Anshalyn und Askandar sich erneut in die Schluchten hineinwagen. Die Felswände stehen eng beieinander, kalt und undurchdringlich, als würden sie Fremde verschlingen. Sie schleichen auf müden Beinen voran, gestützt gegenseitig, während der kalte Wind hohl durch die Grate pfeift. Jeder Schritt klingt hallend, als wollten die Klippen ihnen zurufen, aufzugeben.

Stundenlang wandern sie, ohne einen Hauch von Leben zu entdecken: Kein Vogel, kein Rascheln von Wild, kein schimmernder Schein in der Dunkelheit. Nur sie, der Kies unter ihren Fußsohlen und die unnachgiebigen Felsen, die wie Wächter wirken.

Anshalyn, deren blondes Haar nun vom Wind zerzaust und von Staub bedeckt ist, bleibt kurz stehen. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und blickt zu Askandar, dessen bernsteinfarbene Augen in der Düsternis leuchten.

„Ich weiß nicht, wie lange wir das noch aushalten,“ flüstert sie heiser.

Askandar legt beruhigend eine Hand auf ihren Rücken.

„Nur noch ein wenig“, murmelt er. „Irgendwo hier muss der Wegrand sein, von dem die Sage spricht.“

Doch je weiter sie vordringen, desto karger wird das Land. An Felsen klammert sich stellenweise nur spärliches Geäst, das in der Dunkelheit wie Skelette aus grauem Holz wirkt. Zweimal hasten sie an steilen Abbrüchen vorbei, an denen der Boden in den Schlund stürzt, als zögen große Mäuler sie hinab. Mehrmals rutscht Askandar, und nur dank Anshalyns raschem Griff bleibt er nicht hängen.

Gegen Mitternacht, als sie schon kaum noch Schritte setzen können, sammeln sich die dunklen Wolken über den Felskuppen. Ein Unwetter zieht auf, und Regen prasselt plötzlich in dicken Tropfen auf sie herab. Die Steine werden schleimig, und jeder Griff kann ihr Ende bedeuten.

Anshalyn bleibt stehen, zittert vor Kälte und Erschöpfung.

„Askandar… ich kann nicht mehr“, stammelt sie. Die Knie versagen beinahe.

Dankbar stützt er sie, so gut es geht. „Wir müssen weiter.“

Doch sie schüttelt den Kopf. „Ich… ich glaube, ich…“ Der Satz bricht ab. Die Schlucht um sie ist ein tödliches Labyrinth, und jede Faser ihres Wesens schreit nach Umkehr. Aber wohin sollten sie zurückkehren? Nach Rosenheim? Zu Ydecto? Nein. Diese Schlucht bleibt ihr einziger Ausweg zum Hort der Medusa. Ohne ihn kein Frieden.